
Neutralität (1985)
Siehe auch die Jahre 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979
Dem Begriff der N. kommen im außenpolitischen Sprachgebrauch der DDR drei verschiedene Bedeutungen zu.
1. Unter N. im Kriegsfall wird — ähnlich wie in der westlichen Völkerrechtslehre — vor allem die Nichtteilnahme an einem Krieg zwischen anderen Staaten, die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zu den kriegführenden Parteien und die bewaffnete Verteidigung dieser N. verstanden. Rechte und Pflichten neutraler Staaten wurden im V. und XIII. Haager Abkommen von 1907 niedergelegt.
2. Ständige N. eines Staates gilt als zeitlich unbegrenzte N. auch in Friedenszeiten und wird freiwillig oder durch einen völkerrechtlichen Vertrag festgelegt. Staaten mit ständiger N. dürfen keinen Militärbündnissen angehören, keine ausländischen Militärstützpunkte auf ihrem Gebiet dulden und müssen eine Politik treiben, die ihre Verwicklung in eine kriegerische Auseinandersetzung möglichst ausschließt. (Die Haager Abkommen gelten analog.)
In Europa haben z.B. die Schweiz (seit 1815) und Österreich (seit 1955) den Status ständiger N. Die in der DDR-Literatur behauptete ständige N. auch von Laos und Kampuchea ist angesichts der politischen Nähe dieser Staaten zum Sozialistischen Weltsystem zumindest nicht unumstritten.
3. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der internationalen Beziehungen erachtet die außenpolitische Theorie der DDR jedoch die sog. „aktive“ oder „positive“ N. Sie soll die Außenpolitik jener jungen Nationalstaaten kennzeichnen, die beim Zusammenbrach des „imperialistischen Kolonialsystems“ nach dem II. Weltkrieg und besonders nach 1960 (3. „Entkolonialisierungsphase“) entstanden sind.
Nach Chruschtschows „Wiederentdeckung“ (seit Lenin) der Prinzipien der Friedlichen Koexistenz (1956) gewann der Begriff der „positiven“ N. für die Einschätzung der Stellung der Staaten der Dritten Welt durch die sozialistischen Staaten zusätzliche Bedeutung.
Die Begriffsmerkmale der ständigen N. wurden um die „aktive Teilnahme am Friedenskampf“, den Kampf um die „Erhaltung und Festigung der Unabhängigkeit“ (antiimperialistische und antikolonialistische Außenpolitik) und die „Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ erweitert. Den jungen Nationalstaaten, deren Außenpolitik diesen Grundsätzen folgt, wird der Status „positiver“ N. zugesprochen. Sie werden damit in der internationalen „Auseinandersetzung der Systeme“ als Verbündete des „sozialistischen“ bzw. von den sozialistischen Ländern geführten „Friedenslagers“ betrachtet. (Eine N.-Politik, die sich demgegenüber bemüht, nicht in die Ost-West-Auseinandersetzung verwickelt zu werden und zu allen, auch den ehemaligen Kolonialstaaten gute Beziehungen zu unterhalten, wird dagegen abgelehnt.)
„Positive“ N. wird als wirksames Mittel der Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse angesehen, die der „Stärkung der Friedenskräfte“ dient.
Für „positive“ N. werden auch die Bezeichnungen „Politik der Bündnisfreiheit“ oder „Nichtpaktgebundenheit“ („non-alignment“) gebraucht.
Der Begriff der N. darf aus dieser Sicht nicht mit dem des Neutralismus verwechselt werden, der in der DDR sprachsynonym auch für eine „prinzipienlose“ politische Haltung von Individuen benutzt wird, bzw. in der internationalen Politik zur Charakterisierung von „ständigem Wechseln der Fronten“ dient; Neutralismus in dieser Sicht vermeidet die eindeutige Stellungnahme zugunsten „des Fortschritts“, also des „sozialistischen Lagers“ und wird daher in abwertender Weise gebraucht. In der Deutschlandfrage ist von der SED bis 1955 stets ausgeschlossen worden, daß ein wiedervereinigtes Deutschland politisch neutral sein könne und daß beide deutsche Staaten in der Ost-West-Auseinandersetzung (der Auseinandersetzung zwischen „Kapitalismus und Sozialismus“) N. bewahren können. Dem widerspricht nicht, daß sowohl in den sowjetischen Friedensvertragsentwürfen von 1952, 1954 und 1959 als auch in den zahlreichen deutschlandpolitischen Initiativen der DDR ein militärisch neutrales, wiedervereinigtes Deutschland, bzw. nach 1955 der Status militärischer N. für beide deutsche Staaten — durch Austritt aus NATO und Warschauer Pakt — vorgeschlagen wurde (Abrüstung; Außenpolitik; Deutschlandpolitik der SED).
Seit Anfang der 70er Jahre, mit der Absage an jede Form der Wiedervereinigung, wird jedoch der Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt kategorisch abgelehnt.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 945
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