DDR von A-Z, Band 1985

D. Der gescheiterte Redneraustausch zwischen SED und SPD

 

Deutschlandpolitik der SED (1985)

 

 

Siehe auch:

 

I. Grundzüge

 

 

A. Deutschlandpolitik und Stellung der DDR im Warschauer Pakt

 

 

Die Geschichte der Teilung Deutschlands und der Wandel der deutschlandpolitischen Vorstellungen der KPD/SED seit dem Ende des II. Weltkrieges sind aufs engste verknüpft mit jenem internationalen Konflikt, der seit 1947 als „Kalter Krieg“ bezeichnet worden ist. Der Zerfall der Staatenkoalition, die sich während des Krieges gegen das Deutschland Hitlers vereinigt hatte, die Entstehung zweier Blöcke, zweier politischer, wirtschaftlicher und militärischer Allianzsysteme, schließlich das Bemühen, die zwischen Ost und West bestehenden friedensgefährdenden Spannungen abzubauen und die zwei Jahrzehnte andauernde Konfrontation durch neue Formen der Kooperation (Friedliche Koexistenz) zu ersetzen — dieser weltpolitische Entwicklungsgang setzte die Rahmenbedingungen für die D. der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Frage, ob und inwieweit die SED überhaupt imstande war, ihren politischen Kurs autonom zu bestimmen und in welchem Ausmaß sie auf die Deutschland- und Europapolitik der Sowjetunion einzuwirken vermochte, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Eine Darstellung der D. wird diese Rahmenbedingungen immer zu erwägen haben. Ebenso hat die innenpolitische Situation in der SBZ/DDR den Handlungsspielraum der SED wesentlich mitbestimmt. In ihrem taktischen Verhalten kamen von Fall zu Fall auch Reaktionen auf Schritte westlicher Deutschlandpolitik und auf die in der Bevölkerung vorherrschenden Meinungen zum Ausdruck. Als die SED 1946, kurz vor den ersten Wahlen in der Sowjetzone, hinsichtlich der künftigen Grenzziehung an Oder und Neiße eine von der sowjetischen Position abweichende Haltung einnahm und sich gegen die Abtrennung der Ostgebiete wandte, war dies nur eine Episode. Ende der 40er und im Laufe der 50er Jahre hielt sich die SED strikt, bis in Nuancen, an die von der Sowjetunion vertretene Linie. In den 60er Jahren mehrten sich Anzeichen dafür, daß das politisch-ökonomische Gewicht der DDR größer geworden war, was ihr im Verhältnis zur Sowjetunion und zu anderen Partnern ein gewisses Mitspracherecht eröffnete. Die DDR-Regierung achtete jedoch stets sorgsam darauf, daß ihre D. bis in Einzelheiten mit der der Sowjetunion abgestimmt war. Ihre Sprecher betonten stets die Führungsrolle der KPdSU innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Als Mitglied des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) seit 1950 und als einer der an der Gründung des Warschauer Paktes 1955 beteiligten Staaten betrachtet die DDR ihre Zugehörigkeit zum östlichen Bündnissystem als eine fundamentale Bedingung ihrer politischen Existenz. Ihre enge Bindung an die Sowjetunion ist völkerrechtlich durch die Verträge vom 20. 9. 1955, vom 12. 6. 1964 und vom 7. 10. 1975 bekräftigt worden; ihre Beziehungen zu den übrigen Staaten der Allianz gründen sich auf bilaterale Bündnis- und Beistandsverträge, die in den Jahren 1967/68 und in modifizierter Form 1977 abgeschlossen wurden. Im Artikel 6 Abs. 2 ihrer neuen Verfassung vom April 1968 hat die DDR die „allseitige Zusammenarbeit und Freundschaft mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und den anderen sozialistischen Staaten“ zum Verfassungsgrundsatz erhoben. Nach der Verfassungsänderung vom 7. 10. 1974 lautet der entsprechende Artikel 6 Abs. 2 Satz 1: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet.“ Diese Vertrags- und Verfassungsnormen spiegeln die Bereitschaft der DDR-Führung, in ihrer D. stets die Bündnissolidarität zu wahren. Dies allerdings stellt keinen Verzicht auf die Vertretung spezifischer eigener Interessen der DDR bei der Festlegung des generellen außenpolitischen Kurses der Allianz dar; spätestens seit Mitte der 60er Jahre haben die Bündnispartner der DDR ihrerseits deren besonderen Interessenlage Rechnung zu tragen versucht (Außenpolitik).[S. 280]

 

B. Phasen der Deutschlandpolitik im Überblick

 

 

Die D. der KPD/SED läßt verschiedene Phasen erkennen (Periodisierung).

 

1. 1941–1945. Die Führung der KPD bereitete sich im Moskauer Exil auf die Rückkehr nach Deutschland vor (Nationalkomitee Freies Deutschland [NKFD]; Gruppe Ulbricht). Dabei hatte sie Rücksicht auf die zwischen der UdSSR und den Westmächten im Verlauf der beiden Kriegskonferenzen (Teheran: 28. 11.–1. 12. 1943; Jalta: 4.–11. 2. 1945) und dann — nach der deutschen Kapitulation — im Potsdamer Abkommen (2. 8. 1945) getroffenen Vereinbarungen zu nehmen. Die darin umschriebenen gesellschaftspolitischen Ziele wurden jedoch von den Kriegsalliierten, insbesondere nach Kriegsende, unterschiedlich interpretiert.

 

2. 1945–1947. Die KPD — und nach ihrer Gründung im April 1946 die SED — verfolgte solange einen behutsamen deutschlandpolitischen Kurs, wie die Kriegsalliierten trotz wachsender Gegensätze im alliierten Kontrollrat bzw. auf internationalen Konferenzen um Zusammenarbeit bemüht blieben. Ausdruck dieses Kurses der KPD waren sowohl die Feststellungen in ihrem Aufruf vom 11. 6. 1945, es wäre falsch, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“, als auch die 1945–1947 propagierte These vom „eigenen deutschen Weg zum Sozialismus“.

 

3. 1948–1952. Nach den gescheiterten alliierten Außenministerkonferenzen von Moskau und London (März/April bzw. November/Dezember 1947) stellte sich die SED auf eine länger anhaltende Teilung Deutschlands ein. Ihr Wandel zu einer „Partei neuen Typs“, also zu einer leninistischen Kaderpartei, war zugleich begleitet von dem Versuch, mit diktatorischen Mitteln die Umwandlung der Gesellschaft zu einer volksdemokratischen Ordnung voranzutreiben, wobei die Sowjetunion in allen Bereichen als Vorbild galt.

 

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (23. 5. 1949 bzw. 7. 10. 1949) sowie der Spaltung Berlins während der Blockade (1948/49) war eine erste Phase der Teilung Deutschlands abgeschlossen. Ohne ihre noch gesamtdeutsche Zielrichtung in der D. aufzugeben, wurde auf der 2. Parteikonferenz der SED (1952) mit dem Beschluß über den „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR die separate Entwicklung in der DDR beschleunigt.

 

4. 1952–1955. Mit der Parole „Deutsche an einen Tisch“ unterstützte die DDR die sowjetische D., die mit einer Reihe diplomatischer Offensiven (1952 und 1955) die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland, d.h. vor allem ihre Eingliederung in die atlantische Allianz und ihre Wiederbewaffnung zu verhindern suchte. Unter dem Schock des im Sommer 1950 von der UdSSR ausgelösten Koreakrieges war der Westen einschließlich der damaligen Bundesregierung, aber gegen den Willen der Opposition, nicht bereit, auf die östlichen Initiativen einzugehen, zumal das — nicht ganz eindeutige — Wiedervereinigungsangebot nur für ein neutrales, mit kleiner Selbstverteidigungsarmee ausgestattetes Deutschland gelten sollte.

 

5. 1955–1961. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Nordatlantischen Vertrag (NATO) und der DDR zum Warschauer Vertrag (1955) verlagerte sich die D. der SED von der staatsrechtlichen auf die völkerrechtliche Ebene. Eine Wiedervereinigung durch freie, gesamtdeutsche Wahlen („auf mechanische Weise“) wurde jetzt rundweg abgelehnt; an deren Stelle trat die Forderung nach Garantie der Sozialistischen ➝Errungenschaften im Falle einer Wiedervereinigung in den Vordergrund. Diese Forderung war zugleich Grundlage des Ende 1956 zum ersten Mal unterbreiteten, später mehrmals präzisierten Konföderations-Vorschlages der SED.

 

Da der Westen die Anfang 1958 in ultimativer Form erhobene, von der DDR unterstützte sowjetische Forderung nach Abschluß eines Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten ablehnte und auch die Drohung der Sowjetunion, einen Separatfriedensvertrag mit der DDR zu unterzeichnen, zurückwies, verstärkte die UdSSR seit Ende 1958 ihren Druck auf Berlin (West). Diese zweite schwere Berlin-Krise erreichte ihren Höhepunkt mit der Errichtung der „Mauer“ im August 1961.

 

6. 1962–1966. Nach der sowjetischen Niederlage in der Kuba-Krise 1962 und der Unterzeichnung des Atomwaffen-Teststopp-Abkommens 1963 wirkten sich die einsetzenden internationalen Entspannungstendenzen auch in der D. aus. Die in den Jahren 1963–1966 ausgehandelten Berliner Passierscheinabkommen waren Ausdruck einer vom Berliner Senat eingeleiteten „Politik der kleinen Schritte“, nachdem sich Generalsekretär Walter Ulbricht bereits Ende 1962 für einen „nationalen Kompromiß“ zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen hatte (Nation und nationale Frage). Zudem legte der VI. Parteitag der SED im Februar 1962 das Schwergewicht der Tätigkeit der Partei auf die Konsolidierung bzw. Rationalisierung des Herrschaftssystems.

 

Der zwischen SPD und SED im Frühjahr 1966 vereinbarte und von der SED im Sommer 1966 abgesagte Redneraustausch zeigte, daß die Einheitspartei in der D. jedes innenpolitische Risiko zu vermeiden suchte (Sozialdemokratismus) und sich von einer derartigen Zusammenarbeit auch keine Einflußchancen auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik mehr erhoffte.

 

7. 1967–1972. Die D. gegenüber der Regierung der Großen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland verhärtete sich insofern, als nunmehr die DDR ihre diplomatische Anerkennung zur Vorbedingung für eine innerdeutsche Normalisierung machte, obwohl sich die Bundesrepublik 1967 zum ersten Mal [S. 281]bereitgefunden hatte (Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Kiesinger und dem Vorsitzenden des Ministerrates Willi Stoph), offizielle Kontakte mit Partei- und Staatsorganen der DDR aufzunehmen. Auf die „neue Ostpolitik“ der kleinen Koalition, insbesondere auf deren neue Deutschlandpolitik („Zwei Staaten — eine Nation“), reagierte die SED ihrerseits mit der Propagierung einer veränderten Nation-Theorie (Nation und nationale Frage). Sie führte über die Begründung der Spaltung von deutschem Staat und — zunächst noch der einen — deutschen Nation zur ideologisch-politischen Legitimation der Behauptung von der Entwicklung zweier deutscher Nationen, insbesondere einer sozialistischen deutschen Nation in der DDR (Abgrenzung). Zugleich änderten sich mit dem Abschluß der Ostverträge (Gewaltverzichtsverträge) der Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR und der Volksrepublik Polen sowie der Unterzeichnung des Berlin-Abkommens durch die vier Mächte 1971 die internationalen Rahmenbedingungen für die D.

 

8. 1972–1983. Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages am 21. 12. 1972 begann eine Phase der D. der SED, die in den Innerdeutschen Beziehungen zum Abschluß zahlreicher Abkommen und Vereinbarungen führte. Diese Vertragspolitik verhalf der DDR zur völkerrechtlichen Anerkennung durch die Mehrzahl der Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft (Diplomatische Beziehungen). Sichtbarer Ausdruck und zugleich formaler Abschluß jahrzehntelanger Bemühungen um den Durchbruch auf der weltpolitischen Bühne war die Aufnahme der DDR (zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland) in die Vereinten Nationen 1973. Durch eine verschärfte Abgrenzungspolitik suchte die SED-Führung die innenpolitischen Folgen der mit dieser Entwicklung einhergehenden partiellen Öffnung der DDR nach Westen abzufangen. Die gleichberechtigte Teilnahme der DDR an der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“, deren Schlußakte 1975 auch von dem Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, Erich Honecker, unterzeichnet wurde, hat für die DDR die latente und offene Spannung zwischen Sicherheitsbedürfnissen und dem Ziel der Teilnahme an der internationalen Kooperation sowie der Normalisierung des innerdeutschen Verhältnisses weiter erhöht. Trotzdem bleibt die D. der SED, auch nach der Ende der 70er Jahre eingetretenen Verschlechterung des Ost-West-Klimas und nach dem Regierungswechsel in Bonn im Herbst 1982 auf die Fortsetzung des innerdeutschen Entspannungsprozesses orientiert.

 

C. Wendepunkte der Deutschlandpolitik

 

 

Rückschauend lassen sich in der D. der SED entscheidende inhaltliche Wendepunkte aufzeigen, die nur z.T. mit den aufgezeigten chronologischen Wendemarken identisch sind: 1948 der Kurswechsel in Richtung auf eine eigene Staatsgründung, 1955 die Proklamation der Zwei-Staaten-These in Verbindung mit der gesellschaftspolitisch relevanten Forderung nach Garantie der „sozialistischen Errungenschaften“ im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands, 1960–1962 ideologische Absicherung des Rückzugs auf die „Nationale Mission“ der DDR als souveräner deutscher Staat sowie endgültige Spaltung Berlins und gewaltsame Unterbrechung des Flüchtlingsstroms durch Bau der Mauer, 1970 die Abkehr von der Formel „zwei Staaten — eine Nation“ und der grundsätzliche Verzicht auf das Ziel einer deutschen Wiedervereinigung.

 

II. Von der „Atlantik-Charta“ bis zur Gründung der DDR

 

 

A. Vorgeschichte (1941--1945)

 

 

In der „Atlantik-Charta“ (12. 8. 1941) hatten die USA und Großbritannien ihre Kriegsziele verkündet. Sie versicherten darin u.a., daß „ihre Länder keinerlei Gebiets- und sonstige Vergrößerungen erstrebten“, die „nicht mit den frei zum Ausdruck gebrachten Wünschen der betreffenden Völker übereinstimmten“. Auf der Sitzung des Interalliierten Rates in London vom 24. 9. 1941 hatte u.a. die UdSSR dieser Proklamation zugestimmt.

 

Ohne eine freie Willensäußerung des deutschen Volkes abzuwarten, erörterten die Alliierten jedoch auf ihren folgenden Kriegskonferenzen Pläne für eine Aufteilung Deutschlands in 5 Teile (28. 11. bis 1. 12. 1943 in Teheran) und einigten sich vorläufig auf eine Ausdehnung Polens von der Curzon-Linie bis zur Oder. In dem von der European Advisory Commission (EAC) am 12. 9. 1944 beschlossenen Londoner Protokoll, dem 1945 auch Frankreich beitrat, einigten sich die UdSSR, die USA und Großbritannien auf die Errichtung von Besatzungszonen in Deutschland und ein gemeinsam zu verwaltendes Sondergebiet für Berlin. Auf der Konferenz in Jalta (3.–11. 2. 1945) wurden, insbesondere auf Veranlassung Stalins, zunächst erneut die „völlige Entwaffnung, Entmilitarisierung und Zerstückelung Deutschlands“ beschlossen. Da es außer dieser Formulierung im Protokoll der Konferenz keinen förmlichen Beschluß über die Aufgliederung, d.h. die staatliche Zukunft Deutschlands und die Art ihrer Durchführung gab, sollten diese Fragen von dem „Ausschuß für die deutsche Teilungsfrage“ (Dismemberment Committee) in London weiterberaten werden. Die UdSSR hat sich an den Beratungen dieses Komitees weitgehend uninteressiert gezeigt. In Potsdam einigte man sich, der Moskauer Reparationskommission als „Diskussionsgrundlage“ eine deutsche Wiedergutmachung von 20 Mrd. Dollar (50 v.H. an die UdSSR) zu empfehlen. Sicher haben die Frage der Reparationen und die Sorge der [S. 282]Sowjets, bei einer Aufteilung Deutschlands von den Industriezentren des Rheinlandes abgeschnitten zu werden, entscheidend dazu beigetragen, daß Stalin seit dem Abschluß des sowjetisch-polnischen Bündnispaktes am 21. 4. 1945 alle sowjetischen Pläne einer „Zerstückelung“ Deutschlands in Abrede stellte (Stalins Rundfunkansprachen vom 9. 5. 1945 aus Anlaß der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Reims und Karlshorst am 8. 5. 1945). Diesen unterschiedlichen Intentionen der Alliierten im Hinblick auf die Behandlung Nachkriegsdeutschlands mußte die Führung der KPD, die sich im Moskauer Exil auf die Rückkehr nach Deutschland vorbereitete, in vielfacher Hinsicht, d.h. sowohl bei der Auswahl künftiger Bündnispartner, aber auch in der Behandlung strategischer und taktischer Fragen. Rechnung tragen (Gruppe Ulbricht).

 

B. Vorsichtiger Kurs bei der volksdemokratischen Umwälzung in der SBZ (1945--1947)

 

 

Nachdem die Oberbefehlshaber der vier Besatzungsarmeen in ihren Deklarationen vom 5. 6. 1945 die „oberste Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“ übernommen und festgestellt hatten, daß Deutschland „innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden, für Besatzungszwecke in vier Zonen aufgeteilt“ werde, ließ die Sowjetunion in der Folgezeit durch die Konstituierung und Arbeitsweise ihrer Militäradministration erkennen, daß sie die Gebiete östlich der Oder und der westlichen (Lausitzer oder Görlitzer) Neiße nicht zu ihrer Besatzungszone in Deutschland rechnete. Ohne die territoriale Gestalt des besetzten Landes eindeutig zu bestimmen, legte das Potsdamer Protokoll fest, Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu behandeln und, soweit „praktisch durchführbar“, die „deutsche Bevölkerung in ganz Deutschland“ gleich zu behandeln. Darüber hinaus sollte Deutschland demokratisiert und seine spätere Mitarbeit in internationalen Organisationen vorbereitet werden. D. h., zu diesem Zeitpunkt gingen die 3 in Potsdam vertretenen Siegermächte einvernehmlich von dem Ziel aus, Deutschland als einheitlichen Staat zu erhalten. Als Folge der hinsichtlich der deutschen Frage ergebnislosen alliierten Konferenzen der Jahre 1947 und 1948 begann in beiden Teilen Deutschlands eine Entwicklung, die 1949 zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR führte.

 

In der SBZ schuf die Sowjetische Militäradministration (SMAD) am 25. 7. 1946 11 deutsche Zentralverwaltungen, deren Errichtung eine einseitige Vorwegnahme der nach dem Potsdamer Abkommen für ganz Deutschland vorgesehenen Zentralverwaltungen darstellte und insofern die Abspaltung der SBZ von den anderen Besatzungszonen verstärkte.

 

Der im August 1946 von den Sowjets geschaffenen „Deutschen Verwaltung des Inneren“ wurden bereits die Polizeien aller 5 SBZ-Länder unterstellt, wodurch eine weitgehende Zentralisierung der Verwaltung der SBZ erreicht wurde. Durch SMAD-Befehl Nr. 138 vom 27. 6. 1947 wurden die 11 Zentralverwaltungen zur Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) zusammengefaßt und deren Zuständigkeit seit Februar/März 1948 erheblich ausgeweitet. Außerhalb der DWK wurden noch einige Zentralverwaltungen (für Justiz, Volksbildung, Gesundheitswesen und Inneres) eingerichtet, die formal dem ersten DWK-Präsidenten (Heinrich Rau [SED]) unterstanden. Die DWK nahm von Anfang an gewisse Funktionen einer Zentralregierung wahr. In den westlichen Zonen gab es zu dieser Zeit keine vergleichbaren zentralen deutschen Verwaltungen. Das Scheitern der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz (6.–7. 6. 1947) zeigte, daß die Westmächte einerseits damals nicht bereit waren, vor einer grundsätzlichen Einigung zwischen den Alliierten, Vertreter deutscher Verwaltungsorgane über politische Fragen der Wiedervereinigung beraten zu lassen. Andererseits bewiesen SED und Sowjets durch den von ihnen erzwungenen Auszug der 5 Ministerpräsidenten der SBZ, daß sie der ersten gesamtdeutschen Beratung nach dem Krieg nur unter ihren Bedingungen zuzustimmen bereit waren.

 

C. Von der Vorbereitung der beiden Staatsgründungen in Deutschland bis zum Beginn des „Aufbaus des Sozialismus“ (1948--1952)

 

 

Sowohl die Schaffung der „Bi-Zone“ (2. 12. 1946) als auch die Gründung eines „deutschen Wirtschaftsrates“ (29. 5. 1947) und die Zusammenlegung aller 3 westlichen Zonen zur „Tri-Zone“ (Sommer 1948) hatten überwiegend wirtschaftliche Gründe, da sich die Alliierten über die Behandlung Deutschlands als wirtschaftlicher Einheit nicht zu einigen vermochten (zuletzt auf der Vier-Mächte-Außenministerkonferenz vom 23. 5. bis 20. 6. 1949 in Paris) und die Durchführung einer Währungsreform notwendig geworden war. Diese und ihre Nichtbeteiligung an der inoffiziellen Londoner Sechsmächtekonferenz (23. 2.–3. 6. 1948) nahmen die Sowjets zum Anlaß, den Alliierten Kontrollrat zu verlassen (20. 3. 1948) und gegen Berlin die Blockade (24. 6. 1948) zu verhängen. Gleichzeitig „bestätigte“ der 3. Deutsche Volkskongreß der SBZ am 30. 5. 1949 die 1. Verfassung der „Deutschen Demokratischen Republik“.

 

Er wählte einen Deutschen Volksrat, der sich am 7. 10. 1949 zur „provisorischen Volkskammer“ erklärte. Die ersten Wahlen zur 1. Volkskammer (15. 10. 1950) erfolgten nach Einheitslisten der Nationalen Front. Am 10. 10. 1949 wurde die SMAD in eine Sowjetische Kontrollkommission (SKK) umgewandelt und die Regierung der DDR für Außenpolitik und Außenhandel zuständig erklärt.

 

[S. 283]Auf der New Yorker Außenministerkonferenz der 3 Westmächte (18. 9. 1950) wurde die Bundesregierung erstmalig offiziell für berechtigt erklärt, als einzige deutsche Regierung bis zur Wiedervereinigung für das gesamte Deutschland zu sprechen.

 

Die SED behauptete dagegen, die Westmächte hätten das Potsdamer Abkommen gebrochen, die „Bildung der Bonner Marionettenregierung“ habe den „nationalen Notstand und die Kriegsgefahr verstärkt“. Sie forderte die Schaffung einer „provisorischen Regierung des demokratischen Deutschland“ und den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland (ND 5. 10. 1949).

 

Zur D. sagte Wilhelm Pieck, Präsident der DDR, am 10. 11. 1949 vor der Volkskammer: „Niemals wird die Spaltung Deutschlands … von der Deutschen Demokratischen Republik anerkannt werden … Es geht nicht darum, oh die westdeutsche Bundesregierung und die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik sich gegenseitig anerkennen, sondern darum, gemeinsam oder nebeneinander der den nationalen Interessen des deutschen Volkes zu dienen … wir wollen ein demokratisches, nationales und wirtschaftlich selbständiges Deutschland …“ („Dokumente zur Außenpolitik der DDR“, Bd. I, Berlin [Ost] 1954, S. 15–16) In seiner ersten Regierungserklärung vom 12. 10. 1949 bezeichnete O. Grotewohl die Gründung des „Bonner Separatstaates“ als „Vollendung der Spaltung Deutschlands“. Gleichzeitig wurde „die Wiedervereinigung aller Teile Deutschlands zu einer einheitlichen demokratischen Republik“ gefordert, deren „Rechtsgrundlage“ im Potsdamer Abkommen enthalten sei. Die im Westen beginnende Diskussion um die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft unter Einschluß der Bundesrepublik Deutschland und die vorerst versteckte, später offene Aufrüstung in der DDR (bereits Ende der 40er Jahre wurde mit dem Aufbau paramilitärischer Verbände in Form der Kasernierten Volkspolizei begonnen) leiteten die Phase der Einbeziehung beider Teile Deutschlands in das östliche bzw. westliche Bündnissystem ein.

 

Im folgenden zeigte es sich, daß die Regierungen in beiden deutschen Staaten (und die hinter ihnen stehenden Mächtegruppierungen) in der deutschen Frage auf entgegengesetzten Positionen beharrten und keine praktischen Schritte unternahmen, die zu einer Annäherung hätten führen können. Die Bundesregierung forderte stets als ersten Schritt zur Wiederherstellung der deutschen Einheit gesamtdeutsche, freie, geheime, gleiche und von den Besatzungsmächten unbeeinflußte Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung (so in ihrer Erklärung vom 25. 3. 1950 und in der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 14. 9. 1950 zu den bevorstehenden Volkskammerwahlen in der DDR am 15. 10. 1950).

 

Die Regierung der DDR schlug in Anlehnung an die Empfehlungen der Prager Außenministerkonferenz (20.–21. 10. 1950) vor, zunächst einen „Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat unter paritätischer Zusammensetzung aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands“ zu bilden, der die Einsetzung einer „gesamtdeutschen souveränen demokratischen und friedliebenden provisorischen Regierung vorzubereiten, mit der Ausarbeitung eines Friedensvertrages zu beginnen und Vorbereitungen für die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen zu treffen hätte“ (so in einer Regierungserklärung Otto Grotewohls vom 15. 9. 1950, in einem „Beschluß des Ministerrates der DDR“ vom 25. 10. 1950 und einem Brief Grotewohls an Bundeskanzler Adenauer vom 30. 11. 1950).

 

Am 15. 9. 1951 modifizierte Grotewohl in einer Regierungserklärung seinen Vorschlag über die Bildung eines Gesamtdeutschen konstituierenden Rates bzw. einer „Gesamtdeutschen Beratung“, indem er dessen paritätische Zusammensetzung als „nicht von grundlegender Bedeutung“ bezeichnete.

 

Als der Bundestag am 27. 9. 1951 „14 Grundsätze einer neuen Wahlordnung für gesamtdeutsche Wahlen“ verabschiedete und deren internationale Kontrolle forderte, erklärte Grotewohl in einer Regierungserklärung vom 10. 10. 1951 diese Vorschläge in der Mehrzahl als „annehmbar“ und eine internationale Kontrolle als diskutabel, falls es vorher zu einer „gesamtdeutschen Beratung“ käme. Eine solche Beratung wurde jedoch am 16. 10. 1951 erneut von Bundeskanzler Adenauer vor dem Bundestag abgelehnt.

 

III. Fortsetzung der gesamtdeutschen Politik bis zur Gründung von NATO und Warschauer Pakt (1952--1955)

 

 

Auf Vorschlag der 3 Westmächte verabschiedete die UN-Vollversammlung am 20. 12. 1951 (u.a. gegen die Stimmen des Sowjetblocks) eine Resolution über die Einsetzung einer UN-Kommission, die die Voraussetzung für freie Wahlen in ganz Deutschland prüfen sollte. Die Resolution wurde am 9. 1. 1952 von der Regierung der DDR als „rechtsungültig“ bezeichnet und am 23. 3. 1952 der UN-Kommission in Berlin die Einreise in die DDR verweigert.

 

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen sowohl die Frage des Wahlmodus — wie die beiden Wahlgesetzentwürfe der Volkskammer vom 9. 1. 1952 und des Deutschen Bundestages vom 6. 2. 1952 zeigen — als auch die Reihenfolge der Schritte, die zur Wiedervereinigung führen sollten. Der Notenwechsel zwischen der UdSSR und den Westmächten im Jahre 1952 zeigte, daß die UdSSR nicht bereit war, freien Wahlen vor dem Abschluß eines Friedensvertrages zuzustimmen. Aus diesem Grunde lehnten die Westmächte auch den Entwurf eines Friedensvertrages und den Vorschlag zur Bildung [S. 284]einer „Provisorischen gesamtdeutschen Regierung“ ab, den Molotow auf der Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954 unterbreitete. Darüber hinaus stieß der sowjetische Vorschlag im Westen auf Ablehnung, da er als diplomatischer Schachzug gegen den geplanten Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO (im Oktober 1954 auf der Londoner Neunmächtekonferenz beschlossen) verstanden wurde. Die Westmächte widersprachen entschieden dem sowjetischen Verlangen nach Festlegung eines neutralen Status des wiedervereinigten Deutschland noch vor der Bildung gesamtdeutscher Staatsorgane, denen sie im Prinzip außenpolitische Handlungsfreiheit zugestehen wollten. — Bei noch fehlender außenpolitischer Souveränität unterstützte die DDR in dieser Phase die D. der UdSSR propagandistisch und auch aktiv („Deutsche an einen Tisch“), indem sie durch das Arrangement zahlreicher innerdeutscher Begegnungen ihre Anerkennung als Gesprächs- und Verhandlungspartner durch die Bundesregierungen zu erreichen suchte.

 

Um die Ratifizierung der Pariser Verträge durch die Bundesrepublik Deutschland zu verhindern, erklärte sich die UdSSR am 14. 1. 1955 bereit, „Gesamtdeutschen Wahlen“ unter internationaler Aufsicht zuzustimmen, falls sich „die Regierungen der DDR und der BRD damit einverstanden erklären“. Unter Abkehr von seiner bisherigen Haltung stimmte auch der Ministerrat der DDR am 20. 1. 1955 einer internationalen Aufsicht über gesamtdeutsche Wahlen zu. Die Bundesregierung lehnte diesen Vorschlag am 22. 1. 1955 ab.

 

Am 5. 5. 1955 traten die Pariser Verträge in Kraft, das Besatzungsstatut wurde aufgehoben, und die Bundesrepublik Deutschland trat der WEU bei, am 9. 5. 1955 wurde sie in den Nordatlantikpakt aufgenommen. Die DDR trat dem am 14. 5. 1955 gegründeten Warschauer Pakt bei. Damit war die Einbeziehung beider Teile Deutschlands in die Militärblöcke des Westens und Ostens vollzogen und einer D., die auf die Verhinderung der Integration der Bundesrepublik Deutschland in die NATO zielte, der Boden entzogen. Eine neue Etappe der D. begann.

 

IV. Verlagerung der Deutschlandpolitik von der staatsrechtlichen auf die völkerrechtliche Ebene (1955--1961)

 

 

A. Unterordnung der Deutschlandpolitik unter veränderte sowjetische Ziele (1955--1956)

 

 

In der TASS-Erklärung vom 12. 7. 1955 vollzog die UdSSR eine deutschlandpolitische Kursänderung. Sie bezeichnete nunmehr die „Gewährleistung der europäischen Sicherheit“ als „wichtigste Frage“, der gegenüber das „Verfahren der Durchführung von Wahlen“ (in Deutschland) eine „untergeordnete Frage“ sei.

 

Zwar einigten sich die Regierungschefs der Vier Mächte auf der Genfer Gipfelkonferenz (17.–23. 7. 1955) in der Direktive an ihre Außenminister, die „Regelung des deutschen Problems und der Wiedervereinigung Deutschlands mittels freier Wahlen“ anzustreben. Jedoch schon auf der Rückreise von Genf nannte Chruschtschow am 26. 7. 1955 in der DDR die „mechanische Vereinigung beider Teile Deutschlands“ (durch Wahlen zu einer gesamtdeutschen Nationalversammlung) eine „unreale Sache“. Er lehnte es ab, die „deutsche Frage“ auf „Kosten der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu lösen“. In einer Regierungserklärung vom 12. 8. 1955 schloß sich Grotewohl dem sowjetischen Standpunkt an und betonte, daß eine Wiedervereinigung „nur Schritt für Schritt auf dem Wege der Zusammenarbeit und der Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeigeführt werden kann“ („Dokumente zur Außenpolitik der DDR“, Bd. III, Berlin [Ost] 1956, S. 32). „Freie demokratische Wahlen“ würden — so Grotewohl — erst stattfinden, wenn ihre „Ausnutzung zu Aggressionszwecken“ nicht mehr möglich sei.

 

Als konkrete Maßnahmen zur „Annäherung beider deutscher Staaten“ schlug er eine Beteiligung an der Ausarbeitung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa vor und regte verstärkte wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen ihnen und eine „Verbesserung der Bedingungen für den Verkehr der Bevölkerung zwischen beiden Staaten“ an. Erstmalig wurde von Grotewohl offiziell gefordert, daß in der Bundesrepublik Deutschland die „Herrschaft der Monopolkapitalisten und Großgrundbesitzer“ gebrochen werden müsse, wenn „die friedliebenden Kräfte des deutschen Volkes“ die „realen Voraussetzungen für die Vereinigung Deutschlands“ schaffen wollten.

 

Bei seinem Moskau-Besuch vom 9. bis 13. 9. 1955 willigte Bundeskanzler Adenauer in die von den Sowjets vorgeschlagene Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion ein.

 

Im folgenden hat die SED ihre Vorstellungen zur D. und zur Lösung des deutschen Problems mehrmals formuliert. Die verschiedenen Modifikationen vollzogen sich jedoch stets innerhalb eines feststehenden Grundmusters: eine Wiedervereinigung durch freie Wahlen im westlichen Sinne wurde abgelehnt, Vereinbarungen „zwischen beiden deutschen Regierungen“ jedoch befürwortet. Am 31. 12. 1956 schlug Ulbricht im „Neuen Deutschland“ im „Interesse der Wiedervereinigung der Arbeiterklasse ganz Deutschlands“ vor, zunächst eine „Annäherung“ der zwei deutschen Staaten mit ihren verschiedenen gesellschaftlichen Systemen herbeizuführen, um „später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation zu finden“. Erst daran anschließend könnten „wirkliche demokratische Wahlen“ zu einer Nationalversammlung stattfinden.[S. 285]

 

B. Von der Konföderationspolitik zur zweiten Berlin-Krise (1957--1959)

 

 

Was die SED unter einer „Konföderation“ verstand, hat sie danach noch mehrmals präzisiert. Am 30. 1. 1957 nannte Ulbricht zunächst die Vorbedingungen für eine „Annäherung beider deutscher Staaten“: u.a. Erweiterung des westdeutschen Betriebsverfassungsgesetzes, Beseitigung aller Vorrechte der Großgrundbesitzer, Volksabstimmung über die Überführung der Schlüsselindustrien in Volkseigentum, demokratische Boden- und Schulreform. Danach könnten die Mitglieder eines paritätisch zusammengesetzten „Gesamtdeutschen Rates“ auf der Basis der geltenden Wahlgesetze gewählt werden. Dieser Rat wäre als Regierung der Konföderation, eines Staatenbundes aus DDR und Bundesrepublik Deutschland, befugt, „freie gesamtdeutsche Wahlen“ vorzubereiten.

 

Während der Diskussion über den ersten Rapacki-Plan im Jahre 1957 erneuerte der Ministerrat der DDR am 26. 7. 1957 seinen Konföderationsvorschlag, jedoch mit der wichtigen Einschränkung, daß ein „Gesamtdeutscher Rat“ nur „beratenden Charakter“ haben sollte. Da einerseits in einer Konföderation jeder der beiden deutschen Staaten seine bestehende gesellschaftspolitische Ordnung unverändert beibehalten sollte, blieb unklar, wie sich die SED die „Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden und antiimperialistischen deutschen Staates“ vorstellte.

 

Am 2. 8. 1957 wurde von der UdSSR eine Konföderation nur als „erster Schritt“ auf dem Weg zur Beseitigung der deutschen Spaltung bezeichnet. Die UdSSR hatte — zum wiederholten Male in einer Note vom 8. 1. 1958 an die Bundesregierung — den Plan der SED entschieden befürwortet, während die Bundesregierung eine Konföderation am 20. 1. 1958 mit der Begründung ablehnte, die Wiedervereinigung sei nicht Sache zweier Regierungen, sondern liege in der „ausschließlichen Zuständigkeit des deutschen Volkes“. Am 22. 1. 1958 bestritt Chruschtschow, daß sich die UdSSR jemals zur Abhaltung freier Wahlen als erstem Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands verpflichtet hätte. Auf dem Boden Deutschlands existierten jetzt „zwei souveräne Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“, deren Aufgabe es in erster Linie sei, die „nationale Einheit Deutschlands als einheitlichen, friedliebenden, demokratischen Staat wiederherzustellen“. Worauf es jedoch der SED mit ihrem Vorschlag für eine Konföderation in erster Linie ankam, bekannte Ulbricht am 13. 2. 1958 in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Demnach sollte die Bildung eines Staatenbundes durch den Abschluß eines völkerrechtlich gültigen Vertrages zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR vorgenommen werden. Gleichzeitig machte er alle Schritte zu einer Wiedervereinigung davon abhängig, daß sich die Bundesrepublik Deutschland positiv zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa im Sinne des Rapacki-Planes äußere. Die „Vereinigung der beiden deutschen Staaten“ — so sagte Ulbricht bei dieser Gelegenheit — sei kein „einmaliger Akt, sondern ein Prozeß“. Die Bestimmung eines Zeitpunktes für „gemeinsame Wahlen“ nannte er „reine Spekulation“.

 

Die Forderung nach Bildung einer „Konföderation“ ist für die D. der SED bis Mitte der 60er Jahre kennzeichnend gewesen. Der Begriff Konföderation wurde von der SED ideologisch interpretiert und als „dialektische Einheit von friedlicher Koexistenz und Selbstbestimmung“, als eine „besondere Form des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf deutschem Boden“ bezeichnet.

 

Das Jahr 1958 war gleichzeitig von verstärkter sowjetischer Aktivität hinsichtlich der Durchsetzung der internationalen Anerkennung der DDR charakterisiert. Jedoch haben die Westmächte und die Bundesregierung alle von der UdSSR unterstützten Konföderations-Vorschläge der DDR zurückgewiesen, da sie darin keinen Weg zur Überwindung der deutschen Spaltung, sondern lediglich ein Vehikel zur Aufwertung und letztlich zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR sahen.

 

Der V. Parteitag der SED (Juli 1958) führte zu einer weiteren Verhärtung der D. der SED. Nunmehr sollten die „sozialistischen Errungenschaften“ nicht mehr nur in der Phase des Zusammenschlusses „beider deutscher Staaten“ geschützt werden, sondern jetzt wurden sie als „für immer unantastbar“ bezeichnet. Die DDR repräsentiere den einzigen „rechtmäßigen souveränen deutschen Staat“ — bisher war von „zwei souveränen deutschen Staaten“ gesprochen worden. Da der Parteitag weiterhin offen an die „friedliebenden Kräfte“ in der Bundesrepublik appellierte, eine „bürgerlich-demokratische Ordnung“ (d.h. vor allem Wiederzulassung der im August 1956 verbotenen KPD) als Voraussetzung für eine Wiedervereinigung zu errichten und aus der NATO auszutreten, fanden die SED-Vorschläge selbst bei oppositionellen Kräften in der Bundesrepublik Deutschland kaum Unterstützung.

 

C. Deutschlandpolitik im Schatten des Mauerbaus (1959--1961)

 

 

Bis zum VI. Parteitag (1963) zielte die D. der SED in erster Linie auf den Abschluß eines „Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten“ und die Konsolidierung der DDR.

 

Entsprechend der sowjetischen Deutschlandpolitik trat nunmehr die Forderung nach Abschluß eines Friedensvertrages vor der Abhaltung von Wahlen in den Vordergrund (Note der Regierung der DDR an die Bundesregierung vom 4. 8. 1958, in der die Bildung einer gesamtdeutschen Kommission vorge[S. 286]schlagen wird, die die Vier Mächte bei der Ausarbeitung eines Friedensvertrages für Deutschland beraten soll). Die Frage eines deutschen Friedensvertrages wurde akut, als Chruschtschow 1959 in Leipzig und 1961 in Moskau sowie Gromyko (auf der Genfer Außenministerkonferenz am 10. 6. 1959) mit dem Abschluß eines Friedensvertrages mit der DDR allein und allen sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen drohten. Am deutlichsten kommen die Bestrebungen der SED im „Friedensplan“ zum Ausdruck, den die Volkskammer am 6. 7. 1961 (einen Monat vor Errichtung der Berliner Mauer) verabschiedete. Darin wird die Bildung einer „Deutschen Friedenskommission“ vorgeschlagen, die deutsche Vorschläge für einen Friedensvertrag ausarbeiten sollte.

 

Von besonderer Bedeutung für die Inhalte der D. der SED war ihre Interpretation der von Chruschtschow (seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956) vertretenen Konzeption der Friedlichen Koexistenz. Sofern Koexistenz auch Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines nichtsozialistischen Gesellschaftssystems beinhaltet, hat die SED diese Auffassung damals durch Betonung der „einen gesamtdeutschen Arbeiterklasse“ in ganz Deutschland und der „Aktionsgemeinschaft mit allen friedliebenden Kräften“ in der Bundesrepublik Deutschland zurückgewiesen (Aktionseinheit der Arbeiterklasse). „Die Anwendung des Prinzips der friedlichen Koexistenz auf das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten würde bedeuten, den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse zu verraten. Wir betrachten auch die Beseitigung der Macht der Monopolherren und Militaristen (in Westdeutschland) nicht nur als eine Angelegenheit der Werktätigen Westdeutschlands. Deshalb hat unsere Partei auch niemals eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik proklamiert.“ (W. Horn, Der Kampf der SED um die Festigung der DDR und den Übergang zur zweiten Etappe der Revolution, Berlin [Ost] 1959) Diesem Konzept entsprach der vom Zentralkomitee (ZK) der SED im April 1960 veröffentlichte „Deutschlandplan des Volkes — Offener Brief an die Arbeiterklasse Westdeutschlands“. Um über die Anhängerschaft der verbotenen KPD hinaus breitere Kreise in der Bundesrepublik anzusprechen, forderte die SED darin „sozialdemokratische, christliche und parteilose Arbeiter, ehrliche Patrioten in Stadt und Land“ und „fortschrittliche Unternehmer“ auf, den „westdeutschen Militarismus zu beseitigen und so die Voraussetzung für eine Konföderation beider deutscher Staaten zu schaffen“. Damit verlangte die SED nicht nur eine grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland als Vorbedingung für eine Wiedervereinigung, sondern versuchte, diese Umgestaltung selbst aktiv zu fördern. Dabei wurde stets betont, daß die DDR der „rechtmäßige deutsche Staat“ sei und jede innerdeutsche Verständigung eine Anerkennung ihrer Souveränität voraussetze.

 

Diese Forderungen sind von der SED in dem am 25. 3. 1962 vom Nationalrat der Nationalen Front der DDR vorgelegten nationalen Dokument „Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands“ nochmals zusammengefaßt worden. Der Gedanke der Konföderation wurde zwar beibehalten, jedoch hieß es jetzt: Ob „mit oder ohne Konföderation — der Sozialismus ist auch die Zukunft Westdeutschlands“, und: „der sozialistische deutsche Staat verkörpert die Zukunft der ganzen Nation“. Trotz der von der SED seit 1960 gelegentlich erklärten Kompromißbereitschaft in nationalen Fragen (erstmalig wurde von „nationalem Kompromiß“ in einem Brief W. Ulbrichts an Bundeskanzler Adenauer vom 28. 1. 1960 gesprochen), war in grundsätzlichen Fragen von ihr kein Entgegenkommen zu erwarten. Ulbricht selbst hat diesen Eindruck bestätigt, als er am 13. 9. 1962 im „Neuen Deutschland“ erklärte, daß „die Grenzlinie in Deutschland nicht an der Elbe verläuft, sondern die Frontlinie mitten durch Westdeutschland geht“. Und im Rechenschaftsbericht des ZK auf dem VI. Parteitag (1963) hieß es dementsprechend, daß nur „die Vereinigung aller patriotischen Kräfte unter der Führung der Arbeiterklasse in beiden deutschen Staaten zum Erfolg der Volksbewegung in Westdeutschland“ führen würde.

 

Diese Auslegung des Koexistenzprinzips wurde von der SED im Anschluß an den Ausgang der Kuba-Krise im Oktober 1962 inhaltlich der sowjetischen angepaßt. So sprach Ulbricht am 2. 12. 1962 in Cottbus ausdrücklich von „Kompromissen“, die die Politik der friedlichen Koexistenz auch bei der „Lösung der nationalen Frage“ erfordere. Die SED hat jedoch nie deutlich gemacht, in welchen Punkten sie zu Kompromissen bereit war. Mit den erwähnten Dokumenten hatten sich indes die ideologisch-politischen Grundlagen der D. der SED geändert.

 

V. Die Politik der inneren Konsolidierung (1962--1966)

 

 

A. Veränderte Zielsetzung auf dem VI. Parteitag der SED 1963

 

 

Der VI. Parteitag der SED vom 15. bis 21. 1. 1963 führte zu einer Korrektur ihrer bisherigen D. Die verstärkte Hinwendung der SED zur inneren Konsolidierung ihres Herrschaftssystems bedeutete eine relative Abkehr von ihrer bis dahin eher offensiven D. Die Proklamation des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, die Bemühungen in der Folgezeit, die Herausbildung eines eigenen DDR-Staatsbewußtseins zu fördern, und die gewandelte Einschätzung der „Klassenkampfsituation“ in der Bundesrepublik [S. 287]Deutschland kennzeichnen eine vorsichtige Umorientierung der D. der SED. Sie sah nun „die historische Mission der DDR darin, durch eine umfassende Verwirklichung des Sozialismus im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat die feste Grundlage dafür zu schaffen, daß in ganz Deutschland die Arbeiterklasse die Führung übernimmt“. Andererseits hieß es an gleicher Stelle: „Die günstigen Voraussetzungen für den umfassenden Aufbau des Sozialismus wie für den Übergang zum Kommunismus in der DDR werden gegeben sein, wenn in Westdeutschland Imperialismus und Militarismus überwunden sind und die beiden deutschen Staaten im Rahmen einer Konföderation in gesicherter friedlicher Koexistenz miteinander wetteifern“ (Programm der SED, ND 25. 1. 1963). Damit galten Änderungen der innenpolitischen Verhältnisse in der Bundesrepublik als „günstige Voraussetzungen“ für Fortschritte auch in der DDR.

 

Auf dem VI. Parteitag wurde die These von der einheitlichen „gesamtdeutschen Arbeiterklasse“, deren anerkannte Avantgarde die SED sei, aufgegeben. Eine indirekte Begründung für diese Neubeurteilung fand sich im Rechenschaftsbericht des ZK, in dem es heißt, daß die „lang anhaltende Nachkriegskonjunktur es der westdeutschen Großbourgeoisie gestattete, Teile der Arbeiterklasse, des Kleinbürgertums und der Intelligenz ökonomisch zu korrumpieren und eine starke Arbeiteraristokratie entstehen zu lassen“. Dadurch seien bei der westdeutschen Bevölkerung „Illusionen“ über den „Charakter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ entstanden. Noch in einem anderen Punkt änderte sich die Position der SED. Nachdem Chruschtschow auf diesem Parteitag den Abschluß eines Friedensvertrages aufgrund der Existenz der Mauer in Berlin als nicht mehr dringend notwendig bezeichnet hatte, fehlte diese Forderung auch in Ulbrichts Parteitagsrede. Er forderte statt dessen ein „Abkommen der Vernunft und des guten Willens“, das von der „Existenz zweier deutscher Staaten“ ausgehen und folgende Punkte enthalten sollte: 1. Respektierung der Existenz des anderen deutschen Staates und seiner politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Feierlicher Verzicht auf Gewaltanwendung in jeder Form; 2. Respektierung, Fixierung und Festigung der bestehenden deutschen Grenzen; 3. Verzicht auf Erprobung, Besitz, Herstellung und Erwerb von Kernwaffen sowie der Verfügung über sie; 4. Verhandlungen über Abrüstung in „beiden deutschen Staaten“; 5. Gegenseitige Anerkennung von Reisepässen und Staatsbürgerschaft der DDR und BRD als Voraussetzung für eine Normalisierung des Reiseverkehrs; 6. „Herstellung normaler, sportlicher und kultureller Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten“, Einstellung der Tätigkeit des Alliierten Reisebüros gegenüber DDR-Bürgern (Allied Travel Board) in Berlin (West); 7. Abschluß eines Handelsvertrages zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland.

 

B. Hauptthemen der Deutschlandpolitik: Abrüstung und Selbstbestimmungsrecht

 

 

Zwei Problemkreise standen im Jahre 1963 im Mittelpunkt der D.: Abrüstung und Selbstbestimmungsrecht. Schon 1957 hatte die SED den Rapacki-Plan für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa — allerdings nur zurückhaltend — unterstützt. Wäre jedoch hierüber ein Abkommen zustande gekommen, hätte dieses auch die Unterschrift der DDR unter einen völkerrechtlich gültigen Vertrag erfordert. Damit wäre die DDR der internationalen Anerkennung einen entscheidenden Schritt nähergekommen.

 

Daß die Abrüstungspolitik der SED eine deutschlandpolitische Funktion hatte, zeigten schon Passagen des Konföderationsplanes Grotewohls vom 27. 7. 1957, in denen ein Verbot der Lagerung und Herstellung von Atomwaffen auf deutschem Boden gefordert, das Ausscheiden von Bundesrepublik Deutschland und DDR aus NATO und Warschauer Pakt und „gemeinsames oder einzelnes Ersuchen an die Vier Mächte auf baldige schrittweise Zurückziehung ihrer Truppen aus ganz Deutschland“ vorgeschlagen wurden. Auch andere Aktionen der DDR in Abrüstungsfragen hatten stets eine gesamtdeutsche Stoßrichtung. In der Denkschrift der Regierung der DDR an die XV. Tagung der UN-Vollversammlung vom 15. 9. 1960 wurden z.B. der Bundesrepublik Deutschland „totale Militarisierung und atomare Aufrüstung“ vorgeworfen. „Schnellste Abrüstungsmaßnahmen“ in ganz Deutschland sollten deshalb die „Herstellung der Neutralität der beiden deutschen Staaten ermöglichen“ und die „Verständigung der beiden deutschen Staaten über ihre Wiedervereinigung“ fördern.

 

An diese Aktivitäten knüpfte die DDR an, als sie dem Kernwaffenteststopp-Abkommen von Moskau (8. 8. 1963) beitrat. Ähnlichen Zielen dienten der Entwurf eines Vertrages zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland über den „umfassenden Verzicht auf Kernwaffen“ vom 6. 1. 1964 und die Erklärung der DDR-Regierung an die UNO zur Nichtweiterverbreitung und zum Verbot der Anwendung von Kernwaffen (27. 10. 1966). Einerseits waren diese Schritte diktiert von der Solidaritätspflicht gegenüber der Abrüstungspolitik der UdSSR, andererseits boten sie die Möglichkeit, die Stellung der Bundesrepublik zur NATO einer ständigen Kritik zu unterziehen und dem westlichen Verteidigungsbündnis permanente Aggressionsabsichten gegen das „sozialistische Lager“ zu unterstellen. Die Furcht vor einer drohenden Aggression durch die „atombewaffneten westdeutschen Militaristen“ sollte nicht zuletzt die eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit einer engen Bindung an die [S. 288]UdSSR und die übrigen Bündnispartner des Warschauer Paktes überzeugen.

 

Der 1. „Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit“ zwischen der DDR und UdSSR vom 12. 6. 1964 bestätigte in allen wesentlichen Punkten die D. der SED. Dieser Vertrag belebte aber vor allem die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Die Politik der Bundesregierungen ging seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland davon aus, daß das Recht auf Selbstbestimmung ein universales Prinzip des Völkerrechts sei und nur in freien Wahlen geltend gemacht werden könne. Da diese bisher in der DDR nicht stattgefunden hätten, habe sich die Bevölkerung nicht darüber äußern können, in welcher Staatsform sie leben und wie sie ihre inneren und äußeren Lebensverhältnisse gestalten wolle. Daher habe die Bundesrepublik Deutschland bis zur Gewährung dieses Rechtes an die Bevölkerung der DDR die Pflicht, in außenpolitischen Angelegenheiten diese Bevölkerung mitzuvertreten. Von sowjetischer und DDR-Seite lagen zur Frage des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes widersprüchliche Äußerungen vor. Chruschtschow hatte am 28. 1. 1960 in einem Brief an Bundeskanzler Adenauer die Vier-Mächte-Verantwortung für die Wiedervereinigung ausdrücklich mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes bestritten. „Selbstbestimmung der Völker bedeutet“, so schrieb Chruschtschow, „daß die Völker einer Nation oder eines Staates selber ihr Schicksal, das Schicksal ihres Staates bestimmen.“ Am 12. 6. 1964 äußerte Chruschtschow aus Anlaß der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages mit der DDR, daß das Selbstbestimmungsrecht auf die deutsche Frage nicht anwendbar sei und mithin die Wiedervereinigungsproblematik nicht berühre. Die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts sei eher ein soziales denn ein nationales Problem.

 

Diese Ansicht Chruschtschows unterschied sich — zumindest in der Akzentuierung — von der von der SED vertretenen These, daß das Selbstbestimmungsrecht von den Deutschen in der DDR durch Errichtung des „ersten friedliebenden Staates in der deutschen Geschichte“ längst ausgeübt worden sei. — Damit wurde u.a. die Anwendung eines universell geltenden Völkerrechtsprinzips auf eine konkrete gesellschaftspolitische Situation eingeschränkt. Es sei nur dann der Forderung nach Selbstbestimmung Rechnung zu tragen, wenn ihre Erfüllung dem „gesellschaftlichen Fortschritt“, d.h. der Errichtung oder Festigung eines sozialistischen oder kommunistischen Herrschaftssystems diene.

 

Jedoch mußte die innerdeutsche Situation die Frage aufwerfen, wer in Deutschland dieses Selbstbestimmungsrecht zu beanspruchen habe und wie es ausgeübt werden solle. Insbesondere mußte die Völkerrechtslehre der SED zu begründen versuchen, warum dem „Volk der DDR“ ein eigenständiges, vom Volk in ganz Deutschland abgesondertes Selbstbestimmungsrecht zusteht. Die Frage, was unter dem Begriff Volk zu verstehen sei, wurde mit der These beantwortet, daß es in Deutschland zwei „Subjekte des Selbstbestimmungsrechtes“ gäbe (vgl. R. Arzinger in: Deutsche Außenpolitik, H. 8, 1964, S. 768 ff.). Zu den herkömmlichen Begriffsmerkmalen (nationale, religiöse, kulturelle, sprachliche Gemeinsamkeiten) von Völkerrechtssubjekten, die ein Selbstbestimmungsrecht beanspruchen können, fügte Arzinger den „bestimmten Stand von gesellschaftlicher Entwicklung, (und) eine bestimmte ökonomische klassenmäßige Struktur“ hinzu. Er war der Meinung, daß die Abgrenzung der Subjekte des Selbstbestimmungsrechtes nicht nur nach nationalen, sondern auch nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen kann, und daß dementsprechend in Deutschland mit der „Bildung von zwei Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“ sich auch zwei Subjekte des Selbstbestimmungsrechtes herausgebildet haben.

 

C. Vertiefung der Spaltung durch konkrete Maßnahmen der SED

 

 

In den Jahren 1964/65 änderten sich die Grundsätze der D. der SED nicht, auch wenn das Angebot eines beschränkten Zeitungsaustausches durch Ulbricht am 25. 4. 1964 (von der Bundesregierung aus verfassungsrechtlichen Gründen am 2. 6. und 16. 7. 1964 abgelehnt) und die Ausreisegenehmigung für Rentner ab 9. 9. 1964 als ein begrenztes Einlenken der Regierung der DDR in Richtung pragmatischer Lösungen gedeutet werden konnten.

 

Dem stehen jedoch Maßnahmen und Erklärungen der SED gegenüber, die von der Bundesregierung als Vertiefung der Spaltung verstanden wurden: die Einführung eines zwangsweisen DM-Umtausches bei Besuchsreisen in die DDR (25. 11. 1964), die Aufforderung an die Bundesregierung (26./28. 4. 1964), 120 Mrd. DM „Schulden“ zu zahlen, die der DDR durch Reparationsleistungen und „Abwerbung“ von Einwohnern der DDR (Umschreibung für die Fluchtbewegung aus der DDR bis zum 13. 8. 1961) entstanden seien, die weiteren Erschwernisse durch eine Verordnung über den „grenzüberschreitenden Binnenschiffahrtsverkehr“ vom 24. 6. 1965 und die direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik durch die Erklärung Ulbrichts vom 1. 8. 1965, ein Wahlsieg der CDU/CSU bei den bevorstehenden Bundestagswahlen bedeute eine „dauernde“ Blockierung der Wiedervereinigung. Verbunden mit wachsender Polemik zeigte die SED eine Haltung, die von westlichen Beobachtern als „DDR-Alleinvertretungsanmaßung“ bezeichnet wurde. So sagte Ulbricht im September 1965 in Moskau, daß die DDR für „das ganze friedliebende Deutschland (spreche), für alle fried[S. 289]liebenden Menschen, auch für diejenigen, die heute noch jenseits unserer Staatsgrenzen in der westdeutschen Bundesrepublik oder auf dem besonderen Territorium Westberlin leben“ (ND 24. 9. 1965).

 

Die Gründung eines „Staatssekretariats für gesamtdeutsche Fragen“ (18. 12. 1965) und die Konstituierung eines „Rates für gesamtdeutsche Fragen“ (14. 1. 1966) (Staatssekretariat für westdeutsche Fragen) hatten dagegen in erster Linie eine innenpolitische Funktion. Der Bevölkerung sollte gezeigt werden, daß die SED die Wiedervereinigung Deutschlands als politisches Fernziel keineswegs aufgegeben habe; wann dieses Ziel, ein „sozialistisches Deutschland“, jedoch erreicht würde, machte die Partei jetzt ganz von einer innenpolitischen Veränderung in der Bundesrepublik Deutschland (Austritt aus der NATO, Verzicht auf Kernwaffen, Entmilitarisierung, Herrschaft der Arbeiterklasse) abhängig. Dabei wurde die seit 1964 von der SED benutzte These von den „2 Staatsvölkern“ der „beiden deutschen Nationalstaaten“ verändert. Jetzt wurde von 2 Staaten und der „besonderen politischen Einheit Westberlin“ sowie dementsprechend von 2 Staatsvölkern und der „Bevölkerung Westberlins“ gesprochen (G. Kegel im ND 16. 1. 1966).

 

 

 

Im Februar, März und April 1966 kam es zu einem Briefwechsel zwischen SED und SPD, den die SED begonnen hatte und in dem sie zunächst ihren bekannten Standpunkt in der Deutschlandfrage wiederholte. Die SPD hatte im 1. Antwortbrief 7 konkrete Fragen an die SED gerichtet, in denen vor allem auf Entspannung in „kleinen Schritten“ zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland gedrungen wurde. Als die SED eine im März 1966 von der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands angebotene Fernsehdiskussion zwischen Vertretern der SED und SPD ablehnte, schien sie von der Leidenschaftlichkeit der besonders in der DDR in Gang gekommenen Diskussion überrascht und gleichzeitig besorgt zu sein, daß die von ihr initiierte Entwicklung ihrer Kontrolle entgleiten könnte.

 

Den von der SED in ihrem 2. Brief an „die Delegierten des Dortmunder Parteitages der SPD und alle Mitglieder und Freunde der Sozialdemokratie in Westdeutschland“ (ND 26. 3. 1966) unterbreiteten Vorschlag eines Redneraustausches zwischen SED und SPD hielt sie jedoch zunächst aufrecht.

 

Am 22. 4. 1966 veröffentlichte das „Neue Deutschland“ eine Rede Ulbrichts. Darin wiederholte er den 6-Punkte-Plan seiner Neujahrsrede, in dem er der Bundesregierung „erste Schritte“ zur innerdeutschen Annäherung offeriert hatte: Verzicht beider Teile Deutschlands auf atomare Aufrüstung, Anerkennung der bestehenden Grenzen in Deutschland, Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Paktes, Verhandlungen über Abrüstung in Deutschland, Verzicht auf die „Notstandsgesetzgebung“ in der Bundesrepublik, Normalisierung der Beziehungen zwischen „den deutschen Staaten und ihren Bürgern“. Dem fügte er jetzt jedoch einen Katalog von Vorbedingungen für das Zustandekommen einer Konföderation hinzu: u.a. eine Parlamentsreform in der Bundesrepublik Deutschland, Mitbestimmung für die Gewerkschaften in den Betrieben, Veränderung der Machtverhältnisse in der westdeutschen Großindustrie, Enteignung des Springer-Konzerns, eine Bildungsreform in der Bundesrepublik, Säuberung des Staatsapparates der Bundesrepublik.

 

Der 2. offene Brief des Parteivorstandes der SPD vom 14. 4. 1966 wurde zunächst vom „Neuen Deutschland“ am 30. 4. 1966 nur in stark entstellter Weise abgedruckt, der volle Wortlaut wurde erst am 29. 5. 1966 zusammen mit dem 3. offenen Brief der SED veröffentlicht. Gleichzeitig wurde auf dem 12. ZK-Plenum (27./28. 4. 1966) eine Vertagung des Redneraustausches auf Juli 1966 beschlossen.

 

Am 26. 5. 1966 legten Beauftragte der SPD und SED die Termine für den Redneraustausch fest (14. 7. in Karl-Marx-Stadt und 21. 7. in Hannover). Am 29. 6. 1966 sagte die SED den Redneraustausch dann mit der Begründung ab, das vom Bundestag verabschiedete „Gesetz über eine befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit“ (BGBl. I, S. 453) sei ein „völkerrechtswidriges annexionistisches Gesetz, mit dem die westdeutsche Gerichtsbarkeit willkürlich auf Territorien und Bürger anderer europäischer Staaten, vor allem der DDR, ausgedehnt werden soll“ (Handschellengesetz); unter diesen Bedingungen sei eine „ordnungsgemäße Durchführung der Versammlung in Hannover“ nicht mehr gewährleistet, da sich kein Bürger der DDR einem solchen Gesetz unterwerfen könne. Offensichtlich hatten sich diejenigen Kräfte im SED-Politbüro durchgesetzt, die von Anfang an den Redneraustausch unter Hinweis auf ein zu großes Sicherheitsrisiko für die Partei verhindern wollten.

 

In den Mittelpunkt der D. der SED rückte erneut der Kampf um internationale Anerkennung. Auf dem 13. ZK-Plenum vom 15. 9. 1966 hatte Ulbricht deutlich gemacht, daß er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einzelnen Staaten des Warschauer Pakts ohne offiziellen Verzicht auf die „Alleinvertretungsanmaßung“ der Bundesrepublik Deutschland (mit der die internationale Anerkennung der DDR verhindert wurde) als einen Verstoß gegen die Bukarester Deklaration des Warschauer Paktes (Juli 1966) ansehe. In der Deutschlandfrage richtet sich die SED nunmehr auf ein „längeres Nebeneinander der beiden deutschen Staaten“ ein.[S. 290]

 

VI. Der Weg zum Grundlagenvertrag (1967--1972)

 

 

A. Die Politik der SED gegenüber der Großen Koalition

 

 

Auf die Koalitionsverhandlungen in der Bundesrepublik im November 1966 hatte Ulbricht Einfluß zu nehmen versucht. In einem Brief an den SPD-Parteivorsitzenden, Willy Brandt, plädierte der SED-Chef erfolglos für eine SPD-FDP-Koalition in Bonn und schlug direkte Verhandlungen zwischen Spitzengremien der SED und SPD vor. Am Tage der Vereidigung des CDU/SPD-Kabinetts in Bonn (1. 12. 1966) wurde in Berlin (Ost) die 4. Durchführungsbestimmung zum „Paßgesetz der DDR“ veröffentlicht, die allen westdeutschen Besuchern, die die Politik der „Alleinvertretungsanmaßung“ vertraten, mit „unverzüglicher“ Ausweisung bzw. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens drohte (GBl. II, S. 855). In dieser Maßnahme kündigte sich eine Verhärtung der D. der SED an. Am 5. 1. 1967 forderte das DDR-Postministerium von der Bundespost 1,4 Mrd. DM „Gebührenausgleich“ für zusätzliche Leistungen seit 1948; am 14. 1. 1967 gab der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) bekannt, daß die DDR ihre Mitarbeit im alliierten Abrechnungsbüro für den innerdeutschen Post- und Fernmeldeverkehr in Berlin einstellt.

 

Die neue Ostpolitik der Großen Koalition führte am 31. 1. 1967 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien, ohne daß die Partner ihren Rechtsstandpunkt in der deutschen Frage vorher revidiert hätten. Die SED reagierte mit heftigen offenen und versteckten Angriffen auf das „sozialistische Bruderland“ (ND 27. 1. bis 3. 2. 1967). Jede Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik zu den osteuropäischen Staaten sollte von der vorherigen Aufnahme „zwischenstaatlicher Beziehungen“ zwischen Bundesrepublik und DDR, Aufgabe der „Ausschließlichkeitsanmaßung“ seitens der Bundesrepublik Deutschland, Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa und einer Nichtigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Beginn an abhängig gemacht werden.

 

Die SED startete als weitere Reaktion auf diese Entwicklung eine anti-gesamtdeutsche Kampagne, die ihre Befürchtung erkennen ließ, daß von der Ostpolitik der Großen Koalition Impulse ausgehen könnten, die ihre eigene D. langfristig unterlaufen würden. Am 2. 2. 1967 wurde das „Staatssekretariat für gesamtdeutsche Fragen“ in Staatssekretariat für westdeutsche Fragen umbenannt. Staatssekretär Joachim Herrmann sagte dazu, durch „Schuld des westdeutschen Monopolkapitals und seiner Bonner Regierung“ seien „Begriffe wie gesamtdeutsch ihres Inhalts entleert und gegenstandslos geworden“ (ND 3. 2. 1967). Im „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR“ (ND 21. 2. 1967) wurde von der DDR für ihren Bereich die seit 1913 bestehende einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft abgeschafft und der Begriff „Staatsbürger der DDR“ eingeführt. Parallel dazu erschienen im „Neuen Deutschland“ Leserbriefe, in denen nicht nur die Forderung nach „Wiedervereinigung“ als „groteskes Geschwätz“ und diese „heute und in absehbarer Zeit“ als unmöglich bezeichnet (ND 21. 1. 1967), sondern auch gesamtdeutsches Denken auf dem Gebiet von Wissenschaft, Kultur und Kirche (ND 24. 1. 1967) entschieden abgelehnt wurden. Die SPD wurde nur noch als „SP“ bezeichnet, um den Namen „Deutschland“ aus der Diskussion zu verdrängen. Auch der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) erschwerte die SED nochmals ihre grenzüberschreitende Arbeit. Anfang April 1967 sollten in beiden Teilen Berlins die Teilsynoden der EKD tagen. Die Synodalen der DDR-Landeskirchen mußten jedoch nach Fürstenwalde in die DDR ausweichen, da ihnen die Zusammenkunft in Berlin (Ost) untersagt wurde. Trotz großer Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Teilsynoden gelang allerdings nochmals die gemeinsame Wahl eines neuen Rates der EKD (Kirchen). Außenpolitisch suchte sich die SED ein Mitspracherecht für den Fall zu sichern, daß weitere osteuropäische Länder — dem Beispiel Rumäniens folgend — ihre Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland zu normalisieren versuchen sollten: die „Freundschafts- und Beistandspakte“ mit Polen, der ČSSR, Ungarn und Bulgarien im Jahre 1967 betonten, daß es Sicherheit in Europa nur auf der Basis der „Existenz zweier deutscher Staaten“ und des territorialen Status quo gehen könne und alle Politik des „westdeutschen Revanchismus“ diese Sicherheit in Frage stelle, wenn nicht zuvor die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung vollzogen sei (Außenpolitik).

 

B. Verhärtung der Deutschlandpolitik auf dem VII. Parteitag der SED 1967

 

 

Der VII. Parteitag der SED (17.–22. 4. 1967) bestätigte die allgemeine Verhärtung in der D. der SED, die jedoch propagandistische Offensiven gegenüber der Bundesrepublik nicht ausschloß. Durch die am 12. 4. aus Anlaß des bevorstehenden SED-Parteitages von Bundeskanzler Kiesinger abgegebene Regierungserklärung und einen am selben Tag abgesandten Brief des SPD-Parteivorstandes an die 2.200 Delegierten, in dem u.a. auf die Erklärung der Bundesregierung verwiesen wurde, sah sich die SED in der Deutschlandfrage in die Defensive gedrängt; insbesondere der Brief Kiesingers, in dem ein ganzer Katalog von Entspannungsmaßnahmen aufgeführt worden war, wurde als gefährliche Taktik zur Beeinflussung der Delegierten und als Versuch angesehen, zwischen Parteiführung und Mitgliedern zu differenzieren. Auf dem Parteitag bezeichnete Ulbricht die „Vereinigung“ Deutschlands als „nicht real“. Eine „Vereinigung beider deutscher Staaten“ [S. 291]werde es erst im Sozialismus geben. Seine „Vorschläge für ein friedliches Nebeneinander der deutschen Staaten“ waren identisch mit den Forderungen aus der „Neujahrsbotschaft“ vom 31. 12. 1966. Die Existenz besonderer innerdeutscher Beziehungen wurde von der SED nun zunehmend geleugnet und D. zur Außenpolitik im traditionellen Sinne deklariert. Diese Haltung zeigte sich u.a. in der Umbenennung des „Ministeriums für Außenhandel und Innerdeutschen Handel“ in „Ministerium für Außenwirtschaft“ im Juli 1967 (seit dem 1. 1. 1974 Ministerium für Außenhandel [MAH]).

 

Von besonderer politischer Bedeutung war der Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Kiesinger und dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph. Dieser hatte am 10. 5. 1967 die Korrespondenz eröffnet. In Briefen vom 13. 6. und 28. 9. 1967 hatte Bundeskanzler Kiesinger Stoph seine Bereitschaft erklärt, wenn nötig in direkte, von der DDR seit langem geforderte Verhandlungen über menschliche Erleichterungen ungeachtet der bisherigen Rechtsstandpunkte einzutreten. Zu diesem Zweck hatte Kiesinger die Ernennung von Beauftragten beider Regierungen vorgeschlagen.

 

Am 18. 9. 1967 hatte W. Stoph den ersten Kiesinger-Brief beantwortet und diesem einen „Entwurf eines Vertrages über die Herstellung und Pflege normaler Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland“ beigefügt. Dieser enthielt als Verhandlungsvorschläge: Aufnahme normaler Beziehungen zwischen Bonn und Berlin (Ost), Vereinbarungen über Gewaltverzicht, Anerkennung aller bestehenden Grenzen in Europa, Herabsetzung der Rüstungsbudgets in beiden Teilen Deutschlands, Verzicht auf Stationierung, Besitz und Mitverfügung von Atomwaffen, Beteiligung beider deutscher Staaten an einer atomwaffenfreien Zone, Anerkennung von Berlin (West) als „selbständige politische Einheit“, Anerkennung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens von Anbeginn, Einstellung der „Diskriminierung“ von DDR-Bürgern im westlichen Ausland, Begleichung von „Schulden“-Rechnungen. Auf einen zweiten Brief Kiesingers, der im wesentlichen an die Vorschläge vom 13. 6. erinnerte, hat die SED nicht mehr geantwortet. Dieser erste schriftliche Meinungsaustausch zwischen den Regierungschefs in Bonn und Berlin (Ost) fand starke Beachtung, auch wenn die von Bundeskanzler Kiesinger empfohlene Begegnung der Beauftragten beider Seiten nicht zustande kam.

 

Mit der Initiative zu diesem Briefwechsel wollte die SED offenbar die Gefahr einer Schwächung ihrer Position vor allem in Osteuropa als Folge der Entspannungspolitik der Großen Koalition entgegentreten. Andererseits verriet der Briefwechsel eine Verhärtung der Haltung der SED gegenüber der Bundesrepublik Deutschland.

 

Nachdem Bonn nach jahrelanger Weigerung den immer wieder von der SED geforderten Regierungsverhandlungen auf höchster Ebene zustimmte, schlug die SED diese nun faktisch aus. Sie machte es zur Vorbedingung für deutsche Verhandlungen, daß diese auf der Grundlage ihres Maximalprogrammes, d.h. in erster Linie mit dem Ziel der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch Bonn stattfinden sollten. Damit wurde deutlich, wie die Worte Ulbrichts auf dem VII. Parteitag der SED (1967) zu verstehen waren: „Unter die Grenze der formellen Anerkennung und der normalen Beziehungen können wir … nicht hinuntergehen.“ (ND 18. 4. 1967) Ob zu diesem Zeitpunkt die Bundesrepublik Deutschland von der DDR-Führung bereits als Ausland angesehen wurde, blieb zunächst unklar. Als Politbüromitglied Albert Norden auf einer Pressekonferenz am 18. 12. 1967 in Berlin (Ost) indirekt diese Meinung vertrat (er beklagte sich darüber, daß die DDR von Bonn nicht auch formaljuristisch als Ausland betrachtet werde) und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR forderte, wurde er vom „Neuen Deutschland“ umgehend korrigiert (19. 12. 1967). Es schien, daß die SED weder ihrer Bevölkerung eine weitgehende Absage an die Wiedervereinigung zumuten, noch den eigenen Anspruch auf Hineinwirken in die Bundesrepublik Deutschland endgültig aufgeben wollte. Die am 9. 4. 1968 verabschiedete 2. Verfassung bekannte sich zwar noch zur Einheit der deutschen Nation (Art. 1 Abs. 1), doch gab es nach ihr kein einheitliches deutsches Volk mehr, sondern neben dem Volk der Bundesrepublik Deutschland „das Volk der Deutschen Demokratischen Republik“ (Präambel). Art. 8 Abs. 2 sprach von der „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen“ auf völkerrechtlicher Basis zwischen beiden deutschen Staaten; eine Vereinigung sollte nur auf der „Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“ möglich sein. Am 9. 8. 1968 wiederholte Ulbricht vor der Volkskammer zwar seine bekannten Forderungen, ohne deren Ausnahme die SED keiner Entspannung in Deutschland zustimmen könne. Neu war jedoch der Vorschlag, die Volkskammer solle den Ministerrat bevollmächtigen, „wenn die Bundesregierung auf solche Vorbedingungen wie Alleinvertretungsanmaßung und Hallstein-Doktrin verzichtet und bereit ist, Verträge über den Verzicht auf Anwendung von Gewalt in den gegenseitigen Beziehungen und über die Anerkennung der Grenzen abzuschließen, einen Staatssekretär zur Vorbereitung der Verhandlungen zu bestimmen“. Damit kam Ulbricht etwa ein Jahr später auf den Vorschlag Kiesingers vom Sommer 1967 zurück, Regierungsbeauftragte für Verhandlungen zwischen Bonn und Berlin (Ost) zu ernennen. Neu war außerdem die Bereitschaft, im Falle eines Bonner Verzichts auf das Alleinvertretungsrecht der Schaffung „bevollmächtigter Missionen“ in [S. 292]Bonn und Berlin (Ost) zuzustimmen, deren Status er ausdrücklich offenließ. (Damit ging Ulbricht auch auf eine Anregung des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Helmut Schmidt, ein, der den Austausch von „Generalbevollmächtigten“ beider deutscher Regierungen angeregt hatte.) Angesichts einer behutsamen Auslegung des Alleinvertretungsrechtes durch die Bundesregierung (Außenminister W. Brandt am 9. 3. 1967 in Berlin: „keine Kompetenzen außerhalb des Grundgesetzes … Pflicht, uns um die gesamtdeutschen Dinge in ihrer Gesamtheit zu kümmern“) schienen sich neue Ansatzpunkte für eine innerdeutsche Entspannung zu bieten. Verstärkt wurde dieser Eindruck zunächst durch die offenbar bedingungslose Zusage, der DDR-Außenhandelsminister sei zu Gesprächen mit dem Bundeswirtschaftsminister bereit.

 

Die Beteiligung der Nationalen Volksarmee (NVA) an der gewaltsamen Intervention von fünf Warschauer Pakt-Staaten in der ČSSR am 20./21. 8. 1968 erschwerte jedoch erneut das Bemühen um Entspannung zwischen Bonn und Berlin (Ost). Hinzu kamen die Auseinandersetzungen um die Abhaltung der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten in Berlin (5. 3. 1969).

 

Auf der 10. ZK-Tagung wies Ulbricht am 7. 5. 1969 Überlegungen westdeutscher Politiker und Publizisten zurück, anstelle einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik ein staatsrechtliches Verhältnis zwischen ihnen herzustellen. Er bezeichnete derartige Vorschläge als eine „Zweckkonstruktion, die darauf hinausläuft, die DDR zu einer Art westdeutschen Bundeslandes zu degradieren“.

 

Trotz der unveränderten Gegensätze in allen grundsätzlichen Fragen konnten im September 1969 Verhandlungen zwischen der Deutschen Bundesbahn und dem Verkehrsministerium der DDR (über die Wiederaufnahme des 1967 unterbrochenen Verkehrs westdeutscher Kalizüge auf DDR-Territorium im Raume Gerstungen), zwischen Beauftragten beider Verkehrsministerien (über die Koordinierung der Straßenbauplanung, den Transit von Binnenschiffen und den Eisenbahnverkehr) sowie zwischen Abgesandten der Postministerien beider Seiten (u.a. über Ausgleichszahlungen an die DDR für Mehrleistungen im innerdeutschen Postverkehr) aufgenommen werden.

 

C. Die Deutschlandpolitik der SED gegenüber der sozialliberalen Koalition bis 1972

 

 

Die Regierungserklärung Bundeskanzler Brandts vom 28. 10. 1969 ging von der Existenz zweier Staaten in Deutschland aus — allerdings mit dem Zusatz, daß sie füreinander nicht Ausland seien und daß ihre Beziehungen zueinander nur von besonderer Art sein könnten. Diese Modifikation wurde von der DDR-Führung zwar aufmerksam registriert, aber sogleich mit dem Einwand abgewehrt, auch die neue Bundesregierung versuche, die „bankrotte Hallstein-Doktrin in veränderter Form weiter zu praktizieren“ (W. Stoph am 12. 11. 1969 in Rostock).

 

Am 17. 12. 1969 richtete der Staatsratsvorsitzende Ulbricht ein Schreiben an Bundespräsident Heinemann, dem der Entwurf eines Vertrages „über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen“ zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland beigefügt war. Der Entwurf ging über die in dem Konzept Stophs vom 18. 9. 1967 geforderten Regelungen insofern hinaus, als die Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Form eines Botschafteraustausches vorgeschlagen und die Aufhebung aller dem Vertrag entgegenstehender Gesetze, Normativakte und entsprechender Gerichtsentscheidungen in der Bundesrepublik Deutschland verlangt wurden.

 

Unmittelbar nachdem Bundeskanzler Brandt in seinem Bericht zur Lage der Nation Mitte Januar 1970 den Begriff der Nation als das „Band um das gespaltene Deutschland“ charakterisiert und in diesem Zusammenhang auf das in der Verfassung der DDR enthaltene Bekenntnis zur Nation verwiesen hatte, leitete W. Ulbricht am 19. 1. 1970 auf einer internationalen Pressekonferenz eine grundlegende Neuinterpretation der „nationalen Frage“ durch die SED ein. Er verwarf die These vom Fortbestand der deutschen Nation in zwei Staaten („… unrealistische Behauptung, um der Herstellung normaler gleichberechtigter völkerrechtlicher Beziehungen mit der DDR aus dem Wege zu gehen“).

 

Während in der Sowjetunion und in anderen osteuropäischen Staaten die „neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition — vor allem nach der Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtweitergabe von Kernwaffen durch die Bundesrepublik — eine erste vorsichtige Klimaverbesserung gegenüber Bonn zur Folge hatte, zeigte sich die DDR weiterhin unversöhnlich. Am 16. 2. 1970 bezeichnete E. Honecker — damals noch Sekretär des ZK für Sicherheit — den Regierungswechsel in Bonn als ein taktisches Manöver der „westdeutschen Großbourgeoisie“ mit dem Ziel, „unter Ausnutzung der wirtschaftlichen Potenzen des westdeutschen Imperialismus und der sozialdemokratischen Ideologie“ das „Tor nach dem Osten“ zu öffnen, um so die „Vorherrschaft über Europa“ zu gewinnen.

 

Trotz dieser polemischen Angriffe der SED gelang es, ein erstes Treffen beider Regierungschefs zu vereinbaren. Erfurt wurde als Treffpunkt ausgewählt, nachdem eine geplante Reise des Bundeskanzlers nach Berlin (Ost) zu Auseinandersetzungen über die geplante Einbeziehung von Berlin (West) in die Reiseroute Brandts geführt hatte. In Erfurt legte Ministerpräsident Stoph am 19. 3. 1970 ein 7-Punkte-Programm vor. Er forderte 1. die [S. 293]„Herstellung normaler gleichberechtigter Beziehungen … unter Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs der Regierung der BRD“, 2. „Nichteinmischung in die außenpolitischen Beziehungen des anderen Staates“ und endgültigen „Verzicht auf die Hallstein-Doktrin“, 3. eine Vereinbarung über den Gewaltverzicht „unter uneingeschränkter gegenseitiger Anerkennung ihrer Völkerrechtssubjektivität, ihrer territorialen Integrität und der Unantastbarkeit ihrer bestehenden Staatsgrenzen“, 4. die Mitgliedschaft beider Staaten in den Vereinten Nationen, 5. Verzicht auf ABC-Waffen und „Herabsetzung der Rüstungsausgaben um 50 Prozent“, 6. „Beseitigung aller Überreste des Zweiten Weltkrieges“ und 7. Begleichung der — von Stoph mit 100 Mrd. Mark bezifferten — „Schulden der BRD gegenüber der DDR“ bzw. „Wiedergutmachungsverpflichtungen durch die BRD“.

 

Obwohl die wenige Tage nach dem Treffen von Erfurt beginnenden Botschafter-Gespräche der vier Siegermächte über Berlin, die bereits zuvor aufgenommenen Gespräche von Staatssekretär Bahr in Moskau und Staatssekretär Duckwitz in Warschau der Entspannungspolitik deutlichere Konturen verliehen und obwohl am 29. 4. 1970 zwischen den Postministerien der Bundesrepublik Deutschland und der DDR eine erste Vereinbarung über den Kostenausgleich und zusätzliche Fernmeldeeinrichtungen getroffen werden konnte, verlief die zweite Begegnung zwischen Brandt und Stoph in Kassel am 21. 5. 1970 in einer frostigeren Atmosphäre als das Treffen von Erfurt. Ein wesentlicher Grund für das schroffe Verhalten der DDR-Delegation, der auch Außenminister Winzer angehörte, lag offenbar darin, daß die in Erfurt überraschend starken Sympathiebekundungen der auf dem Bahnhofsvorplatz Versammelten für Brandt in der SED-Führung Besorgnis ausgelöst hatten, die Intensivierung der Kontakte könne höchst unwillkommene Folgen für die innere Stabilität der DDR haben. In Kassel nahm Stoph Übergriffe von rechtsgerichteten Demonstranten zum Anlaß, die Bundesregierung scharf zu kritisieren. Der Bundeskanzler dagegen zeichnete in seinen „20 Punkten von Kassel“ die Umrisse eines zwischen beiden deutschen Staaten abzuschließenden Grundlagenvertrages. Im Anschluß an das Kasseler Treffen sprach die DDR von einer „Denkpause“, die man in Bonn nutzen müsse. Auf der 13. ZK-Tagung am 10. Juni nannte Stoph den 20-Punkte-Vorschlag Brandts ein „geschlossenes Programm gegen gleichberechtigte völkerrechtliche Beziehungen zwischen der DDR und der BRD“.

 

Fortschritte in den Gesprächen zwischen Bonn und Moskau haben Ulbricht vermutlich dazu bewogen, am 16. Juli in Rostock der Bundesregierung eine „gewisse Anerkennung der Realitäten“ zu bescheinigen. Nachdem am 12. August der Moskauer Vertrag unterzeichnet und in den folgenden Wochen auch in den Verhandlungen über den Warschauer Vertrag Fortschritte sichtbar geworden waren, entsandte die Regierung der DDR Ende Oktober zwei leitende Funktionäre ihres Presseamtes nach Bonn. Im Anschluß an ihren Besuch wurde in Bonn und Berlin (Ost) eine gleichlautende Mitteilung veröffentlicht, derzufolge beide Regierungen „auf offiziellem Wege einen Meinungsaustausch“ über Fragen zu führen wünschten, „deren Regelung der Entspannung im Zentrum Europas dienen würde und die für beide Staaten von Interesse sind“. Am 27. 11. 1970 trafen der Staatssekretär des Bundeskanzleramts, Egon Bahr, und der Staatssekretär des DDR-Ministerrats, Dr. Michael Kohl, zu einer ersten vertraulichen Begegnung zusammen, der zahlreiche Verhandlungsrunden folgen sollten.

 

Die DDR reagierte zur selben Zeit auf eine geplante Sitzung der CDU/CSU-Fraktion im Berliner Reichstag mit schleppender Abfertigung an den Grenzkontrollpunkten. Im Dezember 1970 kam es erneut zu schweren Verkehrsbehinderungen, als die Vorsitzenden der SPD-Bundestags- und -Landtagsfraktionen in Berlin eine Sitzung abhielten. Ende Januar 1971 wurden an den Grenzkontrollpunkten zeitweise Wartezeiten bis zu 18 Stunden im Kraftfahrzeugverkehr zwischen der Bundesrepublik und Berlin (West) registriert.

 

Diese Zwischenfälle unterstrichen die Dringlichkeit eines Berlin-Abkommens, das den Zugang zum Westteil der Stadt gegen willkürliche Eingriffe schützen sollte. In den Verhandlungen der Botschafter der Vier Mächte bahnte sich ein Durchbruch im Mai/Juni 1971 an. Zuvor war W. Ulbricht durch E. Honecker als Erster Sekretär des ZK der SED abgelöst worden. Honecker hatte seine Bereitschaft bekundet, die D. der SED wieder stärker an den inzwischen flexibleren Kurs der sowjetischen Führung anzupassen. Bereits im Januar 1971 war ein erster Schritt zur verbesserten Kommunikation von Berlin (West) mit seiner Umwelt erfolgt: Nach 19jähriger Unterbrechung war der Telefonverkehr zwischen Berlin (West) und dem Ostteil der Stadt mit zunächst je 5 Leitungen in beiden Richtungen wiederaufgenommen worden. Weitere Leitungen wurden in der Folgezeit geschaltet.

 

Nachdem am 3. 9. 1971 das Viermächte-Abkommen über Berlin unterzeichnet worden war, konzentrierten sich die Staatssekretäre Bahr und Kohl auf den Abschluß eines die Vereinbarungen der Mächte ergänzenden und im einzelnen konkretisierenden Abkommens über den Transitverkehr zwischen Berlin (West) und dem Bundesgebiet. Die am 6. 9. aufgenommenen Verhandlungen fanden nach 15 Gesprächsrunden am 3. 12. ihren Abschluß, so daß der ausgehandelte Vertragstext am 11. 12. paraphiert und 6 Tage später unterzeichnet werden konnte.

 

Parallel dazu verliefen die Verhandlungen zwischen [S. 294]dem Chef der Berliner Senatskanzlei, Senatsdirektor Müller, und Staatssekretär Günter Kohrt vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR über Verbesserungen des Besuchs- und Reiseverkehrs und eine Regelung der Frage von Enklaven durch Gebietsaustausch, die am 20. 12. mit der Unterzeichnung einer entsprechenden Vereinbarung beendet werden konnten.

 

D. Der Grundlagenvertrag

 

 

Vor den Delegierten des VIII. Parteitages hatte Honecker am 15. 6. 1971 die Forderung nach „Aufnahme normaler Beziehungen entsprechend den Regeln des Völkerrechts auch zur BRD“ und die Absage an die These vom Fortbestand der deutschen Nation erneuert. Im Januar 1972 nannte der Parteisekretär die Bundesrepublik Deutschland in einer Rede vor Armeeangehörigen auf Rügen „imperialistisches Ausland“. Am 18. 4. sprach er dann jedoch in Sofia von einer möglichen Entwicklung, „die zu einem friedlichen Nebeneinander zwischen der DDR und der BRD führt, zu normalen gutnachbarlichen Beziehungen mit dem Ausblick zu einem Miteinander im Interesse des Friedens, im Interesse der Bürger beider Staaten“.

 

Acht Tage danach erzielten Bahr und Kohl Einigkeit über den Text eines Verkehrsvertrages, über den sie seit Januar 1972 in einer 3. Gesprächsphase verhandelt hatten. Nach der Unterzeichnung dieses Verkehrsvertrages am 26. 5. 1972 widmeten sich die beiden Staatssekretäre dem schwierigsten Thema: dem Grundlagenvertrag, der die Voraussetzungen für weitere Folgeverträge schaffen sollte. Diese Verhandlungen wurden mit der Paraphierung des Vertragswerks am 8. 11. 1972 beendet. Unterzeichnet wurde der Grundlagenvertrag am 21. 12. 1972 in Berlin (Ost). In einer ersten Stellungnahme wertete ADN das erzielte Verhandlungsergebnis als fair: es habe zum Ausdruck gebracht, was für beide Seiten real zu erreichen war. In seinem Bericht an die 8. ZK-Tagung im Dezember 1972 betonte das Politbüro der SED, die Beziehungen zwischen beiden Staaten könnten sich positiv entwickeln, wenn der Vertrag ratifiziert und mit Leben erfüllt werde und sich „auch die andere Seite an seinen Text und Geist“ halte. Zugleich legte das Politbüro Wert auf die Feststellung, daß die Politik der friedlichen Koexistenz die gesellschaftlichen Gegensätze nicht einebne und schon „gar nicht zu einer Annäherung oder Aussöhnung der feindlichen Ideologien“ führe; der „Kampf an der ideologischen Front“ verschärfe sich jetzt in besonderem Maße. In der Folgezeit unternahm die SED agitatorisch-propagandistische Anstrengungen, um trotz der sich anbahnenden Normalisierung des innerdeutschen Verhältnisses das überkommene Feindbild vom westlichen Deutschland aufrechterhalten zu können. Gegen wen die Parteiführung sich besonders wehren zu müssen glaubte, hatte sie in einem Politbüro-Beschluß zu Fragen der Agitation und Propaganda am Tage vor der Paraphierung des Grundlagenvertrages hervorgehoben — gegen „den Antikommunismus, dieses politisch-ideologische Hauptinstrument der imperialistischen Bourgeoisie, den bürgerlichen Nationalismus, den Sozialdemokratismus, den Revisionismus und den ‚linken‘ Opportunismus“ (ND 11. 11. 1972).

 

Auf die nach dem Abschluß des Grundlagenvertrages einsetzende Anerkennungswelle anspielend, erklärte A. Norden am 19. 3. 1973 vor dem Nationalrat der Nationalen Front: „Zwischen der sozialistischen Nation in der DDR und der kapitalistischen Nation in der BRD hat sich, das anerkennt die Welt, die historische Tendenz der Abgrenzung durchgesetzt.“ (ND 20. 3. 1973) Es könne mithin weder von „besonderen Beziehungen zwischen der DDR und der BRD“ noch von einer „Einheit der Nation“ die Rede sein. Vor dem ZK der SED bestritt E. Honecker am 28. 5. 1973, daß es noch eine „offene deutsche Frage“ gäbe, der Grundlagenvertrag sei eine „definitive völkerrechtliche Regelung der Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten“ und kein „Modus vivendi“ (ND 29. 5. 1973). Außenminister Winzer erläuterte am 13. 6. 1973 in einer Sitzung der Volkskammer, wie seine Regierung den Vertrag zu werten und zu interpretieren wünscht — als Ausdruck der „legitimen Interessen beider Seiten“. Auf die in der Bundesrepublik Deutschland vertretenen Ansichten über den besonderen Charakter der deutsch-deutschen Beziehungen eingehend, erklärte Winzer, derartige „‚innerdeutsche‘ Pflichtübungen“ seien substanzlos: „Die DDR ist kein Inland der BRD und die BRD kein Inland der DDR.“ Für die Normalisierung der Beziehungen sei es „unumgänglich, daß sich die BRD auch in der Staatsangehörigkeitsfrage von rechtswidrigen und auch sachlich einfach unhaltbaren Konstruktionen trennt“ (ND 14. 6. 1973).

 

Nachdem der Deutsche Bundestag und die Volkskammer ihre Zustimmung erteilt hatten, trat der Grundlagenvertrag am 21. 6. 1973 in Kraft. Damit waren der Beginn des grenznahen Reise- und Besucher-Verkehrs, die Eröffnung von 4 neuen Grenzübergängen sowie Verbesserungen im Reise- und Paketverkehr verbunden (Innerdeutsche Beziehungen).

 

VII. Deutschlandpolitik mit dem Grundlagenvertrag (1972 bis Anfang 1984)

 

 

A. Normalisierung durch Vertragspolitik

 

 

Die Interpretation des Grundlagenvertrages durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. 7. 1973 stieß in der DDR und bei ihren osteuropäischen Verbündeten auf scharfe Ablehnung. In seinem Bericht an das ZK am 2. 10. 1973 bezeichnete das Politbüro der SED den Spruch der Karlsruher Ver[S. 295]fassungsrichter als „völkerrechtswidrig“. Zugleich verschärfte sich die Kritik der SED an einem angeblichen Mißbrauch der Transitwege durch westliche Fluchthilfeorganisationen. Absichten der Bundesregierung, in Berlin (West) ein Umweltbundesamt zu errichten, wurden als Verstoß gegen das Viermächte-Abkommen angeprangert.

 

Nachdem die SED bereits zu Beginn des Jahres 1973 damit begonnen hatte, Funktionäre des Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparates nachdrücklich vor „West-Kontakten“ zu warnen, entschloß sie sich im November, den stark ausgeweiteten Besuchs- und Reiseverkehr auf administrativem Wege zu drosseln: Am 5. 11. 1973 erließ das Ministerium der Finanzen eine Anordnung über die Verdoppelung der Mindestumtauschsätze pro Person und Tag bei Besuchen in den Bezirken der DDR (von 10 auf 20 DM) und in Berlin (Ost) (von 5 auf 10 DM). Die neue Regelung betraf auch Rentner, die bis zu diesem Zeitpunkt von der Umtauschpflicht befreit waren (Währung/Währungspolitik).

 

Die Erhöhung des Mindestumtausches führte in der Folgezeit zu einem Rückgang der Zahl der Reisenden aus der Bundesrepublik und aus Berlin (West) in die DDR um mehr als ein Drittel. Bundesregierung und Senat werteten diesen Schritt der DDR als Verstoß gegen die Geschäftsgrundlage der innerdeutschen Verträge und forderten eine Herabsetzung der Mindestumtauschsätze.

 

Trotz wachsender Meinungsverschiedenheiten zwischen Bonn und Berlin (Ost) wurden die Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen auf verschiedenen (insgesamt 14) Verhandlungsebenen fortgesetzt.

 

Bereits am 31. 1. 1973 hatte sich eine Grenzkommission konstituiert, die im September auf der Grundlage der Londoner Protokolle von 1944 mit der Markierung der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR begann und ihre Arbeit am 29. 11. 1978 mit der Unterzeichnung eines Protokolls über die Markierung der innerdeutschen Grenze (mit Ausnahme eines rd. 92 km langen Abschnitts an der Elbe) abschloß.

 

Am 21. 2. 1973 erließ der Ministerrat der DDR eine „Verordnung über die Tätigkeit von Publikationsorganen anderer Staaten und deren Korrespondenten“ (GBl. I, S. 99 f.). Danach waren „ständige Korrespondenten“ durch das DDR-Außenministerium zu akkreditieren, von dessen Genehmigung auch die Tätigkeit der sich nur kurzfristig in der DDR aufhaltenden „Reisekorrespondenten“ abhängig war. Die Korrespondenten hatten „Verleumdungen und Diffamierungen“ der DDR, ihrer Organe und ihrer Repräsentanten zu unterlassen, „wahrheitsgetreu, sachbezogen und korrekt zu berichten sowie keine böswillige Verfälschung von Tatsachen zuzulassen“ (Korrespondenten).

 

Im November 1973 wurden Verhandlungen zwischen den zuständigen Ressortministerien beider Regierungen über gemeinsame Maßnahmen zum Umweltschutz, über kulturellen Austausch und über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit aufgenommen. Damit bestanden Kontakte in allen Bereichen, die im Artikel 7 des Grundlagenvertrages als regelungsbedürftig und möglicher Inhalt von Folgeverträgen beschrieben worden waren.

 

In Gesprächen über die nach Abschluß des Grundlagenvertrages zu errichtenden Ständigen Vertretungen bemühte sich die DDR, den diplomatischen Status dieser Vertretungen möglichst weitgehend dem einer Botschaft anzugleichen, während die Bundesrepublik Deutschland den Austausch derartiger Vertretungen als Element des von ihr angestrebten besonderen innerdeutschen Verhältnisses charakterisierte. Ein am 14. 3. 1974 in Bonn vom Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Günter Gaus, und vom Stellvertretenden Außenminister der DDR, Kurt Nier, unterzeichnetes Protokoll schuf die Voraussetzungen für die Errichtung der beiden Ständigen Vertretungen in Bonn-Bad Godesberg und in Berlin (Ost). Sie nahmen Anfang Mai 1974 ihre Tätigkeit auf. Die DDR entsandte Dr. Michael Kohl als Leiter ihrer Ständigen Vertretung — er wurde beim Bundespräsidenten akkreditiert. Allerdings ist nicht das Auswärtige Amt, sondern das Bundeskanzleramt die Behörde, der die Ständige Vertretung der DDR — anders als Botschaften ausländischer Staaten — zugeordnet ist. Die Wiener Konvention über diplomatische Rechte und Immunitäten gilt nicht unmittelbar, sondern wird laut Protokoll „entsprechend“ angewendet. Im Herbst 1978 ist der Stellvertretende Außenminister der DDR E. Moldt zum Nachfolger Kohls ernannt worden. Moldt (wie schon Kohl) trägt den persönlichen Titel „Botschafter“. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR wird zwar wie eine ausländische Botschaft behandelt, jedoch legen ihre „Leiter“ (so die offizielle Bezeichnung), die stets Staatssekretäre sind, Wert darauf, den Sonderstatus der Vertretung — wo es ohne Affront gegenüber der DDR geht — zu demonstrieren. So nahm seinerzeit der frühere Leiter der Ständigen Vertretung, Gaus, das ihm entsprechend dem DDR-Protokoll als dienstältestem diplomatischen Vertreter in Berlin (Ost) zustehende Ehrenamt eines Doyen des diplomatischen Korps nicht an. Am 25. 4. 1974 konnten erste Folgevereinbarungen zum Grundlagenvertrag unterzeichnet werden — ein Abkommen über die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und Vereinbarungen über den nichtkommerziellen Zahlungsverkehr (Transfer von Unterhalts- und Schadenersatzzahlungen, beschränkter Transfer von Guthaben bei Geld- und Kreditinstituten).

 

Die zentralen Sportorganisationen beider Staaten. DSB und Deutscher Turn- und Sportbund [S. 296](DTSB) der DDR, einigten sich am 8. 5. 1974 in einem Protokoll über die Regelung der Sportbeziehungen. Die DDR gab dabei ihren jahrelangen Widerstand gegen die bestehende Integration des Landessportbundes Berlin (West) in den Deutschen Sportbund der Bundesrepublik Deutschland auf (Sport). Damit war ein deutlicher Fortschritt in den innerdeutschen Beziehungen erreicht worden, der allerdings von einer Spionage-Affäre im Bundeskanzleramt überschattet wurde. Den auf die Entdeckung des DDR-Spions Guillaume folgenden Rücktritt von Bundeskanzler Brandt bezeichneten die Massenmedien der DDR als Ergebnis „innerer Widersprüche“, an denen die Regierung Brandt gescheitert sei (ND 8. 5. 1974). Indessen wirkte sich bei der Entwicklung dieser Beziehungen auch weiterhin der Streit über den Status Berlins hemmend aus. Im Sommer 1974 protestierte die DDR heftig gegen die Errichtung des Umweltbundesamtes in Berlin (West).

 

Den 25. Jahrestag ihrer Gründung (7. 10. 1974) nahm die Volkskammer zum Anlaß, um aus der Verfassung der DDR alle Formulierungen zu entfernen, in denen sich bis Ende der 60er Jahre vertretene, jedoch seit Anfang 1970 im politischen Sprachgebrauch der SED kaum noch verbreitete Auffassungen zur Nation und nationalen Frage widerspiegelten. Aus der Präambel der Verfassung und aus den Artikeln 1 und 8 wurden Hinweise auf den Bestand einer deutschen Nation in zwei Staaten gestrichen. Ebenso entfiel ersatzlos die Absichtserklärung von 1968, auf dem Wege einer „schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten“ ihre „Vereinigung auf der Grundlage von Demokratie und Sozialismus“ anzustreben.

 

Gefördert durch einen — nicht veröffentlichten — Briefwechsel zwischen Honecker und Bundeskanzler H. Schmidt (seit 1974) sowie durch mehrere persönliche Begegnungen Honeckers mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR, Staatssekretär G. Gaus, führten die innerdeutschen Verhandlungen im November und Dezember 1974 zu weiteren Absprachen: Mit Wirkung vom 15. 11. 1974 reduzierte die DDR-Regierung den ein Jahr zuvor erhöhten Mindestumtausch (auf 13 DM bei Reisen in die Bezirke der DDR und 6,50 DM bei Besuchen von Berlin [Ost]); mit Wirkung vom 20. 12. 1974 wurden auch die Rentner wieder vom Zwangsumtausch ausgenommen, und, nachdem wesentliche Erleichterungen beim Reiseverkehr mit privaten Kraftfahrzeugen zugesagt worden waren, fand sich die Bundesregierung Anfang Dezember zu einer Verlängerung der 1968 abgeschlossenen Vereinbarung über den Swing im Innerdeutschen Handel (IDH) bereit (der Swing sollte in den Jahren 1976–1981 einen Höchstbetrag von 850 Mill. Verrechnungseinheiten nicht überschreiten).

 

Am 9. 12. 1974 erklärte die DDR in einem Memorandum an die Bundesregierung ihre grundsätzliche Bereitschaft zu Verhandlungen über den Ausbau der Transitwege zwischen Berlin (West) und dem Bundesgebiet zu Lande und zu Wasser. Am selben Tag schlug die DDR dem Senat von Berlin die Lieferung von Elektroenergie aus ihrem Netz, Expertengespräche über die Öffnung der westlichen Zufahrt zum Teltow-Kanal, die Fortsetzung der Verhandlungen über den Bau einer zweiten Kammer der Spandauer Schleuse und über die Umgestaltung von Eisenbahnanlagen im Südbereich von Berlin (West) sowie eine Ausweitung wirtschaftlicher Beziehungen vor.

 

Im Mittelpunkt beider Memoranden der DDR an die Bundesregierung und den Berliner Senat stand die Verbesserung des Verkehrs auf Autobahnen und Binnenwasserstraßen durch technische Vorkehrungen und umfangreiche Baumaßnahmen. Darüber sind intensive Verhandlungen in den folgenden 12 Monaten mit dem Ergebnis geführt worden, daß am 19. 12. 1975 in einem Briefwechsel die Grunderneuerung der Transit-Autobahn Berlin-Helmstedt und der 6spurige Ausbau des Berliner Rings innerhalb einer 4jährigen Zeitspanne vereinbart wurden. Die DDR bezifferte die Gesamtkosten dieser Vorhaben auf 405 Mill. Mark — die Bundesrepublik Deutschland beteiligte sich daran mit 259,5 Mill. DM.

 

B. Die Deutschlandpolitik nach der Konferenz von Helsinki --- zwischen verstärkter Abgrenzung und Fortsetzung der Entspannungspolitik

 

 

[S. 297]Die Schlußakte der KSZE, in Helsinki von 35 Staats- und Regierungschefs unterzeichnet, wurde in der DDR in vollem Wortlaut publiziert. Damit seien, schrieb das „Neue Deutschland“ am 4. 8. 1975, „die territorialen und politischen Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung in Europa zum erstenmal in dieser umfassenden Form besiegelt worden“. 2 der 10 Punkte aus dem in Helsinki verabschiedeten Prinzipien-Katalog werteten Sprecher der Einheitspartei als besonders wichtig: die Hinweise auf die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen und auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten.

 

Bundeskanzler H. Schmidt und der Erste Sekretär des SED-Zentralkomitees, E. Honecker, führten am Rande der Gipfelkonferenz von Helsinki am 31. 7. und 1. 8. 1975 einen Meinungsaustausch. Honecker erklärte nach dem Abschluß der Konferenz, man müsse auch in den Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland „den Geist von Helsinki wirksam werden“ lassen; es bestehe die Notwendigkeit, das „bereits Erreichte zu konsolidieren, es weiter auszubauen und alles Hemmende aus dem Weg zu räumen“ (ND 6. 8. 1975).

 

Die Schlußakte der KSZE enthielt auch Vorschläge für eine Verbesserung des Informationsaustausches zwischen Staaten und der Arbeitsbedingungen von Journalisten. Trotz dieser auf Entspannung gerichteten Empfehlungen entschloß sich die Regierung der DDR gegen Ende des Jahres 1975 — zum erstenmal in der kurzen Geschichte der offiziellen innerdeutschen Absprachen über die Tätigkeit von Presse, Funk und Fernsehen —, einem Korrespondenten aus der Bundesrepublik, dem „Spiegel“-Redakteur Mettke, die Akkreditierung zu entziehen, nachdem das Hamburger Nachrichtenmagazin über Zwangsadoptionen von in der DDR zurückgebliebenen Kindern geflüchteter Eltern berichtet hatte. — Gespräche über den Umweltschutz stockten — die DDR erhob grundsätzlich Einwände gegen die Errichtung des Umweltbundesamtes in Berlin (West).

 

Die Verhandlungen über Folgevereinbarungen zum Grundlagenvertrag wurden jedoch fortgesetzt, konnten aber wegen Meinungsverschiedenheiten nicht zu einem erfolgreichen Abschluß geführt werden: so gelang es beiden Seiten bis Ende 1982 nicht, sich über die Einbeziehung von Berlin (West) in eine Vereinbarung über die angestrebte wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zu verständigen. Bei den Bemühungen um ein Rechtshilfeabkommen erwies sich dagegen die umstrittene Staatsangehörigkeitsfrage als nicht zu überspringende Hürde. In den Gesprächen über ein Kulturabkommen erhob die Regierung der DDR Ansprüche auf Teile des ehemaligen Preußischen Kulturbesitzes, den eine von Bund und Ländern getragene Stiftung verwaltet. Die Bundesregierung wies diese Ansprüche stets als unberechtigt zurück.

 

Lediglich die Postministerien beider Seiten erzielten am 30. 3. 1976 eine Verständigung über ein grundlegendes Abkommen auf dem Gebiet des Post- und Fernmeldewesens, das durch 3 Verwaltungsabkommen präzisiert worden ist.

 

Die Ergebnisse der KSZE — von den Medien der DDR publiziert und ausführlich kommentiert — hatten unerwartete innenpolitische Konsequenzen: Eine zahlenmäßig nicht exakt erfaßbare Gruppe von Bürgern der DDR leitete aus der Schlußakte — insbesondere aus dem Abschnitt über die Menschenrechte im 10-Punkte-Prinzipienkatalog des „Korbes I“ und aus den humanitären Absichtserklärungen des „Korbes III“ — konkrete Forderungen an die Organe der DDR ab. Sie stellten Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Diese Tendenzen sind noch durch das Inkrafttreten der beiden Menschenrechtspakte der UN vom Dezember 1966 verstärkt worden.

 

Die Bestimmungen des Bürgerrechts — und des Sozialrechtspaktes wurden Anfang 1976 völkerrechtlich wirksam, nachdem sie von einer ausreichenden Zahl von Staaten — darunter von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (bereits 1974) — ratifiziert worden waren (Außenpolitik). Der Wortlaut dieser Pakte ist auch im Gesetzblatt der DDR abgedruckt worden (II, 1974, S. 60). So heißt es z.B. im Art. 12 des Bürgerrechtspaktes („Internationale Konvention über zivile und politische Rechte“): „Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen.“

 

Auch die Ausführungen westeuropäischer KP-Führer auf der Konferenz der 29 kommunistischen und Arbeiterparteien Europas in Berlin (Ost) am 29. und 30. 6. 1976 trugen zu dem auch öffentlich vorgetragenen Verlangen nach Inanspruchnahme der bürgerlichen Freiheitsrechte durch Bürger der DDR bei (Bürgerrechtler).

 

Zur selben Zeit belastete indessen erneut der Schußwaffengebrauch an der Innerdeutschen ➝Grenze das Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. Internationales Aufsehen erregte die Erschießung des italienischen Fernfahrers Corghi (Mitglied der KP Italiens) am 5. 8. 1976 durch Grenzorgane der DDR.

 

Im Herbst 1976 deuteten Umstände darauf hin, daß sich die SED-Führung zu einem härteren innenpolitischen Kurs entschlossen hatte. Die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 und die darauf folgende Kontroverse zwischen der SED und einem größeren Kreis von Schriftstellern und Künstlern (Kulturpolitik) hatte ebenso Konsequenzen für das Klima zwischen beiden deutschen Staaten wie die Ausweisung des ARD-Fernsehkorrespondenten Loewe im Dezember 1976.

 

Nachdem Ministerpräsident Stoph in seiner Regierungserklärung am 1. 11. 1976 nach längerer Pause wieder von einem „Anwachsen des Revanchismus“ in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen und davor gewarnt hatte, das für 1977 geplante erste KSZE-Folgetreffen in Belgrad in eine „Tribüne der Konfrontation umzuwandeln“ (ND 2. 11. 1976), vertrat Honecker in einem Interview mit der „Saarbrücker Zeitung“ am 17. 2. 1977 die Ansicht, es verstärkten sich „die Tendenzen in der BRD, das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten auf den Stand zurückzudrücken, wie er vor dem Grundlagenvertrag bestand“; die DDR werde zu überlegen haben, ob es zumutbar sei, „Propagandisten des Hasses und der Feindschaft“ weiterhin einreisen zu lassen; tatsächlich seien die Beziehungen zwischen beiden Staaten „gegenwärtig stark belastet“ — die Verantwortung dafür trügen „Kreise in der Bundesrepublik Deutschland, die an geschlossenen Verträgen vorbei erneut eine revanchistische Politik gegen die DDR betreiben“ wollten (ND 22. 2. 1977).

 

Die nach dem Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten J. Carter auf internationaler Ebene intensivierte Debatte über die Sicherung der Menschen[S. 298]rechte bezeichnete Honecker auf der 5. ZK-Tagung am 17. 3. 1977 als „großen Rummel“, als „viel Krach um nichts“; in der DDR seien die Menschenrechte „nicht nur verfassungsmäßig, sondern im täglichen Leben der Gesellschaft voll garantiert“ (ND 18. 3. 1977).

 

Die durch die Bundestagswahl vom Oktober 1976 bestätigte sozialliberale Koalition nahm in der ersten Hälfte des folgenden Jahres eine Bestandsaufnahme ihrer deutschlandpolitischen Bemühungen seit Beginn der Vertragspolitik vor und stellte einen Katalog weiterer Verhandlungsziele auf. Daraufhin trafen sich der Staatsminister im Bundeskanzleramt, Wischnewski, und der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, M. Kohl, am 12. 8. 1977 zu einem offiziellen Gespräch, das den Auftakt einer neuen Verhandlungsrunde bedeutete. Zuvor waren erneut durch einen Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Schmidt und SED-Generalsekretär Honecker Verfahrensweise und Richtung dieser Verhandlungen umrissen worden.

 

In seiner Rede zur Eröffnung des Parteilehrjahres in Dresden warf Honecker der Bundesrepublik Deutschland am 26. 9. 1977 vor, sie weigere sich immer noch, die „Staatsgrenze der DDR mit allen sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen anzuerkennen“ und Bewohner der DDR als deren „Staatsbürger“ zu betrachten: „Hier liegt die eigentliche Wurzel dafür, daß es immer wieder Belastungen in den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD gibt.“ (ND 27. 9. 1977)

 

Am 19. 10. 1977 kamen Delegationen beider Postministerien überein, bis 1982 die Zahl der Leitungen für den Selbstwählfernsprechdienst zwischen beiden deutschen Staaten um 702 zu erhöhen und damit praktisch zu verdoppeln. Ferner wurde die Pauschale für die Abgeltung von Mehrleistungen der Deutschen Post der DDR (bis 1976 jährlich 30 Mill. DM) für die Jahre 1977–1982 auf 85 Mill. DM jährlich erhöht.

 

Im selben Monat nahm Staatssekretär Gaus in Berlin (Ost) Verhandlungen über den Ausbau von zwei jeweils 2,5 km langen Autobahnabschnitten an den Grenzübergängen Helmstedt-Marienborn und Herleshausen-Wartha auf. Dabei wurden auch Möglichkeiten für den Abschluß eines Veterinärabkommens erörtert.

 

Weitere Verhandlungsergebnisse wurden insbesondere in Verkehrsfragen erzielt. Am 22. 12. 1977 konnte der Ausbau des Autobahnabschnitts Helmstedt-Marienborn vereinbart werden; die Bundesrepublik übernahm Baukosten in Höhe von 2,73 Mill. DM.

 

Zu erneuten Belastungen des deutsch-deutschen Verhältnisses führte um die Jahreswende 1977/78 eine auffallende und von der Bundesregierung als unberechtigt bezeichnete Zunahme der Verdachtskontrollen auf den Transitwegen durch Grenzorgane der DDR, die Schließung des »Spiegel-Büros in Berlin (Ost) nach der Publikation des einer Gruppe oppositioneller SED-Mitglieder zugeschriebenen „Manifests“ in zwei Ausgaben des Hamburger Nachrichtenmagazins, schließlich die Zurückweisung des CDU-Vorsitzenden Dr. Helmut Kohl und anderer Unionspolitiker an der innerstädtischen Grenze in Berlin. Dem daraufhin am 28. 1. 1978 zwischen Staatsminister Wischnewski vom Bundeskanzleramt und Politbüro-Mitglied Axen sowie dem Außenminister der DDR, Fischer, arrangierten Gespräch bescheinigte Honecker in einer Rede vor den 1. Kreissekretären der SED am 17. 2. 1978 eine „offene und sachliche Atmosphäre“; man müsse eine „erneute Vergiftung des Klimas“ verhindern und die gegebenen Möglichkeiten nutzen, um „die Verhandlungen auf den verschiedenen Gebieten erfolgreich fortzuführen“ (ND 18. 2. 1977).

 

Nachdem Staatssekretär Gaus in der ersten Hälfte des Jahres 1978 in Berlin (Ost) Gespräche über ein Veterinärabkommen geführt hatte, konzentrierte er sich — im Anschluß an eine Unterredung mit E. Honecker am 12. 6. 1978 — auf Verhandlungen über weitere Verbesserungen im Berlin-Transitverkehr. Dem Fortgang dieser Bemühungen waren die Gespräche, die der sowjetische Parteichef L. Breschnew mit Bundeskanzler H. Schmidt während seines zweiten Besuches in der Bundesrepublik im Mai geführt hatte, förderlich.

 

So kam es noch im November 1978 zur Unterzeichnung einer Reihe wichtiger Vereinbarungen, die insbesondere den Ausbau der Verkehrswege zwischen beiden deutschen Staaten betrafen (Bau der Autobahn Berlin-Hamburg, Bundesbeteiligung 1,2 Mrd. DM; Reparatur der Transitwasserstraßen, Bundesbeteiligung 190 Mill. DM; Öffnung des Teltow-Kanals in Berlin; Erhöhung der Transitpauschale von 400 Mill. DM auf 525 Mill. DM für die Jahre 1980–1989) (Innerdeutsche Beziehungen).

 

Zur Verbesserung des nichtkommerziellen Verrechnungs- und Grenzüberschreitenden ➝Zahlungsverkehrs versprach die DDR, aus ihren Deviseneinnahmen bis 1982 200 Mill. DM für den Transfer von Guthaben bereitzustellen, die Bürger der Bundesrepublik bei DDR-Banken und -Sparkassen unterhielten.

 

Am 12. und 13. 1. 1979 führte Staatsminister Wischnewski in Berlin (Ost) Gespräche mit Außenminister Fischer und dem inzwischen aus Bonn in das DDR-Außenministerium zurückgekehrten und zum Stellvertretenden Außenminister ernannten Dr. M. Kohl über Möglichkeiten eines Energieverbundsystems unter Einbeziehung von Berlin (West) und über gemeinsame Maßnahmen zum Umweltschutz, insbesondere zur Reinhaltung von Gewässern.

 

Während der Leipziger Frühjahrsmesse im März [S. 299]1979 reiste Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff in die DDR. Mit dem Wirtschaftsexperten des SED-Politbüros, G. Mittag, erörterte er Möglichkeiten einer Ausweitung des innerdeutschen Handels und insbesondere der industriellen Kooperation.

 

In anderen Bereichen waren dagegen restriktive Tendenzen in der D. der SED zu beobachten. Beispiel hierfür sind die die Arbeit vor allem westdeutscher Journalisten einschränkenden Durchführungsbestimmungen zur Journalistenverordnung vom Februar 1973 (vom 16. 4. 1979) sowie die Neuregelung der Bestimmungen über Besitz und Verwendung von Hartwährungsvaluta durch DDR-Bürger vom 16. 4. 1979 (Währung/Währungspolitik). Unter deutschlandpolitischen Gesichtspunkten brachte auch das am 28. 6. 1979 von der DDR verabschiedete Strafrechtsergänzungsgesetz, das sich vor allem gegen Kontakte zwischen DDR-Bürgern und westlichen Korrespondenten richtete, erneut eine beträchtliche Klimaverschlechterung.

 

Erst im Herbst trat eine gewisse Verbesserung des politischen Klimas ein, nachdem die DDR eine Amnestie für Strafgefangene angekündigt, ihre scharfe Kampagne gegen kritische Intellektuelle abgeschwächt und mehreren gemaßregelten Schriftstellern die Ausreise in den Westen gestattet hatte. Mitte Oktober 1979 kam zum ersten Mal ein Mitglied der DDR-Regierung, der Minister für Bauwesen, Wolfgang Junker (SED), zu einem offiziellen viertägigen Besuch in die Bundesrepublik. Am 31. 10. konnten zwei neue Verkehrsvereinbarungen über die Befreiung von DDR-Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik von der Kfz-Steuerpflicht und den Verzicht auf Straßenbenutzungsgebühren durch die DDR (ersetzt durch Pauschalzahlungen von seiten der Bundesrepublik Deutschland) unterzeichnet werden.

 

Schließlich wurde am 21. 12. 1979 ein Abkommen über die Zusammenarbeit im Veterinärwesen geschlossen.

 

C. Deutschlandpolitik nach dem NATO-Doppelbeschluß

 

 

Trotz heftiger Polemik gegen den Brüsseler NATO-Beschluß vom Dezember 1979 und der Verschlechterung des Ost-West-Klimas nach der militärischen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan Ende 1979 änderte sich die D. der SED zunächst nicht. So besuchte der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Josef Ertl, im März 1980 die Leipziger Messe und führte mit dem für die Landwirtschaft zuständigen Sekretär des ZK der SED und Mitglied des Politbüros, Gerhard Grüneberg, einen Erfahrungsaustausch. Der Wirtschaftsexperte der SED-Führung, Günter Mittag, reiste im April zur Hannover-Messe und traf anschließend in Bonn u.a. mit Bundeskanzler Helmut Schmidt zusammen.

 

Am 30. 4. 1980 konnten in Berlin (Ost) drei weitere Abkommen über Verbesserungen der innerdeutschen Verkehrsverbindungen unterzeichnet werden (Ausbau des Autobahnübergangs Wartha/Herleshausen, Verbreiterung des Mittellandkanals und zweigleisiger Ausbau der Eisenbahnstrecke Berlin-Helmstedt). — In der D. der SED zeichnete sich jedoch zugleich eine neue Tendenz ab: die innerdeutsche Entspannungspolitik sollte als Instrument der Einwirkung auf die NATO-Politik der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt werden. Das Gespräch zwischen Bundeskanzler Schmidt und dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker anläßlich der Beisetzungsfeierlichkeiten für den verstorbenen jugoslawischen Staatspräsidenten Tito in Belgrad am 8. 5. 1980 bot dazu eine erste Gelegenheit („von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen“). Vor dem am 21.–22. 5. 1980 tagenden SED-Zentralkomitee führte Honecker die Verschlechterung der internationalen Lage darauf zurück, daß „die aggressivsten Kreise der NATO … das militärische Gleichgewicht einseitig zu verändern und ihre Überlegenheit zu erreichen“ suchten; das Belgrader Treffen zwischen H. Schmidt und ihm habe einen „besonderen Stellenwert“ für die Fortsetzung des Ost-West-Dialogs gehabt: „Es unterstrich die Verantwortung der beiden deutschen Staaten für den Frieden gerade in einer Zeit, in der die internationale Lage komplizierter geworden ist.“ (ND 22. 5. 1980)

 

Anfang Juli gab Honecker dem englischen Verleger seines Buches „Aus meinem Leben“, R. Maxwell, ein Interview. Darin begründete er, daß aus der Sicht der SED vor allem die Nichtanerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik Deutschland einer Ausweitung des innerdeutschen Reiseverkehrs entgegensteht.

 

Trotz der kurzfristigen Absage eines DDR-Besuches durch Bundeskanzler Schmidt — unter dem Eindruck der sich verschärfenden Lage in Polen — erklärte Honecker am 31. 8. bei der Eröffnung der Leipziger Herbstmesse, die DDR sei an der weiteren Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik „sehr interessiert“, um „den Entspannungsprozeß in Europa zu fördern und in Verbindung damit neue Horizonte für die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten zu erschließen“.

 

D. Von der Erhöhung des Mindestumtausches 1980 bis zur Bundestagswahl 1983

 

 

Eine restriktive Änderung der D. der SED stellte die am 9. 10. 1980, also wenige Tage nach der Bundestagswahl, verfügte drastische Erhöhung des Mindestumtausches für Reisende aus „nichtsozialistischen Staaten“ dar. Honecker erklärte den Zeitpunkt damit, man habe diese Maßnahme nicht vor [S. 300]der Wahl treffen wollen. In der Folge verringerte sich der Reiseverkehr von West nach Ost erheblich. Die Rede Honeckers am 13. 10. 1980 zur Eröffnung des Parteilehrjahres der SED in Gera bestätigte die grundsätzliche Verhärtung der Position der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Der Generalsekretär der SED verlangte als Voraussetzung für normale Beziehungen zwischen beiden Staaten von der Bundesrepublik „die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR“, die Auflösung der „Zentralen Erfassungsstelle“ in Salzgitter, den Verzicht auf die „Ausstellung vorläufiger Reiseausweise der BRD für Bürger der DDR bei deren zeitweiligem Aufenthalt in der BRD“ sowie von „BRD-Pässen für Bürger der DDR durch Botschaften der BRD in dritten Staaten“, ferner die Umwandlung der beiden Ständigen Vertretungen in Bonn und Berlin (Ost) in Botschaften sowie schließlich die Festlegung des Grenzverlaufs auf der Elbe gemäß den Forderungen der DDR, also in der Mitte der Wasserstraße (Talweg).

 

Unter Hinweis auf den NATO-Doppelbeschluß erklärte Honecker: „Niemand soll doch ernsthaft glauben, er könne aktiv die Politik des westlichen Bündnisses vertreten, aus Solidarität mit den USA die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren, als Erfinder und Einpeitscher des Brüsseler Raketenbeschlusses auftreten und gleichzeitig so tun, als brauche man mit der DDR nur über ‚Reiseerleichterungen‘ zu sprechen.“ (ND 14. 10. 1980) — Auch auf der 13. Tagung des ZK der SED im Dezember 1980 bestand die D. der SED im wesentlichen aus Anklagen gegen die NATO-Politik der Bundesregierung. Daß die SED-Führung jedoch auch weiterhin am Kern ihrer D. festhalten wollte, machte Generalsekretär Honecker überraschend in einem 2. Interview mit seinem Verleger Maxwell am 13. 2. 1981 klar: „Wir erheben nie Vorbedingungen für Gespräche, die dazu beitragen sollen, im Interesse des Friedens Spannungen abzubauen und die Beziehungen zwischen den Staaten zu normalisieren.“ Die DDR-Staatsbürgerschaft sei „keine Frage von Verhandlungen“, sie spiele nur deshalb eine Rolle, „weil in der BRD, entgegen jedem Völkerrecht, immer noch das Staatsbürgergesetz aus den Zeiten Wilhelms II. Geltung haben soll und eine Praxis verfolgt wird, die Staatsbürger der DDR diskriminiert. Das werden wir selbstverständlich nie akzeptieren.“ (ND 13. 2. 1981)

 

Daß die SED trotz ihrer Politik der Abgrenzung und ihrer veränderten Haltung zur Nation und zur nationalen Frage noch immer auch gesamtdeutsche Ambitionen besaß und besitzt, war einer Bemerkung von Erich Honecker vor der SED-Bezirksdelegiertenkonferenz in Berlin (Ost) am 15. 2. 1981 zu entnehmen. Er sagte, daß sich „die Frage der Vereinigung beider deutscher Staaten vollkommen neu“ stellen werde, sobald die „sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland“ beginne (ND 16. 2. 1981).

 

Vor den Delegierten des X. Parteitages der SED im April 1981 verwies Honecker auf seine Geraer Rede, ohne jedoch die darin gestellten Forderungen expressis verbis zu wiederholen. Die DDR sei weiterhin bereit, „konstruktiv zur Entwicklung normaler, ja gutnachbarlicher Beziehungen zwischen der DDR und der BRD beizutragen“, doch ließen sich diese Beziehungen nicht von der internationalen Situation abkoppeln.

 

Nach den Volkskammer-Wahlen am 14. 6. 1981 erklärte der Vorsitzende des Ministerrates Willy Stoph am 26. 6. vor der Volkskammer, daß „die Politik der DDR auch gegenüber der BRD von den Prinzipien der Friedlichen Koexistenz bestimmt“ werde. Die Verknüpfung von D. und Sicherheitspolitik wird auch bei Stoph deutlich, wenn er ferner davon spricht, daß „Friedenssicherung in den Mittelpunkt“ der Politik gegenüber Bonn rückt, da diese „nicht zuletzt einen weltpolitischen Hintergrund“ habe (ND 27. 6. 1981).

 

Als Honecker auf der 3. Tagung des ZK der SED im November 1981 von der „besonderen Verpflichtung [beider deutscher Staaten] zum Frieden“ sprach, zeigte er mit dieser Äußerung erneut, daß die SED an der Fortsetzung des Dialogs mit Bonn interessiert geblieben war; in ihrer D. sah die Parteiführung der SED ein Stück Friedenssicherungspolitik. Unter diesem Aspekt ist die umfassende Bestandsaufnahme der innerdeutschen Beziehungen beim Treffen zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Generalsekretär der SED Erich Honecker vom 11.–13. 12. 1981 am Werbellinsee (DDR) zu sehen, bei dem die DDR-Behörden den westlichen Massenmedien eine umfassende Berichterstattung ermöglichten. Um jedoch spontane Meinungsäußerungen von DDR-Bürgern wie bei dem Aufenthalt Brandts in Erfurt 1970 zu verhindern, wurden Bundeskanzler Schmidt und seine Begleiter — vor allem bei einem Besuch in Güstrow — von der Bevölkerung durch einen massiven Einsatz der DDR-Sicherheitsorgane abgeschirmt. Das am Ende der Begegnung veröffentlichte Gemeinsame Kommuniqué unterstrich noch einmal die Überzeugung beider Seiten, „daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf“. Es betonte ferner, daß — unbeschadet der weiter bestehenden Meinungsverschiedenheiten in Grundsatzfragen — die Bemühungen um gutnachbarliche Beziehungen fortgesetzt würden. Bekräftigt wurden aber auch die unterschiedlichen Auffassungen über die Erhöhung des Mindestumtausches. In den Absätzen des Kommuniqués, die wirtschaftlichen Fragen galten, war von Zusammenarbeit bei Projekten und Unternehmenskooperationen auch auf dritten Märkten sowie von Zusammenarbeit im Energiebereich die Rede (die DDR bekräftigte bei dieser Gelegenheit ihr Einverständnis mit der Liefe[S. 301]rung sowjetischen Erdgases nach Berlin [West]). Nach einer Aufzählung zahlreicher weiterer Themenkomplexe, die zwischen Schmidt und Honecker in insgesamt 15stündigen Gesprächen erörtert worden waren, kündigte das Kommuniqué — ohne genaue Terminangabe — einen Gegenbesuch Honeckers in der Bundesrepublik Deutschland an. Überschattet wurde der Abschluß des innerdeutschen Gipfels am 13. 12. 1981 von der Information über die Verhängung des Kriegsrechts in Polen. Westliche Erwartungen, die DDR werde nach dem Treffen am Werbellinsee wenigstens Rentner und Jugendliche vom Zwang des Mindestumtausches befreien, erfüllten sich nicht. Im Februar 1982 erweiterte die DDR allerdings den Katalog der Anlässe für Westreisen ihrer eigenen Bürger in dringenden Familienangelegenheiten. — Abgesehen von einer am 17. 12. 1981 in Berlin (Ost) unterzeichneten Vereinbarung über die vorläufige Verlängerung des zinslosen Überziehungskredits im Innerdeutschen Handel (IDH) über den 31. 12. 1981 hinaus bis zum 30. 6. 1982, folgten dem Treffen am Werbellinsee keine konkreten Absprachen.

 

Das am 25. 3. 1982 von der Volkskammer verabschiedete neue Grenzgesetz faßte zusammen, was schon zuvor — in teilweise unveröffentlichten Vorschriften — das Verhalten der DDR-Grenzorgane bestimmt hatte (so den Schußwaffengebrauch an den Grenzen, dem nach Ermittlungen von Bundesbehörden bis zu diesem Zeitpunkt mindestens 186 Personen zum Opfer gefallen waren). Es bekräftigte ferner den Anspruch von seiten der DDR auf die Grenzziehung entlang der Hauptfahrrinne (Talweg) der Elbe.

 

Ungeachtet der trotz des Treffens am Werbellinsee unerfüllt geblichenen Erwartungen auf ein deutschlandpolitisches Einlenken der SED und vorbereitet durch eine Begegnung des Bundesministers Lambsdorff mit dem SED-Wirtschaftsexperten Günter Mittag am 17. 3. in Berlin (Ost) erzielten beide Regierungen am 18. 6. 1982 eine neue Swing-Regelung. Danach sollte der zinslose Überziehungskredit im innerdeutschen Handel bis zum 1. 1. 1985 schrittweise von bisher 850 Mill. auf 600 Mill. DM zurückgeführt werden. Im Gegenzug erbrachte die DDR Gegenleistungen im Bereich des nichtkommerziellen Zahlungsverkehrs, der Einreisebestimmungen für „Republikflüchtlinge“ und der geltenden Ausbürgerungspraxis.

 

Seit Anfang 1982 verdichteten sich auch die offiziellen innerdeutschen Besuchskontakte. So reiste Anfang Juli 1982 der DDR-Minister für Wissenschaft und Technik, Herbert Weiz, zu einem 4tägigen offiziellen Besuch in die Bundesrepublik Deutschland. Auf Einladung der Jungsozialisten und des Saarbrücker Oberbürgermeisters Lafontaine, der im März während eines einwöchigen DDR-Besuches auch von Honecker empfangen worden war, kam zum ersten Mal eine Gruppe von Jugendtouristen aus der DDR in das Saarland. — Daß die D. der DDR auch bisher unlösbar erscheinende Probleme nicht ausklammerte, zeigte sich überraschend noch kurz vor dem Regierungswechsel in Bonn. Am 13. 9. 1982 erfuhr der Staatsminister im Bundeskanzleramt Wischnewski, der zu einer städtebaulichen Ausstellung der Bundesrepublik Deutschland „Stadt Park — Park Stadt“ nach Berlin (Ost) gekommen war, bei Begegnungen mit Erich Honecker, Günter Mittag und Außenminister Fischer, daß die DDR nunmehr bereit sei, den Streit um Kulturgüter der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ in den Verhandlungen über ein innerdeutsches Kulturabkommen auszuklammern.

 

Im September 1982 — noch vor dem Bonner Regierungswechsel — kam es ferner zu Vereinbarungen über eine Ausweitung des Jugendaustauschs und zu einer Teilregelung der Berliner Abwässerprobleme.

 

Auf das Ende der sozialliberalen Koalition in Bonn und die ersten deutschlandpolitischen Erklärungen der neuen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl reagierte die SED-Führung zurückhaltend, wenn auch kritisch. Teile der Regierungserklärung des Bundeskanzlers „stammen aus der Zeit des Kalten Krieges“ (ND 14. 10. 1982). Während eines Staatsbesuches auf der Insel Zypern erklärte Erich Honecker, für die DDR sei die Friedensfrage das wichtigste, er aber habe „erhebliche Zweifel“, ob man sie lösen könne, wenn die Bundesregierung vorbehaltlos der Politik der Vereinigten Staaten zustimme.

 

Doch die D. der SED blieb gegenüber der neuen Bonner Regierung vom Interesse am Fortgang der innerdeutschen Gespräche und Verhandlungen bestimmt, nachdem auch das neue Kabinett zu erkennen gegeben hatte, daß es — jedenfalls aus Sicht der DDR — an der bisherigen D. der sozialliberalen Koalition festzuhalten beabsichtigt. Die Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen sowjetischen Partei- und Staatschef Leonid Breschnew boten am 14. 11. 1982 Gelegenheit zu einem einstündigen Meinungsaustausch zwischen dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und dem Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Karl Carstens, in Moskau. Am folgenden Tag nahm der neue Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Oscar Schneider, in Magdeburg an der Eröffnung der zuvor in Berlin (Ost) gezeigten Ausstellung „Stadt Park — Park Stadt“ teil, wo er auch mit DDR-Bauminister Wolfgang Junker (SED) zusammentraf. — Nach 4jähriger Bauzeit konnte am 20. 11. 1982 das letzte Teilstück der neuen Autobahn Berlin-Hamburg für den Verkehr freigegeben werden. Bei dieser Gelegenheit führten Bundesverkehrsminister Dollinger und DDR-Verkehrsminister Arndt ihr erstes Gespräch nach dem Regierungswechsel in [S. 302]Bonn. Auf Einladung von Außenminister Fischer, hielt sich der Staatsminister im Bundeskanzleramt Jenninger am 2. 12. 1982 in Berlin (Ost) auf. Beide kamen überein, daß im folgenden Vierteljahr die Verhandlungen über ein Kulturabkommen zwischen beiden deutschen Staaten wieder aufgenommen werden sollten.

 

Den Vorschlag der schwedischen Regierung für die Schaffung einer von Atomwaffen freien Zone in Mitteleuropa unterstützte die DDR sofort. Honecker schlug darüber hinaus am 4. 2. 1983 in einem Schreiben an Bundeskanzler Kohl der Bundesrepublik Deutschland den Beitritt zu einem entsprechenden Abkommen vor. In seinem Antwortbrief unterstrich der Bundeskanzler, daß für die nukleare Bedrohung eines Gebietes nicht ausschlaggebend sei, „ob dort Kernwaffen stationiert sind, sondern ob auf dieses Gebiet Kernwaffen gerichtet sind“. — Während des Wahlkampfes in der Bundesrepublik im Januar/Februar 1983 übte die SED-Führung im großen und ganzen Zurückhaltung, allerdings fanden sich gelegentlich in den DDR-Zeitungen und Zeitschriften Polemiken gegen „revanchistische“ Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung. Nachdem die Bundestagswahl vom 6. 3. 1983 eine starke Mehrheit für eine Koalition der CDU/CSU mit der F.D.P. erbracht hatte, nutzte Honecker am 13. 3. 1983 die Eröffnung der Leipziger Frühjahrsmesse, um das lebhafte Interesse der DDR an der Kontinuität der Ost- und D. der Bundesrepublik zu unterstreichen; er empfahl, nicht unlösbare Probleme in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Fragen, die „uns wirklich helfen, ein Stückchen bei der Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen vorwärts zu kommen“; über manches könne man sich streiten — „uns scheint es besser zu sein, auf den Gebieten zusammenzuwirken, wo die Möglichkeit der Zusammenarbeit gegeben ist“ (ND 14. 3. 1983).

 

Der Tod eines Transitreisenden aus der Bundesrepublik am 10. 4. 1983 während einer Vernehmung durch DDR-Grenzorgane am Übergang Drewitz löste in der Öffentlichkeit starke Beunruhigung und den Verdacht aus, die an der Leiche festgestellten Verletzungen seien auf äußere Gewaltanwendung zurückzuführen. Bundeskanzler Kohl sagte am 18. 4. 1983 ein Treffen mit dem in Bonn weilenden Politbüromitglied G. Mittag kurzfristig ab und ersuchte Honecker in einem Telefongespräch um rasche Aufklärung der Umstände des Todesfalles. Die DDR-Behörden gaben einem Hamburger Gerichtsmediziner Gelegenheit, sich an Ort und Stelle über den Ablauf des Vorfalls zu unterrichten. Seine Erkenntnisse trugen dazu bei, daß ein von der Staatsanwaltschaft Verden in der Bundesrepublik eingeleitetes Ermittlungsverfahren am 12. 5. 1983 eingestellt wurde, weil keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorlagen, daß die bei dem Toten festgestellten Verletzungen von fremder Hand verursacht worden waren. Der Fall erregte großes Aufsehen. Am 25. 4. 1983 behauptete ADN, es gäbe im Westen Kräfte, „die mit ihrer gegenwärtigen Hetze und Diffamierungskampagne gegen die DDR offenbar die Belastbarkeit des Transitabkommens testen“ wollten. Zwei Tage später wurde ein zweiter Todesfall eines Transitreisenden infolge Herzversagens am Kontrollpunkt Wartha bekannt. Am 28. 4. 1983 teilte der Leiter der Abteilung „West“ im ZK der SED, H. Häber, dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, Staatssekretär H. O. Bräutigam, mit, daß sich Honecker aufgrund der Lage, „wie sie in verschiedenen Pressekommentaren zum Ausdruck kommt“, nicht in der Lage sähe, die Bundesrepublik zu besuchen. In einem ausführlichen Grundsatzartikel des „Neuen Deutschland“ am 3. 5. 1983 beschuldigte die SED-Führung „Scharfmacher wie Strauß, Springer und andere, bewußt eine Situation herbeigeführt“ zu haben, „die an Feindseligkeit gegenüber der DDR kaum zu übertreffen“ sei: „Obwohl sich die DDR in den zurückliegenden Monaten deutlich um gute Beziehungen mit Bonn bemüht hat und dabei bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten ging, fegte von der BRD aus trotz der Frühlingstage am Rhein ein eisiger Wind über die deutsch-deutsche Grenze.“

 

In der Folgezeit deuteten Berichte von Transitreisenden darauf hin, daß die DDR interne Verfügungen getroffen hatte, die dem nachdrücklichen Ersuchen der Bundesregierung Rechnung tragen sollten, Reisenden durch die Form und Atmosphäre der Kontrollen Verängstigung und Einschüchterung zu ersparen. Auch schien die DDR bereit, Anträge ihrer eigenen Bürger auf West-Reisen in dringenden Familienangelegenheiten eher zu genehmigen als noch 1982 — so zählte man in der Bundesrepublik während der ersten drei Monate 1983 16.000 Einreisen von DDR-Bürgern in dringenden Familienangelegenheiten (statt 6.900 im gleichen Quartal des Vorjahres; 1983 insgesamt 65.000 gegenüber 37.000 im Jahre 1982).

 

Sein weiterhin bestehendes Interesse an einem Besuch der Bundesrepublik Deutschland unterstrich Honecker am 21. 5. 1983 in einem Interview mit einer japanischen Zeitung: Aufgeschoben bedeute nicht aufgehoben. Nachdem Honecker am 28. 5. 1983 mit dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages, H. J. Vogel, am Werbellinsee zusammengetroffen war, wertete das SED-Politbüro in seinem Bericht an das ZK-Plenum Mitte Juni die Absage der Reise des Staatsratsvorsitzenden als „dringende Mahnung zur beiderseitigen Pflege und Einhaltung der Kontinuität“ (ND 16. 6. 1983).

 

Auf die sich im Westen zuspitzende Debatte über die Erfüllung des NATO-Nachrüstungsbeschlusses suchten Sprecher der SED wiederholt einzuwirken — so z.B. ein Leitartikler des „Neuen Deutschland“ mit der Feststellung, „daß gute Nachbarschaft [S. 303]im Schatten von neuen amerikanischen Nuklearraketen schwerlich gedeihen kann“ und daß die Lage auch „durch die hemmungslose Entfaltung des Chauvinismus zur Veränderung der Grenzen“ erschwert werde (ND 21. 6. 1983).

 

Anfang Juli 1983 gewährte ein Bankenkonsortium unter der Führung der Bayerischen Landesbank der Deutschen Außenhandelsbank Aktiengesellschaft (DABA) der DDR zu marktüblichen Konditionen einen Kredit von 1 Mrd. DM, der durch eine Garantieerklärung der Bundesregierung abgesichert wurde, die ihrerseits auf eine Kreditsicherungserklärung des DDR-Finanzministeriums verweisen konnte.

 

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende F. J. Strauß teilte mit, daß er den Milliarden-Kredit „eingefädelt“ habe. Im Rahmen einer privaten Besuchsreise in drei Länder des Warschauer Paktes traf Strauß am 24. 7. 1983 mit Honecker am Werbellinsee zu einem — wie ADN ihn kennzeichnete — „freimütigen Meinungsaustausch“ zusammen, bei dem „Fragen der internationalen Entwicklung und der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD“ erörtert worden seien. Während ADN betonte, Honecker habe darauf hingewiesen, daß sich die geplante Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik auch auf „die bilateralen Beziehungen … negativ auswirken“ könnte, erklärte Strauß vor Journalisten, er sei der „festen Überzeugung“, daß die Raketenstationierung das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten nicht unmittelbar beeinflussen werde. Laut ADN wurde in dem Gespräch Honeckers mit Strauß „trotz unterschiedlicher Auffassungen zu bestimmten Problemen … die Nützlichkeit des politischen Ost-West-Dialogs gerade in einer komplizierten Weltlage unterstrichen“ (ND 25. 7. 1983). In der Folgezeit kam es zu einer Reihe von Begegnungen zwischen Politikern aus beiden Staaten in der DDR: Am 24. 8. 1983 suchte der Abrüstungsexperte der SPD, E. Bahr, Honecker auf. Am 5. 9. 1983 traf der Deutschlandexperte des ZK der SED, H. Häber, mit dem Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für innerdeutsche Beziehungen, G. Reddemann (CDU), und Abgeordneten aller im Bundestag vertretenen Parteien in Leipzig zusammen, während am selben Tag Honecker den ehemaligen Bundeskanzler H. Schmidt empfing. Mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden traf am 15. 9. 1983 zum ersten Mal auch ein Regierender Bürgermeister von Berlin zusammen. R. v. Weizsäcker, der bereits Anfang Mai an einer kirchlichen Veranstaltung zum Lutherjahr 1983 auf der Wartburg teilgenommen hatte, wertete sein mehrstündiges Gespräch mit Honecker als „äußerst nützlich“, ohne Einzelheiten darüber mitzuteilen. 10 Tage später sprach R. v. Weizsäcker in seiner Eigenschaft als Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentages in der Bundesrepublik Deutschland zum Abschluß des letzten von sieben regionalen Kirchentagen in der DDR auf dem Marktplatz von Wittenberg.

 

Die Ende Juli 1983 an Bundespräsident K. Carstens gerichtete Einladung, am offiziellen DDR-Staatsakt in Berlin (Ost) zum 500. Geburtstag Martin Luthers im November teilzunehmen, lehnte das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland aus „terminlichen Gründen“ ab, nachdem in Bonn eingehend die statusrechtlichen Aspekte einer solchen Reise nach Berlin (Ost) geprüft worden waren.

 

Im September 1983 konnten die acht Jahre zuvor von der DDR wegen des Streites um den Preußischen Kulturbesitz abgebrochenen Verhandlungen über ein Kulturabkommen wieder aufgenommen werden.

 

Forderungen nach Abschaffung bzw. Senkung des Mindestumtausches, wie sie im Westen seit dem Herbst 1980 immer wieder erneuert worden waren — so u.a. in einer am 8. 7. 1983 vom Europäischen Parlament in Straßburg verabschiedeten Resolution —, erfüllte die DDR nicht. Allerdings teilte ADN am 27. 9. 1983 mit, daß nunmehr Kinder, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, vom Mindestumtausch befreit waren.

 

Nach dem Abschluß des zweiten KSZE-Folgetreffens in Madrid trat am 15. 10. 1983 eine neue VO der DDR-Regierung in Kraft, die erstmals die Voraussetzungen und das Verfahren bei der Familienzusammenführung und bei Eheschließungen zwischen DDR-Bürgern und „Ausländern“ regeln sollte (GBl. I v. 27. 9. 1983). Im September hatte der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, H. Windelen, mitgeteilt, daß bis zu 30 v.H. der DDR-Bürger, die in den Westen überzusiedeln wünschten, keine Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland hatten; in annähernd der Hälfte aller bekannt gewordenen Fälle hätten vollständige Familien ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik beantragt.

 

In einem Gespräch mit österreichischen Journalisten bestätigte E. Honecker am 5. 10. 1983 die Absicht der DDR, alle Selbstschußanlagen an ihrer westlichen Grenze zu beseitigen. In einem Brief an Bundeskanzler H. Kohl, den ADN am 9. 10. 1983 verbreitete, warnte E. Honecker erneut vor der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen: Eine „andauernde Zuspitzung der Situation“ berge die Möglichkeit in sich, „eine neue Eiszeit in den Beziehungen“ zwischen beiden deutschen Staaten auszulösen: „Dadurch könnte das bisher Erreichte und das von uns Angestrebte nicht nur belastet, sondern sogar in Frage gestellt werden.“ (ND 10. 10. 1983) Bemerkenswert an dem Schreiben Honeckers war der in ihm enthaltene, im „Namen des deutschen Volkes“ vorgetragene Appell für ein atomwaffenfreies Europa, nachdem die SED seit Anfang der 70er Jahre immer wieder das Fortbestehen einer deutschen [S. 304]Nation (Abgrenzung; Nation und nationale Frage) in Abrede gestellt hatte. Der Bundeskanzler erwiderte in seinem am 28. 10. 1983 veröffentlichten Antwortschreiben, er stimme mit Honecker darin überein, daß es „ein Anliegen des ganzen deutschen Volkes ist, den Frieden zu sichern und zu festigen … Das deutsche Volk erwartet aber auch von uns, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem es in freier Selbstbestimmung seine Einheit vollenden kann.“ (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. 10. 1983)

 

Während eines offiziellen Besuchs des DDR-Ministers für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, H. Reichelt, in Bayern unterzeichneten die beiden Delegationsleiter in der Grenzkommission am 12. 10. 1983 in München eine Vereinbarung beider Regierungen über Maßnahmen zur Sanierung des Flusses Röden im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet. Danach beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland mit 18 Mill. DM am Bau eines Abwässerbeseitigungssystems einschließlich einer Kläranlage auf DDR-Gebiet. Reichelt traf in München auch mit Ministerpräsident F. J. Strauß zusammen (Umweltschutz).

 

Das Ergebnis längerer Verhandlungen zwischen den Postministerien beider Staaten fand seinen Niederschlag in einem am 15. 11. 1983 von den Staatssekretären in Berlin (Ost) unterzeichneten Briefwechsel, demzufolge die von der Bundespost der DDR-Post zu vergütende Pauschale für Mehrleistungen von bisher 85 Mill. DM jährlich in den Jahren 1983 bis 1990 auf 200 Mill. DM jährlich erhöht wurde. Die Postverwaltung der DDR versprach, die Laufzeiten von Postsendungen zu beschleunigen, den Selbstwählfernsprechdienst zu erweitern und die Zahl der Telefon- und Telexleitungen zwischen dem Bundesgebiet und dem DDR-Gebiet zu erhöhen.

 

Vor dem ZK der SED erklärte E. Honecker am 25. 11. 1983, die Zustimmung der Bundestagsmehrheit zur Raketen-Stationierung habe dem „europäischen Vertragssystem, einschließlich des Grundlagenvertrages über die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, ernsthaften Schaden“ zugefügt: „Wir sind dafür, den Schaden möglichst zu begrenzen.“ (ND 26. 11. 1983) Die DDR werde „vernünftige Vorschläge“ aus Bonn sorgfältig prüfen, Angriffe auf ihre Souveränität jedoch auch künftig zurückweisen.

 

Nachdem Beauftragte des Senats von Berlin und der DDR-Reichsbahnverwaltung mehrere Monate lang intensiv über die Berliner S-Bahn verhandelt hatten, konnten sie am 30. 12. 1983 eine Vereinbarung unterzeichnen, zu der die Bundesregierung und die westalliierten Schutzmächte zuvor ihre Zustimmung gegeben hatten: Mit Wirkung vom 9. 1. 1984 übernahm eine „vom Senat zu bestimmende Stelle aus Berlin (West)“ — die BVG — die „Betriebsdurchführung der S-Bahn einschließlich Unterhaltung, Verkehrssicherung oder Nutzung aller S-Bahnstrecken nebst den dazu gehörigen Anlagen, Einrichtungen und Betriebsmitteln“ (Der Tagesspiegel 30. 12. 1983) (Berlin).

 

Nachdem die Sowjetunion sich aus den in Genf und Wien geführten Abrüstungsgesprächen zurückgezogen hatte, bekundete Honecker in einem Interview mit einer Zeitung der französischen KP seine Überzeugung, daß es „früher oder später“ zu Abrüstungsverhandlungen „auf veränderter Grundlage“ kommen werde und daß man die Situation in der Abrüstungsfrage „deblockieren“ müsse (ND 6. 1. 1984).

 

Nachdem am 20. 1. 1984 sechs DDR-Bürger in der Ost-Berliner Botschaft der USA um politisches Asyl gebeten hatten, denen die DDR-Behörden aufgrund humanitärer Bemühungen der Bundesregierung bereits am 22. 1. die Ausreise nach Berlin (West) gestatteten, hielt es die DDR-Führung aus außen- und innenpolitischen Gründen für geraten, eine größere Zahl von zur Umsiedlung in den Westen entschlossenen DDR-Bürgern aus der DDR-Staatsbürgerschaft zu entlassen — in den Monaten Februar bis April 1984 konnten so rd. 23.500 Deutsche ihren Wohnsitz aus der DDR ins Bundesgebiet bzw. nach Berlin (West) verlegen.

 

Eine von CDU/CSU, SPD und FDP am 9. 2. 1984 gegen Widersprüche aus den Reihen der Fraktion der „Grünen“ verabschiedete Entschließung des Deutschen Bundestages zur D. kritisierte das „Neue Deutschland“ zwei Tage später als eine „keineswegs positive“ Wortmeldung, in der „revanchistische Sprüche geklopft“ worden seien (ND 11. 2. 1984). Bundeskanzler H. Kohl traf am 13. 2. 1984 in Moskau — am Rande der Beisetzungsfeierlichkeiten für den verstorbenen sowjetischen Partei- und Staatschef J. Andropow — mit Honecker zu einem Meinungsaustausch zusammen.

 

Das Frühjahr 1984 stand erneut im Zeichen zahlreicher Besuche von Politikern der Bundesrepublik Deutschland in der DDR: Am 5. 3. suchte der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion W. Mischnick Honecker auf, am 8. 3. begann ein mehrtägiger Besuch einer 16köpfigen Delegation der SPD-Bundestagsfraktion unter der Leitung von H. Ehmke, zu der der Präsident der Volkskammer der DDR H. Sindermann die Parlamentarier aus Bonn eingeladen hatte. Während der am 11. 3. eröffneten Leipziger Frühjahrsmesse führte Honecker Gespräche mit Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff, den Ministerpräsidenten Bayerns und des Saarlandes, F. J. Strauß und W. Zeyer, sowie dem Saarbrücker Oberbürgermeister O. Lafontaine. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, E. Diepgen, traf in Leipzig mit dem SED-Politbüromitglied G. Mittag zusammen, und auf der Rückreise von Moskau nach Bonn machte der SPD-Fraktionsvorsit[S. 305]zende H. J. Vogel in Berlin (Ost) Station, um am 14. 3. mit Honecker den aktuellen Stand der D. zu erörtern. Anfang April 1984, im Anschluß an die Hannover-Messe, empfing Bundeskanzler H. Kohl in Bonn den Wirtschaftsexperten der SED-Führung G. Mittag. Am 12. 4. paraphierten Vertreter der Treuhandstelle für Industrie und Handel und des DDR-Außenhandelsministeriums eine neue Vereinbarung über den grenzüberschreitenden Kaliabbau im Werra-Kali-Revier.

 

Als Belastung des Verhältnisses wertete die Bundesregierung die Festnahme und Verurteilung von DDR-Bürgern, die in humanitären Angelegenheiten die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin (Ost) aufgesucht hatten, sowie die seit dem Beginn der Ausreisewelle im Februar demonstrativ verstärkte Präsenz von DDR-Sicherheitsorganen vor dem Gebäude der Ständigen Vertretung in Berlin (Ost).

 

VIII. Wertung

 

 

Ein Rückblick auf die mehr als 12jährige Phase der D. seit dem Abschluß des Transitabkommens vom 17. 12. 1971 zeigt, daß die DDR mit widersprüchlichen Entwicklungen konfrontiert worden ist und immer wieder Mühe hatte, die Erfordernisse der inneren Sicherheit mit dem „Preis“ in Einklang zu bringen, den sie für die Entspannungspolitik auf außen- und deutschlandpolitischem Gebiet zu zahlen hatte:

 

Im Zeichen dieser Entspannungspolitik der 70er Jahre hat die DDR einerseits ihre Stellung in der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ festigen und sich endgültig aus den Beschränkungen ihres außenpolitischen Handlungsfeldes lösen können, die ihr auferlegt waren, solange sie von westlichen und blockfreien Ländern völkerrechtlich nicht anerkannt wurde.

 

Während die SED einerseits immer wieder von „Abgrenzung“ zum westlichen Deutschland als vermeintlich „objektivem historischem Prozeß“ sprach, war sie durch die Vertragspolitik andererseits gehalten, die Erneuerung und Vertiefung der persönlichen Beziehungen zwischen Millionen Deutschen in beiden Staaten zuzulassen.

 

Ihre These von der Herausbildung zweier ganz unterschiedlicher Typen von Nationen — einer sozialistischen Nation in der DDR und einer bürgerlichen, die in der Bundesrepublik Deutschland fortbestehen soll — wurde durch die tägliche Erfahrung im Umgang der Bürger beider Staaten miteinander ständig widerlegt.

 

Die Ideologen der SED-Führung behaupten ohne Unterlaß, daß sich im Zeichen friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen der „ideologische Kampf“ verschärfen müsse; sie mußten jedoch die Erfahrung machen, daß der Einfluß westlicher Ideen und Ideologien auf ihre eigene Bevölkerung durch millionenfache persönliche Begegnungen und durch die westlichen elektronischen Medien stetig zugenommen hat. Daher waren die Korrespondenten dieser Medien, die nun auch aus der DDR über die DDR berichten konnten, in besonderem Maß den Auswirkungen der Abgrenzungspolitik der SED unterworfen. Wenngleich in zahlreichen Einzelfällen durch die zwischen beiden Regierungen vereinbarte Regelung humanitärer Fragen Bürgern aus der DDR aus persönlicher Bedrängnis herausgeholfen werden konnte (zwischen 1970 und 1979 haben über 20.000 Bürger der DDR im Zuge der Familienzusammenführung in den Westen übersiedeln können — im gleichen Zeitraum sind 8.700 politische Häftlinge aus Gefängnissen der DDR „freigekauft“ worden), so nahm doch der Kreis derer, die die DDR zu verlassen wünschten, nicht ab, auch nach der „Ausreisewelle“ vom Frühjahr 1984 nicht.

 

Mit der Öffnung der Grenzen für einen zunächst sprunghaft anwachsenden Strom von Besuchern und Reisenden aus dem Bundesgebiet und aus Berlin (West) entstanden auch neue wirtschaftliche und währungspolitische Probleme („Intershop-Sozialismus“). Insbesondere unter jenen Bürgern der DDR, die über keine sog. West-Kontakte verfügen bzw. verfügen dürfen, wuchs der Unwillen über neue Formen von sozialer Ungleichheit, die mit dem Besitz von westlichen Devisen verbunden waren.

 

Insgesamt befand sich die D. der SED während der 70er Jahre in einer überwiegend defensiven Position. Nach dem Abschluß der Konferenz von Helsinki (1975) deutete manches darauf hin, daß die UdSSR, die während der ersten Hälfte der 70er Jahre die DDR-Führung wiederholt zu einem Beitrag zur Entspannungspolitik ermuntert hatte, nunmehr eine Vertiefung der innerdeutschen Beziehungen angesichts der davon ausgehenden innen- und gesellschaftspolitischen Wirkungen nur noch in behutsamen Schritten zulassen wollte.

 

Der Schwung der Verhandlungen, der zu Beginn des Jahrzehnts die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland charakterisierte, ist dadurch deutlich gebremst worden. Das durch die inzwischen abgeschlossenen Verträge geschaffene Geflecht von Innerdeutschen Beziehungen hat sich jedoch auch in auftretenden Konfliktsituationen bisher als tragfähig erwiesen. Die Ausgestaltung dieses Beziehungsgeflechts macht aber langsamere Fortschritte, als das zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages im Dezember 1972 möglich erschien.

 

Johannes Kuppe / Manfred Rexin


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 279–305


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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