DDR von A-Z, Band 1985

Totalitarismus (1985)

 

 

Siehe auch die Jahre 1962 1963 1965 1966 1979


 

Innerhalb der Politischen Wissenschaft und der Politischen Soziologie entstanden in der Beschäftigung mit dem italienischen Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus und den kommunistischen Systemen sowjetischer Prägung (vor allem mit dem in der UdSSR selbst) Analyseansätze und Deutungen, die sich bemühten, das diesen verschiedenen Herrschaftssystemen Gemeinsame zu einem neuen Typus von Herrschaft, dem T. zu verdichten. Ausgangspunkt derartiger Überlegungen war der explizite Anspruch des Faschismus und des Nationalsozialismus, auf völlige Beherrschung der Gesellschaft durch den „totalen“ oder „totalitären“ Staat bei gleichzeitiger Konzentration der Macht in der Führungsspitze bzw. bei dem Führer sowie der exzessive, von allen rechtlichen Schranken befreite Gebrauch von Macht nach innen und außen. Faschismus und Nationalsozialismus verstanden sich selbst als Gegenbewegungen zum liberalen Rechtsstaat, zur Demokratie und zum Parlamentarismus. — Die Parteiherrschaft in der UdSSR der 20er Jahre sowie deren Weiterentwicklung zum Stalinismus mit seinen Massenverfolgungen führte schon früh zu der Ausdehnung des Begriffs T. auf die Sowjetunion. Angesichts der Etablierung von Systemen sowjetischen Typs in Ost- und Südosteuropa einschl. der SBZ/DDR sowie unter dem Eindruck der Ost-West-Konfrontation im Verlauf des Kalten Krieges wurden diese in die T.-Theorien einbezogen. Die kommunistischen Herrschaftssysteme standen seitdem im Mittelpunkt der Überlegungen zum T. Ausgangspunkt der T.-Theorien war die Feststellung, daß die bis dahin üblichen Begriffe der „Diktatur“ bzw. der „autoritären Herrschaft“ nicht mehr ausreichten, um das Neue derartiger politisch-gesellschaftlicher Systeme zureichend zu beschreiben. Erst die technisch-sozialen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts machten die totale Organisation und Kontrolle einer Gesellschaft möglich. Die Auflösung der überkommenen sozialen Strukturen (Stände und Klassen) in der Massengesellschaft gilt als eine weitere Voraussetzung, um alle Bevölkerungsteile mit Hilfe zentraler Organisationen zu einem einheitlichen Ganzen zu integrieren und zugleich zu manipulieren. Mit dem Entstehen moderner Massengesellschaften sei ferner der Verfall traditionaler (religiöser, politischer und philosophischer) Wertsysteme verbunden gewesen; dieser Werteverfall habe — unterstützt durch die Entwicklung der modernen Massenkommunikationsmittel — den Ideologien kommunistischer, faschistischer und nationalsozialistischer Provenienz den Weg gebahnt.

 

Diese gemeinsame, historisch-soziale Ausgangsposition habe letztlich auch zu Übereinstimmungen in der Konstitution der Herrschaftssysteme und der Herrschaftsausübung geführt, die es gerechtfertigt erscheinen lasse — unter Außerachtlassen von Verschiedenheiten in der Zielrichtung der jeweiligen Systeme —, von einem Typus „totalitärer Herrschaft“ zu sprechen. Die T.-Theorien knüpfen dabei an dem im Faschismus und Nationalsozialismus üblichen positiven Gebrauch der Wörter „total“ und „totalitär“ an und wenden diese zu einem kritischen Gegenbegriff. Dabei wird zwischen dem „institutionellen“ Aspekt totalitärer Herrschaft und den „dynamischen“ Ansprüchen totalitärer Bewegungen, Gesellschaft immer erneut in Bewegung zu setzen und revolutionär-terroristisch umzugestalten, unterschieden, wenn sich auch diese beiden Seiten des T. selbst in der Theorie kaum trennen lassen.

 

Je nach der Akzentsetzung in den theoretischen Entwürfen — entsprechend der jeweiligen historischen Situation und dem hauptsächlichen Objekt der Analyse — gibt es sehr unterschiedliche Theorien des T. Als Ausdruck und Erscheinungsform der Dynamik totalitärer Herrschaft werden u.a. genannt: Terror, permanente Säuberungen von Partei und Staat, zwangsweise Durchsetzung eines neuen Wertsystems von oben. Institutionen totalitärer System sind: Einheitspartei, zentrale Wirtschaftsplanung, offizielle Ideologie mit absolutem Geltungsanspruch, Geheimpolizei, parteiliches Recht anstelle von Rechtsstaatlichkeit, parteiliche Ausrichtung und Kontrolle aller Massenkommunikationsmittel. — Zu einer Übereinstimmung in den Begriffsdefinitionen ist es trotz intensiver wissenschaftlicher Bemühungen bislang nicht gekommen. Die genannten Merkmale totalitärer Herrschaft finden sich in unterschiedlichen Kombinationen und Gewichtungen bei den Vertretern des T. (vgl. den kritischen Überblick von Walter Schlangen, Theorie und Ideologie des Totalitarismus. Bonn 1972 [Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, H. 92]). Trotzdem spielt das Wort T. in den politischen Auseinandersetzungen zwischen West und Ost — nicht zuletzt in Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Gesamtsituation — eine große Rolle.

 

Gegen die T.-Theorien ist u.a. eingewendet worden: sie seien weniger ein Instrument der Analyse als eines der Wertung; sie setzten die faschistischen/nationalsozialistischen Systeme mit den sowjet-sozialistischen in eins, obwohl zwischen diesen markante Unterschiede im politischen System, in der Sozialstruktur, in der Ideologie, in der Wirtschaftsplanung usw. bestünden; sie sähen die zu analysierenden Systeme in ihren Grundstrukturen grundsätzlich als statisch an, könnten daher Entwicklungen nur als Abweichungen vom totalitären Grundmodell, nicht aber als dessen Wandel analysieren; sie seien ungeeignet, vergleichbare Problemlagen in hochindustrialisierten Systemen in komparatistischen Analysen zu untersuchen; sie tendierten dazu, das eigene demokratische System zu idealisieren und damit reformerischer Kritik zu entziehen, indem sie ein Feindbild in ihrem theoretischen Ansatz verabsolutierten und als Bedrohung, herausstellten.

 

Der Marxismus-Leninismus hat sich — wie auch gegen alle anderen kritischen westlichen Analyseansätze (Konvergenztheorie; Politologie) — gegen alle Ausprägungen der T.-Theorie gewendet. Besonders heftig wird die Gleichsetzung des eigenen Systems mit [S. 1361]dem des Faschismus/Nationalsozialismus abgelehnt: „Unter Leugnung der historischen Tatsachen und Erfahrungen behaupten die Verfechter dieser Doktrin, daß Faschismus und Sozialismus gleichen gesellschaftlichen Ursachen entspringen, wesensgleiche Staats- und Gesellschaftsformen darstellen und in ähnlicher Weise den Menschen unterdrücken und ihrer Freiheit berauben.“ Die „T.-Doktrin“ gilt als „bürgerliche, antikommunistische Geschichts- und Gesellschaftskonzeption zur Verfälschung der Praxis und Theorie des realen Sozialismus …“ schlechthin (Wörterbuch des wissenschaftlichen Kommunismus, Berlin [Ost] 1982, S. 386). Dabei wird vielfach das Vorhandensein eines T.-Konzepts selbst dann unterstellt, wenn dieser Begriff sich in den kritischen Analysen sozialistischer System explizit nicht findet. Antikommunismus.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1360–1361


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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