DDR von A-Z, Band 1985

Oder-Neiße-Grenze (1985)

 

 

Siehe auch:


 

Bezeichnung für die geographische Linie, die von der tschechoslowakischen Grenze dem Lauf der westlichen Neiße folgt und von deren Mündung in die Oder entlang der Oder bis südlich Stettin verläuft. Sie markiert die gegenwärtige Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. (Die ONG. stellt nur einen Teil der Grenze zwischen beiden sozialistischen Ländern dar; im Norden verläuft die Grenze entlang einer Linie, die südlich von Stettin die Oder verläßt, westlich an der Stadt vorbei nach Norden verläuft und westlich von Swinemünde die Ostsee trifft. Durch diese willkürliche Grenzziehung am Ende des II. Weltkrieges fielen auch die Städte Stettin und Swinemünde mit ihrem Hinterland unter polnische Verwaltung.)

 

Im Februar 1945 wurde auf der Krim-Konferenz von Roosevelt, Churchill und Stalin eine Entschädigung Polens für die von der UdSSR annektierten polnischen Ostgebiete auf Kosten Deutschlands anerkannt („Westverschiebung Polens“), ohne daß Vereinbarungen über den Umfang des von Deutschland abzutretenden Gebietes getroffen worden wären. Nach Abschnitt IX des Potsdamer Abkommens wurde die diesbezügliche Meinung der Provisorischen Polnischen Regierung lediglich „geprüft“, doch „bekräftigten die Häupter der drei Regierungen die Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt werden solle“. Ferner ergab die Potsdamer Konferenz darin Übereinstimmung, daß die in Frage stehenden deutschen Gebiete „unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen“.

 

In der Folgezeit wurde von seiten der Westmächte wiederholt auf die ausstehende völkerrechtliche Bestätigung der ONG. verwiesen, während Polen und die UdSSR — möglicherweise von Anfang an — die Vereinbarungen des Potsdamer Abkommens als endgültige Regelung betrachten. Polen paßte den Verwaltungs- und Wirtschaftsaufbau den Verhältnissen im polnischen Kernland an und begann mit einer polnischen Besiedlung der polnisch verwalteten Gebiete. Es wurde dabei von der Tatsache bestärkt, daß nach 1947 keiner der ehemaligen Alliierten an eine Revision der ONG. geglaubt oder sie ernsthaft betrieben hat.

 

Die Haltung der SED zur ONG. hat sich seit Ende des II. Weltkrieges gewandelt.

 

Am 16. 10. 1946 erklärte z.B. einer der beiden Vorsitzenden der SED, W. Pieck: „Wir werden alles tun, damit bei den Alliierten die Grenzfrage nachgeprüft und eine ernste Korrektur an der jetzt bestehenden Ostgrenze vorgenommen wird.“ (Berliner Zeitung, vom 17. 10. 1946) Dagegen heißt es in der Regierungserklärung Grotewohls vom 12. 10. 1949: „Die Oder-Neiße-Linie ist für uns eine Friedensgrenze …“ Im Abkommen der DDR mit der Republik Polen vom 6. 7. 1950 [S. 952](Görlitzer Abkommen) wird die ONG. als „unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze“ bezeichnet und damit der Versuch unternommen, die ONG. völkerrechtlich festzulegen. Im Jahr 1970 behauptete der Erste Sekretär der SED, W. Ulbricht, mit dem Abschluß des Görlitzer Abkommens habe die SED „für alle Deutschen gehandelt“.

 

Die Bundesregierung unter Bundeskanzler W. Brandt und Außenminister W. Scheel unterzeichnete am 7. 12. 1970 in Warschau einen „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“. In diesem Vertrag, als Gewaltverzichtsvertrag apostrophiert, anerkennt die Bundesrepublik (für sich), daß die bestehende Grenze, die ONG., die westliche „Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“ bildet, „unverletzlich“ („jetzt und in der Zukunft“) sei und beide Staaten gegeneinander keine Gebietsansprüche haben.

 

Vorausgegangen war die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages am 12. 8. 1970, der in Art. 3 die Feststellung enthält, daß die Bundesrepublik Deutschland und die UdSSR „heute und künftig die Grenzen der Staaten in Europa als unverletzlich (betrachten), wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, …“

 

Mit der Unterzeichnung und Ratifizierung des Moskauer und Warschauer Vertrages hat die Bundesregierung Verfügungen über den territorialen Status Gesamtdeutschlands nicht vorgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 9. 7. 1975, BVerfGE Bd. 40, S. 141 ff.) ausdrücklich festgestellt, den Verträgen von Moskau und Warschau könne nicht die Wirkung beigemessen werden, „daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität … der Sowjetunion und Polens endgültig unterstellt worden seien“ (a.a.O. S. 171). Die Bundesregierung hat bereits in den Verhandlungen klargestellt, daß sie nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland handeln könne und ein wiedervereinigtes Deutschland durch die Verträge nicht gebunden sei. Diese Auffassung ist den Vertragspartnern vor Unterzeichnung der Verträge in erkennbarer Weise zur Kenntnis gebracht worden. Schließlich stellt die Gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 10. 5. 1972 zu den Verträgen von Moskau und Warschau, die die UdSSR und die VR Polen zur Kenntnis genommen haben, fest: „Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen.“


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 951–952


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.