DDR von A-Z, Band 1985

System/Systemtheorie (1985)

 

 

Siehe auch:


 

Als S. wird eine „Gesamtheit (Ganzes) von Teilen (Elementen), die auf bestimmte Art und Weise untereinander verbunden sind“, bezeichnet (Kleines Politisches Wörterbuch, 3., überarb. Aufl., Berlin [Ost] 1978, S. 895). Die S.-Teile stehen in angebbaren Beziehungen (Relationen) zueinander; die Gesamtheit dieser Relationen macht die Struktur eines S. aus. Nach Auffassung des Marxismus-Leninismus besteht zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ein dialektisches Verhältnis: ein S. sei zwar einerseits die Summe seiner Teile, seine Eigenschaften ließen sich jedoch nicht auf die seiner Elemente reduzieren, vielmehr weise es „in bezug auf seine Verhaltensweise qualitativ eigene Gesetzmäßigkeiten“ auf. Als Beispiel wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß soziale Klassen (Klasse/Klassen, Klassenkampf) zwar aus Individuen bestünden, sich jedoch das Verhalten einer Klasse nicht auf das der dieser Klasse Zugehörigen reduzieren lasse. Was jeweils als „Ganzes“ bzw. „Teil“ angesehen wird, hängt von dem Erkenntnisziel ab: so kann z.B. ein Betrieb als S. angesehen werden, bei der S.-Analyse eines Wirtschaftsbereichs bzw. der gesamten Volkswirtschaft ist der Betrieb jedoch nur Teil. — Besonderen Wert legt der Marxismus-Leninismus auf die Unterscheidung zwischen materiellen S. (S. der objektiven Realität, die unabhängig vom menschlichen Bewußtsein besteht) und ideellen S. (Theorien, Axiomen-S., S. von Begriffen usw.).

 

Der Wert der S.-Theorie und der von ihr entwickelten Methoden liegt in der Möglichkeit der mathematischen, graphischen usw. Darstellung der internen Relationen komplizierter (komplexer) S.; komplexe S. bestehen aus vielen Teilen, die ihrerseits untereinander in mannigfachen Relationen stehen, sind also S. mit einer komplizierten Struktur. Bei der Analyse dynamischer (sich intern und gegenüber ihrer Umwelt verändernder und bewegender), lernender (Erfahrungen verarbeitender) und sich selbst regulierender S. hat vor allem die Kybernetik wichtige theoretische und analytische Arbeit geleistet. Voraussetzung für die Übernahme der S.-Theorie aus der westlichen Diskussion und die Anwendung der S.-Analyse in der DDR war u.a. eine veränderte Einstellung zur Mathematik, die Entwicklung einer eigenständigen Kybernetik (vor allem durch Georg Klaus) sowie der Aufbau einer funktionsfähigen Elektronischen ➝Datenverarbeitung (EDV).

 

Im Zeichen des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) und der Wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) gab es für die Kybernetik und die S.-Theorie eine erste, breite Entfaltungsmöglichkeit. Das Ende der Reformphase 1970/71 brachte jedoch von selten der Partei nicht nur den Versuch, die eigene Rolle gegenüber dem Staatsapparat zu verstärken (Staatsrat), sondern führte auch zu Bemühungen, den Marxismus-Leninismus als Führungswissenschaft gegenüber den Einzelwissenschaften fester als in den 60er Jahren zu verankern.

 

Im Zuge dieser Verstärkung der Rolle der Ideologie stieß die Anwendung systemtheoretischer Überlegungen auf die politische und soziale Ordnung der DDR, besonders in deren kybernetischen Ausprägungen, wie bereits in den 50er Jahren, auf dem und nach dem VIII. Parteitag der SED (1971) auf den Widerstand der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Gründe hierfür lagen nicht nur in der Tatsache begründet, daß die S.-Theorie in ihrer modernen Fassung wesentlich in den westlichen Industriestaaten entwickelt worden war. Als bedeutsamer erwies sich die Befürchtung der Partei, daß die mathematisierte und formalisierte Darstellung sozialer, ökonomischer und politischer Zusammenhänge ihr den parteilichen, ideologischen Zugriff erschweren würde. Die Übersetzung der marxistisch-leninistischen Terminologie in die Sprache der S.-Theorie erwies sich nicht nur als schwierig bzw. unmöglich, sondern vor allem ließ sich ein Bedeutungswandel der Begriffe nicht vermeiden.

 

Die Anforderungen, die sich aus einer immer komplexer werdenden ökonomischen und sozialen Struktur ebenso wie aus den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ergaben und weiterhin fortlaufend ergeben, zwangen jedoch zu einer Fortsetzung der systemtheoretischen und systemanalytischen Arbeiten. Operationsforschung, Automatisierung usw. waren ohne derartige theoretische und praktische Arbeiten nicht denkbar. In Anlehnung an Versuche in der Sowjetunion (N. P. Buslenko, E. G. Yugin, J. N. Kovalenko) wird auch in der DDR versucht, die wachsende Komplexität technischer, ökonomischer und anderer S. dadurch zu beherrschen, daß man mit Hilfe groß angelegter mathematischer Modelle (sog. große S.) inhomogene, jedoch untereinander und miteinander verbundene mathematische Modelle entwirft. Derartige Modelle dienen nicht zuletzt dazu, Vorgänge in der Realität mit Hilfe von Digitalrechnern zu simulieren. Daneben gibt es auch in der DDR Versuche, mit Hilfe der S.-Theorie eine allgemeine Theorie und Methodologie der Wissenschaften zu entwerfen.

 

Auch in der Staats- und Rechtstheorie beginnt sich — unter dem Einfluß der Diskussionen in der Sowjetunion, die ihrerseits von systemtheoretischen Überlegungen der Politischen Wissenschaft, vor allem der USA, angeregt worden sind — der Begriff des politischen S. zur Kennzeichnung, zur Beschreibung und zur Analyse der eigenen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Gegenwärtig wird dieser Begriff überwiegend noch synonym mit dem der „politischen Organisation [S. 1349]des Sozialismus“ verwendet. Beide Begrifflichkeiten betonen als Spezifikum der eigenen Ordnung die Führungsrolle der Partei, die Nachordnung des Staatsapparates, der gesellschaftlichen Organisationen (Massenorganisationen) sowie der Betriebskollektive und die Bedeutung des Demokratischen Zentralismus als Strukturprinzip. Im Mittelpunkt des Begriffs „politische Organisation des Sozialismus“ steht jedoch die normierte Funktionsverteilung, die „Soll-Verfassung“. Die Verfechter des Begriffs politisches S. betonen demgegenüber, daß die Wechselbeziehungen zwischen den S.-Teilen sehr viel komplizierter seien, als daß sie in der herkömmlichen Organisations- und Rechtstheorie erfaßt und analysiert werden könnten. Ferner gebe es neben den formalisierten bzw. rechtlich normierten Beziehungen in und zwischen den Institutionen und Organisationen informelle Beziehungen, die keineswegs nur, wie bisher überwiegend geschehen, unter dem Aspekt der Dysfunktionalität begriffen werden können (Organisationswissenschaft; Soziologie und Empirische Sozialforschung, IV.).

 

Zur Rechtfertigung der Anwendung der S.-Theorie in den Gesellschaftswissenschaften wird heute Marx auch als S.-Analytiker in Anspruch genommen: „Die wohl umfassendste Systemanalyse der Gesellschaft, die wir bis heute kennen, liegt in Gestalt der Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus vor. Wenn K. Marx im Vorwort der 1. Auflage des ‚Kapitals‘ bemerkt, es sei der letzte Endzweck dieses Werkes, ‚das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen‘, so handelt es sich dabei um ein Gesetz, das die Bewegung eines hochkomplexen, dynamischen Systems beherrscht. Und in der Tat benutzte Marx bei seiner Analyse der kapitalistischen Gesellschaft die Ausdrücke ‚System‘, ‚Organismus‘ und verschiedene Merkmale eines Systembegriffs in wesentlichen Zusammenhängen.“ (Wörterbuch der Kybernetik, 4., völlig überarb. Aufl., Berlin [Ost] 1976, S. 813).


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1348–1349


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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