Demokratie, Sozialistische (1985)
Siehe auch das Jahr 1979
Die marxistisch-leninistische Staatslehre versteht unter SD. „die Ausübung aller politischen Macht durch die Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen Klassen und Schichten der Werktätigen unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei … Der sozialistische Staat und das sozialistische Recht sind grundlegende Elemente, Ausdrucksformen der sozialistischen Demokratie … Der Begriff der sozialistischen Demokratie umfaßt … auch die vielfältigen nichtstaatlichen Formen gesellschaftlicher Aktivität der Werktätigen. Der Begriff der sozialistischen Demokratie charakterisiert somit das gesamte politische System der sozialistischen Gesellschaft sowohl hinsichtlich seiner politisch-sozialen Struktur und demokratischen Organisation als auch seiner praktischen gesellschaftlichen Aktion.“ (Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrbuch, Berlin [Ost] 1980, S. 279, 281)
Nach Auffassung des Marxismus-Leninismus ist jede Politik Ausdruck von Klasseninteressen. Dementsprechend gilt der Staat als „das entscheidende politische Machtinstrument in den Händen bestimmter Klassen zur Durchsetzung ihrer Interessen. Mittels des Staates wird i.d.R. die ökonomisch herrschende zur politisch herrschenden Klasse.“ (Kleines politisches Wörterbuch, 3., überarb. Aufl., Berlin [Ost], S. 854) Mit der Erringung der Staatsmacht durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die für sich in Anspruch nimmt, vor allem die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, und die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Eigentum) habe der Staat allerdings seinen Charakter grundlegend gewandelt. Zwar sei auch der sozialistische Staat in der DDR [S. 265]Klassenstaat, er vertrete aber die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft (der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten; Bündnispolitik; Klasse/Klassen, Klassenkampf) bzw. bei weiterer Ausbildung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft die Interessen aller sozialer Klassen und Schichten.
Die im wesentlichen einheitliche Eigentumsordnung habe zur Herausbildung allen gemeinsamer, grundsätzlicher Interessen geführt (Interessen/Interessenübereinstimmung). Diese Einheitlichkeit der Interessenlage mache es möglich, daß das Volk sich erstmals „souverän“ konstituieren könne. Es sei Ausdruck der Volkssouveränität, daß alle Staatsfunktionen (Legislative, Exekutive und Judikative) zur Gewalteneinheit zusammengefaßt werden. Ausdrücklich grenzt sich der Marxismus-Leninismus scharf gegenüber der Gewaltenteilung als Verfassungsgrundsatz parlamentarisch-rechtsstaatlicher D. ab.
Aus der These von der gegebenen grundsätzlichen Interessenübereinstimmung werden weitreichende Folgen für die Stellung des Bürgers im Staat gezogen. Da das Verhältnis der einzelnen zum Eigentum im wesentlichen gleich sei, der Staat keine spezifischen Interessen, sondern das von der Partei formulierte und in staatliche Normen gegossene Gesamtinteresse repräsentiere, könne jeder sich in diesem mit seinen eigenen Interessen wiederfinden. Das Tätigwerden innerhalb des politisch-sozialen Systems sei daher nicht nur Recht, sondern immer auch zugleich Pflicht der Bürger. Grundrechte sind nach diesem Staatsverständnis immer zugleich Pflichten; die konkrete inhaltliche Ausfüllung der Rechte/Pflichten bleibt zudem gebunden an das, was von seiten der Partei jeweils als historisch notwendig und möglich in deren für das politische System verbindlichen Programm (Linie) Eingang gefunden hat.
Erst in jüngerer Zeit hat sich ein gewisser Wandel im Rechtsverständnis der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie angebahnt. Bis in die 60er Jahre galt die Auffassung, daß im sozialistischen Recht objektives (die Rechtssubjekte bindendes) und subjektives (den Rechtssubjekten Ansprüche einräumendes) Recht zusammenfalle, es nur „einheitliche Normen“ gebe, die ein bestimmtes Verhalten bzw. das Unterlassen bestimmter Handlungen eindeutig vorschreiben. Seit den 60er Jahren hat sich in der DDR die Auffassung durchgesetzt, daß es auch im Sozialismus „subjektive Rechte“ gebe, d.h. die Normen des objektiven Rechts enthalten vielfach Anspruchsrechte und eröffnen Handlungsmöglichkeiten für den einzelnen. Diese Diskussion ist bisher nicht abgeschlossen: während die Mehrheit der Rechtswissenschaftler einer engen Auslegung der „subjektiven Rechte“ das Wort redet, nachdem das subjektive Recht sich wesentlich auf die Ausfüllung der objektiven Rechtsnormen beschränken soll, plädiert eine Minderheit dafür, die subjektiven Rechte zu echten Initiativrechten auszubauen, um so der SD. einen substantiellen Gehalt zu geben und zugleich die Stabilität des politischen Systems zu erhöhen. Bisher hat diese jüngere Entwicklung jedenfalls nicht dazu geführt, daß der einzelne gegenüber dem Staat in einem Rechtsstreit seine subjektiven Rechte durchsetzen könnte (Verwaltungsrecht); der einzelne bleibt noch immer auf Eingaben und Verwaltungsbeschwerden verwiesen. Gerechtfertigt wird diese Situation mit dem Argument, daß der sozialistische Staat als solcher nicht irren könne, Fehler begehen allenfalls einzelne Staatsfunktionäre bei der Auslegung einzelner Normen bzw. bei der Interpretation politischer Weisungen.
Die postulierte Interessenübereinstimmung ist im übrigen Grundlage des gesamten politischen Systems. Die SED definiert sich selbst als „die marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse und des ganzen werktätigen Volkes“, als „die führende Kraft bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“. Es sei ihre Aufgabe, „die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR auf der Grundlage einer wissenschaftlich fundierten Strategie und Taktik politisch zu leiten“ (Programm der SED von 1976, IV.). Der Staat (Staatsapparat und Volksvertretungen) ist dabei ihr Hauptinstrument. Dem Führungsanspruch der Partei unterliegen die anderen Parteien ebenso wie die gesellschaftlichen Organisationen (Massenorganisationen). Der Demokratische Zentralismus und die Kaderpolitik sind wichtige Instrumente um den Führungsanspruch der Partei durchsetzen zu können und ein einheitliches Handeln der einzelnen Systemteile zu sichern. Die Beschlüsse der SED und die von den staatlichen Instanzen gesetzten rechtlichen Normen gelten als Ausdruck der „objektiv gemeinsamen gesellschaftlichen Interessen und einheitlichen Ziele“ aller Werktätigen. „Dabei sichert die Partei, daß bei der Verwirklichung der gemeinsamen Interessen aller Werktätigen entsprechend den konkreten Bedingungen und Möglichkeiten in den verschiedenen Etappen des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus auch spezifische Interessen einzelner Klassen, Schichten, Kollektive sowie der Bürger die notwendige Beachtung finden.“ (Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, a.a.O., S. 293) Aus diesem Omnikompetenzanspruch der Partei wird jede autonome Interessenartikulation außerhalb der dafür vorgesehenen Gremien und Formen (Volksvertretungen, Massenorganisationen, Eingaben, Beschwerden usw.) ausdrücklich abgelehnt. Forderungen nach konkurrierenden Parteien, parteiunabhängigen Interessenverbänden usw. werden als „revisionistisch“ (Revisionismus) abgelehnt. Sie seien Versuche des Klassenfeindes, die „Einheit des Volkes“ aufzuspalten und bedrohten die Führungsrolle der Partei. Insbesondere nach dem Prager Frühling (1968) und den Ereignissen in Polen (1980 ff.) ist der ideologische Kampf gegen den Pluralismus und den Demokratischen ➝Sozialismus verstärkt worden.
Forderungen, das „Volkseigentum“, das auch in der staatsrechtlichen Literatur der DDR zutreffend als Staatseigentum bezeichnet wird, wirklich zu vergesellschaften (z.B. durch Einführung eines „Gruppeneigentums“ der Belegschaften, durch Ausweitung der Mitwirkung zur Mitentscheidung in ökonomischen Fragen), werden als „Angriff auf die Grundlagen des Sozialismus“, feindlich und revisionistisch bekämpft. Da der [S. 266]Staat der DDR bereits der Staat aller sei, sei Staatseigentum bereits Gemeineigentum. Eine Aufsplitterung des Eigentums bzw. die Delegation von Verfügungsrechten über das Eigentum an die Basis der Gesellschaft würde lediglich die Staatsmacht schwächen und Gruppeninteressen fördern. Unerörtert bleibt von offizieller Seite jedoch immer die tatsächliche Kumulation der Verfügungsgewalt über den gesamten Wirtschaftsprozeß in der politischen Führungsspitze bei relativer Einflußlosigkeit der Produzenten bzw. des gewöhnlichen Staatsbürgers.
Der Begriff SD. hat die Begriffe „Diktatur des Proletariats“ und Arbeiter-und-Bauern-Macht bzw. Staat seit den 60er Jahren in der Agitation und Propaganda etwas in den Hintergrund treten lassen. Die Kontinuität des ideologischen und staatsrechtlichen Selbstverständnisses des Marxismus-Leninismus ist dadurch jedoch nicht unterbrochen worden. Auch heute noch ist „die Politik der SED … auf die weitere allseitige Stärkung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern als einer Form der Diktatur des Proletariats gerichtet, die die Interessen des ganzen Volkes … vertritt“ (Programm der SED von 1976, II. C.). Die Aufnahme des Begriffes SD. als eine der zentralen Kategorien des marxistisch-leninistischen Staatsverständnisses diente zum einen der Abwehr von Angriffen aus dem Westen. Bedeutsamer ist aber wohl die Einsicht gewesen, daß der Abschluß der Phase der Enteignungen und der umfassenden sozialstrukturellen Eingriffe (vor allem in den Jahren 1945–1961) bei gleichzeitiger Herausbildung einer sozial und ökonomisch ausdifferenzierten, hochentwickelten Industriegesellschaft neue Formen der Mitwirkung notwendig machte, um die gesellschaftlichen Gruppen effektiver in das politische System zu integrieren. Der Ausbau der Mitwirkungsformen zielt allerdings nicht auf eine Verlagerung von Entscheidungskompetenzen in die Gesellschaft, sondern auf die „Erhöhung der Effektivität der staatlichen Leitung“. Die Ende der 50er Jahre geprägte Agitationslosung „Arbeite mit, plane mit, regiere mit“ hat inzwischen Eingang in die Verfassung der DDR gefunden und verdeutlicht diese Intention (Mitbestimmungs-, Mitgestaltungs- und Mitwirkungsrechte). Dabei geht es vor allem um die Beteiligung der Bürger durch Anregungen und Verbesserungsvorschläge in der Phase der Entscheidungsvorbereitung und um die optimale Ausführung einmal getroffener Entscheidungen. Innerhalb der Massenorganisationen und der Volksvertretungen findet zugleich eine begrenzte und kontrollierte Artikulation von Einzelinteressen statt. Soweit es sich um Mitentscheidungsrechte handelt (z.B. im Betrieb; Betriebsgewerkschaftsorganisationen [BGO]) bleiben diese eingebunden in die Strukturen des Demokratischen Zentralismus innerhalb der auf die Führungsrolle der Partei verpflichteten Verbände und Institutionen. Bedeutung, hat vor allem die Beratung der Partei und des Staatsapparates durch Experten erlangt, für die seit den 60er Jahren eine große Zahl von ständigen und zeitweiligen Beratungsgremien auf allen Ebenen des Partei- und Staatsaufbaus entstanden sind. — Der Ausbau der Mitwirkungsformen wird auch zukünftig angestrebt: „Die Hauptrichtung, in der sich die sozialistische Staatsmacht entwickelt, ist die weitere Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie. Die in vielfältigen Formen erfolgende Mitwirkung der Bürger an der Leitung des Staates und der Wirtschaft wird immer mehr zum bestimmenden Merkmal des Lebens im Sozialismus.“ (Programm der SED von 1976, II. C.)
Der Marxismus-Leninismus grenzt die SD. deutlich gegenüber dem liberalen Demokratieverständnis des Westens ab: Gewaltenteilung, Parteienkonkurrenz mit entsprechenden Wahlverfahren, autonomes Verbandswesen, Sicherung einer autonomen Sphäre des einzelnen gegenüber dem Staat usw. gelten als „bürgerlich“. Sie dienten letztlich auch in kapitalistischen Systemen nur der Verschleierung der tatsächlich gegebenen Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Gemäß der marxistischen Formationslehre (Gesellschaftsordnung) stellt die bürgerliche D. allerdings dennoch einen Fortschritt gegenüber dem absolutistischen Feudalstaat dar, weil sie dem Proletariat das Wahlrecht sowie Rede- und Koalitionsfreiheit gebracht und damit die Voraussetzungen für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft geschaffen habe. Die bürgerliche D. sei zwar eine „Diktatur der Minderheit über die Mehrheit“, der Bourgeoisie über das Proletariat, bilde aber ein erstrebenswertes Übergangsstadium auf dem Wege zur Diktatur des Proletariats und zum Sozialismus. Grundrechte, Sozialistische; Verfassung; Wahlen.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 264–266
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