Infiltration (1985)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979
1. Entwicklung bis zu den 70er Jahren. Seit dem VII. Weltkongreß der Komintern (1935) in Moskau ist es Bestandteil kommunistischer Bündnispolitik, durch I. Einfluß auf nichtkommunistische Organisationen und Parteien zu nehmen. I. meint hier sowohl massive Werbungs- und Überzeugungsarbeit für die eigenen politischen Vorstellungen als auch Auslösung und (versuchte) Steuerung politischer Aktionen der infiltrierten Organisationen.
Der SED-Führung kam es nach 1946 — und später unter den Bedingungen der Hallstein-Doktrin — darauf an, auch mit den Mitteln der I. ihre außenpolitische Isolierung zu durchbrechen und möglichst viele nichtkommunistische Gruppen im Ausland und in der Bundesrepublik Deutschland zu Aktionen für die diplomatische Anerkennung der DDR zu gewinnen. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)/Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und deren Massenorganisationen (Freie Deutsche Jugend [FDJ]; Freier Deutscher Gewerkschaftsbund [FDGB]; Demokratischer Frauenbund Deutschlands [DFD] u.a.m.) bedienten sich zu diesem Zweck unterschiedlicher Methoden; sie reichten von mannigfaltigen Komiteegründungen als propagandistisch-politische Organisationskerne größerer Bewegungen (Freundschaftsgesellschaften und Friedenskomitees) über die Bildung von Arbeitsgemeinschaften für verschiedene berufliche oder soziale Gruppen (z.B. Arbeitsgemeinschaften ehemaliger Offiziere), Studiengesellschaften bzw. Vereinigungen für Intellektuelle (z.B. Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in Westdeutschland), der Durchführung von periodischen Konferenzen und Aktionen (z.B. Aktion gegen Remilitarisierung, Deutsche Arbeiterkonferenzen) bis zur Gründung sog. Sammlungsbewegungen (z.B. ADF, DFU), in denen Kommunisten nach ihrem Verständnis von Volksfront eine entscheidende [S. 618]Rolle spielten und erhebliche materielle, vor allem organisatorische Hilfe leisteten.
Die SED-Führung bediente sich zu diesen Zwecken eines umfangreichen Apparates, der unter Leitung der Westabteilung beim Zentralkomitee (ZK) der SED die gesamte kommunistische I. in der Bundesrepublik Deutschland kontrollierte. Diese Abteilung lenkte zahlreiche Instrukteure in die Bundesrepublik Deutschland, die in allen Fragen der I. gegenüber der KPD Weisungs- und Kontrollfunktionen ausübten.
Die Einrichtung des Freiheitssenders 904 — Standort bei Magdeburg/DDR — diente der I.-Propaganda und der Anleitung der KPD-Kader in der Bundesrepublik Deutschland. Der Soldatensender 935 war auf die I. der Bundeswehr spezialisiert.
Der KPD/DKP fiel die Aufgabe der Koordinierung, Durchführung und Umsetzung der gesamten I. in der Bundesrepublik zu, die von der SED weitgehend auch finanziert worden ist.
Im Mittelpunkt der I.-Bemühungen stand der Versuch, durch aktive Arbeit in den Gewerkschaften sowie durch Aktionsangebote an den Arbeitnehmerflügeln der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) die Aktionseinheit der Arbeiterklasse zu schaffen, die Voraussetzung für gesellschaftspolitische Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland sein sollte. Die halbjährlich durchgeführten Arbeiterkonferenzen in der DDR, die Herausgabe von zahlreichen Betriebszeitungen für Großbetriebe in der Bundesrepublik Deutschland, Begegnungen von Gewerkschaftern aus beiden Teilen Deutschlands und vor allem die aktive Mitarbeit in gewerkschaftlichen Organisationen und Betriebsräten sollten diesem Ziel dienen. Aber auch die Jugendverbände, insbes. die Arbeiterjugend und kooperationsbereite Gruppen des Bürgertums waren Ziel der I.
2. I. in der Gegenwart. Nach Abschluß der Verträge mit der UdSSR und Polen im Jahr 1970, des Viermächte-Abkommens über Berlin vom September 1971 und des Grundlagenvertrages vom Dezember 1972, der damit in Zusammenhang stehenden ideologischen Abgrenzung der SED gegenüber Einflüssen aus der Bundesrepublik, mit der Verkündung der These von zwei deutschen Nationen (Nation und nationale Frage) sowie der internationalen Anerkennung der DDR (Diplomatische Beziehungen) und ihrer Aufnahme in die UNO, hat die SED ihr I.-Konzept geändert:
a) Die Gründung einer legalen kommunistischen Partei, der DKP im Jahre 1968, ihrer Jugendorganisation, der SDAJ, und ihres Studentenverbandes, des MSB „Spartakus“, ermöglichte politische Kontakte in aller Öffentlichkeit. Der Freiheitssender 904 und der Soldatensender 935 wurden stillgelegt; die Abhängigkeit der DKP von der SED blieb in finanzieller Hinsicht zwar bestehen, das Instrukteurwesen jedoch wurde durch offizielle Konsultationen zwischen beiden Parteispitzen ersetzt.
b) Die Komiteebewegungen, Vereinigungen und die periodischen Konferenzen, vor allem auf gewerkschaftlichem Sektor, konnten zugunsten einer Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit der DKP aufgelöst bzw. umfunktioniert werden. Die auf internationaler Ebene arbeitenden Freundschaftsgesellschaften, Friedenskomitees usw. blieben zwar bestehen, jedoch änderte sich ihr Aufgabenbereich: Die in ihnen tätigen Kräfte brauchten sich nicht mehr für die internationale Anerkennung der DDR einzusetzen; jetzt hatten und haben sie vor allem — meist im Rahmen offizieller Institutionen — das Herrschafts- und Gesellschaftssystem der DDR als „fortschrittlich“, „friedliebend“, „antiimperialistisch“ zu propagieren.
c) Zahlreiche regionale DKP-Zeitungen (Blinkfüer, Hamburg; Tatsachen, Ruhrgebiet; offen und frei, Baden-Württemberg; Die andere Zeitung, Frankfurt/Main u.a.) wurden zugunsten der aufwendigen UZ („Unsere Zeitung“), die ab 1. 10. 1973 als Tageszeitung der DKP erscheint, eingestellt. Der Druck von DKP-Materialien in der DDR wurde aufgegeben; statt dessen wurden zahlreiche Verlage in der Bundesrepublik Deutschland gegründet, die zwar von der DDR finanzielle Zuschüsse (u.a. durch Anzeigen) erhalten, sich aber auch um Rentabilität bemühen müssen (Röderberg Verlag, Frankfurt/Main, Verlag Marxistische Blätter GmbH, Frankfurt/Main, Pahl-Rugenstein-Verlag, Düsseldorf, u.a.).
Gegenwärtig kann davon ausgegangen werden, daß der Tatbestand der I. auf folgende Tätigkeitsbereiche anzuwenden ist:
a) Die Anleitung, Kontrolle und Teilfinanzierung der DKP durch die Westabteilung beim ZK der SED als Garantie für die Sicherung des Einflusses der SED auf die DKP.
b) Durchführung von Einzelberatungen und -besprechungen in der DDR anstelle der bis dahin üblichen Großveranstaltungen: SED, FDGB und FDJ sowie andere Massenorganisationen laden mit den Kommunisten sympathisierende Gewerkschaftler und Angehörige sozialistisch orientierter nichtkommunistischer Jugend- und Studentengruppen zu Gesprächen in die DDR ein. Die Teilnehmer aus dem Bundesgebiet werden dabei nicht nur politisch umworben, sondern auch angehalten, Stimmungsberichte aus Gewerkschaften und Jugendorganisationen zu geben. Zwischen der zentralen FDJ-Leitung und einigen Jugendorganisationen in der Bundesrepublik sind inzwischen auch Vereinbarungen über den Austausch von Delegationen und die „Zusammenarbeit“ auf verschiedenen Gebieten unterzeichnet worden.
c) Die Unterstützung der DKP und ihrer Hilfsorganisationen durch die SED vollzieht sich u.a. im Rahmen des Patenschaftssystems der SED, wonach jeweils SED-Bezirksleitungen DKP-Bezirke betreuen. Die DKP ist dafür verantwortlich, nach sorgfältig zwischen den Parteileitungen abgestimmten Programmen zahlreiche Delegationen in die DDR zu entsenden: Neben reinen Parteigruppen der DKP reisen Studentendelegationen, denen DKP-Sympathisanten angehören, und Arbeiterdelegationen in die DDR.
d) Zahlreiche aus der DDR in die Bundesrepublik einreisende Funktionäre („Reisekader“) nennen als Auftraggeber Kultur- und Bildungseinrichtungen oder [S. 619]gewerkschaftliche Organisationen in der DDR. Insgesamt treten in jedem Jahr rd. 1000 Funktionäre aus der DDR auf einigen hundert Veranstaltungen in der Bundesrepublik Deutschland auf.
e) Auch die Anwerbung sog. Einflußagenten geht weiter. Hier handelt es sich um den Versuch, bekannte Personen des öffentlichen Lebens für die Propagierung des Herrschafts- und Gesellschaftssystems der DDR und ihrer „Friedenspolitik“ zu gewinnen.
f) Es gibt Versuche der SED, über die DKP und ihre Unter- bzw. Tarnorganisationen im Sinne von I. auch auf die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland Einfluß zu gewinnen. Die Heterogenität dieser Bewegung, aber auch die trotz Massenarbeitslosigkeit unverändert geringe Glaubwürdigkeit der westdeutschen orthodoxen Kommunisten setzen diesem Unterfangen objektive Grenzen. Stichhaltige Anzeichen dafür, daß — abgesehen von Randgruppen — die Friedensbewegung in der Bundesrepublik effektiv aus der DDR gesteuert oder auch nur in erheblichem Maße finanziert wird, gibt es nicht (Ministerium für Staatssicherheit).
Nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages werden die offiziellen Kontakte zur DKP und die Verbreitung von propagandistischer und wissenschaftlicher Literatur aus der DDR (entweder durch Direktbezug oder den Lizenzbuchhandel) immer wichtigere Formen der I. In einigen erziehungswissenschaftlichen Bereichen und auf dem Gebiet preiswerter Wörterbücher und Lexika (der Philosophie, der Soziologie, der Psychologie) sind marxistisch-leninistisch orientierte Autoren aus der DDR an Universitäten und Schulen der Bundesrepublik Deutschland bereits stark vertreten. Die Wirkungen dieser I.-Formen sind nicht abzuschätzen.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 617–619
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