DDR von A-Z, Band 1985

Nation und nationale Frage (1985)

 

 

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Seit ihrem VIII. Parteitag im Juni 1971 vertritt die SED die Ansicht, daß die NF. auf deutschem Boden endgültig von der Geschichte „entschieden“ sei. Honecker erklärte vor dem Parteitag, man müsse bei der Einschätzung der NF. „von ihrem Klasseninhalt ausgehen“: Während in der Bundesrepublik Deutschland die „bürgerliche Nation“ fortbestehe, deren Wesen durch den „unversöhnlichen Klassenwiderspruch zwischen der Bourgeoisie und den werktätigen Massen“ bestimmt werde, entwickle sich in der DDR die „sozialistische Nation“.

 

Im Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR 1972 konnte eine gemeinsame Deutung der NF. nicht mehr gefunden werden. Die Bundesregierung hielt an ihrer Überzeugung fest, daß die Einheit der N. ein verbindendes Element zwischen den Deutschen in beiden Staaten sei. Dem widersprach die DDR. Beide Seiten kamen schließlich überein, den Vertrag unbeschadet ihrer unterschiedlichen Auffassungen „zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage“ abzuschließen.

 

Wenn Repräsentanten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) schließlich betonten, es gäbe „nicht zwei Staaten einer Nation, sondern zwei Nationen in Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung“ (A. Norden, Fragen des Kampfes gegen den Imperialismus, Berlin [Ost] 1972, S. 22), so stand diese Interpretation der NF. in klarem Gegensatz zu der von der SED bis 1969 eingenommenen Position. Während der ersten zwei Jahrzehnte der Geschichte der DDR versicherte die SED stets, daß die Wiederherstellung des einheitlichen deutschen Nationalstaates ein wichtiges Ziel ihrer Politik sei: „Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unserer Heimat unsere Brüder sind, weil wir unser Vaterland lieben, weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist und jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt.“ (W. Ulbricht in seinem Schlußwort auf dem IV. SED-Parteitag 1954)

 

Im Dezember 1960 bezeichnete Ulbricht vor dem Zentralkomitee (ZK) der SED die Ansicht, daß zwei deutsche N. entstehen könnten, als „falsche Perspektive“. Im Mittelalter habe es geschehen können, daß sich vom Körper der deutschen N. einzelne Glieder lösten und zu selbständigen N. wurden. Sobald sich jedoch erst einmal eine moderne N. herausgebildet habe, sei „trotz vorübergehender Spaltung die Wiederherstellung der Einheit der Nation historisch unvermeidlich“.

 

In den 50er Jahren bediente sich die DDR des Attributs „national“ häufig zur Charakterisierung wesentlicher Elemente und Institutionen ihrer Politik (Nationale Front der DDR; Nationale Geschichtsbetrachtung seit 1952; Nationale Volksarmee (NVA); Nationales Aufbauwerk [NAW]). Bei der Definition des Begriffs N. folgte sie zunächst der Begriffsbestimmung Stalins aus dem Jahre 1913: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der [S. 925]Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“ (Stalin in „Marxismus und nationale Frage“) Seit 1962 ist diese Definition Stalins mehrfach als formal und abstrakt kritisiert worden, ohne daß es jedoch der SED gelang, eine neue verbindliche Kurzformel zu finden. In der „Einheit“ (Heft 5, 1962) bezweifelte A. Kosing die Verwendbarkeit der zuvor stets als verbindlich anerkannten Begriffsbestimmung Stalins mit dem Hinweis darauf, daß N. auf bestimmten sozialökonomischen Grundlagen gewachsen seien und daß im Osten und Westen unterschiedliche Entwicklungsstufen existierten. Die Schlußfolgerung, in Deutschland entstünden mithin zwei N., lehnte Kosing indessen ab.

 

Nachdem Ulbricht 1962 — nach der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation in der Kuba-Frage — einen „nationalen Kompromiß“ zur Lösung der NF. der Deutschen auf der Grundlage Friedlicher Koexistenz zwischen beiden Staaten empfohlen hatte, ohne den Inhalt eines solchen Kompromisses näher zu erläutern, versicherte die SED in ihrem auf dem VI. Parteitag im Januar 1963 verabschiedeten Programm, sie halte „unverrückbar an ihrem Ziel, der Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands“, fest. Historische Mission der Partei sei es, durch die „umfassende Verwirklichung des Sozialismus“ in der DDR eine feste Grundlage dafür zu schaffen, daß „in ganz Deutschland die Arbeiterklasse die Führung übernimmt, die Monopolbourgeoisie auch in Westdeutschland entmachtet und die nationale Frage im Sinne des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts gelöst wird“. Auch die Verfassung der DDR von 1968 ging in ihrer Präambel und vor allem in den Artikeln 1 und 8 von der Existenz einer deutschen N. in zwei Staaten aus.

 

Nachdem in den 60er Jahren insbesondere sowjetische Ideologen versucht hatten, die von Stalin genannten Kriterien einer N. zu verfeinern und durch weitere Begriffsmerkmale zu ergänzen, ohne daß ihnen eine neue verbindliche Definition gelang, bemühte sich die SED um eine genauere Unterscheidung verschiedener Typen von N.: 1. „Bürgerliche N.“, die — wie die britische und die französische — bereits in einer „vorkapitalistischen“ Periode entstanden seien, 2. „sozialistische N.“ in der Sowjetunion und in den nach 1945 entstandenen Volksdemokratien, 3. aus kolonialer Abhängigkeit befreite N. in Asien und Afrika, 4. die durch „imperialistische Mächte im Bund mit der einheimischen Reaktion“ gespaltenen N. in Deutschland, Korea und Vietnam (E. Hühns, Heimat — Vaterland — Nation, Berlin [Ost] 1969). In der zweiten Hälfte der 60er Jahre legte die SED ferner zunehmend Wert auf eine Unterscheidung der Begriffe „N.“, „Staatsvolk“ und „Bevölkerung“. Die letztere Bezeichnung wurde im Hinblick auf die mehr als 2 Mill. West-Berliner Bürger verwendet, um nicht der Entscheidung darüber vorzugreifen, ob Berlin (West) als eigener Staat mit voller Völkerrechtssubjektivität anzusehen sei. Die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland einerseits, die der DDR andererseits wurden dagegen jeweils als voneinander völlig unabhängige „Staatsvölker“ bezeichnet — 1967 kodifizierte die DDR ein spezifisches Staatsangehörigkeitsrecht aller DDR-Bürger (einschließlich derer, die nach 1949 ohne Genehmigung das Territorium der DDR und Berlin-Ost verlassen hatten). Dennoch hielt die Partei noch bis 1969 daran fest, daß die Deutschen in beiden Staaten zu einer N. gehörten.

 

Anfang 1970 vollzog die SED in der NF. einen abrupten Kurswechsel. Er stellte eine Reaktion auf die Deutschlandpolitik der Bundesregierung dar, die sich in der Regierungserklärung des Kabinetts Brandt-Scheel die Formel „Zwei Staaten — eine Nation“ zu eigen gemacht hatte, sie aber zugleich gegen das Begehren der DDR nach ausdrücklicher Anerkennung ihrer Völkerrechtssubjektivität ins Feld führte, und zudem aus der These vom Fortbestand der N. sowie der fortbestehenden Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes ihre Forderung nach besonderen innerdeutschen Beziehungen ableitete.

 

Die im Art. 1 der Verfassung vom April 1968 enthaltene Charakterisierung der DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation“ wurde seitdem im politischen Sprachgebrauch durch die Bezeichnung „sozialistischer deutscher Nationalstaat“ ersetzt. Die im Widerspruch zur neuen Interpretation der NF. stehenden Verfassungsnormen wurden schließlich von der Volkskammer mit Wirkung vom 7. 10. 1974 abgeschafft: Als „ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ (Art. 1) will die DDR nunmehr verstanden werden. Aus der Präambel der Verfassung wurde der Hinweis auf die Verantwortung für den zukünftigen Weg der „ganzen deutschen Nation“ entfernt. Der 2. Absatz des Art. 8, der die „schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“ postulierte, wurde ersatzlos gestrichen.

 

Für die Führung der DDR stellte die 1969/70 eingeleitete neue Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung insofern eine ernste Herausforderung dar, als sie ihr eigenes Bemühen um die Herausbildung eines spezifischen DDR-Staatsbewußtseins durch intensivere Kontakte und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Deutschen in beiden Staaten behindert und gefährdet sah. Zudem meinte die SED, in dem Rückgriff der Bundesregierung auf die ursprünglich auch von ihr gebrauchte Formel „Zwei Staaten — eine Nation“ ein Instrument zur fortgesetzten Einwirkung auf die innere Entwicklung der DDR sehen zu müssen, obwohl ein solcher Anspruch von der Bundesrepublik nicht geltend gemacht wurde. Im Grundlagenvertrag (Art. 6) war festgelegt worden, daß sich die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten auf sein Staatsgebiet beschränkt und die Unabhängigkeit und Selbständigkeit beider in inneren und äußeren Angelegenheiten zu respektieren ist. Trotzdem fühlte sich die SED durch die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung in die Defensive gedrängt, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Politik der Abgrenzung der DDR findet.

 

Nach Auffassung der SED-Führung läßt derzeit kein Kriterium den Schluß zu, daß eine einheitliche deutsche N. bestünde — weder existiere ein gemeinsames Territorium beider Staaten noch eine gemeinsame Wirtschaft. [S. 926]Auch ein drittes Kriterium — die Gemeinsamkeit bestimmender psychischer und moralischer Eigenschaften — verweise auf diametrale Unterschiede in den Lebensgewohnheiten und Denkweisen der Bürger beider Staaten. Eine gemeinsame Kultur existiere nicht mehr („Denn die herrschende Kultur ist stets die Kultur der herrschenden Klasse“, so A. Norden a.a.O., S. 23), von geschichtlicher Gemeinsamkeit könne angesichts des abweichenden Geschichtsverständnisses ebenfalls nicht mehr gesprochen werden. Schließlich lasse auch die gemeinsame deutsche Sprache keinen Schluß auf den Fortbestand einer N. zu: Deutsch werde in Österreich sowie in Teilen der Schweiz, Luxemburgs und Ostfrankreichs gesprochen, ohne daß daraus die Zugehörigkeit zur deutschen N. abzuleiten sei.

 

Zwar dürfen nach Meinung der SED ethnische Besonderheiten nicht übersehen werden; sie könnten jedoch nicht das Wesen einer N. bestimmen — als das Bestimmende gilt vielmehr die Klassenstruktur, die sozialökonomische Gestalt einer Gesellschaft: „Nationen sind in erster Linie das Resultat grundlegender ökonomischer und sozialer Entwicklungsprozesse und geschichtlicher Klassenkämpfe.“ (H. Axen, Zur Entwicklung der sozialistischen Nation in der DDR, Berlin [Ost] 1973, S. 16)

 

Diese Anfang der 70er Jahre vollzogene Umdeutung der NF. ist in breiten Schichten der Bevölkerung der DDR auf Unverständnis und Widerspruch gestoßen — teilweise sogar bei Mitgliedern der SED, die viele Jahre lang in einer ganz anderen Konzeption geschult worden waren. Im Anschluß an die von der Volkskammer am 7. 10. 1974 beschlossene Verfassungsänderung hielt E. Honecker eine Erläuterung für geboten. Auf der 13. Tagung des ZK der SED erklärte er im Dezember 1974: „Unser sozialistischer Staat heißt Deutsche Demokratische Republik, weil ihre Staatsbürger der Nationalität nach in der übergroßen Mehrheit Deutsche sind … Staatsbürgerschaft — DDR, Nationalität — deutsch. So liegen die Dinge.“ (ND 13. 12. 1974) Das auf dem IX. Parteitag im Mai 1976 verabschiedete Parteiprogramm der SED beschreibt die „sozialistische Nation“ als „eine von antagonistischen Widersprüchen freie, stabile Gemeinschaft freundschaftlich verbundener Klassen und Schichten, die von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführt wird. Sie umfaßt das Volk der Deutschen Demokratischen Republik und ist gekennzeichnet durch den souveränen Staat auf deren Territorium.“ In der DDR wachse ein „sozialistisches Nationalbewußtsein, in dem sich sozialistischer Patriotismus und proletarischer Internationalismus organisch verbinden“.

 

Auf die Bedeutung der NF. im Verständnis der SED hat schließlich im Jahr 1976 A. Kosing in einer umfangreichen Studie hingewiesen: „Das Problem der Nation ist so für uns zu einem wichtigen Feld des ideologischen Klassenkampfes geworden.“ (A. Kosing, Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin [Ost] 1976, S. 16) Die sozialistische N. in der DDR, deren Herausbildung nach Kosing bereits Mitte der 50er Jahre begann, und die „kapitalistische Nation in der BRD“ seien „Entwicklungsformen entgegengesetzter ökonomischer Gesellschaftsformationen“ (a.a.O., S. 99), sie ließen sich nicht vereinigen. Vergleiche mit anderen geteilten Ländern wie Korea und Vietnam hält der Autor nicht für zulässig. Während in diesen außereuropäischen Ländern ein Vereinigungsprozeß möglich bleibe, habe die DDR erkannt, daß ihre „frühere Zielsetzung, die beiden deutschen Staaten zu vereinigen und in einem längeren Entwicklungsprozeß zu einer einheitlichen sozialistischen deutschen Nation zu gelangen, durch die Gestaltung der realen geschichtlichen Bedingungen, durch den Verlauf des Klassenkampfes im nationalen wie internationalen Maßstab gegenstandslos und irreal“ geworden sei (a.a.O., S. 107). Ein „Nachweis der relativen ethnischen Homogenität der sozialistischen Nation in der DDR und der kapitalistischen Nation in der BRD“ zeige nur ihre „gemeinsame geschichtliche Herkunft“, beweise aber nichts hinsichtlich einer „sogenannten Einheit der gegensätzlichen sozialen Organismen“ (a.a.O., S. 146). Kosing legte großen Wert auf die Unterscheidung von N. und Nationalität: „Die sozialistische Nation in der DDR und die kapitalistische Nation in der BRD unterscheiden sich nicht ihrer ethnischen Charakteristik, ihrer Nationalität nach, sondern ihren sozialen Grundlagen und Inhalten nach, weil es sich um zwei qualitativ verschiedene historische Typen der Nation handelt.“ (a.a.O., S. 179)

 

Die Frage, ob zu einem späteren Zeitpunkt — nach einem Sieg der „sozialistischen Revolution“ in der Bundesrepublik Deutschland — wieder eine einheitliche, dann „sozialistische deutsche N.“ entstehen könnte, wollte Kosing „weder positiv noch negativ beantworten. Das wird von geschichtlichen Bedingungen abhängen, die heute niemand vorhersagen kann. Möglich ist verschiedenes.“ (a.a.O., S. 305 f.)

 

Im Entwurf des ZK-Berichts an den IX. Parteitag der SED (1976) war zunächst ein Abschnitt über die Perspektiven zweier N. — einer bürgerlichen und einer sozialistischen — und ihre mögliche Vereinigung im Sozialismus enthalten. In der veröffentlichten Endfassung des Berichts fehlte dieser Aspekt.

 

Bei der Vorbereitung des X. Parteitages der SED (1981) erklärte Honecker: „… wenn der Tag kommt, an dem die Werktätigen der Bundesrepublik an die sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland gehen, dann steht die Frage der Vereinigung beider deutscher Staaten vollkommen neu.“ (ND 16. 2. 1981) Ein am 10. 10. 1983 im ND veröffentlichter Brief Honeckers an Bundeskanzler Kohl endete mit der Feststellung, die DDR schließe sich der Forderung nach einem atomwaffenfreien Europa „im Namen des deutschen Volkes“ an. Auch andere Äußerungen von Sprechern der SED lassen es als nicht ausgeschlossen erscheinen, daß die DDR in einer veränderten und für sie günstigeren Situation einen Rückgriff auf die „nationale“ Argumentation der 50er und 60er Jahre als Mittel einer offensiven Deutschlandpolitik neu entdeckt. Vorerst jedoch bereitet es der SED erhebliche Mühe, die seit Anfang der 70er Jahre gewandelte Interpretation der NF. im eigenen Herrschaftsbereich und auf interna[S. 927]tionaler Ebene zu begründen und zu verteidigen. Deutschlandpolitik der SED; Nationalismus; Staatsbürgerschaft.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 924–927


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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