
Militarisierung (1985)
Im westlichen Schrifttum, aber auch in Presse, Rundfunk und Fernsehen, wird häufig der Begriff M. benutzt, um aktuelle Situationen und Tendenzen des Herrschafts- und Gesellschaftssystems der DDR zu beschreiben. Zur Begründung wird auf den Ausbau und die umfangreiche Novellierung der Militärgesetzgebung (Militärpolitik), auf die insbesondere seit 1981 nochmalige, kampagneartige Verstärkung der Wehrerziehung in allen gesellschaftlichen Bereichen und auf die Ausweitung des Personenkreises hingewiesen, der mit konkreten militärischen Pflichten einschließlich vorbereitender und ausgeweiteter (vor-)militärischer Ausbildung betraut wurde (z.B. Wehrpflicht für Frauen im Mobilmachungsfall; Wehrdienst).
Soweit M. hier meint, daß die SED-Führung durch Verbesserung militärischer Organisationsformen, ihre Ausdehnung auf zivile Bereiche, durch verstärkte militärpropagandistische Beeinflussung möglichst breiter Bevölkerungsschichten und durch Etablierung militärischer Kommunikations- und Befehlsstränge auf möglichst zahlreichen Ebenen das Militärpotential der DDR erhöhen und ihr Herrschaftssystem innenpolitisch weiter absichern will, wird man tatsächlich von einem Prozeß der M. in der DDR sprechen können. Soweit jedoch unter M. auch verstanden wird, daß politische Grundsatzentscheidungen in der DDR ausschließlich oder überwiegend unter militärischen Gesichtspunkten getroffen werden, daß mithin das Militär eine allgemein dominierende Rolle in staatlichen Entscheidungsprozessen spiele, daß ferner militärische Denkweisen die Problemlösungskapazität des politischen Systems charakterisieren, läßt sich die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit in der DDR nicht mit dem Begriff der M. beschreiben. Daß mit dem Schlagwort der M. die gegenwärtige politische Verfaßtheit der DDR nur unzulänglich gekennzeichnet wird, läßt sich vor allem mit Hinweis auf die unangetastete und nicht in Frage stehende Führungsrolle der SED im Militärapparat belegen. Zwar genießen die Angehörigen der Bewaffneten Kräfte hohe offizielle Wertschätzung und ihre Führungspersonen sind im Entscheidungsprozeß des Politbüros des ZK der SED mit Verteidigungs-, Staatssicherheits- und Innenminister auch zahlreich vertreten; dieser Personenkreis weist zudem eine ausgesprochene Parteivergangenheit auf. Jedoch gibt es weder Anzeichen für eine nachlassende Kontrolle der Partei über den militärischen Apparat noch Anhaltspunkte dafür, daß militärische Kriterien für die Bewältigung von außen- und innenpolitischen Krisensituationen ausschlaggebende Bedeutung erlangen. Die Gefahr eines „sozialistischen Bonapartismus“ droht in der DDR nicht. Von einer M. in der DDR kann ferner auch deswegen nicht ohne Einschränkung gesprochen werden, weil militärische Vorstellungen und Verhaltensweisen bisher von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung nicht über- bzw. angenommen, militärische Denkweisen also nicht verinnerlicht wurden. Vielmehr ist — als Reaktion auf die ständige und in der Regel als überzogen empfundene Wehrpropaganda — eine wachsende Abwehrhaltung in der Bevölkerung, eine zunehmende „Zivilisierung“ zu beobachten. Für das Vorherrschen derartiger Einstellungen sprechen die unverändert große Wehrunwilligkeit der Jugend und die nicht abnehmenden Klagen der Militärführung über Disziplinschwierigkeiten in der Armee, aber auch der in der Militärpublizistik immer wieder behandelte, unbefriedigende Ausbildungsstand vor allem bei Mannschaften und Kommandeuren der paramilitärischen Verbände der DDR (Kampfgruppen). Wenn gegenwärtig die autonome Friedensbewegung der DDR in der ganz großen Mehrzahl von bereits in der DDR geborenen und dort ausgebildeten Jugendlichen getragen wird und gleichzeitig immer mehr Jugendliche den Waffendienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) verweigern, um ihren Wehrdienst als Bausoldat abzuleisten, so zeigt dies u.a. auch die insgesamt geringe Effizienz der M.-Versuche der SED-Führung. Diese mag in einer M. der Gesellschaft ein stabilisierendes Element im Konzept ihrer Herrschaftssicherung sehen. Die Bevölkerung hat diese Politik aber bisher nicht durch freie Zustimmung legitimiert. Vielmehr sucht die Mehrheit im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten dem durch die Militär- und Wehrpolitik der SED erzeugten politischen Druck durch passive Verweigerung, resignative Anpassung an bestimmte Erfordernisse (wie Wehrpflicht, Teilnahme an Paraden usw.), aber auch durch hinhaltenden Widerstand (z.B. aus kirchlich orientierten Kreisen gegen die Erziehung zum „Haß“) auszuweichen. Bestenfalls wird man also von — nicht sehr erfolgreichen — Versuchen zur M. der DDR-Gesellschaft, aber nicht von einem bereits militarisierten oder gar militaristischen Gesellschaftssystem in der DDR sprechen können.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 892
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