DDR von A-Z, Band 1985

Mitbestimmungs-, Mitgestaltungs-, Mitwirkungsrechte (1985)

 

 

Siehe auch:


 

Die Verfassung der DDR von 1968 (unverändert i. d. F. v. 7. 10. 1974) spricht in ihrem Artikel 21 jedem Bürger ein umfassendes Mitbestimmungsrecht zu. Die Begriffe Mitbestimmung, Mitgestaltung und Mitwirkung werden dabei ohne inhaltliche Abstufung in wesentlich gleicher Bedeutung verwendet. Die Ende der 50er Jahre geprägte Agitationslosung: „Arbeite mit, plane mit, regiere mit“, ist an der gleichen Stelle in den Rang eines verfassungsbestimmenden Grundsatzes erhoben worden.

 

Zum Verständnis dieser an vielen Stellen der Verfas[S. 915]sung und in wesentlichen Gesetzeswerken (z.B. Arbeitsgesetzbuch [AGB] der DDR) wiederkehrenden Begriffe ist auf die Selbstdeutung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu verweisen. Nach dieser Auffassung ist durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln die gleichberechtigte Mitwirkung aller Bürger möglich und zugleich zu einer staatsbürgerlichen Pflicht geworden. Nur „fehlende Einsicht“ in die gegebenen neuen Strukturen und „moralisch verwerflicher Eigennutz“ können den einzelnen daran hindern, seine eigene Initiative in die Diskussion und Entscheidung einzubringen sowie sich an der Ausführung getroffener Beschlüsse nach besten Kräften zu beteiligen. Recht auf Mitwirkung, Bindung an getroffene Entscheidungen und deren Durchführung werden demnach als eine (konfliktreiche) Einheit gesehen.

 

Das in Art. 21,1. der Verfassung der DDR ausgesprochene „Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten“, ist auf diesem ideologischen Hintergrund in ein spezifisches Grundrechtsverständnis (Grundrechte, Sozialistische) eingebunden. Die Aussage: „Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt“ (Art. 2,1,1) erfährt ihre Konkretisierung in Art. 1,1 der Verfassung, in dem die DDR als „sozialistischer Staat“, als „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ gekennzeichnet wird. Die prinzipiell als gleich angenommene Stellung aller Gesellschaftsmitglieder (durch das Vorherrschen des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln) und die daraus hergeleitete Übereinstimmung ihrer grundsätzlichen Interessen, läßt in diesem Verständnis keinen Raum für Gewaltenteilung (an ihre Stelle tritt das Postulat von der Gewalteneinheit) und den Kampf konkurrierender Parteien. Forderungen nach Gewaltenteilung ebenso wie Parteienkonkurrenz und Verbändeautonomie werden vielmehr als Versuch einer willkürlichen Aufspaltung der nunmehr einheitlichen Gesellschaft, als Ausdruck einer dem Sozialismus feindlichen, bürgerlichen Ideologie („Theorie des Pluralismus“) abgelehnt. Trotzdem stellt sich auch aus marxistisch-leninistischer Sicht die „Einheit“ der sozialistischen Gesellschaft weder „spontan“ her, noch ist diese (als einmal hergestellte) eine statische Größe. Zu ihrer immer erneuten Verwirklichung bedarf es grundsätzlich des „bewußten“ Handelns der kommunistischen Partei (Art. 1,1) als des entscheidenden Leitungsorgans, das die Gesellschaft zusammenfaßt und mit Hilfe des Staatsapparats, der Gesetze, der Massenorganisationen, die letztlich von ihr formulierten und konkretisierten gesellschaftlichen Interessen in politisch-soziales Handeln umsetzt. Da die SED entsprechend den Interpretationen des Marxismus-Leninismus die gegenwärtig existierende Herrschafts- und Gesellschaftsordnung als eine Gesellschaft im Wandel zu einer „entwickelten sozialistischen“ und weiter zu einer „kommunistischen“ Gesellschaft versteht und das Vorhandensein verschiedener Gesellschaftsklassen und Schichten nichtantagonistischer Art anerkennt, ergibt sich daraus ein weiterer Rechtfertigungsgrund für ihren politischen und sozialen Primat, da dieser Umwandlungsprozeß der straffen, einheitlichen Leitung und der nur in der SED gegebenen theoretisch-ideologischen Einsicht bedarf.

 

Die Form, in der die SED ihre Herrschaft ausübt und der Mitwirkung die Grenzen setzt, ist der Demokratische Zentralismus (Art. 47,2). Mit diesem Organisationsgrundsatz steht das Prinzip der Einzelleitung, das bei kollektiver Beratung dem einzelnen Funktionär in seinem Entscheidungsbereich die alle Nachgeordneten bindende Entscheidungskompetenz gibt, in unmittelbarem Zusammenhang.

 

Der sich aus diesen Grundsätzen ergebende Spielraum für Mitwirkung ist an die Beschlüsse der Partei und des Staatsapparats auf allen Ebenen des Herrschafts- und Gesellschaftsaufbaus gebunden; er ist darüber hinaus organisatorisch vorgegeben in den bestehenden Institutionen (z.B. Volksvertretungen; Massenorganisationen; Betriebsgewerkschaftsorganisationen [BGO]; Nationale Front der DDR). Mitwirkung erstreckt sich einmal auf die Phase der Entscheidungsvorbereitung, ohne in die Leitungsverantwortlichkeit einzugreifen, zum anderen auf die Entscheidungsausführung mit dem Ziel, optimale Lösungen zu finden (Sozialistischer Wettbewerb). Sie kann als ein Instrument der Entscheidungsoptimierung begriffen werden, wobei die prinzipiellen Inhalte durch Parteibeschlüsse, Planvorgaben, gesetzliche Bestimmungen usw. festgelegt sind. Mitwirkung vermag Initiativen zur Behebung von Schwierigkeiten bei der Verwirklichung getroffener Beschlüsse auszulösen, willkürliche Maßnahmen und Gesetzesverletzungen kontrollierend anzuzeigen, die Berücksichtigung vernachlässigter, partikularer Interessen nahezulegen.

 

Die Betonung der Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag der SED (1971) hat zusätzliche Möglichkeiten für die Artikulation von wirtschaftlichen und sozialen Interessen im Rahmen der vorgegebenen staatlichen und gewerkschaftlichen Institutionen eröffnet. Das seit dem 1. 1. 1978 in Kraft befindliche neue Arbeitsgesetzbuch der DDR hat die M. der BGO erweitert. Die darin sichtbar werdenden Tendenzen zur Ausweitung der Sozialistischen ➝Demokratie sind jedoch daran gebunden, ob und in welchem Umfang die Mitwirkungsgremien von den Betroffenen als ihre eigenen Interessenvertretungen akzeptiert werden.

 

Die Vielfältigkeit der Mitwirkungsorgane, die große Zahl der in ihnen wirkenden Bürger und die sich in ihnen ständig vollziehenden Diskussionsprozesse führen zu einem ausgedehnten Informationsangebot sowohl für diejenigen, die Entscheidungen ausführen, als auch für die, die sie letztlich treffen. Damit ist eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit der Identifikation mit den jeweiligen Aufgaben geschaffen, deren Auswirkung allerdings von der Qualität der Informationen und der Berücksichtigung kritischer Beiträge in den Entscheidungen abhängt. Die Bedeutung der Mitwirkung liegt vor allem auf der unteren Ebene in den Gemeinden und [S. 916]Betrieben, da dort von ihrem Funktionieren oder Versagen Klima und Effektivität staatlicher und wirtschaftlicher Leitungstätigkeit sichtbar und unmittelbar bestimmt werden. Interessen/Interessenidentität.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 914–916


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.