Wissenschaftlich-technische Revolution (WTR) (1985)
Siehe auch:
- Wissenschaftlich-technische Revolution: 1966
1. Zum Begriff. Bezeichnung für eine „qualitativ neue Etappe in der Entwicklung der Produktivkräfte“, mit der die „Gesamtheit der revolutionären Veränderungen in den gegenständlichen Grundlagen der produzierenden und der nichtproduzierenden Bereiche“ erfaßt werden soll (Wörterbuch des Wissenschaftlichen Kommunismus, Berlin [Ost] 1982, S. 417). Dabei soll die WTR nicht „als eine Vielzahl isolierter, punktueller Veränderungen gesehen werden“, vielmehr durchdringe sie „alle Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Sie wirkt auf die materielle Produktion, die individuelle und Gesellschaftliche ➝Konsumtion, das Transportwesen, die Informationsmittel, das Militärwesen, auf die Innen- und Außenpolitik und die internationalen Beziehungen der Völker ein.“ Demnach beeinflußt die WTR „das Leben der Menschen, verändert ihre Arbeit, ihre Freizeit, ihre Bildung, Kultur und Lebensweise“ (Kleines Politisches Wörterbuch, 3., überarb. Aufl., Berlin [Ost] 1978, S. 1031).
Der Beginn der WTR (dieser Begriff wurde ursprünglich von dem englischen marxistischen Wissenschaftshistoriker John Desmond Bernal [1901–1971] geprägt) wird heute in der DDR mit Mitte der 50er Jahre angegeben, als die Fortschritte in der naturwissenschaftlichen Forschung zunehmend zu neuen technischen Produktionsverfahren führten und allmählich die Folgewirkungen dieser Veränderungen in Umrissen sichtbar wurden. Bereits zuvor hatte in den westlichen Industriestaaten eine Diskussion um Automation, Atomenergie, elektronische Datenverarbeitung, Kybernetik usw. eingesetzt, die z. T. unter der Fragestellung: „Gibt es eine zweite industrielle Revolution?“ geführt wurde.
2. Inhalte und Folgen der Wissenschaftlich-technischen Revolution. Nach marxistisch-leninistischer Auffassung ist mit der WTR die Wissenschaft zur „unmittelbaren Produktivkraft“ geworden. In dieser geänderten Bedeutung von Wissenschaft, die sich für alle wissenschaftlichen Einzeldisziplinen nachweisen lasse, und deren Zusammenwirken über die Grenzen der Einzelwissenschaften hinaus notwendig mache, werden das entscheidende Merkmal und die ausschlaggebende Triebkraft der WTR gesehen. In der Diskussion um die technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der WTR werden vor allem folgende Problembereiche thematisiert:
[S. 1525]a) Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung vergegenständlichen sich direkt in neuen Produktionsmitteln, Produktionsverfahren und Technologien; umgekehrt werden auch die Wissenschaften unmittelbar inhaltlich und organisatorisch von den Bedürfnissen und Erfahrungen der Produktion geprägt;
b) eines der wichtigsten Ergebnisse der neuen Rolle der Wissenschaft im Produktionsprozeß ist die Ablösung der bisherigen Maschinentechnik durch die Automatisierung der Fertigungsprozesse. Die Kontrolle und Regelung der Produktion erfolgt zunehmend durch kybernetische Steuerungssysteme (Kybernetik), angewandte Elektronische ➝Datenverarbeitung (EDV) usw. (Industrierobotertechnik; Mikroelektronik);
c) die natürlichen Rohstoffe werden durch künstliche Werkstoffe und Werkstoffkombinationen, die in dieser physikalischen und chemischen Beschaffenheit in der Natur nicht vorkommen, abgelöst;
d) nicht nur die Naturkräfte werden durch die Wissenschaft beherrschbar, sondern auch die rationelle Organisation der Arbeit selbst ist zum Gegenstand spezieller Wissenschaften geworden. Damit werden auch die Gesellschaftswissenschaften unmittelbar produktiv und verschmelzen teilweise mit den Naturwissenschaften, beispielsweise in den technischen und technologischen Wissenschaften. Wissenschaftliche ➝Arbeitsorganisation (WAO) bestimmt die Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Verwendung der gesellschaftlichen Arbeitskräftefonds und des Arbeitsablaufes;
e) die Stellung des Menschen in der Produktion unterliegt einem grundlegenden Wandel. Der Mensch tritt neben den Fertigungsprozeß; er wird von schwerer und repetitiver Handarbeit und schematisch-geistigen Tätigkeiten befreit;
f) zugleich wachsen aber die Anforderungen an das Bildungsniveau. Einmal erreichte berufliche Qualifikation bedarf der ständigen Erneuerung und Erweiterung;
g) die Wissenschaft, zum wichtigsten Instrument zur Steigerung der Arbeitsproduktivität geworden, schafft die Möglichkeit, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zu verkürzen, und damit die materiellen Voraussetzungen für die Aneignung von weitergehenden kulturellen und technischen Fähigkeiten durch die Gesellschaftsmitglieder. Die Aufhebung des Unterschiedes zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, nach marxistisch-leninistischer Auffassung eine der Voraussetzungen für die angestrebte klassenlose, kommunistische Gesellschaft, werde damit möglich;
h) die gestiegene Arbeitsproduktivität erweitert den Bereich der Freizeit. Freizeit wird zu einem eigenen Politikbereich;
i) die zentrale Bedeutung, die der Entwicklung der Wissenschaften in der WTR zugemessen wird, die außerordentlichen Aufwendungen, die moderne Forschungen erfordern, und deren Orientierung an langfristigen Zielvorstellungen, machen die Einbeziehung der Wissenschaften in die volkswirtschaftliche Planung notwendig. Wissenschaftsplanung und -organisation werden zu einem Kernstück der Gesellschaftsplanung. Wissenschaft selbst wird darüber hinaus zunehmend zu einem Gegenstand eigener Forschungen in Form der Wissenschaftswissenschaft.
3. Politische Aspekte der Wissenschaftlich-technischen Revolution. Nach Auffassung des Marxismus-Leninismus vollzieht sich die WTR in allen entwickelten Industriegesellschaften unabhängig von deren Gesellschaftsordnung. Er geht jedoch davon aus, daß die WTR in kapitalistischen Systemen deren ökonomische Krisenanfälligkeit und die in ihnen als gegeben angenommenen gesellschaftlichen Gegensätze verschärft und daher die Umwandlung dieser Gesellschaften in sozialistische beschleunigt. Nur in sozialistischen Systemen, wie sie in den Mitgliedstaaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) bestehen, könne die WTR sich voll auch in ihren positiven Möglichkeiten entfalten. Im Prozeß der WTR würden die ökonomischen, technischen, kulturellen und sozialen Grundlagen für die kommunistische Gesellschaft geschaffen.
Darüber hinaus erfordere die WTR eine die nationalen Grenzen überschreitende Kooperation zwischen den sozialistischen Staaten des RGW, sie fördere die „sozialistische Integration“ und habe diese für ihren weiteren erfolgreichen Verlauf zur Voraussetzung.
Das Konzept der WTR hat sich erst in langwierigen Auseinandersetzungen nicht zuletzt mit westlichen soziologischen Theorien und Konzeptionen über die Entwicklungsperspektiven der Industriegesellschaften, die Folgen der Automatisierung und der Anwendung der Kybernetik, die Möglichkeit konvergierender Entwicklungstendenzen in hochindustrialisierten Gesellschaften mit unterschiedlicher Eigentumsordnung (Konvergenztheorie) Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre durchgesetzt. Maßgebend für die Widerstände gegen die Auffassung von der WTR als eines revolutionären Prozesses war vor allem die Befürchtung, daß die bestehenden politischen Strukturen in Frage gestellt und die Systemunterschiede verwischt werden könnten. Für das Akzeptieren des Konzepts der WTR sprachen letztlich die nicht zu leugnenden qualitativen Besonderheiten der zu beobachtenden Veränderungen im wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich. Zudem bot das WTR-Konzept Zukunftshoffnungen an, die aus dem bis dahin vorherrschenden Verständnis des Marxismus-Leninismus nicht zu gewinnen waren:
Die WTR verspricht einen konkreten Weg zur Annäherung an die Zukunftsgesellschaft, läßt einen kontrollierten Wandel des eigenen Systems zu und ermöglicht gewisse Formen der ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Kooperation mit kapitalistischen Staaten, ohne die Systemunterschiede im Grundsätzlichen preiszugeben.
Die besonders in der DDR in den 60er Jahren, während der Wirtschaftsreform (Neues Ökonomisches System [NÖS]) zu beobachtende, im nachhinein häufig naiv anmutende Hoffnung auf rasche Ergebnisse der WTR, von der die kurzfristige Lösung aller offenen Probleme erwartet wurde, ist seit dem VIII. Parteitag der SED (1971) einer nüchterneren und problemorientierteren Sicht gewichen. Die Vorrangstellung der Intelligenz, als der soziologischen Trägerin der „Hauptproduktiv[S. 1526]kraft“ Wissenschaft, wurde durch eine stärkere sozialpolitische Orientierung auf die Bedürfnisse der breiten Massen beschnitten, das Bildungsprogramm an die volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten angeglichen, die Investitionsvorhaben stärker an einem technisch-evolutionären Fortschritt orientiert. Die ungewollten Folgen der WTR (Umweltschutz, Arbeitsschutz, Monotonieprobleme am Arbeitsplatz, zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Strukturen usw.) nehmen einen immer größeren Raum in den Diskussionen um die WTR ein und sind ein Hinweis, daß die sich aus diesem Wandlungsprozeß ergebenden Konflikte deutlicher in das Blickfeld geraten sind.
Angesichts der schwieriger gewordenen wirtschaftlichen Lage, dem fortbestehenden Mangel an Arbeitskräften, der sich verschärfenden Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt usw. gilt jedoch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts als vorrangiges Ziel der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Partei- und Staatsführung der DDR. Bereits das Parteiprogramm der SED von 1976 sieht daher in der „organischen Verbindung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus … eine entscheidende Bedingung“ für die Herstellung einer leistungsfähigen, materiell-technischen Basis für die „entwickelte sozialistische Gesellschaft“. Der X. Parteitag der SED (1981) hat die Bedeutung der WTR erneut unterstrichen: „Nun sind die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Revolution unmittelbar zur Hauptreserve für Leistungswachstum und Effektivität unserer Volkswirtschaft geworden.“ Besondere Hoffnungen setzt die SED hierbei auf die Mikroelektronik. Auf dem gleichen Parteitag übernahm der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt, Gerhard Müller, eine Wettbewerbslosung als beispielhaft: „Die Mikroelektronik — das ist unsere Barrikade der Revolution in den 80er Jahren.“ Zugleich hat eine gewisse Korrektur der politischen Linie nach dem VIII. Parteitag der SED (1971) stattgefunden: Die Rolle der Intelligenz, insbesondere der im Bereich der Forschung „schöpferisch“ Tätigen ist als entscheidend unterstrichen worden.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1524–1526
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