DDR von A-Z, Band 1985

Souveränität (1985)

 

 

Siehe auch die Jahre 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979


 

Unter S. verstehen auch die Völkerrechtler der DDR ein Grundprinzip des allgemeinen Völkerrechts. S. wird — im Unterschied zu den neuen, seit der sowjetischen Oktoberrevolution gültigen Völkerrechtsprinzipien des sozialistischen und Proletarischen ➝Internationalismus — als Merkmal aller Staaten in allen historischen Epochen angesehen. „Realer Inhalt und ideologische Motivierung“ der S. hängen jedoch vom Klassencharakter des Staates ab, sie ist „klassenmäßig bestimmt“. In der DDR wird zwischen staatlicher, nationaler und Volks-S. unterschieden.

 

Die staatliche S. eines Staates wird definiert als „seine rechtliche Entscheidungsfreiheit im Bereich seines Territoriums (Gebietshoheit) und gegenüber seinen Bürgern (Personalhoheit), bei der Gestaltung seiner Beziehungen zu anderen Staaten und internationalen zwischenstaatlichen Organisationen sowie bei der Mitwirkung an der Schaffung völkerrechtlicher Normen (internationale Handlungsfähigkeit)“ (Völkerrecht, Lehrbuch. Hrsgg. v. e. Autorenkollektiv, T. 1, Berlin [Ost] 1973, S. 278).

 

Aus dieser Bestimmung folgt in Übereinstimmung mit dem auch von der DDR als uneingeschränkt gültig angesehenen „Grundprinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten“ (Prinzipien-Deklaration der 25. UN-Vollversammlung vom 24. 10. 1970), daß alle Staaten rechtlich gleich sind, daß jeder Staat die der S. innewohnenden Rechte in Anspruch nehmen kann, die Völkerrechtssubjektivität jedes anderen Staates zu achten ist, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit aller Staaten als unverletzlich gilt, jeder Staat in der Wahl und Ausgestaltung seines Gesellschaftssystems frei ist und mit anderen Staaten in Frieden leben muß (ebd., S. 279 f.).

 

Da die Völkerrechtler der DDR ihren Staat als vollwertiges Völkerrechtssubjekt ansehen und S. als „wichtigste Eigenschaft“ eines Völkerrechtssubjektes bezeichnet wird, war die Außenpolitik Ost-Berlins seit dem 25. 3. 1954, dem Tag, an dem die UdSSR der DDR in einer offiziellen Erklärung volle S. gewährte, unablässig darauf gerichtet, der Anerkennung ihrer S. internationale Geltung zu verschaffen.

 

Die nationale S. findet ihren Ausdruck in der Anerkennung von Rechten, insbesondere des Rechts auf Selbstbestimmung, und „allgemeinen Interessen“ von „Nationen und Völkerschaften“. Mit Gründung eines Staates fällt sie mit der staatlichen S. zusammen. Diese Definition von nationaler S. ist ebenso vage wie die der Volks-S., die nach sozialistischer Völkerrechtslehre nur im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ mit seiner „umfassenden Beteiligung der Volksmassen am gesamten politischen und gesellschaftlichen Leben unter Führung der Partei der Arbeiterklasse“ zur Geltung kommen kann. „Monopolkapital und Großgrundbesitz“ haben, so wird behauptet, im bürgerlichen Staat jede Form der Volks-S. Farce gemacht.

 

Obwohl die DDR die Einheit des Sozialistischen Weltsystems als wirkungsvollste Garantie ihrer S. ansieht, hat sie bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zu anderen kommunistisch regierten Ländern vielfach auf die Ausübung bestimmter S.-Rechte „freiwillig verzichtet“. Da die Forderung nach S. andererseits, insbesondere in der weltweiten Auseinandersetzung der Systeme und in ihrem Wettbewerb um Einfluß in den Staaten der „Dritten Welt“, als wirksame propagandistische Waffe gegen die vermeintliche und/oder tatsächliche Hegemonie „imperialistischer Mächte“ eingesetzt werden kann, hat die DDR wiederholt gegen jede Einschränkung nationaler und staatlicher S. protestiert. Soweit eine solche Einschränkung der S. aufgrund supranationaler Integrationsbestrebungen von westlichen Völkerrechtlern diskutiert oder für notwendig erklärt wird, ist sie als „Manipulation imperialistischer Mächte“ zwecks Ausdehnung ihres Einflußbereiches diffamiert worden.

 

Da S. eines Staates gleichfalls absolute Entscheidungsfreiheit über die Art und Weise seiner gesellschaftspolitischen Entwicklung bedeutet, sah die DDR in der Weigerung westlicher und neutraler Staaten, sie als „souveränen deutschen Staat“ anzuerkennen, eine indirekte, permanente Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Dieser Herausforderung glaubte und glaubt sie durch besonders enge Beziehungen zur UdSSR begegnen zu können. Die völkerrechtliche Anerkennung der S. der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland (und die anderen Staaten Westeuropas) galt bis 1972 als Vorbedingung einer politischen Normalisierung der Verhältnisse in Mitteleuropa.

 

[S. 1152]Gegenüber den sozialistischen Staaten und bei der Gestaltung der Beziehungen zu ihnen spielt die S. nicht die gleiche hervorragende Rolle. „Volle Gleichberechtigung, territoriale Integrität, staatliche Unabhängigkeit und Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen“ gelten zwar als „wichtige Prinzipien“, jedoch wird als „unabdingbarer Bestandteil ihrer Beziehungen … die brüderliche Hilfe“ angesehen (Proletarischer ➝Internationalismus).

 

Von der nichtsozialistischen Völkerrechtslehre wird dies als Einschränkung der universal postulierten und anerkannten Geltung des S.-Prinzips und als verschleierte Rechtfertigung interventionistischer Absichten gerade in jenen Fällen erachtet, in denen eine Intervention mit dem Ziel der Erhaltung der Einheit der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ oder zum „Schutz des Sozialismus“ in einem zum sozialistischen Weltsystem gehörenden Staat notwendig wird. Damit wird S. zur nur formalen Norm des allgemeinen Völkerrechts, die von den Prinzipien des sozialistischen Völkerrechts überlagert wird und deren Beachtung die SED-Führung je nach konkreten politischen Erfordernissen entweder verlangt oder — wie im Fall der ČSSR 1968 oder zur Rechtfertigung der andauernden sowjetischen Intervention in Afghanistan seit Dezember 1979 — durch vorrangige Rücksichten auf die Interessen des eigenen Bündnisses bzw. die der Führungsmacht UdSSR faktisch in den Hintergrund treten läßt.

 

Uneingeschränkte Achtung ihrer S. fordert jedoch die Partei- und Staatsführung der DDR in den Innerdeutschen Beziehungen. Politische Forderungen an die Bundesrepublik Deutschland werden zumeist damit begründet, daß eine weitere Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen nur bei voller Anerkennung der S. der DDR zu erreichen sei. In seiner Rede zur Eröffnung des Parteilehrjahres 1980/81 hat Generalsekretär Honecker am 13. 10. 1980 in Gera erneut von einer ständigen Mißachtung „entscheidender Prinzipien der Souveränität unseres Staates“ seitens der Bundesrepublik gesprochen und an diese eine Reihe inzwischen bekannter Forderungen gerichtet (Deutschlandpolitik der SED). Eine derartige Kopplung deutschlandpolitischer Ziele der SED mit der S.-Frage ermöglicht es der SED-Führung nach Bedarf, die Bundesrepublik im Weigerungsfall der Verletzung völkerrechtlicher Normen anzuklagen.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1151–1152


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.