
Pädagogische Wissenschaft und Forschung (1985)
Siehe auch die Jahre 1975 1979
[S. 962]Angesichts der weitgesteckten bildungspolitischen Aufgaben (Einheitliches sozialistisches Bildungssystem, I.; Lehrer und Erzieher) wird der PW. (Erziehungswissenschaft) als Gesellschafts- und Leitungswissenschaft in der DDR zentrale Bedeutung beigemessen. Die PF. (Bildungsforschung) soll also sowohl als Vorlaufsforschung wie auch als Realisierungsforschung, und zwar in enger Wechselwirkung, sowie als bildungspolitisch-praktisch ausgerichtete, interdisziplinäre, schwerpunktmäßig orientierte Projektforschung, deren geplante Ergebnisse sich unmittelbar aus den Bedürfnissen der gesellschafts- und bildungspolitischen Zielsetzung ergeben, betrieben werden.
Wichtigste Aufgabe der PWuF. ist es, ausgehend von den gesellschaftlichen Erfordernissen, Entwicklungsprobleme rechtzeitig aufzugreifen und effektive Lösungswege vor- bzw. einzuschlagen, um die erforderlichen Erkenntnisse zum „gesellschaftlich notwendigen Zeitpunkt“ in die Praxis zu überführen. Zu den wichtigsten mittelfristigen Aufgaben gehören Untersuchungen zu den Hauptproblemen der Theorie und Praxis der Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten, zur unterrichtlichen Realisierung des Lehrplanwerkes (Lehrplanreform) und der Aufgabenstellung für die staatsbürgerliche Erziehung (Politisch-Ideologische bzw. Staatsbürgerliche ➝Erziehung), zur mittel- und langfristigen Prognose und Planung und effektiven Leitung des Bildungswesens sowie zur inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung der Aus- und Weiterbildung der Lehrer. In diesem Zusammenhang sollen Grundmaterialien erarbeitet werden, die es den Bildungs- und Schulpolitikern in der DDR ermöglichen, notwendige Entscheidungen über eine eventuell zu modifizierende Gesamtkonzeption des Bildungs- bzw. Schulsystems der DDR für die Zukunft zu treffen.
Die PWuF. in der DDR geht davon aus, daß Theorie und Praxis der Bildung und Erziehung durch die jeweiligen sozio-ökonomischen Verhältnisse bedingt und in diesem Zusammenhang zu erforschen und zu gestalten sind und daß der pädagogische Prozeß ein gesetzmäßig determiniertes Geschehen ist, dessen Wesen und Bedingungen erkennbar und daher auch zu beherrschen sind. Empirische Forschung, Bildungsprognose, Bildungsplanung, Bildungsökonomie und Bildungssoziologie sind relativ junge Disziplinen, die neben den traditionellen zunehmend an Umfang und an theoretischer wie praktischer Bedeutung gewinnen. So hat die Bildungsökonomie die Grundlagen für eine solche Planung und Leitung des Bildungswesens zu schaffen, die es ermöglichen, daß die von der Gesellschaft aufgewendeten Bildungsfonds (Finanzmittel) in einem volkswirtschaftlich vertretbaren Zeitraum an die Gesellschaft wieder zurückfließen können. Daraus resultieren zwei grundlegende Aufgabenkomplexe, nämlich den Zusammenhang von Bildungswesen und volkswirtschaftlichem Reproduktionsprozeß zu klären und das Wirtschaftlichkeitsprinzip auch im Bildungswesen zur Geltung zu bringen.
Als (Leit-)Zentrum der pädagogischen Wissenschaft und Forschung wurde 1970 in Berlin (Ost) die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR (APW) gegründet. Dies bedeutete zunächst nichts weiter als die Umbenennung des vormaligen Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI), zumal damit auch keine wesentlichen personellen Veränderungen verbunden waren. Schon bei der Gründung des DPZI im Jahre 1949 hatte die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR (jetzt: der UdSSR) als organisatorisches Vorbild gedient. Mit der Änderung des Namens der zentralen Institution wurde auch formal die Anpassung an das sowjetische Modell vollzogen.
Zu den wesentlichen Aufgaben der APW gehören:
1. die aktive Mitwirkung an der Ausarbeitung und Realisierung der bildungspolitischen Aufgabenstellung von SED und Regierung der DDR,
2. die Weiterentwicklung der Pädagogik der DDR als einer Disziplin der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften und die prinzipielle Auseinandersetzung mit den pädagogischen Theorien des Westens,
3. die Mitwirkung an der Ausarbeitung der Prognose für das gesamte Bildungssystem und die Sicherung des wissenschaftlichen „Vorlaufes“ für die heranreifenden bildungs- und vor allem schulpolitischen Entscheidungen,
4. die Entwicklung der Gemeinschaftsarbeit auf dem Gebiete der pädagogischen Wissenschaft,
5. die Förderung bildungspolitischer und erziehungswissenschaftlicher Problemdiskussionen im Rahmen der vorgegebenen politisch-ideologischen Normen,
6. die aktive Mitwirkung an der Aus- und Weiterbildung der Lehrer, Erzieher und Schulfunktionäre sowie
7. die Organisierung der Zusammenarbeit mit den erziehungswissenschaftlichen Einrichtungen der anderen sozialistischen Länder, insbesondere der Sowjetunion. Damit sind zugleich die wesentlichen Aufgaben der PWuF. in der DDR noch einmal hervorgehoben.
Die APW ist dem Minister für Volksbildung unterstellt und wird von einem Präsidenten — gegenwärtig (1984) von Prof. Dr. Gerhart Neuner — geleitet, den der Generalsekretär, die Vizepräsidenten und das Präsidium unterstützen. Ihr gehören ordentliche und korrespondierende Mitglieder an, die das Plenum als das höchste wissenschaftliche Organ der APW bilden. Die APW ist in Institute und Arbeitsstellen gegliedert. So bestehen beispielsweise Institute für pädagogische Theorie, für Theorie und Methodik der sozialistischen Erziehung, für pädagogische Psychologie, für Ökonomie und Planung des Volksbildungswesens, für Didak[S. 963]tik, für gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht, für mathematischen, naturwissenschaftlichen und polytechnischen Unterricht, für Fremdsprachenunterricht, für Unterrichtsmittel, für Leitung und Organisation des Volksbildungswesens (Unterrichtsmittel und programmierter Unterricht). Arbeitsstellen bestehen z.B. für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, für Bauten der Volksbildung, für Sonderpädagogik, für sorbische Schulen und für Theorie und Methodik der Lehrerbildung.
Zur Entwicklung eines planmäßigen und kontinuierlichen Zusammenwirkens von PW. und Praxis zwecks Lösung von Aufgaben der pädagogischen Forschung stehen der APW Forschungskindergärten, Forschungsschulen, Stützpunktschulen und Basis-Kreise zur Verfügung.
Die Forschungskindergärten und Forschungsschulen sind Einrichtungen der Volksbildung, an denen Bedingungen und Möglichkeiten für systematische und langfristige empirisch-experimentelle, theoretisch-analytische und andere Arbeiten geschaffen werden, die auf die Realisierung übergreifender theoretischer und schulpolitischer Fragestellungen und bedeutsamer Einzelfragestellungen des Perspektivplans der PF. gerichtet sind. Sie arbeiten auf der Grundlage bestimmter Untersuchungsprogramme und haben das Recht, die verbindlichen staatlichen Dokumente, also Lehrpläne, Schulordnung usw., zeitweilig zu modifizieren oder ganz auszusetzen. In der Regel werden reguläre Kindergärten und Oberschulen als Forschungskindergärten bzw. -schulen ausgewählt und personell und materiell-technisch, entsprechend den (perspektivischen) Bedarfsplänen für Unterrichtsmittel, besonders ausgestattet.
Demgegenüber dienen die Stützpunktschulen empirischen Untersuchungen zu speziellen Fragen und zu Einzelaufgaben des Perspektivplans der PF. sowie zur Erprobung der in den Forschungsschulen und aus theoretisch-konzeptionellen Arbeiten gewonnenen Erkenntnisse. Um die in diesen Sondereinrichtungen der APW erzielten Ergebnisse in größerem Umfang zu erproben und die Überleitung der Forschungsergebnisse unter Leitung und unmittelbarer Beteiligung der Wissenschaftler in die gesamte Schulpraxis vorzubereiten, wurden einzelne Basis-Kreise ausgewählt, so z.B. der Kreis Merseburg, aber auch einige Stadtbezirke von Berlin (Ost).
Zur Gewährleistung einer einheitlichen und zentralen Führung der Lehrerbildungsforschung, d.h. der Forschungsaufgaben zur intentional-inhaltlichen und organisatorischen Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung der Lehrer, Erzieher und anderer Pädagogen wurde die Leitstelle für Lehrerbildungsforschung der Pädagogischen Hochschule Potsdam als Arbeitsstelle für Theorie und Methodik der Lehrerbildung in die APW eingegliedert.
Wurde in der DDR lange Zeit als „ein Paradoxon“ beklagt, „daß in Westdeutschland die Betriebspädagogik den ‚Betrieb als Erziehungsfaktor‘ schon längst erkannt hat und untersucht, während in der DDR, wo doch der Volkseigene Betrieb seit langem ein wichtiges Bildungszentrum und einen bedeutenden Erziehungsfaktor darstellt, vergleichbare Arbeiten weitgehend fehlen“, so hat sich in jüngster Zeit auch in der DDR die Betriebspädagogik als eine spezielle pädagogische Disziplin entwickelt, die vor allem zwei Aufgabenkomplexe zu bewältigen hat: 1. die Mithilfe sowohl bei der Erhöhung der pädagogischen Wirksamkeit des gesamten Bildungs- und Erziehungsgeschehens als auch 2. bei der Realisierung der Aufgaben der Berufsbildung im Volkseigenen Betrieb. Die Betriebspädagogik, die sich mit ihren Aussagen vor allem an Leiter der Arbeitskollektive und an Leiter auf höheren Ebenen im Betrieb richtet, untersucht die sich zunehmend differenzierenden betrieblichen Bildungs- und Erziehungsvorgänge. Die Skala reicht von in den Arbeits- und Leistungsprozessen integrierten pädagogischen Prozessen bis zu pädagogisch institutionalisierten Vorgängen im Produktionsunterricht der Schüler der Oberschulen, in der Berufsausbildung der Lehrlinge und in der Unterweisung von Erwachsenen in Lehrgängen und am Arbeitsplatz. Kennzeichnend für die Betriebspädagogik sind „die erwachsenenpädagogische Dominante“, d.h. das Vorherrschen von Untersuchungen zu den Bildungs- und Erziehungsvorgängen in den Arbeits- und Lernkollektiven berufstätiger Erwachsener, und „das leitungswissenschaftliche Denkprinzip“, das auf die Integration betriebspädagogischer und leitungswissenschaftlicher Fragestellungen, Denkansätze und Untersuchungen zielt.
Die Berufsbildungsforschung in der DDR erfolgt nach dem vom Staatssekretariat für Berufsbildung im Zusammenwirken mit dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen bestätigten Zentralen Forschungsplan zur Weiterentwicklung der Berufsausbildung (Einheitliches sozialistisches Bildungssystem, XI.). Auftraggeber für Forschungsleistungen des Hochschulwesens auf dem Gebiete der Berufsbildung sind das Zentralinstitut für Berufsbildung in Berlin (Ost) (Leiter: Prof. Dr. A. Knauer), vormals Deutsches Institut für Berufsbildung, sowie Staats- und Wirtschaftsorgane, letztere für Forschungsaufgaben, für die sie auch verantwortlich sind. Das Zentralinstitut für Berufsbildung übergibt dazu auch den Einrichtungen zur Ausbildung von Lehrkräften für den berufstheoretischen Unterricht und von leitenden Kadern der Berufsausbildung auf dem Zentralen Forschungsplan beruhende Themenzusammenstellungen für Dissertationen und Diplomarbeiten.
Alle das Bildungswesen betreffenden Forschungsarbeiten sind plangebunden sowie genehmigungs-, melde- und abrechnungspflichtig. Die Durchführung der Forschungsaufgaben erfolgt nach den Prinzipien der auftragsgebundenen Forschung und der aufgabenbezogenen Finanzierung. Grundlage für die Planung, Leitung, Organisation, Finanzierung und Kontrolle der PF. sind die Perspektivpläne der PF., derzeitig der Perspektivplan der PF. für den Zeitraum von 1981 bis 1985.
Nach Auffassung der Pädagogen in der DDR sind ihre Grundpositionen unmittelbare Bestandteile des Marxismus-Leninismus und ihr Denken und Handeln fest darin verankert.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 962–963