DDR von A-Z, Band 1985

Unterhaltungskunst (1985)

 

 

Der U. wird in der DDR besondere politisch-ideologische Aufmerksamkeit geschenkt. So forderte das Parteiprogramm der SED von 1976, „mehr Voraussetzungen für kulturelle Gemeinschaftserlebnisse, für niveauvolle Geselligkeit, Unterhaltung und Tanz sowie für sportliches Wetteifern zu schaffen“. U. wird nicht als spezifische Kunstform verstanden; vielmehr zählen zur U. alle Formen künstlerischer Produktion, in denen Werke und Leistungen geschaffen bzw. interpretiert werden, die vor allem Entspannung, Geselligkeit, Unterhaltung und Vergnügen dienen.

 

Besondere ideologische Anstrengungen gelten dem Versuch, zu begründen, daß U. ihre wahre Bedeutung erst durch die sozialistische Kulturpolitik erhalten hat. Der Prozeß sozialistischer Kulturrevolution habe zur Überwindung der historisch überlieferten Trennung von Kunst und Unterhaltung geführt. Die Kluft zwischen der „hohen“ Kunst und den Kunstbedürfnissen der breiten Volksmassen sei historisch entstanden. Verantwortlich für dieses Auseinanderfallen sei nicht die „Natur“ des menschlichen Bewußtseins, wie die Verfechter der elitären Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft zu beweisen versuchten, sondern die Trennung von Herrschern und Beherrschten in der antagonistischen Klassengesellschaft. Deshalb eröffne die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage, die die materielle und geistige Ungleichheit beseitige, erstmals den Weg, diese Kluft zu überwinden. Die Kunst erlange sowohl in Form als auch in Inhalt die ideell-ästhetische Qualität der Volksverbundenheit (Moissej Kagan in: „Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik“, München 1974, S. 636).

 

Kulturhistoriker der DDR sind darum bemüht zu verdeutlichen, daß Unterhaltung gerade im Leben der sozialistischen Gesellschaft einen unverzichtbaren Platz einnimmt. U. wird verstanden als ein wesentliches Element Sozialistischer ➝Lebensweise und damit gleichzeitig als ein im Sozialismus unersetzbares Mittel, das wesentlich zum Wohlbefinden der Werktätigen beiträgt und mit dem die kulturellen Massenbedürfnisse befriedigt werden können. Nicht zuletzt darin unterscheide sich die sozialistische Gesellschaft von der kapitalistischen Ordnung, daß sie U. nicht als Mittel der Manipulierung und organisierten Volksverdummung sowie als Instrument der Profiterwirtschaftung nutze.

 

Gleichzeitig aber heißt es: „Die Entwicklung der Unterhaltung und die Befriedigung und Ausprägung sozialistischer Unterhaltungsbedürfnisse bedürfen als feste Bestandteile der sozialistischen Kulturentwicklung der bewußten Führung durch die marxistisch-leninistische Partei und den sozialistischen Staat. Hier werden die besten Erfahrungen auf dem Gebiet der Unterhaltung verallgemeinert, konzeptionelle Orientierungen gegeben und die materiellen Möglichkeiten zur Realisierung der Unterhaltungsbedürfnisse festgelegt“ (Kulturpolitisches Wörterbuch, 2., erw. Aufl., Berlin [Ost] 1978, S. 698).

 

„Bewußte Führung“ übt der sozialistische Staat nicht zuletzt durch Einschaltung des Komitees für Unterhaltungskunst aus. Im April 1973 wurde es auf Beschluß des Ministerrates der DDR gegründet. Das Komitee ist ein dem Ministerium für Kultur zugeordnetes, beratendes und koordinierendes Organ für die einheitliche Entwicklung und Lenkung der U. sowie der Veranstaltungstätigkeit auf diesem Gebiet im Inland und das Wirken von Unterhaltungskünstlern der DDR im Ausland. Dem Komitee gehören bevollmächtigte Vertreter des staatlichen Komitees für Fernsehen und Rundfunk, der Künstler-Agentur der DDR, des VEB Deutsche Schallplatten sowie die Leiter der DEFA-Studios für Spielfilme, des VEB-Zentral-Zirkus, Vertreter verschiedener Musikverlage sowie der Vorsitzende des Koordinierungsrates der Konzert- und Gastspieldirektion an. Beim Komitee für U. besteht eine Generaldirektion, zu deren Aufgaben u.a. zählen: Politische und künstlerische Zusammenarbeit mit einzelnen Interpreten, insbesondere mit dem Nachwuchs; das Ausrichten nationaler und internationaler Wettbewerbe wie Interpretenwettbewerb; Chansontage; Leistungsschauen; die Delegierung zu internationalen Festivals; das Unterstützen der Aktivitäten von 12 Arbeitskreisen und der wissenschaftlichen Forschungs- und der Öffentlichkeitsarbeit. Generaldirektor ist z. Z. (1984) Dieter Gluschke (SED).

 

Zur U. zählen alle die Bereiche, die auch als „leichte Muse“ bezeichnet werden könnten. Zu nennen sind in alphabetischer Reihenfolge: Artistik, Chanson, Clownerie, Dressur, Jazz, Kabarett, Magie, Puppenspiel, Schaustellerwesen, Schlagergesang, Unterhaltungsmusik, Varieté, Vortragskunst und Zirkus.

 

Einrichtungen der U. in der DDR sind die Konzert- und [S. 1395]Gastspieldirektion, Kabaretts und Varietés, Diskotheken, Kulturhäuser und -parks (Kulturstätten) und der VEB-Zentral-Zirkus.

 

Im Rahmen der U. nimmt die Tanz- und Unterhaltungsmusik eine herausragende Rolle ein. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED, forderte 1972 auf der 6. Tagung des ZK, daß die Tanzmusik wirksamer dazu beitragen solle, Geschmack zu bilden und saubere Beziehungen zwischen jungen Menschen zu fördern. Dabei dürfe Tanzmusik sich niemals in den Fesseln westlicher Moden, aber auch nicht in einem abgeschlossenen Treibhaus entwickeln. Wichtig für die Wertung „unserer“ Tanzmusik sei, ob sie Vergnügen bereite, Geselligkeit anrege und Ansprüchen hoher Qualität gerecht werde. Damit sind Aufgabe, Wirkungsfeld, aber auch der Konfliktrahmen sowie die Grenzen von Unterhaltungsmusik in der DDR in heute noch geltender Weise umrissen.

 

Ihr breites Wirkungsfeld hat sie in der DDR in den Diskotheken, im Volksmund ‚Discos‘ genannt. Galten diese jahrelang als Ausdruck westlicher Dekadenz, so zählen sie heute zu den wichtigsten Einrichtungen, die den wachsenden und differenzierten Bedürfnissen der Bevölkerung, besonders der Jugend, nach Tanz und Unterhaltungsveranstaltungen Rechnung tragen. Eine Diskothek hat „zur Herausbildung niveauvoller Kultur- und Bildungsbedürfnisse und damit zur Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten beizutragen“. So sagt es die AO über Diskotheken-Veranstaltungen, die sogenannte Diskotheken-Ordnung des Ministeriums für Kultur vom 15. 8. 1973 und deren Ergänzung vom 24. 5. 1976. Durch den Ausbau der Diskotheken soll u.a. den Festlegungen des Jugendgesetzes vom 28. 1. 1974 nachgekommen werden, in dessen § 30 es heißt: „Das Bedürfnis der Jugend nach Geselligkeit, Tanz und Unterhaltung, ihr Streben nach niveauvollen Veranstaltungen … sind zu fördern und immer besser zu befriedigen.“

 

Die Diskotheken-Ordnung sowie weitere, urheberrechtliche Vorschriften schreiben vor, daß bei öffentlichen Veranstaltungen 60 v.H. der gespielten Titel aus der Feder von Komponisten der DDR oder anderer sozialistischer Länder stammen müssen — eine Formel, der wohl nur in den seltensten Fällen Rechnung getragen wird. Allerdings gilt zusätzlich, daß nur folgende Tonträger zugelassen sind: Schallplatten aus der Produktion des VEB Deutsche Schallplatten bzw. von Schallplattenfirmen der RGW-Mitgliedsländer oder von Firmen anderer Länder, die offiziell in der DDR vertrieben werden; ferner lizenzierte Tonbänder, die von den staatlich zugelassenen Tonstudios in der DDR hergestellt und vertrieben werden, bespielte Kassettentonbänder, die im Einzelhandel in der DDR erhältlich sind, sowie eigenbespielte Tonbänder durch Umschnitte von Schallplatten der Marken Amiga, Nova und Eterna aus der Produktion des VEB Deutsche Schallplatten nach deren Lizenzierung durch die AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiete der Musik in der DDR).

 

Die Anziehungskraft der Diskotheken ist groß. Jährlich finden in der DDR etwa 600.000 Tanzveranstaltungen mit 120 Mill. Besuchern statt, davon 110.000 in Jugendklubs der FDJ und in den Kulturhäusern. Unter den Besuchern bildeten die 16- bis 20jährigen mit 70 Mill. die größte Gruppe. Diese Angaben verdeutlichen die gesellschaftspolitische Bedeutung der Diskotheken und erklären, warum die Diskotheken-Ordnung den Aufgaben und der Ausbildung des Disc-Jockeys (in der DDR offiziell ‚Schallplattenunterhalter‘ genannt) besondere Aufmerksamkeit schenkt. Dieser wird ausdrücklich auf die „Prinzipien der sozialistischen Kulturpolitik“ verpflichtet; er „ist Programmleiter, Redakteur und Sprecher zugleich und benötigt dazu ein ausreichendes gesellschaftswissenschaftliches Grundwissen, gute Allgemeinbildung, Fachkenntnisse auf den Gebieten der Musik u.a. Kunstgattungen, der Programmgestaltung und Elektroakustik sowie rhetorische Fähigkeiten“.

 

1983 gab es etwa 6.000–8.000 haupt- und nebenberufliche Disc-Jockeys. Für Fragen ihrer Ausbildung ist die 1975 gegründete „Zentrale Arbeitsgemeinschaft Diskothek“ beim Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR in Leipzig zuständig. Für die Lehrgänge ist die örtlich zuständige Abteilung Kultur des Rates des Kreises verantwortlich. Die Weiterbildung liegt außerdem in den Händen des „Bezirkskonsultationszentrums Diskotheken des Berliner Hauses für Kulturarbeit“. Seit 1976 gab es in der DDR 3 „Zentrale Leistungsvergleiche der Amateur-Schallplattenunterhalter“. Erstmals 1977 wurden auf der „V. Leistungsschau der U.“ in Leipzig Diskotheken in das Wettbewerbsprogramm aufgenommen. 1978 auf dem „Interpretenwettbewerb der U.“ in Karl-Marx-Stadt erhielten auch Diskotheken Auszeichnungen.

 

Im April 1981 wurde für diese Einrichtungen ein eigener „Arbeitskreis Diskothek“ bei der Generaldirektion des Komitees für U. gegründet.

 

Die Leistungsschau für U. in Leipzig und der Interpretenwettbewerb in Karl-Marx-Stadt sind die zwei wesentlichen zentralen Wettbewerbe der U., die — alternierend — jeweils alle zwei Jahre stattfinden. Sie liegen in der Verantwortung des Generaldirektors beim Komitee für U. Weitere bedeutende Veranstaltungen sind das Internationale Schlagerfestival Dresden und das Dixieland-Festival Dresden, eines der größten europäischen Festivals der Dixieland-Musik. Zahlreiche Rundfunk- und Fernsehsendungen widmen sich zunehmend und mit wachsender Resonanz der Schlager-, Pop- und Jazzmusik. Für die 4.000–5.000 Amateur-Tanzmusikgruppen dienen die „FDJ-Werkstattwochen der Jugendmusik“ in Suhl sowie der „Zentrale Leistungsvergleich der Amateur-Tanzorchester“ im Bezirk Magdeburg als Einrichtungen des Leistungsvergleiches.

 

Wesentliche Zeitschriften der U. sind „Melodie und Rhythmus“ sowie „Unterhaltungskunst“.

 

Wie in anderen sozialistischen Ländern erfährt auch in der DDR der Zirkus besondere staatliche Unterstützung; die Zirkusberufe sind vielfach staatlich anerkannt. Die 1956 in Berlin (Ost) gegründete staatliche Fachschule für Artistik bietet eine — auch international renommierte — 4jährige Ausbildung, die mit dem Fach[S. 1396]schulabschluß als Artist abschließt. Anfangsengagements erhalten die Artisten meist im VEB-Zentral-Zirkus.

 

Am 1. 1. 1960 wurde durch Anordnung des Ministers für Kultur das volkseigene Zirkusunternehmen der DDR „VEB-Zentral-Zirkus“ gegründet. Der Betrieb hat die Aufgabe, entsprechend den Weisungen des Ministeriums für Kultur, das Veranstaltungswesen der Zirkuskunst und ähnlicher Genres entsprechend den Bedürfnissen der Werktätigen zu entwickeln (GBl. II, 1960, S. 29). Dem VEB-Zentral-Zirkus gehören an: der Zirkus Busch (seit 1952 in Verwaltung der Stadt Magdeburg), Zirkus Barlay (seit 1950 dem Magistrat von Groß-Berlin unterstellt) sowie der Zirkus Aeros (seit 1952 in Verwaltung der Stadt Leipzig). Der Zirkus Barlay erhielt 1968 seinen heutigen Namen „Berolina“. Zum Zentral-Zirkus rechnen weiter Volksfesteinrichtungen. Der Zentral-Zirkus wird von einem — vom Minister für Kultur ernannten — Direktor geleitet.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1394–1396


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.