Friedensbewegung (1985)
Der Begriff F. wird in der DDR offiziell nur zur Kennzeichnung jener Bestrebungen, Organisationen und Gruppen gebraucht, die den Frieden vornehmlich oder ausschließlich durch die Staaten des sog. Imperialismus gefährdet sehen. Dazu gehören in der DDR (ebenso wie in den anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes) „ausnahmslos alle Klassen und Schichten, alle Generationen“, die hierin vom Friedensrat der DDR — der dem Weltfriedensrat angehört — repräsentiert werden (ND 2. 9. 1982). Außerhalb des Warschauer-Pakt-Systems zählt die SED im Rahmen einer kritischen Bündnispolitik alle pazifistischen, rüstungskritischen, antiimperialistischen und antikolonialistischen Gruppen und Kräfte zur weltweiten F., auch dann, wenn sie dem Weltfriedensrat nicht angehören und auch der sowjetischen Rüstung kritisch gegenüberstehen.
Die Propagierung einer allumfassenden „einheitlichen F. der DDR“ wurde 1982 verstärkt, als sich — entsprechend der F. in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen westlichen Staaten — auch in der DDR Einzelpersonen und Gruppen zunehmend kritisch mit der fortschreitenden Militarisierung in der DDR befaßten und in den sowjet. SS-20-Raketen eine qualitativ gleiche Gefährdung des Friedens sahen, wie in der Rüstung der USA.
Die evangelischen Kirchen (V.) spielten hierbei eine besondere Rolle, hatten sie doch seit langem eine eigene Friedensarbeit betrieben. Nach Einführung der Wehrpflicht 1962 (Wehrdienst) setzte sich die ev. Kirche für das Recht auf Wehrdienstverweigerung ein. Es ist wesentlich ihren Vorstellungen zu danken, daß es zur „Anordnung … über die Aufstellung von Baueinheiten …“ vom 7. 9. 1964 (GBl. I, S. 129) kam, die einen waffenlosen Dienst — allerdings im Rahmen der Nationalen Volksarmee — ermöglichte (Bausoldaten). Eine 1965 erarbeitete kirchliche Handreichung für die Seelsorge an Wehrpflichtigen „zum Friedensdienst der Kirche“ rechtfertigt die Wehrdienstverweigerung nicht nur als individualethische christliche Entscheidung, sondern sieht in dem Dienst der Bausoldaten und der Bereitschaft der Totalverweigerer, für ihre Auffassung ins Gefängnis zu gehen, gegenüber einem als Friedensdienst verstandenen Wehrdienst im atomaren Zeitalter das „deutlichere Zeugnis“ des gebotenen christlichen Friedensdienstes. Erst Ende der 70er Jahre allerdings griff der Kirchenbund diese These erneut offiziell auf, während sie von Bausoldaten, die den Kern von bis in die 60er Jahre zurückgehenden Basisgruppen für Friedensarbeit bildeten, ständig in Erinnerung gehalten wurde. Bekannt wurde insbesondere das seit 1972 regelmäßig zweimal jährlich abgehaltene Friedensseminar in Königswalde/Sachsen.
Der evangelische Kirchenbund setzte, als er 1978 mit seinem Protest gegen die Einführung der Wehrkunde als Pflichtfach in den Schulen erfolglos blieb, der staatlichen Wehrerziehung im kirchlichen Bereich ein Programm der Erziehung zum Frieden entgegen. 1981 fand eine Initiative zur Einführung eines Sozialen Friedensdienstes mit insgesamt 5.000 an die Synoden der Landeskirchen gerichteten Eingaben bzw. Unterschriften in der ev. Jugend und darüber hinaus breite Resonanz. Der Kirchenbund und die Synoden der 8 Landeskirchen machten sich zwar nicht den Vorschlag einer gesetzlich zu regelnden zivilen Alternative zur Wehrpflicht zu eigen, setzen sich aber seitdem — bisher erfolglos — bei der Regierung für Möglichkeiten eines „Friedensdienstes im sozialen Bereich“ ein.
Nachdem 1979 EKD und Kirchenbund aus Anlaß des 40. Jahrestages des Kriegsausbruches am 1. September ein gemeinsames Friedenswort veröffentlicht hatten, das in den Sonntags-Gottesdiensten in beiden Staaten verlesen wurde, begann die ev. Jugend (Junge Gemeinde) im offiziellen Auftrag des Kirchenbundes damit, jeweils im November Friedensdekaden zu veranstalten. Zum Symbol wählte sie das alttestamentliche Prophetenwort (Micha 4) „Schwerter zu Pflugscharen“ mit dem Abbild eines sowjetischen Denkmals gleichen Inhalts auf dem UNO-Gelände in New York. 1981 wurden in großer Auflage Aufnäher mit diesem Symbol hergestellt, die bald auch von sehr vielen nicht kirchlich engagierten, jungen DDR-Bürgern getragen wurden. Am 13. 2. 1982 veranstaltete die sächsische Landeskirche — aufgrund einer Basisinitiative — in der Dresdener Kreuzkirche ein Friedensforum, an dem sich 5.000 vor allem Jugendliche beteiligten. Trotz des Schweigens der offiziellen DDR-Medien über diese kirchlichen Friedensaktivitäten wurden sie von großen Teilen der DDR-Gesellschaft wahrgenommen und führten dazu, daß seitdem von einer neuen oder alternativen F. in der DDR gesprochen wird. Der Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi (SED), sprach daraufhin im März 1981 gegenüber dem sächsischen Landesbischof Hempel von einer „illegalen F.“, die den kirchlichen Friedensaufnäher für oppositionelle Bestrebungen mißbrauche.
Verstärkt wurde die Resonanz dieser Aktivitäten in der DDR-Gesellschaft durch zeitlich parallel laufende Frie[S. 480]densinitiativen von deutschen, aber auch ausländischen Schriftstellern: „Appell der Schriftsteller Europas“ vom August 1981; „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“, Berlin (Ost) vom 13./14. Dezember 1981; „Haager Treffen zur Weiterführung der Friedensinitiative europäischer Schriftsteller“ in Den Haag (Niederlande) vom 24./26. Mai 1982; „Internationale Literaturtage. Interlit '82“ in Köln vom 18./24. Juni 1982 usw.
Demgegenüber spielt der von Robert Havemann unterstützte „Berliner Appell. Frieden schaffen ohne Waffen“ des Pfarrers Rainer Eppelmann vom Januar/Februar 1982 in den der neuen F. in der DDR zugerechneten Gruppen eine geringere Rolle. Die Ost-Berliner Kirchenleitung distanzierte sich wegen des in diesem Dokument enthaltenen politischen Konzepts (Abzug der Besatzungsmächte aus Deutschland und Austritt beider deutscher Staaten aus den Militärbündnissen) von diesem Appell und riet von Unterschriften ab.
Die Aufmerksamkeit, die diese Entwicklungen in den westdeutschen Medien fanden, die der DDR-Politik unerwünschten Solidarisierungen von Teilen der westlichen F. mit vergleichbaren Bestrebungen in der DDR, die von der „neuen F.“ befürchtete Schwächung der Wehrbereitschaft usw. veranlaßten die Parteiführung der SED zu Gegenmaßnahmen. Auf der einen Seite wurde im Frühjahr 1982 das Tragen des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ in der Öffentlichkeit, in Schulen und Betrieben — z. T. mit disziplinären Maßnahmen und Ordnungsstrafen — unterbunden. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) leitete eine Kampagne „Der Frieden muß bewaffnet sein“ ein und setzte bei zahlreichen Demonstrationen der Losung „Frieden schaffen ohne Waffen“ die These „Frieden schaffen gegen NATO-Waffen“ entgegen. Zum anderen verdeutlichte Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED, das Interesse der SED an einer Integration der neuen F. In einer Rede vor dem Kulturbund der DDR (KB) leugnete er die Existenz einer tiefen Kluft „zwischen uns und pazifistischen Friedensbestrebungen“ und erklärte: „In der F. vereinen sich Marxisten, Christen und Pazifisten“ (ND 21. 6. 1982).
Der Friedensrat der DDR verfügt jedoch nicht über ein entfaltetes Organisationssystem und kann schon aus organisatorischen Gründen kaum eine Einbindung der neuen F. leisten. Ferner gehören ihm zwar einige Theologen, nicht jedoch die Kirchen an. Bedeutsamer ist jedoch die entgegen den Aussagen von Kurt Hager unveränderte politische Position der SED. Danach bemüht sich der Friedensrat „zu Recht“ darum, „die F. bei uns in unlösbarem Zusammenhang mit der allseitigen Stärkung der DDR“ zu gestalten (Erich Honecker; ND 2. 9. 1982). Bereits der X. Parteitag der SED (1981) hatte von der Wesensgleichheit von Sozialismus und Frieden gesprochen und damit die eigene militärische Stärkung friedenspolitisch gerechtfertigt sowie dem Pazifismus der neuen F. keinen Entfaltungsraum gelassen.
In dieser Lage haben sich Sprecher der evangelischen Kirchen in der DDR 1982 mehrfach von dem Begriff F. zur Bezeichnung der kirchlich oder von Basisgruppen in kirchlichem Zusammenhang betriebenen Friedensarbeit distanziert. Friedensarbeit soll sich zwar nicht verselbständigen und damit unter den Verdacht der systemwidrigen Selbstorganisation oder Opposition geraten, sie soll aber ebensowenig auf die bloß religiöse Motivation zur Eingliederung in die offizielle F. reduziert werden. Unter Berufung auf Zusagen Erich Honeckers vom 6. 3. 1978 und anderer Repräsentanten der SED und des Staates sieht die Kirche vielmehr in einer eigenständigen — und nicht nur eigenmotivierten — Friedensarbeit eine unverzichtbare Dimension ihrer gesamten Wirksamkeit, einen zentralen Bereich der freien Religionsausübung.
Die ev. Friedensarbeit in der DDR zeigt im übrigen eine deutliche Tendenz zum sog. Atompazifismus. 1982 formulierten die Vertreter des Kirchenbundes in der DDR und der EKD in einem gemeinsamen Arbeitsbericht über zuvor geführte Konsultationen: „Kein Ziel oder Wert kann heute die Auslösung eines Krieges rechtfertigen. Die Abwendung des Krieges ist Voraussetzung für die Verwirklichung von Menschenrechten, von Freiheit und Gerechtigkeit“ (epd 18. 8. 1982). In den Zielen (Friedliche Koexistenz, europäische Friedensordnung auf der Grundlage der KSZE-Schlußakte von Helsinki, nukleare Abrüstung) stimmt die Kirche mit der DDR-Führung überein. Sie tritt jedoch für einen stärkeren Beitrag der DDR und der anderen sozialistischen Staaten zur Vertrauensbildung und zur Entwicklung der Friedensfähigkeit der eigenen Gesellschaft ein und wendet sich, wie die Bundessynode im September 1981 in Halle erklärte, gegen „Geist und Logik“ des Abschreckungssystems, bei gleichzeitiger Absage an das Prinzip der „Gleichheit und gleichen Sicherheit“ zugunsten des Gedankens der gemeinsamen Sicherheit. In diesem Zusammenhang kritisiert die kirchliche Friedensarbeit die zunehmende Militarisierung aller Lebensbereiche.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 479–480