DDR von A-Z, Band 1985

 

Marxismus-Leninismus (ML) (1985)

 

 

Siehe auch:

 

Mit ML werden allgemein die von Karl Marx, Friedrich Engels und W. I. Lenin begründeten Lehren in ihren weltanschaulichen, philosophischen, (sozial-)wissenschaftlichen und politischen Ausprägungen bezeichnet. Speziell, hinsichtlich der kommunistischen Parteien, hat der ML die Funktion der allein gültigen Weltanschauung oder Ideologie. In den kommunistischen Einparteienstaaten ist er die Staatsideologie.

 

Das Lehrgebäude des ML hat sich historisch zu unterschiedlichen aktuellen Formen entwickelt; es verändert sich weiter. Trotz aller Veränderungen und Unterschiede im einzelnen gibt es jedoch einen festen Kern von Lehrsätzen und -meinungen, weshalb man auch vom ML als einem „Dogma“ spricht. Festgelegt und ausgelegt wird das Dogma durch die Führungen der kommunistischen Parteien. In der DDR bestimmt die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) über Umrisse und Inhalte der gültigen Lehre des ML. Dabei ist sie, gemäß den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus (Internationalismus, Proletarischer), an die Festlegungen, die die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) trifft, gebunden.

 

Das gegenwärtig herrschende DDR-offizielle Verständnis von ML wird in den folgenden Kapiteln I bis III in seinen Grundpositionen systematisch beschrieben sowie an entscheidenden Stellen erläutert und interpretiert. Die Ausführungen stützen sich auf die wichtigsten aktuellen Selbstdarstellungen des DDR-ML (Literaturangaben am Ende des Artikels). Sie erfolgen jedoch aus der Distanz des Außenstehenden. Deshalb ist auch die dem ML eigene und für Ungeschulte oft unverständliche Sprache nicht übernommen, sondern, soweit als möglich, durch eine allgemein verständliche Ausdrucksweise ersetzt worden.

 

I. Grundsätzliche Aspekte

 

 

Die beiden Teilstücke, der Marxismus einerseits und der Leninismus andererseits, werden heute üblicherweise nicht mehr voneinander geschieden. Beide sind eine symbioseartige Verbindung eingegangen, die schon dadurch zustande kam, daß einmal Lenin auf Marx und Engels aufbaute und daß zum anderen Engels Marx mehr als ein Jahrzehnt überlebte und seinerseits die ursprünglich zusammen mit Marx erarbeitete Lehre weiterentwickelt hat. Auch kann der ML als Gesamtheit bereits auf eine über 50jährige Geschichte zurückblicken. Heute wird hinsichtlich einzelner Teilelemente des ML der eine „Vater“ eher in Anspruch genommen als ein anderer (s. die entsprechenden Hinweise im nächsten Kapitel), aber eine Heraustrennung des Marxismus oder Leninismus aus dem ML findet nicht statt, ja wird tendenziell als des Revisionismus oder Dogmatismus verdächtig abgelehnt (Abweichungen). Für den ML als Gesamtheit werden im allgemeinen drei grundsätzliche Aspekte unterschieden: ein weltanschaulicher, ein philosophisch-wissenschaftlicher und ein politischer.

 

A. Der ML als Weltanschauung

 

 

Im Selbstverständnis der SED und der an sie gebundenen Wissenschaftler in der DDR ist der ML die „Weltanschauung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. „Weltanschauung“ ist er insofern, als er ein philosophisches System mit Aussagen über die Natur, den Menschen und die Gesellschaft darstellt, das „bestimmte moralische Überzeugungen, Normen und ästhetische Anschauungen“ einschließt. Der ML gibt, wie es heißt, dem Menschen „die grundlegende Orientierung für sein Verhalten und Handeln in allen Bereichen seines Lebens, in Beruf und Familie, im politischen Leben, überhaupt in allen sozialen Beziehungen“ (Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch …, S. 7 f.).

 

Gemäß seinem Weltanschauungscharakter beansprucht der ML Einmaligkeit: „Die marxistisch-leninistische Weltanschauung unterscheidet sich sowohl ihrem Klasseninhalt als auch ihrem wissenschaftlichen Charakter nach grundlegend von allen anderen Weltanschauungen der Vergangenheit und der Gegenwart.“ (Ibd.) „Wissenschaftlichkeit“ (Wissenschaft) und ein spezifischer „Klassenin[S. 859]halt“ (Klasse/Klassen, Klassenkampf) sind also die Kriterien, die der ML zur Begründung seiner Überlegenheit über jede Weltanschauung heranzieht. Er behauptet, die objektiven Gesetze der Welt- und Menschheitsgeschichte in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung erkannt zu haben. Sie wiesen der Arbeiterklasse die „historische Mission“ zu, „Schöpfer der kommunistischen Gesellschaftsformation“ zu sein und die Geschichte der Menschheit zu vollenden. Klasseninteresse der Arbeiterklasse und Menschheitsinteresse fielen zusammen.

 

Demnach begreift sich der ML als die einzig „wissenschaftliche“ und, da Klassen ihre Interessen historisch gesehen nur in Revolutionen durchsetzen können, „revolutionäre“ Weltanschauung. Solches Selbstverständnis schließt den Anspruch ein, er, der ML, sei „allein“ (!) geeignet, „die Probleme der gegenwärtigen und künftigen Epoche zu lösen“ (Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 200).

 

In der DDR hat die SED den ML als die für das politische System und die Gesamtgesellschaft verbindliche Weltanschauung etabliert. So heißt es im Parteiprogramm von 1976 folgerichtig: „Unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vollzog sich in der Deutschen Demokratischen Republik eine grundlegende Wende in der Geschichte des deutschen Volkes, die Wende zum Sozialismus … Im Sozialismus ist die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse, der Marxismus-Leninismus, die herrschende Ideologie.“

 

B. Der ML als philosophisches System

 

 

Der ML wird von den maßgeblichen Philosophen in der DDR als das „einheitliche System der von Marx und Engels begründeten und von Lenin weiterentwickelten philosophischen, ökonomischen und politischen Lehren“ bestimmt (Phil. Wörterbuch, Bd. 2, S. 738). Philosophiegeschichtlich gesehen, handele es sich um ein System des Materialismus (im Gegensatz zum Idealismus), dessen Besonderheiten in der Übernahme und Weiterentwicklung der Hegelschen Dialektik, in der Betonung der „Praxis“ als Wahrheitskriterium und in der Forderung der Parteilichkeit als Voraussetzung auch der wissenschaftlichen Arbeit zu sehen seien.

 

„Einheitlich“ ist dieses System, entsprechend den Vorstellungen der Theoretiker des ML, insofern, als seine drei Bestandteile ein gemeinsames Kategoriengerüst haben und eine Einheit bilden. Die drei Bestandteile sind: der Dialektische und Historische Materialismus, die Politische Ökonomie, der Wissenschaftliche Kommunismus. Sie „stehen in einer bestimmten Beziehung zueinander, sie hängen voneinander ab und bedingen sich gegenseitig; sie gehen ineinander über und durchdringen sich wechselseitig“ (Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch …, S. 26).

 

Gegenstand des ML sind das Verhältnis des Menschen zur Welt, d.h. zur Natur und zur geschichtlich gewordenen und, vor allem, ökonomisch (also vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Eigentumsverhältnisse [ Eigentum ], den Produktionsverhältnissen) bestimmten Gesellschaft. Von diesen Grundannahmen ausgehend befaßt sich der ML mit dem Verhältnis des Materiellen zu dessen Widerspiegelung, dem Ideellen; ferner mit der ebenfalls dialektisch gedachten Beziehung zwischen Subjekt und Objekt (Subjektiver Faktor). Der ML macht es sich zur Aufgabe, die (dialektischen) Gesetze und Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, d.h. besonders die „Triebkräfte“ der natur- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung, zu erkennen. Er will eine allein aus den materiellen Bedingungen entwickelte, eine „konsequente und umfassende materialistische Auffassung von der Welt“ begründen. Diese soll darauf gerichtet sein, die Welt „nicht nur zu erklären, sondern den Menschen zu befähigen, sie sich geistig und praktisch anzueignen, um sie zu verändern“ (Phil. Wörterbuch, Bd. 2, S. 740). Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. In den Rahmen dieser Aufgabenstellung gehört es aber auch, die Erscheinungsformen von Religion/Ideologie, Kultur, Kunst und Wissenschaft zu deuten (Basis-Überbau-Problematik).

 

C. Der ML als politische Handlungslehre

 

 

Der ML unterscheidet sich von allen anderen Weltanschauungen und philosophischen Richtungen grundlegend durch den von ihm behaupteten spezifischen Zusammenhang von Theorie und Praxis. Ideen und Theorien, so heißt es schon bei Marx, können nur wirksam werden, wenn sie „praktisch“ werden. Prinzipiell hält der ML die Welt ebenso für erkennbar wie die ihre Entwicklung bestimmenden Gesetzmäßigkeiten. Damit können, wie weiterhin behauptet wird, auch die Voraussetzungen und Notwendigkeiten menschlichen Handelns wissenschaftlich erfaßt und erklärt werden. Praxis läßt sich aus der Theorie ableiten. Aber auch die umgekehrte Annahme gilt: Praxis wirkt auf Theorie zurück; Theorie steht gegenüber der Praxis in der Pflicht. Die Theorie hat die einzelnen praktischen Handlungen zu verallgemeinern, Lehren aus ihnen zu ziehen, sich selbst zu korrigieren, zu verfeinern und weiterzuentwickeln. Das Spektrum dieser Annahmen wird im ML, verdichtet, als „Einheit von Theorie und Praxis“ bezeichnet.

 

Praxis und Theorie in ihrer am weitesten vorangetriebenen Form werden als „revolutionär“ bezeichnet. Ihre Inhalte bestimmen sich also letztendlich aus der Erkenntnis und Verwirklichung der Gesetze des Klassenkampfes. Der ML definiert sich somit als das „theoretische Organ der praktisch-revolutionären Bewegung“ (Phil. Wörterbuch, Bd. 2, S. 739). [S. 860]Der ML dient der Arbeiterklasse und ihrer Partei als „Anleitung zum Handeln“. Er ist, wie es offiziell heißt, die theoretische Grundlage für die Strategie und Taktik des Klassenkampfes und der sozialen Revolution sowie für die Gestaltung der sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft. Zugleich behauptet er von sich, das theoretische Ergebnis der historisch und aktuell unter seiner eigenen Anleitung gewonnenen Erfahrungen zu sein.

 

II. Die „Philosophie des Marxismus-Leninismus“

 

 

A. Allgemeine Charakterisierung

 

 

Wie bereits erwähnt, hat der ML in seiner gegenwärtig in der DDR gültigen Gestalt drei Bestandteile, einen philosophischen, einen ökonomischen und einen politischen. Sie werden, trotz der behaupteten „dialektischen Einheit“, üblicherweise auch in den einschlägigen Lehrbüchern und Abhandlungen der DDR-Wissenschaftler getrennt dargestellt. In gleicher Weise sei hier verfahren. In diesem Abschnitt (II) werden der Dialektische Materialismus und der Historische Materialismus behandelt. Der anschließende Abschnitt (III) ist dem Wissenschaftlichen Kommunismus gewidmet. (Für die Politische Ökonomie wird auf den entsprechenden Hauptartikel verwiesen.)

 

Der Dialektische und Historische Materialismus, seinerseits eine aus zwei aufeinander bezogenen Teilen bestehende „Einheit“, wird auch als „Synonym für die Philosophie des Marxismus-Leninismus“ bezeichnet; er ist „als Bestandteil des Marxismus-Leninismus zugleich dessen philosophisches, d.h. theoretisch-weltanschauliches, erkenntnistheoretisches und methodologisches Fundament“ (Phil. Wörterbuch, Bd. 2, S. 752). Insofern kommt dem Dialektischen und Historischen Materialismus im Verhältnis zur Politischen Ökonomie und zum Wissenschaftlichen Kommunismus eine Sonderstellung zu.

 

Dialektischer und Historischer Materialismus stützen sich vor allem auf Engels („Anti-Dühring“, 1878, und „Dialektik der Natur“, 1873 ff.) und Lenin („Materialismus und Empiriokritizismus“, 1909). Marx' Auffassungen werden dabei weitgehend in ihrer Interpretation durch Engels und Lenin rezipiert, was unter anderem zur Folge hat, daß dem jungen Marx (vor der „Deutschen Ideologie“, 1845–46) eine recht geringe Bedeutung zukommt. Erst in jüngster Zeit deutet sich eine Schwerpunktverlagerung zugunsten Marx' und vor allem auch seiner frühen Werke an. Als äußere Anzeichen hierfür sind die beiden folgenden anzusehen: Der Rohentwurf „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ (1857–58) wird häufiger auch dort zitiert, wo früher „Das Kapital“ einzige Quelle war; die Redaktionen der neuen „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ (MEGA) in Moskau und Berlin (Ost) haben die Veröffentlichung der Arbeiten des jungen Marx, einschließlich der bisher nicht gedruckten „Arbeitshefte“ aus der Pariser Zeit (1844), nicht zurückgestellt.

 

Als im großen und ganzen überholt gelten in der DDR wie in der Sowjetunion die dogmatischen Festlegungen Stalins; sein lange Jahre als wichtig angesehener Aufsatz „Über dialektischen und historischen Materialismus“ (1938) wird kaum noch erwähnt.

 

Die Philosophie des ML hat sich seit den 60er Jahren mit verschiedenen Strömungen der westlichen Philosophie, Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie auseinandergesetzt: der Systemtheorie (System/Systemtheorie) und Kybernetik, ferner dem Strukturalismus, dem Funktionalismus, der Informations- und Spieltheorie sowie der allgemeinen Wissenschaftstheorie; darüber hinaus mit den Theoremen der sog. „Frankfurter Schule“ (Th. W. Adorno, M. Horkheimer, J. Habermas, H. Marcuse, E. Fromm), den Auffassungen der Theoretiker der „Praxis“-Gruppe in Jugoslawien (P. Vranicki, G. Petrović, R. Supek, S. Stojanović u.a.), den Veröffentlichungen von Vertretern des demokratischen Sozialismus (R. Löwenthal) und von Repräsentanten der These von der postindustriellen oder „technotronischen“ Gesellschaft (R. Aron, Z. K. Brzezinski, D. Bell, J. K. Galbraith).

 

Solche kritischen Auseinandersetzungen haben Verfeinerungen der Argumentation im Dialektischen wie im Historischen Materialismus bewirkt. Sie haben darüber hinaus die Theorie- und Konzeptbildung etwa in der marxistisch-leninistischen Soziologie und Empirischen Sozialforschung, Politologie und Sozialpsychologie (Psychologie, IV. D.) befruchtet. Eine „Erosion“ des ideologischen Dogmas, wie westliche Beobachter sie in den 60er und 70er Jahren festzustellen glaubten, ist allerdings ausgeblieben. Entsprechende Ansätze wurden durch die Ausrichtung auf die Erfordernisse der „Praxis“, die seit dem Machtantritt Honeckers auch für die Philosophie als Gesellschaftswissenschaft vorangetrieben worden ist (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), XVI.), zum Stillstand gebracht. Gleichermaßen ausschlaggebend war, daß die SED angesichts der tschechoslowakischen, polnischen und eurokommunistischen Entwicklungen für die Stabilität des eigenen Systems fürchtete.

 

1. Materialismus und Idealismus

 

Die Vertreter des ML in der Sowjetunion wie in der DDR behaupten, daß die Seinslehre (in Form der Lehre vom Sein als solchem mit der Betonung der Frage nach dem Sein des Seienden) seit Ludwig Feuerbach überholt wäre. Der (dialektische) Materialismus habe die Grundfrage der Philosophie als Frage nach dem Verhältnis von Materie (Natur, Sein, objektive Realität) und Bewußtsein (Geist, [S. 861]Denken) — als Frage nach dem, was im Verhältnis von Bewußtsein und Materie das Primäre, das Hervorbringende oder Bestimmende sei — neu gestellt und endgültig beantwortet.

 

Der Grundfehler aller Varianten der idealistischen Philosophie sei, daß sie das Bewußtsein für das Bestimmende erklärten, die Materie also als zweitrangig betrachteten. Erst der „dialektisch-materialistische Materiebegriff“ habe das Gemeinsame aller — im einzelnen qualitativ und quantitativ unterschiedlichen — Gegenstände, nämlich „objektive Realität“ zu sein, die außerhalb des menschlichen Bewußtseins existiere, adäquat erfaßt.

 

Der ML definiert „Materie“ wie folgt: „Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, fotografiert, abgebildet und unabhängig von ihnen existiert“ (W. I. Lenin, Werke, Bd. 14, S. 124).

 

Der Materie wird dabei allgemein jede bestimmte, konkrete Existenzform abgesprochen. Schon bei Engels heißt es: „Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. … Materie als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existierendes.“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 519) Zusätzlich behauptet der ML, daß sich die Materie in ewiger (dialektischer) Bewegung befinde und immer neue Erscheinungsformen hervorbringe. Schließlich gehört es zu den Grundvorstellungen des ML, daß sich die Materie grundsätzlich von niederen zu höheren Formen (Fortschrittsprinzip) bewegt.

 

Mit diesen Auffassungen grenzt sich der ML im Selbstverständnis sowohl vom „subjektiven“ wie vom „objektiven“ Idealismus ab. In Frontstellung zum subjektiven Idealismus wird darauf hingewiesen, daß die Materie außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existiere. Gegenüber dem objektiven Idealismus wird ins Feld geführt, daß es die Welt der „absoluten Idee“ o. ä. nicht gebe, sondern daß „außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein nur die ewig sich bewegende Materie“ existieren könne (Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch …, S. 69).

 

2. Materie und Bewußtsein

 

„Die einzige Eigenschaft der Materie“, sagt Lenin (Werke, Bd. 14, S. 124), „an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein.“ Der philosophische Materiebegriff sage nichts über die qualitative und quantitative Beschaffenheit der Bewegungs-, Struktur- und Entwicklungsformen der Materie aus; er enthalte lediglich eine weltanschauliche und erkenntnistheoretische Aussage über das Verhältnis von Materie und Bewußtsein — und zwar dergestalt, daß die Materie primär, das Bewußtsein sekundär sei.

 

Das Bewußtsein ist nach dieser Auffassung keine von der Materie unabhängige Erscheinung, sondern an eine bestimmte „hochorganisierte Materie“, an das Zentralnervensystem und das Gehirn des Menschen, gebunden. „Das Bewußtsein ist kein materielles Produkt …, sondern eine komplizierte Tätigkeit, deren Spezifik die Fähigkeit ist, die objektive Realität in ideellen Formen widerzuspiegeln, abzubilden, Materielles in Ideelles umzusetzen und zu übersetzen.“ (Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 59) Die Abbild- oder Widerspiegelungstheorie wird damit zur zentralen erkenntnistheoretischen Lehre des DM (s. u., Kap. ML II. B. 3.). Bewußtsein wirkt jedoch seinerseits auf die materielle Welt zurück. „Es gestattet den Menschen, ihre Wechselbeziehungen mit der natürlichen und sozialen Umwelt zu regulieren und planmäßig zu lenken.“ (Ibd., S. 60) Das menschliche Bewußtsein als gesellschaftliche Erscheinung wird als Instrument zur aktiven Umgestaltung von Natur und Gesellschaft begriffen (Gesellschaftliches ➝Bewußtsein); es unterliegt dem Gesetz der Höherentwicklung der Materie. Seine höchste Form, das sozialistische Bewußtsein, „ist seinem Charakter nach wissenschaftlich und revolutionär, ist Erkenntnis und Anleitung zum Handeln zugleich … Es muß durch die Partei der Arbeiterklasse und unter ihrer Führung ständig in die werktätigen Massen hineingetragen und gefestigt werden.“ (Ibd., S. 136).

 

B. Der Dialektische Materialismus (DM)

 

 

1. Die Dialektik und ihre Hauptkategorien

 

Die Dialektik wird im gegenwärtigen ML als „Produkt der Entwicklung des philosophischen Denkens“ seit der Antike begriffen. Dabei unterscheidet die marxistisch-leninistische Philosophiegeschichtsschreibung zumeist in der vormarxistischen Philosophie zwischen einer spontanen, „naturwüchsig-naiven“ und der idealistischen Dialektik von Kant bis Hegel. Hegels Dialektik gilt als die „größte Errungenschaft“ der klassischen deutschen Philosophie. Sie wird, wie schon von Marx, als bedeutsame theoretische Grundlage des DM angesehen; ihre Weiterentwicklung durch Marx und Engels habe eine „Revolution“ in der Philosophie bewirkt (vgl. Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 71).

 

Die Dialektik wird als „philosophische Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur und Gesellschaft sowie des Denkens“ und als „allgemeine Theorie des Zusammenhangs und der Entwicklung sowie allgemeine Methode des Denkens und Handelns“ definiert (vgl. ibd., S. 70). Unter Dialektik in diesem Sinne wird ein Wirkungszusammenhang verstanden, bei dem Dinge, Systeme usw. nicht nur Einwirkungen der verschiedensten Art von anderen Dingen, Systemen [S. 862]usw. ausgesetzt sind, sondern selbst auch auf diese zurückwirken. Der DM betrachtet dementsprechend das Universum als einen Gesamtzusammenhang von Wechselwirkungen. Methodologisch ergäbe sich daraus die Forderung, bei der Analyse eines Sachverhaltes alle Wechselwirkungszusammenhänge zu berücksichtigen. Da dies die menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteige, sei es im besten Falle möglich, die wesentlichen Wechselwirkungen zu untersuchen. Wechselwirkungen können ebenso als Widersprüche (Widerspruch) auftreten und erfaßt werden wie als Kausalitätsbeziehungen (s. u. Unterabschn. a). Die Entwicklung/Bewegung erfolgt nach bestimmten Gesetzen (s. u. Kap. ML II. B. 2.).

 

Im DM der Gegenwart werden — im Zuge der Betonung von Methodenproblemen und der Versuche der Operationalisierung einzelner Axiome — die wesentlichen Aspekte der materialistischen Dialektik in der methodologisch-methodischen Dimension gesehen. Die dialektische Methode sei sowohl „allseitig“ wie historisch-empirisch ausgerichtet. Gerade durch diesen ihren Doppelcharakter könne sie die Fakten in ihren vielfältigen Zusammenhängen erkennen und adäquat analysieren.

 

Die dialektische Methode bedient sich bestimmter, bereits bei Hegel auffindbarer Kategorien und Kategorienpaare. Im folgenden sollen diejenigen behandelt werden, denen eine besondere gesellschaftlich-politische Bedeutung zukommt.

 

a) Ursache und Wirkung

 

Die Kausalbeziehung (Ursache und Wirkung) ist ein Spezialfall der Wechselwirkung. Hier wirkt x auf y ein, während die Rückwirkung von y auf x praktisch null ist und darum vernachlässigt werden kann. Umstritten in der gegenwärtigen Diskussion des DM sind die Fragen, ob x zeitlich vorangeht und ob die Wirkung gleichzeitig mit dem Vergehen der Ursache entsteht.

 

Das Kausalprinzip des DM besagt, daß jedes Geschehen in der Welt seine materielle Ursache hat; die Kausalität trägt also absoluten und universellen Charakter. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen inneren und äußeren Ursachen; sie bilden eine dialektische Einheit, d.h. die inneren Ursachen werden nur wirksam durch die Einwirkungen der äußeren Ursachen und umgekehrt. In den höheren Bewegungsformen der Materie kommt den inneren Ursachen eine immer größere Bedeutung zu. Organische wie gesellschaftliche Systeme verändern und entwickeln sich vor allem aufgrund ihrer inneren Bedingungen. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft wird ausschließlich durch innergesellschaftliche Ursachen, nämlich durch die Entwicklung der Produktivkräfte, vorangetrieben.

 

b) Notwendigkeit und Zufall

 

Im Gegensatz zum mechanischen Materialismus, der Kausalität nur im Sinne von linearer Kausalität versteht, die materielle Welt also als eine einzige ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen begreift, verläuft aus der Sicht des DM die Entwicklung in einem dialektischen Prozeß von Notwendigkeit und Zufall. Das wesentliche Moment ist die Notwendigkeit, die (wie die Materie) objektiven Charakter trägt und unabhängig vom Bewußtsein existiert.

 

Ähnlich wie die dialektische Bestimmung der Beziehungen zwischen „Allgemeinem“ und „Einzelnem“ oder zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“ lautet auch die für das Kategorienpaar „Notwendigkeit/Zufall“: die Notwendigkeit tritt in vielen und durch viele Zufälligkeiten zutage (vgl. Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 236). Beide können und müssen im Bewußtsein der Menschen theoretisch widergespiegelt werden, d.h. sie können und müssen vom Menschen erkannt werden.

 

Notwendigkeit und Zufall stehen in einem dialektischen Zusammenhang, der auch als Gegensatz bestimmt wird. Dieser Gegensatz allerdings ist „nicht absolut, sondern relativ, d.h. er besteht nur im Rahmen bestimmter Bedingungen. Ein Ereignis, das unter bestimmten Bedingungen notwendig ist, kann unter anderen Bedingungen zufällig sein und umgekehrt.“ (Ibd., S. 359)

 

Entscheidend ist nun, daß z.B. im gesellschaftlichen Bereich die Absteckung dieses Bedingungsrahmens und damit dessen, was jeweils als notwendig und was als zufällig anzusehen ist, mehr oder weniger von der Entscheidungselite der Partei abhängt. Insofern ist gerade dieses Kategorienpaar von großer politischer Bedeutung.

 

c) Möglichkeit und Wirklichkeit

 

Mit dem eben genannten Problembereich hängt die Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit eng zusammen. Möglich im Sinne des DM ist ein Ereignis dann, wenn es — bezogen auf bestimmte Bedingungen — sowohl eintreten als auch nicht eintreten kann. Was wirklich ist, muß möglich sein, während das Umgekehrte nicht gilt. Die Wirklichkeit ist realisierte Möglichkeit.

 

Von besonderer Bedeutung ist die Art und Weise, wie durch gesellschaftliches Handeln in der geschichtlich gewordenen Gesellschaft aus Möglichkeiten Wirklichkeiten werden. Im DM werden grundsätzlich zwei Formen des gesellschaftlichen Handelns unterschieden: spontanes und bewußtes Handeln. Spontan ist das Handeln von einzelnen, Gruppen, Schichten, Klassen oder auch Institutionen, wenn es aus unmittelbarem Impuls ohne umfassende Einsicht in die Gesamtzusammenhänge und die in ihnen wirkenden Gesetzmäßigkeiten erfolgt. Bewußtes Handeln basiert demgegenüber auf wissenschaftlicher Erkenntnis, die — zumindest in der Gegenwart — nur auf der Grundlage des ML möglich [S. 863]sei. Beide Handlungsformen können Möglichkeit in Wirklichkeit umwandeln. Daraus ergibt sich das Problem, daß festzulegen ist, welche von beiden in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation ausschlaggebend gewesen oder, im Falle aktueller Politik, angemessen (richtig) ist. Entsprechende Kontroversen durchziehen den ML von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Im DDR-offiziellen ML ist bewußtes gesellschaftliches Handeln dem spontanen übergeordnet, auch wenn grundsätzlich an einer dialektischen Beziehung zwischen beiden festgehalten wird.

 

d) Freiheit und Notwendigkeit

 

Engels' an Hegel anknüpfende Definition der Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit ist für den DM noch immer verbindlich: „Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 106) In diesem Sinne definieren M. Buhr und A. Kosing (Kleines Wörterbuch …, S. 116): Freiheit ist das „Verhältnis des Menschen zur objektiven Gesetzmäßigkeit (Notwendigkeit) in Natur und Gesellschaft, insbesondere der Grad ihrer Erkenntnis und praktischen Beherrschung“.

 

Freiheit als Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen wählen zu können, oder auch die „individuelle Freiheit“ werden vom DM zwar zur Kenntnis genommen; doch gelten sie als abstrakte und subjektivistische Varianten des Begriffs, weil der Bezug zu den objektiven Natur- bzw. Gesellschaftsgesetzen und -gesetzmäßigkeiten fehlt. Die eigentliche Freiheit besteht, so Engels (ibd.), „in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur“.

 

In der Geschichte der Menschheit durchlaufen, gemäß den Vorstellungen der marxistisch-leninistischen Philosophen, auch Freiheit und Notwendigkeit einen dialektischen Entwicklungsprozeß: „Jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit.“ (Engels, ibd.) Mit der zunehmenden Erkenntnis der Notwendigkeit durch die Menschen und entsprechendem Handeln werde immer mehr gesellschaftliche Freiheit verwirklicht — Freiheit, in der die Notwendigkeit zwar „aufgehoben“ sei, aber nicht aufgehört habe, Notwendigkeit zu bleiben. Die kommunistische Gesellschaft der Zukunft sei in diesem Sinne als das „Reich der Freiheit“ zu bezeichnen.

 

Aus dieser Lehre von der Freiheit wird nicht nur die SED-Propaganda und -Politik (Kampf gegen „Unfreiheit“ und „Freiheitsillusionen“) gespeist (Agitation und Propaganda). Sie ist auch grundlegend für die marxistisch-leninistische Persönlichkeitstheorie und die entsprechenden Erziehungsideale (Persönlichkeitstheorie, Sozialistische).

 

2. Dialektische Entwicklungsgesetze

 

Die Entwicklungskonzeption des ML wird in drei sog. Grundgesetzen der Dialektik erkennbar: dem Gesetz von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze; dem Gesetz vom Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen; dem Gesetz der Negation der Negation.

 

Das erste Grundgesetz der Dialektik sagt aus, daß die Existenzform der Materie die Selbstbewegung ist und daß Triebkraft jeder Bewegung und erst recht jeder Entwicklung die den „Dingen innewohnenden dialektischen Widersprüche“ (Widerspruch) sind.

 

Zur Erklärung der qualitativ verschiedenen Erscheinungsformen der Materie dient dem DM das zweite Grundgesetz der Dialektik, das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative. Qualität ist die wesentliche bzw. invariante Eigenschaft von Dingen, Systemen usw.; Quantität erfaßt Mengen (Größe, Anzahl, Gewicht, Intensität) dieser Qualitäten. Das Maß gibt die Grenze an, bis zu der sich eine gegebene Qualität quantitativ ändern kann, ohne aufzuhören, eben diese Qualität zu sein. Qualitätsänderungen können, gemäß dem „Gesetz“, sprunghaft (revolutionär) erfolgen, durch stoffliche, quantitative Veränderungen, also z.B. durch kontinuierliche (evolutionäre) Zu- oder Abnahme der Anzahl der Elemente eines materiellen Systems. Qualitätsänderungen können aber auch dann eintreten, wenn die Zahl der Elemente des Systems gleich bleibt und sich nur deren Anordnung oder Kopplung ändert.

 

Heute ist dieses „Gesetz“ vor allem politisch bedeutsam im Kampf gegen Reformismus und Revisionismus, denen der DM die Notwendigkeit der revolutionären, qualitativen Veränderungen entgegensetzt, sowie im Kampf gegen Sektierertum und linksradikale Strömungen, gegen die er die Notwendigkeit der allmählichen, quantitativen Vorbereitung jeder revolutionären Umwälzung hervorhebt.

 

Der Umschlag von einer Qualität in eine andere heißt „dialektischer Sprung“. Eine für die Gesellschaft besonders wichtige Form des dialektischen Sprungs ist die soziale Revolution, d.h. der Umschlag von einer Gesellschaftsformation in eine andere.

 

Neu in der Diskussion des DM ist eine systemtheoretische Variante des dialektischen Sprungs. Obwohl die politische — und damit auch die philosophische — Bedeutung der Systemtheorie in der DDR zurückgegangen war, spielten und spielen einige ihrer Elemente im philosophischen Denken noch immer eine bedeutsame Rolle. Der Vorteil der systemtheoretischen Variante liegt vor allem darin, [S. 864]daß der dialektische Sprung — infolge eines höheren Abstraktionsgrades — ohne Schwierigkeiten auf sehr viele unterschiedliche Erscheinungen übertragen werden kann. Die Aussage verliert dafür aber an Informationsgehalt. Die dialektisch-materialistische Systemtheorie unterscheidet systemzerstörende von systemerhaltenden Sprüngen. Beispielsweise ist die proletarische Revolution ein solcher systemzerstörender Qualitätsumschlag; da jedoch das kapitalistische System nur ein historisch bedingtes Teilsystem des Gesamtsystems „menschliche Gesellschaft“ ist, die Diktatur des Proletariats aber eine höhere Entwicklungsstufe darstellt, ist der systemzerstörende Qualitätsumschlag bezüglich eines Teilsystems ein systemerhaltender für das Gesamtsystem. Daraus folgt, daß Entwicklung letztlich nur über solche Qualitätssprünge erfolgen kann, die systemerhaltenden Charakter tragen.

 

Ein systemerhaltender Qualitätsumschlag ist identisch mit der dialektischen Negation. Im Gegensatz zur Negation der formalen Logik treten also zwei positive Momente in der dialektischen Negation auf: 1. Das Negativum „Nicht-A“ stellt in bezug zur Entwicklung des Gesamtsystems etwas Positives dar; 2. das Gesamtsystem wird nicht negiert, sondern nur eine wesentliche Eigenschaft davon, während andere wesentliche Eigenschaften „aufgehoben“ bzw. bewahrt werden.

 

Das „Gesetz“ der Negation der Negation besagt, daß die Entwicklung nicht auf dem Stand der Qualität „Nicht-A“ stehenbleibt, sondern auf eine Rückkehr zur Qualität „A“ drängt, freilich auf einer höheren Stufe. Lenin gebraucht dafür das Bild der Spirale. Mit der Negation der Negation ist der Entwicklungszyklus abgeschlossen, aber nur insofern, als die ihm entsprechende Qualität ihre Variationsmöglichkeiten im Stadium der Negation ausgeschöpft hat und im Stadium der Negation der Negation eine weitere Entwicklung nur noch hinsichtlich anderer Qualitäten möglich ist. So ist mit der Beseitigung des Kapitalismus und dem Aufbau des Sozialismus/Kommunismus der Entwicklungszyklus der menschlichen Gesellschaft abgeschlossen, den Marx als die „Vorgeschichte“ bezeichnete.

 

Folgt man dem Gesetzesverständnis der analytischen Philosophie, so handelt es sich bei den Grundgesetzen der Dialektik weder um Gesetze (logische oder Naturgesetze) noch um Gesetzesaussagen einer empirischen Wissenschaft; denn Gesetze und Gesetzesaussagen sollen inhaltlich gesättigt sein und uneingeschränkt in Raum und Zeit gelten. Die Gesetze des ML sind eher als Axiome oder Normen zu bestimmen; denn als Grundlage von Aussagensystemen haben sie axiomatischen und normativen Charakter. Dies gilt in besonderem Maße, wenn die Auslegungsmöglichkeiten, die inhaltliche Auffüllung dieser Gesetze so gut wie unbegrenzt oder, anders ausgedrückt, beliebig ist.

 

3. Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie

 

Aus der „Grundfrage der Philosophie“ (s. o. Kap. ML II. A. 1. u. 2.) ergibt sich das Problem, wie das Bewußtsein die Wirklichkeit widerspiegelt. Damit wird das Gebiet der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie betreten. Diese ist, im Selbstverständnis des ML, „als relativ selbständige philosophische Disziplin ein organischer Bestandteil des Gesamtsystems der marxistisch-leninistischen Philosophie“ (Phil. Wörterbuch, Bd. 1, S. 365). Ihre Grundsätze können wie folgt zusammengefaßt werden:

 

a) Die Dialektik ist auch die Lehre von den allgemeinen Formen und Gesetzen des Denkens; insofern gibt es nur eine „relativ selbständige“, keine eigenständige marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie.

 

b) Die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie untersucht den Erkenntnisprozeß in seiner Komplexität und Vielgestaltigkeit. Ihr obliegt die philosophische Analyse von Materialien aus der Geschichte der Erkenntnis und der Wissenschaften ebenso wie die philosophische Verarbeitung von relevanten Ergebnissen der Einzelwissenschaften (z.B. der Psychologie) und der gesellschaftlichen Praxis.

 

c) Da, der Axiomatik des DM folgend, Real- und Erkenntnisdialektik übereinstimmen, halten es die Vertreter des DM für unzulässig, bei der Analyse von Denkformen und Denkgesetzen von den Denkinhalten zu abstrahieren (im Gegensatz z.B. zu Kants Erkenntnistheorie).

 

d) Erkenntnissubjekt ist im ML nicht unmittelbar das Individuum, sondern die „Gesellschaft“ (im Sinne von sozialen Gruppen, Kollektiven, Klassen) oder genauer: die „gesellschaftlich organisierte Menschheit“ — auch wenn die Erkenntnis als an die Erkenntnistätigkeit der Individuen „gebunden“ angesehen wird. Erkenntnisobjekt ist die vom Bewußtsein unabhängige objektiv-reale Außenwelt, die jedoch nicht unabhängig vom Erkenntnissubjekt gedacht werden darf. Die materielle Welt wird erst dann zum Erkenntnisobjekt, wenn sie vom Subjekt verändert, beeinflußt, beobachtet wird, also dadurch, daß das Subjekt sie in die gesellschaftliche Lebenstätigkeit einbezieht und seine Wesenskräfte in ihr vergegenständlicht (Subjekt-Objekt-Dialektik).

 

e) Die gesellschaftliche Praxis wird als das konstitutive Element im Erkenntnisprozeß angesehen, d.h. nicht nur als ein äußerliches Kontrollorgan der Erkenntnis, sondern sowohl als Grundlage und Ziel der Erkenntnis als auch als Kriterium der Wahrheit.

 

f) Erkenntnis ist Prozeß bzw. Resultat der sinnlichen und rationalen Widerspiegelung der objektiven Realität im Bewußtsein.

 

Mit der Rezeption der allgemeinen Informationstheorie hat die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie neuerdings eine Bedeutung erreicht, die an [S. 865]die des HM und des DM heranreicht. Damit verbunden ist aber auch ein Auflösungsprozeß des geschlossenen Gedankengebäudes, der vor allem im Bereich der Abbildtheorie sichtbar wird: An die Stelle des Begriffs „Widerspiegelung“ tritt die Formel „inneres Modell der Außenwelt“. Dieses besteht aus einem dynamischen System von Informationen, dessen Struktur „bestimmte Übereinstimmungen mit der Struktur der Außenwelt aufweist“. Isomorphie, also eindeutige Zuordnung der Elemente des inneren Modells an die der Außenwelt, ist ein anzustrebendes Ideal. Tatsächlich wird nur Homomorphie erreicht, d.h. eine angenäherte Entsprechung, eine „mehr-eindeutige Zuordnung“ der Elemente. Insbesondere der semantische Aspekt der Information läßt subjektiven Deutungen größeren Spielraum, als es die traditionelle Abbildtheorie zugestehen wollte. Neuere Darstellungen des HM räumen denn auch ein, daß dem Subjektiven Faktor bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft eine stärkere Bedeutung zukommt. Allerdings, so wird behauptet, käme darin eine „höhere Stufe der Dialektik von Objektivem und Subjektivem in der Geschichte“ zum Ausdruck. Weiter ist umstritten, bei welchen Formen des kognitiven Abbildes von Wahrheit gesprochen werden kann. G. Klaus stand z.B. auf dem Standpunkt, daß nur Aussagen Wahrheit zukommt, während andere Theoretiker allen Formen des kognitiven Abbildes, also auch sinnlichen Abbildern (Ästhetik), Wahrheit zuschreiben wollen.

 

C. Der Historische Materialismus (HM)

 

 

Der HM, die „philosophische Wissenschaft von der Gesellschaft“, gilt als „die bedeutendste Errungenschaft des marxistischen philosophischen Materialismus. Er ist dessen Vollendung, da er ihn auch in bezug auf die menschliche Gesellschaft und ihre geschichtliche Entwicklung konsequent durchführt.“ (Phil. Wörterbuch, Bd. 2, S. 756) Eine solche Einschätzung darf nicht so interpretiert werden, daß dem HM gegenüber dem DM Priorität zugestanden wird. Im Gegenteil: In allen Lehrbüchern des ML wird die untrennbare, sich „wechselseitig bedingende“ Einheit des DM und HM besonders herausgestellt. Dabei erhält der HM seine relativ selbständige Existenzberechtigung wegen der ihrerseits im DM begründeten Vorstellung, daß dem gesellschaftlichen Lebensprozeß gegenüber den Naturprozessen eine „qualitative Besonderheit“ zukomme. Der HM stehe den Gesellschaftswissenschaften näher als der DM; er sei, wie Buhr/Kosing (Kleines Wörterbuch …, S. 75) definieren, „die materialistische Geschichtsauffassung und Gesellschaftstheorie“.

 

1. Die Hauptthesen

 

Im Vorwort seines Werkes „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859) hat Marx seine klassisch gewordene Zusammenfassung der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung formuliert: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und der bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 13, S. 8 f.)

 

Marx gelangte zu diesen Feststellungen, bei denen die Begriffe Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte und Produktionsweise (vgl. dazu im einzelnen weiter unten, Kap. ML II. C. 2., 3. u. 4.) im Vordergrund stehen, aufgrund von philosophisch-anthropologischen Vorstellungen über die Arbeit — und zwar indem er Arbeit, wie er behauptete, nicht mit Hegel „idealistisch“, sondern „materiell-gegenständlich“ interpretierte. Arbeit ist, nach Marx, das grundlegende Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet; alle anderen Wesensmerkmale des Menschen entstehen im gesellschaftlichen Lebensprozeß, mit der Arbeit und auf ihrer Grundlage. In der Arbeit erzeugt der Mensch die „Mittel“ zur Befriedigung seiner Bedürfnisse; andernfalls wäre er nicht imstande zu leben. Im Produkt der Arbeit vergegenständlicht sich menschliche Arbeitskraft oder Energie. Das Produkt wird „äußerlich“. Anders ausgedrückt: Der Mensch „entäußert“ oder „entfremdet“ sich (Entfremdung) in der Arbeit. Da die produzierten Gegenstände nicht Selbstzweck, sondern Mittel der Lebenserhaltung sind, erfüllen sie ihre Bestimmungen erst, wenn sie wieder „aufgehoben“ oder vernichtet werden, indem sie dem Menschen zu seiner Reproduktion oder zum Genuß dienen. Arbeit befriedigt Bedürfnisse, aber erzeugt auch neue Bedürfnisse.

 

In Marxens Philosophie der Arbeit spielt weiterhin der Begriff der Arbeitsteilung eine große Rolle. Die Arbeitsteilung, die in der Urgesellschaft nur als „natürliche“ (zwischen den Geschlechtern und Generationen) bestand, entwickelt sich zur „gesellschaftlichen“ Arbeitsteilung. Dieser historisch unvermeidliche Prozeß ergibt sich aus der widersprüchlichen Eigenbewegung der Produktivkräfte. Wenn das Zusammenwirken von Produktivkräften und Produktionsmitteln im Produktionsprozeß so weit fortgeschritten ist, daß die Produktion über die unmittelbare Existenzsicherung hinausgeht, entsteht das Privateigentum an Produktionsmitteln mit [S. 866]den verschiedenen gesellschaftlichen Formen der Arbeitsteilung: in erster Linie Kopf- versus Handarbeit und Agrar- versus Industrieproduktion.

 

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat zwei folgenschwere Konsequenzen, die manifest geworden sind, als die Produktionsverhältnisse das Stadium des Kapitalismus erreichten: Die Trennung von Kopf- und Handarbeit bewirkt, daß das Bewußtsein sich ein eigenes Objekt schafft, eine Welt von geistigen Wesenheiten, von Ideen, die es für die bewegenden Kräfte und Ziele der Geschichte ausgibt. Marx bezeichnet diese Welt der Ideen als „Ideologie“ im Sinne des „falschen Bewußtseins“ (vgl. unten Kap. ML II. C. 3.). Die „wahren“ geschichtlich-gesellschaftlichen „Triebkräfte“ (vgl. unten Kap. ML II. C. 2. u. 4.) werden auf diese Weise geleugnet. Zum anderen wird durch die Existenz von Privateigentum an Produktionsmitteln der Dreitakt des „natürlichen“ Arbeitsprozesses: Arbeit — Entäußerung — Wiederaneignung im Genuß oder der Reproduktion, gestört. Die produzierten Gegenstände werden einem Großteil der Produzenten vorenthalten, da der Eigentümer der Produktionsmittel über die Arbeitsergebnisse verfügt. Die Wiederaneignung ist also nicht oder nur begrenzt möglich; die Produkte repräsentieren eine dem Produzenten „fremde Macht“, den Kapitaleigentümer, der sich sowohl das Arbeitsergebnis wie auch die Arbeitskraft angeeignet hat. (Politische Ökonomie.)

 

Diese Vorstellungen erweiterte Marx zu einer geschichtsphilosophischen Theorie, für die die Klassen und der Klassenkampf konstitutiv sind (Klasse/Klassen, Klassenkampf). Wie Engels (Marx/Engels, Werke, Bd. 21, S. 249) interpretierend feststellte, entdeckte Marx das „große Bewegungsgesetz“ der Geschichte, „wonach alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf politischem, religiösem, philosophischem oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehn, in der Tat nur der mehr oder weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind, und daß die Existenz und damit auch die Kollisionen dieser Klassen wieder bedingt sind durch den Entwicklungsgrad ihrer ökonomischen Lage, durch die Art und Weise ihrer Produktion und ihres dadurch bedingten Austausches“.

 

2. Die Triebkräfte des Geschichtsprozesses

 

Zu den Triebkräften des Geschichtsprozesses gehören im DDR-offiziellen HM vor allem die dialektischen Wechselbeziehungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der Klassenkampf und die soziale Revolution.

 

Entscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung ist die Produktionsweise, also wie die Menschen die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse notwendigen Güter produzieren. Produzieren bedeutet ein Zweifaches: ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur und ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zueinander. Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist bedingt durch die Produktivkräfte, d.h. die Fähigkeiten, Erfahrungen und das Wissen der Menschen sowie die ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmittel; das gegenseitige Verhältnis der Menschen wird bestimmt durch die Produktionsverhältnisse.

 

Die Produktion wird als dialektischer Prozeß verstanden. Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die eine dialektische Einheit bilden, stehen in Wechselwirkung und bedingen einander gegenseitig — und zwar so, daß die Produktivkräfte die führende Rolle in der Entwicklung spielen. Wichtig für den offiziellen ML ist, daß die Faktoren der Entwicklung nicht außerhalb der Produktion gesucht werden, etwa in geographischen und klimatischen Bedingungen oder im Anwachsen der Bedürfnisse durch das Wachstum der Bevölkerung. Quelle der Entwicklung sei vielmehr die „Selbstbewegung“, die dialektische Wechselwirkung der Elemente der Produktion, hauptsächlich die Wechselwirkung zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen.

 

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann ein Epoche sozialer Revolutionen ein.“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 13, S. 9) So bewirkt z.B. die Entwicklung der Technik, die zunehmende Mechanisierung der Produktion im Kapitalismus, daß die Weise der Gütererzeugung sich immer mehr „vergesellschaftet“, d.h. die gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit die gegenseitigen Interdependenzen erreichen einen solchen Grad, daß der Produktionsprozeß nur noch als ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang verstanden werden kann. Dies wird in Großbetrieben, Großorganisationen und in der Massenproduktion deutlich sichtbar. Aber die Bestimmung des Produktionszwecks und daher die Aneigung des Ertrages bleibt eine private. Zur Überwindung dieses Widerspruchs muß das Privateigentum an Produktionsmitteln überhaupt abgeschafft werden. Dies geschieht durch eine soziale Revolution.

 

Die sozialistische Revolution ist die höchste und damit letzte Form der sozialen Revolution. Als soziale Revolution werden solche gesellschaftlichen Umwälzungen verstanden, bei denen die eine herrschende Klasse durch eine neue herrschende Klasse abgelöst wird. Voran geht der Klassenkampf als Kampf zwischen unterdrückten und unterdrückenden Klassen. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal einer Klasse ist ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, das wiederum im wesentlichen [S. 867]ein Eigentumsverhältnis ist. Alle anderen Verhältnisse, etwa schichtenspezifische, lassen sich darauf zurückführen. So gesehen stellt sich für den HM die Geschichte als eine „Geschichte von Klassenkämpfen“ dar, die identisch ist mit der Entwicklung der Formen des Privateigentums an Produktionsmitteln und deren Abschaffung (Klasse/Klassen, Klassenkampf).

 

3. Ideologie

 

Ein zentraler Begriff des ML ist der der Ideologie, der seine ersten Bestimmungen im Sinne des HM in Marx' und Engels Werk „Die Deutsche Ideologie“ (1845/46) erhalten hat. Von den Theoretikern des HM in der DDR wird Ideologie wie folgt definiert: „System der gesellschaftlichen (politischen, philosophischen, religiösen, künstlerischen usw.) Ideen, die durch die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft, insbesondere die Produktionsverhältnisse bedingt, bestimmte Klasseninteressen zum Ausdruck bringen und darauf gerichtet sind, das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in deren Sinne zu beeinflussen und entsprechende Verhaltensnormen, Einstellungen und Wertungen einschließen.“ (Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 158)

 

Die beiden großen ideologischen Systeme, mit denen sich der HM vor allem befaßt, sind die Ideologie der Bourgeoisie (oder bürgerliche Ideologie) und die Ideologie der Arbeiterklasse (oder, unter den Bedingungen der sozialistischen Produktionsverhältnisse, sozialistische Ideologie). Beide seien durch Klasseninteressen geprägt; doch nur das Klasseninteresse der Arbeiterklasse falle mit dem Interesse der gesamten Gesellschaft zusammen und könne deshalb „offen parteilich“ vertreten werden, ohne daß der Wissenschafts- und Wahrheitsanspruch aufzugeben sei (Interessen/Interessenübereinstimmung; Parteilichkeit). Die Ideologie der Arbeiterklasse ist damit, vereinfacht im Sinne des HM interpretiert, „richtige“ Ideologie, während die Ideologie der Bourgeoisie neben richtigen vor allem „falsche“ Elemente, nämlich Elemente der Verschleierung und Rechtfertigung von ökonomischer und politischer Macht in den Händen einer Minderheit enthält. Die Ideologie der Arbeiterklasse ist darüber hinaus, gemäß den Lehren des HM, auch deshalb der Ideologie der Bourgeoisie überlegen, weil sie „wissenschaftlich“ ist. Nur die Arbeiterklasse „verfügt“ über die „wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze“ (ibd., S. 159). Sie ist „fortschrittlich“, während die bürgerliche Ideologie im Geschichtsverlauf „reaktionär“ geworden ist.

 

Ideologie ist damit ein Begriff, der inhaltlich sowohl positiv wie negativ besetzt sein kann. Ferner handelt es sich um einen „Freund-Feind-Begriff“ — einen Begriff, für den Polarisierung und Polemik konstitutiv sind. Ideologie ist weiterhin ein Kampfbegriff; das richtige Bewußtsein befindet sich in einer Art permanenten Offensivzustandes: „Zwischen bürgerlicher und sozialistischer Ideologie findet ein unversöhnlicher Kampf statt; Vernachlässigung des ideologischen Kampfes der Arbeiterklasse bedeutet faktisch Stärkung der bürgerlichen Ideologie. Alle Varianten der reaktionären Ideologie, einschließlich des Sozialdemokratismus und Revisionismus, haben — offen oder versteckt — antikommunistischen Inhalt.“ (Ibd.) (Antikommunismus) Aus solcher Bestimmung von Ideologie ist abzulesen, daß der Begriff eine Schlüsselfunktion sowohl im Rahmen der Agitation und Propaganda wie der Erziehung und Bildung (Erziehung, Politisch-ideologische bzw. Staatsbürgerliche; Parteischulung der SED) besitzt.

 

Die Betonung des ideologischen Kampfes steht in einem gewissen Widerspruch zu der oben zitierten Grunderkenntnis, daß Ideologien auf die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft zurückführbar, also sozusagen nur abgeleitete geschichtliche Triebkräfte sind. Tatsächlich werden im HM der DDR die Akzente unterschiedlich gesetzt, wie überhaupt die Diskussion über die Unterscheidung von materiellen und ideellen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abgeschlossen ist (vgl. etwa G. Stiehler, „Die Grundfrage der Philosophie …“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 8/1980, S. 950 ff.). Nicht voll geklärt, vor allem nicht eindeutig definitorisch unterschieden sind ferner die Begriffe „Ideologie“ und „Weltanschauung“. Beide werden einerseits recht häufig synonym gebraucht. Andererseits ist, bei getrennter Behandlung, erkennbar, daß Unterschiede gesehen werden, beispielsweise: Weltanschauung mit besonderer Betonung der Orientierungsfunktion; Ideologie mit besonderer Betonung der Klassenkampffunktion.

 

Hingegen ist nach wie vor unumstritten, daß sich das jeweilige ideologische System mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen wandelt. Die Begriffe indes, mit denen solcher Wandel beschrieben wird, mögen wechseln. In der neuesten Ausgabe des „Kleinen Wörterbuchs der marxistisch-leninistischen Philosophie“ von M. Buhr und A. Kosing stellt sich der Wandel aus der gegenwärtigen Perspektive wie folgt dar: Die Ideologie der Arbeiterklasse wurde von der „sozialistischen Ideologie“ und diese wird in Zukunft, „im Prozeß des sozialistischen Aufbaus und des allmählichen Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft“ von der „Ideologie des gesamten werktätigen Volkes“ abgelöst; an die Stelle der „bürgerlichen“ tritt demgegenüber mehr und mehr die „imperialistische“ Ideologie (Imperialismus).

 

4. Gesellschaftsformationen

 

Während Marx und Engels vor allem mit den Begriffspaaren „Produktionsverhältnisse“ und „Pro[S. 868]duktivkräfte“, „Basis“ und „Überbau“, „gesellschaftliches Sein“ und „Bewußtsein“ gearbeitet haben, hat Lenin den Begriff der „Gesellschaftsformation“ zusätzlich in den Vordergrund gerückt. In dem Artikel „Was sind die ‚Volksfreunde‘ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie?“ aus dem Jahre 1894 (Werke, Bd. 1, S. 119 ff.) weist er darauf hin, daß Marx selbst (im Vorwort zum „Kapital“) „die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß“ aufgefaßt hat. Im Zuge seiner Interpretation des „Kapital“ kommt Lenin dann zu der Feststellung, daß Marx' Analyse der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse „sofort“ die Möglichkeit bot, „die Wiederholungen und Regelmäßigkeiten festzustellen und die Zustände in den verschiedenen Ländern verallgemeinernd zu dem Grundbegriff der Gesellschaftsformation zusammenzufassen“ (S. 131).

 

Meistens wird heute in der DDR der Begriff „ökonomische Gesellschaftsformation“ gebraucht. Dabei wird, wie bei Lenin, betont, daß „ökonomische Gesellschaftsformation“ durch die Produktionsweise bestimmt ist und auf das Allgemeine, bestimmten Gesellschaften in ihren historischen Besonderheiten Gemeinsame abhebt. Zusammenfassend werden in dem Lehrbuch „Grundlagen des historischen Materialismus“ (S. 327) zur Charakterisierung der ökonomischen Gesellschaftsformation folgende „Wesensmerkmale“ angegeben:

  • Erstens ist sie ein gesellschaftlicher Organismus, der objektiv gesetzmäßig entsteht, sich voll entfaltet und ebenso gesetzmäßig an einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung von einer höheren Formation abgelöst wird. Die kommunistische Gesellschaftsformation ist auf ihrer eigenen materiellen Grundlage unbegrenzt entwicklungsfähig.
  • Zweitens ist die tiefste Ursache der Entwicklung und Aufeinanderfolge ökonomischer Gesellschaftsformationen die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
  • Drittens werden der konkret-historische Charakter und die Struktur einer jeden Formation vom jeweiligen Typ der Produktionsverhältnisse, insbesondere des Eigentums an den Produktionsmitteln bestimmt.
  • Viertens bringt die jeweilige Produktionsweise die für jede Formation charakteristischen historischen Gemeinschaften, die sozialen Beziehungen und Triebkräfte hervor.
  • Fünftens ergibt sich aus dem jeweiligen Typ der Produktionsverhältnisse eine spezifische Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse, und es entsteht ein den Produktionsverhältnissen entsprechender gesellschaftlicher Überbau.«

 

Diese relativ konkret gehaltene „Definition“ der ökonomischen Gesellschaftsformation, die auch „historische Gemeinschaften“ und „soziale Beziehungen“ als Charakteristika umfaßt, gibt einen Hinweis darauf, daß über den HM enge Verbindungslinien zwischen den ökonomischen und den nicht-ökonomischen gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen bestehen.

 

Viel Platz wird in der aktuellen Literatur zu Einzelproblemen des ML den „gesetzmäßigen“ Entstehungsbedingungen der ökonomischen Gesellschaftsformationen eingeräumt. Die sich stets weiter entwickelnde „Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ habe, historisch gesehen, neue, höher entwickelte Gesellschaftsformationen hervorgebracht. Über deren konkret-inhaltliche Bestimmung und die Festlegung des jeweiligen historischen Einschnitts gehen die Meinungen allerdings auseinander. Im DDR-offiziellen HM werden derzeit fünf Entwicklungsstufen unterschieden (im einzelnen dazu Gesellschaftsordnung; Periodisierung).

 

III. Der Wissenschaftliche Kommunismus (WK)

 

 

A. Gegenstandsbestimmung und Aufgaben

 

 

Der WK (oder, früher häufiger, wissenschaftliche Sozialismus) hat sich erst in jüngerer Zeit als ein selbständiger Bestandteil des ML zu etablieren begonnen. Unter der Bezeichnung WK werden spezifische Problembereiche vor allem aus dem HM ausgegliedert. Der WK „analysiert die gesellschaftlichen Prozesse, die zur Herausbildung und Entwicklung der kommunistischen Gesellschaftsformation führen und deckt auf dieser Grundlage Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes der Arbeiterklasse, der sozialistischen Revolution und des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus und deren Erscheinungsformen in den einzelnen Etappen, Ländern und Bereichen auf“ (G. Großer, Der Gegenstand des wissenschaftlichen Kommunismus …, S. 38 f.). Das Hauptaugenmerk liegt auf der „gegenwärtigen Epoche“, d.h. dem geschichtlichen Zeitabschnitt, der den Kapitalismus, wie ihn Marx und Engels kannten, hinter sich gelassen hat und dem Kommunismus nähergerückt ist: „Der wissenschaftliche Kommunismus ist die Wissenschaft von den allgemeinen sozialen (sozialpolitischen) Gesetzen der Vorbereitung, Herausbildung und Entwicklung der kommunistischen Gesellschaftsformation als eines einheitlichen, qualitativ neuen sozialen Organismus, von den Erscheinungsformen dieser Gesetze unter den verschiedenen historischen Bedingungen und in den verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens“ (ibd., S. 137).

 

Der Gegenstandsbereich des WK ist damit keineswegs eindeutig abgegrenzt; die entsprechenden Diskussionen sind noch nicht, weder in der Sowjetunion noch in der DDR, abgeschlossen (vgl. z.B. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 8/1982, S. 1023 ff.). Es bestehen — abgesehen vom Historischen/Dialektischen Materialismus und der Politischen Ökonomie — Überschneidungen und Berüh[S. 869]rungspunkte vor allem mit der Staats- und Rechtstheorie (Staatslehre) und einer allerdings erst in Ansätzen erkennbaren Politologie sowie der Soziologie und Empirischen Sozialforschung, der Sozialstrukturforschung (Sozialstruktur) und der Sozialpolitik.

 

Im einzelnen befaßt sich der WK, lt. Buhr/Kosing (Kleines Wörterbuch …, S. 352), mit den Lehren von der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse, vom Klassenkampf des Proletariats (Klasse/Klassen, Klassenkampf), von der sozialistischen Revolution und der Diktatur des Proletariats (s. u., ML III. B.), vom nationalen Befreiungskampf (Außenpolitik, V.; Nationale Demokratie), von der Strategie und Taktik der kommunistischen Bewegung (Außenpolitik; Friedliche Koexistenz), vom Aufbau des Sozialismus und Kommunismus (s. u., ML III. C.) sowie von der Leitung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft (Leitungswissenschaft).

 

B. Die Lehre von der Diktatur des Proletariats in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus

 

 

Die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus (Periodisierung) ist sowohl bei Marx und Engels wie bei Lenin und Stalin als „(revolutionäre) Diktatur des Proletariats“ gekennzeichnet. Der Grundgedanke ist folgender: Aus den antagonistischen Klassengegensätzen (Widerspruch) zwischen Bourgeoisie und Proletariat ergibt sich, daß die sozialistische Revolution nur gewaltsam sein kann. Denn die herrschenden Klassen setzen der Veränderung der Produktionsverhältnisse Widerstand entgegen und benutzen dazu vor allem den „Zwangsapparat“ des Staates. In der Übergangsphase muß daher das Proletariat den Staatsapparat erobern und gegen die noch vorhandenen Reste der Bourgeoisie als Instrument der Macht (im politischen, ökonomischen und ideologischen Bereich) einsetzen. Diese Diktatur des Proletariats unterscheidet sich, dem Anspruch nach, insofern von anderen historischen und aktuellen Formen der Diktatur, als sie eine Herrschaft der Mehrheit über eine Minderheit bedeutet.

 

Marx und Engels haben sich über die inhaltliche Ausgestaltung der Periode der Diktatur des Proletariats nicht zusammenhängend geäußert. Anders Lenin und Stalin sowie im Anschluß vor allem an Lenin u.a. die Theoretiker des ML in der DDR. Sie haben für die Zeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus genaue Vorstellungen entwickelt. Erst relativ spät allerdings, auf der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau im Jahre 1960, ist die Auffassung, daß die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus „ein längerer Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte“ ist, zum verbindlichen Dogma geworden.

 

Seitdem sind die Vorstellungen hinsichtlich dieser Übergangsperiode zunehmend differenziert und, aufgrund des jeweiligen Erkenntnisstandes, weiterentwickelt worden. Heute werden im allgemeinen zwei Phasen unterschieden: „Die erste Phase … umfaßt den Zeitraum von 1917 bis etwa 1950, sie war durch den Sieg der sozialistischen Revolution und den erfolgreichen Aufbau des Sozialismus in einem Lande gekennzeichnet. Die zweite Phase … beginnt mit der Entstehung und Festigung des Sozialistischen Weltsystems“, d.h. „mit dem Sieg der sozialistischen Revolution in einer Reihe weiterer Länder, dem erfolgreichen Aufbau des Sozialismus und dem Zusammenschluß der sozialistischen Länder zu einem Weltsystem.“ (Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 98)

 

In den Ländern, in denen die Macht der Bourgeoisie durch eine Revolution der Arbeiterklasse gebrochen worden ist, habe die Arbeiterklasse die Herrschaft (Macht) übernommen. Hier herrsche die Diktatur des Proletariats. Diese „wird durch ein System politischer Organisationsformen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten verwirklicht, an deren Spitze die marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse steht und in dem der sozialistische Staat das Hauptinstrument für den Aufbau des Sozialismus ist“ (Kleines Politisches Wörterbuch, 2. Aufl., Berlin [Ost] 1973, S. 169).

 

Zur Begründung der Auffassung von der Diktatur des Proletariats wird, ganz im Sinne Lenins, zum einen angeführt, daß zum Wesen des sozialistischen Staates die Gewaltanwendung gegen die politisch entmachtete Bourgeoisie gehöre. Die Ausübung der politischen Macht habe gegen die Ausbeuterklassen zu erfolgen, die auch nach dem Sturz in einem Lande nicht unversucht ließen, ihre Herrschaft wiederzuerlangen. Zum anderen wird rechtfertigend behauptet, daß die Umwandlung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus und Kommunismus die „Organisation und Disziplin der fortgeschrittensten Abteilung der Werktätigen, ihrer Avantgarde, ihres einzigen Führers, des Proletariats“ (Lenin) erfordere. Damit wird die marxistisch-leninistische Parteitheorie bzw. die Lehre von der Strategie und Taktik der marxistisch-leninistischen Partei mit der Lehre von der Diktatur des Proletariats aufs engste verknüpft (vgl. im einzelnen hierzu: Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. 3., bearb. Aufl., Berlin [Ost] 1980, bes. Kap. 10, S. 235 ff.; Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), XIX. ff.).

 

In der geschichtlichen Periode, die durch die Diktatur des Proletariats gekennzeichnet ist, entsteht, gemäß der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie, gleichzeitig ein „historisch neuer Typ der Demokratie“, die sozialistische ➝Demokratie.

 

C. Die Lehre vom Sozialismus und Kommunismus

 

 

Im Laufe der Geschichte des ML und speziell auch in [S. 870]der Geschichte der DDR sind Sozialismus und Kommunismus in ihrem Verhältnis zueinander unterschiedlich bestimmt worden, auch wenn an der grundsätzlichen Abfolge: Kapitalismus — Sozialismus — Kommunismus festgehalten wurde.

 

Heute ist herrschende Lehre in der DDR (wie in der Sowjetunion), daß die kapitalistische Gesellschaftsformation durch die kommunistische, deren erste Entwicklungsphase die sozialistische ist, „gesetzmäßig“ abgelöst wird. In diesem Zusammenhang werden „Sozialismus“ und „Kommunismus“ durchaus auch synonym verwandt; die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ist ebenso eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. Wann genau der Kommunismus den Sozialismus ablöst, wie die Trennungslinie zu ziehen ist: das sind Fragen, die in der Geschichte des ML und für die DDR nicht konsistent beantwortet werden (Periodisierung). Die entsprechenden Unklarheiten und (logischen) Widersprüche sind darauf zurückzuführen, daß die Begriffe Sozialismus und Kommunismus im Laufe der Geschichte mit wechselnden Inhalten angefüllt worden sind. Darüber, welches die Erscheinungsmerkmale des Sozialismus, welches die Strukturen und Prozesse sind, die ihn ausmachen und seine Weiterentwicklung zur kommunistischen Gesellschaft bewirken, werden im ML immer wieder, aufgrund der philosophischen Aufarbeitung der geschichtlichen Entwicklung im nationalen und internationalen Rahmen, neue (prinzipiell auf den alten aufbauende) Aussagen gemacht. Ein permanenter Zwang zur Positionsbestimmung unter Einbeziehung von Vergangenheit und Zukunft gehört zu den Charakteristika des ML. Die Lehre vom Sozialismus und Kommunismus in ihrer gegenwärtigen Gestalt soll im folgenden weitgehend unter Bezugnahme auf den entsprechenden Artikel in dem von M. Buhr und A. Kosing bearbeiteten „Kleinen Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie“ (S. 295–304) dargestellt werden. Alle Zitate entstammen diesem Artikel.

 

Ausgangsbasis ist die Auffassung, daß Sozialismus und Kommunismus „gemeinsame Grundlagen und Wesenszüge“ besitzen bzw. miteinander „verbunden“ sind. Zu den Gemeinsamkeiten gehören:

 

„ * das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln,

  • die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen,
  • die Entwicklung der Produktion zum Zweck der immer besseren Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen,
  • die allseitige Entwicklung der Fähigkeiten und Talente des Menschen und die Herausbildung eines neuen Typs der Persönlichkeit,
  • die Veränderung des Charakters der Arbeit, die aus einem Mittel des Lebensunterhalts immer mehr zum ersten Lebensbedürfnis der Menschen wird,
  • die bewußte und planmäßige Leitung der gesellschaftlichen Prozesse und der Gesamtentwicklung der Gesellschaft auf der Grundlage der erkannten Gesetzmäßigkeiten.“

 

Der grundsätzliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus wird darin gesehen, daß die sozialistische Gesellschaft aus der kapitalistischen hervorgeht, d.h. sich auf dem Boden einer ihr wesensfremden Gesellschaft entwickelt und mit deren „Muttermalen“ (Marx) behaftet ist. Demgegenüber entwickele sich die kommunistische Gesellschaft auf ihren eigenen (nämlich den von der sozialistischen Gesellschaft im Hinblick auf die kommunistische gestalteten) Grundlagen.

 

Die Lehre von der sozialistischen Gesellschaft enthält im einzelnen Aussagen über deren Entstehung und über die „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ ihres Aufbaus und ihrer Entwicklung. Der Katalog dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten ist breit gefächert:

  • Errichtung der Diktatur des Proletariats in der einen oder anderen Form;
  • Führung der werktätigen Massen durch die Arbeiterklasse und deren Vortrupp, der marxistisch-leninistischen Partei;
  • Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft und den anderen werktätigen Schichten;
  • Beseitigung der nationalen Unterdrückung und Herstellung von Gleichberechtigung und brüderlicher Freundschaft zwischen den Völkern;
  • Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus gegen die Anschläge äußerer und innerer Feinde;
  • Solidarität der Arbeiterklasse des gegebenen Landes mit der Arbeiterklasse der anderen Länder — der proletarische Internationalismus;
  • planmäßiger Zusammenschluß der sozialistischen Länder auf der Grundlage des proletarischen Internationalismus;
  • Beseitigung des kapitalistischen Eigentums und Herstellung des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln;
  • schrittweise sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft;
  • planmäßige Entwicklung der Volkswirtschaft, gerichtet auf den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus, auf die Hebung des Lebensniveaus der Werktätigen;
  • Realisierung der Kulturrevolution, die Einführung einer allgemeinen Volksbildung und die Schaffung einer dem Sozialismus ergebenen Intelligenz.“

 

Diese objektiven Gesetzmäßigkeiten müssen, so führen Buhr/Kosing aus, von den einzelnen Parteien „schöpferisch“ angewandt werden. Damit wird ein gewisser Spielraum für nationale Differenzierungen innerhalb des Sozialismus zugestanden.

 

Wie schon erwähnt, stellt der Sozialismus „eine längere Entwicklungsstufe der kommunistischen [S. 871]Gesellschaftsformation“ dar; er hat seinerseits verschiedene Etappen. Gegenwärtig werden voneinander abgehoben: „die Etappe, in der die Grundlagen des Sozialismus geschaffen werden (die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, die mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse endet); die Etappe, in der die entwickelte sozialistische Gesellschaft geschaffen wird und voll ausreift, in der die Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus entstehen“.

 

Der Aufbau des Sozialismus wird als primär „politische Aufgabe“ bezeichnet, „die nur mittels der politischen Macht der Arbeiterklasse in Gestalt der Diktatur des Proletariats und unter Führung der Arbeiterklasse und der marxistisch-leninistischen Partei gelöst werden kann. Der sozialistische Staat ist daher das entscheidende Machtinstrument …“ (Vgl. oben Kap. ML III. B.)

 

Hauptziel dieser Politik ist die Schaffung der sozialistischen Produktionsweise (via „sozialistische Nationalisierung“, „Kollektivierung“ und „sozialistische Industrialisierung“), als deren Folge sich eine neue Klassenstruktur mit der Arbeiterklasse als der führenden Klasse, den Genossenschaftsbauern als weiterer Hauptklasse und der Intelligenz sowie den anderen Schichten des Volkes herausbildet. Die sozialistische Gesellschaft wird in diesem Zusammenhang als eine „Gesellschaft der Werktätigen“ gekennzeichnet, der das Verteilungsprinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“, entspräche.

 

Für den Charakter dieser sozialistischen Gesellschaft als Übergangsgesellschaft werden vor allem drei Gründe angeführt: 1. Die Klassenantagonismen, wie sie für den Kapitalismus typisch sind, existieren zwar nicht mehr, aber die „völlige Aufhebung der Klassen“ steht noch aus. 2. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land konnte zwar prinzipiell beseitigt werden, jedoch ist es „objektiv“ noch nicht möglich gewesen, „alle wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land zu überwinden“. 3. Mit dem für die antagonistischen Klassengesellschaften typischen Gegensatz zwischen körperlicher und geistiger Arbeit verhält es sich ähnlich. Beide Formen der Arbeit haben sich unter den Anfangsbedingungen des Sozialismus zwar qualitativ verändert und einander angenähert, doch kann „die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen ihnen im Maßstab der ganzen Gesellschaft noch nicht aufgehoben werden“.

 

Aus diesen Bestimmungen der Übergangsgesellschaft folgen als prinzipielle Ziele für die Gesellschaftspolitik der SED in der näheren Zukunft: die Förderung der Annäherung der Klassen und Schichten sowie die Beseitigung der noch verbliebenen Unterschiede zwischen Stadt und Land und zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Wie diese Ziele in konkrete Politik umzusetzen sind — darüber gehen die Meinungen bis zu einem gewissen Grade auseinander (Sozialstruktur).

 

Diese Ziele stellen Aufgaben, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassen und in der Etappe der Vollendung der sozialistischen Gesellschaft, in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, gelöst werden müssen. Im einzelnen sind die Vorstellungen für die Gestaltung dieser Entwicklungsphase im Programm der SED von 1976 festgeschrieben (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands [SED], XIV).

 

In der sich vervollkommnenden „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, so führen Buhr und Kosing weiter aus, werden die „unmittelbaren Voraussetzungen des Kommunismus“ geschaffen, wobei der Übergang zum Kommunismus seinerseits als ein „relativ lang andauernder“ und „allmählicher“ Prozeß angesehen wird.

 

Diese Gesamtkonzeption des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus, des Aufbaus und der Vollendung des Sozialismus bezieht neben nationalen auch internationale Entwicklungen ein. Entstehung, Auf- und Ausbau des Sozialismus in einem oder mehreren Ländern bewirken eine Veränderung der internationalen Beziehungen. Das gilt, intern, für das Sozialistische Weltsystem (Internationalismus, Proletarischer) und, extern, für die Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern (Friedliche Koexistenz).

 

D. Die Zukunftsgesellschaft

 

 

Nach Vollendung des Sozialismus beginnt, entsprechend der Lehre des ML, erst die eigentliche Geschichte der Menschheit, der Kommunismus. Während Marx diese Epoche noch eher philosophisch charakterisierte als eine Vernichtung der „Fremdheit“, mit der sich die Menschen zu ihrem Produkt und ihren Mitmenschen verhalten, werden heute vom offiziellen ML der DDR (pseudo-)utopische Vorstellungen verbreitet, die politisch-ökonomisch geprägt und teilweise recht handfest sind.

 

In der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft, so behaupten die Theoretiker des DDR-ML, werde das Verteilungsprinzip lauten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ In dieser Losung treten, im Vergleich zu ihrem Pendant für den Sozialismus, die „Bedürfnisse“ an die Stelle der „Leistung“. Mit dem Leistungsprinzip begründete und begründbare gesellschaftliche Differenzierungen sollen also in der kommunistischen Gesellschaft entfallen. Der einzelne, von dem angenommen wird, daß er seine Fähigkeiten voll für das gesellschaftliche Gesamt einsetzt, könne alle seine Bedürfnisse in dieser Gesellschaft befriedigen. Zwischen diesen Bedürfnissen und den gesamtgesellschaftlichen Zielsetzungen würde in dieser neuen Gesellschaft kein Widerspruch mehr bestehen.

 

Dies ist vor dem Hintergrund der philosophischen [S. 872]Vorstellungen über die Arbeit und die Arbeitsteilung zu sehen: Im Kommunismus arbeite der einzelne „für das Wohl der Gesellschaft“, die Arbeit sei ihm „erstes Lebensbedürfnis“. Es werde in dieser Gesellschaft zwar möglicherweise noch Arbeitsteilung und damit an die ehemaligen Klassen erinnernde Unterschiede geben. Jedoch hätten diese eine andere Qualität als im Kapitalismus und auch noch im Sozialismus; denn in dem dialektisch gesehenen Geschichtsverlauf findet vor Beginn des Kommunismus ein Qualitätssprung statt, der in etwa mit dem verglichen werden kann, der sich ereignete, als die „natürliche“ Arbeitsteilung der Urgesellschaft zur „gesellschaftlichen“ Arbeitsteilung wurde (vgl. oben Kap. ML II. C. 1.).

 

Im einzelnen wird die kommunistische Zukunftsgesellschaft wie folgt beschrieben: „Die materiell technische Basis des Kommunismus wird durch ein mächtiges Produktionspotential charakterisiert sein. Sie wird sich durch komplexe Elektrifizierung, Mechanisierung und Automatisierung der Produktion, durch eine optimale Struktur der gesellschaftlichen Produktion, durch eine rationelle territoriale Verteilung der Produktivkräfte und die gleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Territorien, durch die effektivste Verwendung der Naturreichtümer und der gesellschaftlichen Arbeitskraft und die Sorge um ihre Reproduktion sowie durch die planmäßige wissenschaftliche Organisation der Produktion, der Arbeit und der Leitung im Maßstab der gesamten Gesellschaft auszeichnen. Im Kommunismus wird sich die Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft und die Produktion in technologische Anwendung der Wissenschaft verwandeln.“ (Buhr/Kosing, Kleines Wörterbuch …, S. 303)

 

Die Phase der „Diktatur des Proletariats“ werde im Kommunismus beendet sein. In Vollendung ihrer historischen Mission habe die Arbeiterklasse alle Klassenunterschiede überwunden und sich selbst als Klasse aufgehoben. Der Staat als ihr politisches Machtinstrument sterbe ab. „Absterben des Staates“ allerdings bedeutet, nach den neueren Vorstellungen der Staats- und Rechtswissenschaftler in der DDR, nicht, daß der Staat „ersatzlos“ verschwindet. Vielmehr würden „seine leitenden, planenden und organisierenden Funktionen … in einem qualitativ neuen, höherentwickelten Mechanismus der gesellschaftlichen Leitung und Planung aufgehoben“ (Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrbuch, 3., bearb. Aufl., Berlin [Ost] 1980, S. 275). Diesen „Mechanismus“ stellt man sich konkret im Sinne der „Leitung der Gesellschaft durch Organe der gesellschaftlichen Selbstverwaltung“ vor. Gleichzeitig betont man die Notwendigkeit einer „gesellschaftlich verbindlichen Ordnung“ und der „gesellschaftlichen und persönlichen Disziplin“, die vor allem durch „moralische Einwirkung“ zustande kämen. Obgleich in diesem Zusammenhang von Qualitäten gesprochen wird, „die heute auch theoretisch noch schwer vorstellbar“ seien, wird hier doch ein Zukunftsentwurf propagiert, der dem gegenwärtigen DDR-Horizont in bemerkenswerter Weise verhaftet bleibt.

 

IV. Lehre und Forschung

 

 

Der ML, als Grundlage der Gesellschaftswissenschaften wie der Natur- und Technikwissenschaften, ist obligatorisches Lehr- und Studienfach für jeden Schüler und Studenten in der DDR (Erziehung, Politisch-ideologische, bzw. Erziehung, Staatsbürgerliche; Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), XVI.; Universitäten und Hochschulen, V.). So gibt es an allen Universitäten und Hochschulen Sektionen/Institute für ML und/oder Wissenschaftlichen Kommunismus, und es existieren einheitliche, vom Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen autorisierte Lehrprogramme, etwa für die „Grundstudienrichtung marxistisch-leninistische Philosophie“ (neueste Fassung auszugsweise in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1/1982, S. 89 ff.).

 

Die Lehre erfolgt auf der Grundlage von parteiamtlichen Lehrbüchern. In den 50er und 60er Jahren waren dies aus dem Russischen übersetzte Werke. Erst 1967 erschien das „erste umfassende deutsche Lehrbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie“ (Leitung und Redaktion: Alfred Kosing). Seitdem haben die DDR-Vertreter des ML — in Zusammenarbeit mit sowjetischen Kollegen und unter Verarbeitung der sowjetischen Lehrmeinungen — weitere eigene Lehrbücher herausgegeben.

 

Für die Forschung auf dem Gebiet des ML, soweit es sich um philosophische und politische Fragen handelt, sind zwei Wissenschaftliche Räte (WR) zuständig: der WR für marxistisch-leninistische Philosophie (Leiter: Prof. Dr. Erich Hahn) an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG) und der WR für Grundfragen des ideologischen Kampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus (Leiter: Prof. Dr. Manfred Buhr) an der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW). Ferner besteht an der ZK-Akademie ein Rat für Wissenschaftlichen Kommunismus (Leiter: Prof. Dr. Rolf Reißig).

 

Hahn und Buhr sind gleichzeitig die Direktoren der philosophischen Institute bei den genannten Akademien: Hahn leitet das Institut für Marxistisch-Leninistische Philosophie und Buhr das Zentralinstitut für Philosophie. Zu den auf dem Gebiet der philosophischen Forschung wichtigen Institutionen gehört ferner das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML).

 

Maßgebliches Organ der philosophischen Diskussion und Berichterstattung ist die 1984 im 32. Jahr erscheinende, vom Deutschen Verlag der Wissenschaften veröffentlichte „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ (zu ihrer Entwicklung bis Anfang der [S. 873]60er Jahre aus offizieller DDR-Sicht vgl.: Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie …, Bd. 3, S. 643 ff.). Wichtig ist ferner das seit 1965 veröffentlichte Informationsbulletin „Aus dem philosophischen Leben der DDR“, das die Zentralstelle für philosophische Information und Dokumentation der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG) herausgibt.

 

Für die verschiedenen Gebiete des ML wird die Forschung durch den „Zentralen Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften“ programmiert (vgl. für die gegenwärtig gültige Planperiode: Einheit, H. 12/1980, S. 1231 ff., Pkte. 07 und 12; über einige Aktivitäten aus der vergangenen Planperiode vgl. die Kurzberichte in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ [H. 8/1981, S. 928 ff.]).

 

Zentrale Problemfelder der gegenwärtigen Arbeit sind, nach E. Hahn (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 9/1982, S. 1144 ff.), die Fragen von „Krieg und Frieden“ sowie die „Dialektik des entwickelten Sozialismus“ bzw. „der sozialistischen Gesellschaft“. Ähnlich wie die anderen Gesellschaftswissenschaften orientieren sich die Philosophen an der „Praxis“. Ein von DDR-Philosophen ausgearbeitetes Arbeitspapier, das der XVI. Internationalen Beratung der Redaktionen philosophischer und soziologischer Zeitschriften europäischer sozialistischer Länder vorgelegen hat und in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ (H. 9/1982, S. 1152 ff.) veröffentlicht wurde, fordert in diesem Zusammenhang eine zwar „offene“, aber gleichermaßen „enge und untrennbare Verbindung mit der Politik der Partei der Arbeiterklasse, mit der gesellschaftlichen Praxis, mit dem gesellschaftlichen Leben in seiner ganzen Vielfalt“.

 

Solche im Selbstverständnis des ML positiv interpretierte Praxisbindung macht die Grenzen zwischen Philosophie, Wissenschaftlichem Kommunismus und politischer Propaganda fließend. Es verwundert daher nicht, wenn in dem erwähnten Arbeitspapier die folgende programmatische Forderung steht: Die marxistisch-leninistische Philosophie in den 80er Jahren muß sich „mehr denn je der Aufgabe widmen, im Kampf des Humanismus und Realismus gegen Antihumanismus und Irrationalismus in der Lebensfrage der Menschheit, der Sicherung des Friedens, voll ihre Wirkungskraft zu entfalten“.

 

V. Zur Kritik und Bewertung

 

 

Unter systematisch-analytischen Gesichtspunkten können folgende Funktionen des ML unterschieden werden:

  • eine Weltanschauungsfunktion (d.h. den Orientierungsrahmen für das Denken und Handeln der Menschen zur Verfügung zu stellen);
  • eine Integrationsfunktion (d.h. die Einheit der Teile und Axiome des Gesamtsystems immer wieder herzustellen, die Reinheit der Lehre zu gewährleisten und die verschiedenen in der Praxis wirksamen „Interessen“ zu absorbieren);
  • komplementär zur Integrations- eine Abwehrfunktion (d.h. die gegnerischen philosophischen Systeme und die politischen Gegner zu bekämpfen);
  • eine wissenschaftlich-theoretische Funktion (d.h. die Grundlagen für Natur-, Technik- und Gesellschaftswissenschaften sowie die gesellschaftliche Praxis bereitzustellen und neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis richtig, also gemäß den objektiven Gesetzmäßigkeiten, zu interpretieren);
  • eine politisch-ideologische Funktion (d.h. die theoretischen Erkenntnisse in politische Aktion umzusetzen und politische Entscheidungen ideologisch aufzuarbeiten, zu rechtfertigen);
  • eine politisch-erzieherische Funktion (d.h. das richtige gesellschaftliche Bewußtsein herauszubilden oder weiterzuentwickeln).

 

Art und Umfang der Funktionen machen deutlich, daß der ML ein äußerst komplexes Phänomen mit totalem, alle Lebensäußerungen der Menschen regelndem, Anspruch darstellt.

 

Der ML in seinen mannigfachen Funktionen und Ausprägungen, aber vor allem in seiner Gestalt als „herrschende Ideologie“ in kommunistisch regierten Staaten ist extern (doch auch intern) von den verschiedensten Positionen aus interpretiert, kritisiert und bekämpft worden. In der entsprechenden, umfangreichen Literatur lassen sich folgende „Interpretationsweisen“ unterscheiden: der ML als ein „(pseudo-)religiöses Phänomen“ (a), als „Rechtfertigungsideologie“ (b), als „Verrat“ oder „Abirrung“ vom ursprünglichen Marxismus ©, als „spezifisch russisches Phänomen“ (d), als „philosophisches System“ unter Zugrundelegung philosophischer und theologischer Kategorien und Vorstellungen unterschiedlicher Provenienz (e), als „Perversion“ im Sinne einer (unzulässigen) Dogmenbildung (f) (nach: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Freiburg usw., Bd. 4, 1971, Sp. 371 ff.).

 

Auch in der DDR hat es an Kritikern nicht gefehlt (Abweichungen; Revisionismus), und der DDR-ML ist aus bundesrepublikanischer Sicht vielfach behandelt worden (vgl. die am Ende des Handbuchs, Sachgruppe 27, zitierten Arbeiten). Doch die Forschungsmängel und -lücken sind beachtlich (vgl. Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung, hektografiertes Manuskript, BMB, März 1978, S. 400 ff.).

 

Eines der politikwissenschaftlich-soziologischen Hauptprobleme, die Durchdringung der DDR-Gesellschaft mit den Lehren des ML, also die tatsächliche Bedeutung des ML in der politisch-gesellschaftlichen Praxis der DDR, ist so gut wie unerforscht. Hier sind nur mehr oder weniger spekulative Aussagen möglich, die sich bestenfalls auf (literarische) Äußerungen von Einzelpersonen, die in der DDR [S. 874]leben und wirken oder dort gelebt und gewirkt haben, stützen.

 

Rudolf Bahro stellt in seinem in der DDR verfaßten, dann in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten Buch „Die Alternative“ (Köln-Frankfurt am Main 1977, S. 281) für die an der Macht befindlichen kommunistischen Parteien fest, daß es dort bis hinauf in die Spitze noch Menschen gibt, bei denen „bis heute ein Rest weltanschaulich-moralischer Loyalität erhalten“ geblieben ist — und sei es nur, so seine Interpretation, aufgrund eines „schlechten Gewissens“. Damit macht er darauf aufmerksam, daß das kodifizierte Selbstverständnis des ML (vgl. vor allem oben Kap. ML I.) durchaus einen Bezug zur politischen Wirklichkeit der DDR hat. Damit gibt Bahro einen Hinweis darauf, daß der ML im politischen System der DDR nicht nur eine instrumentelle, sondern auch eine weltanschaulich-ideologische Größe darstellt: Er ist Herrschaftsinstrument und politische Heilslehre. Sein Anspruch und seine Wirksamkeit erstrecken sich nach innen, auf die Herrschenden wie die Beherrschten, aber auch nach außen. Gemäß der Radikalität politisch-messianischen Denkens ist die Welt zweigeteilt: in „Freunde“ und „Feinde“ (Antikommunismus; Frieden; Imperialismus; Internationalismus, Proletarischer; Krieg).

 

Peter C. Ludz (†) / Ursula Ludz

 

Literaturangaben

  • Buhr, M., u.a. Kosing: Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie. 4., überarb. Aufl. Berlin (Ost): Dietz 1979; Opladen: Westdeutscher Verl. 1979.
  • Dialektik des Sozialismus. Autorenkoll. u. Ltg. v. A. Kosing. Berlin (Ost): Dietz 1981.
  • Geschichte der marxistischen Dialektik. 2 Bde. Berlin (Ost): Dietz 1974 u. 1976.
  • Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in Deutschland. 3 Bde. Berlin (Ost): Dietz 1969 ff.
  • Großer, G.: Der Gegenstand des wissenschaftlichen Kommunismus. Methodologische Probleme seiner Bestimmung. Berlin (Ost): Dietz 1981.
  • Grundlagen des Marxismus-Leninismus. 2 Teile. Berlin (Ost): Dietz 1974.
  • Grundlagen des historischen Materialismus. Leiter d. wiss. Redaktion: E. Hahn. Berlin (Ost): Dietz 1979.
  • Wissenschaftlicher Kommunismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. 4. Aufl. Berlin (Ost): Deutscher Verl. d. Wissenschaften 1983.
  • Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. 10., überarb. Aufl. Berlin (Ost): Dietz 1983.
  • Philosophenlexikon. Hrsg.: E. Lange u. D. Alexander. Berlin (Ost): Dietz 1982.
  • Marxistisch-leninistische Philosophie. Lehrbuch. Leitung und Redaktion: A. Kosing. Berlin (Ost): Dietz 1967.
  • Philosophischer Revisionismus. Quellen, Argumente, Funktionen im ideologischen Klassenkampf. Wissenschaftl. Redaktion: E. Fromm u. V. Wrona. Berlin (Ost): Dietz 1977.
  • Wittich, D., K. Gößler u. K. Wagner: Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie. Berlin (Ost): Deutscher Verl. d. Wissenschaften 1978.
  • Wörterbuch des wissenschaftlichen Kommunismus. Berlin (Ost): Dietz 1982.
  • Philosophisches Wörterbuch. Hrsg.: M. Buhr und G. Klaus. 2 Bde. 11., gegenüber der 10., neu bearbeiteten und erweiterten Aufl. (1974), unveränderte Aufl. Leipzig: Bibliographisches Institut 1975.
  • Die Werke von Marx, Engels und Lenin wurden nach folgenden Ausgaben zitiert: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Hrsg.: Institut für Marxismus- Leninismus beim ZK der SED. 39 Bde. Berlin (Ost): Dietz 1956 ff.; W. I. Lenin: Werke. Ins Deutsche übertragen nach der 4. russischen Ausgabe. Hrsg.: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 40 Bde. Berlin (Ost): Dietz 1961 ff.

 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 858–874


 

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z Maschinenbau

 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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