Staatsverbrechen (1985)
Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979
Sammelbegriff für die im 2. Kapitel des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs behandelten „Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik“. Es handelt sich um Straftatbestände, die bis zum Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes am 1. 2. 1958 im wesentlichen in den Art. 6 der Verfassung von 1949 hineininterpretiert worden waren (Boykott-, Kriegs- und Mordhetze) und die erst durch das Strafrechtsergänzungsgesetz zu selbständigen Straftatbeständen entwickelt wurden. Das StGB fügte dann unter teilweise erheblicher Erweiterung der schon bestehenden noch einige neue Tatbestände hinzu. Durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. 6. 1979 (GBl. I, S. 139) erfolgten eine erneute Ausweitung der Straftatbestände und eine Verschärfung der Strafandrohungen. Gegenwärtig fallen unter St.:
1. Hochverrat (§ 96 StGB). Als H. wird das Unternehmen bestraft, die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung durch gewaltsamen Umsturz oder planmäßige Untergrabung zu beseitigen oder die Unversehrtheit des Territoriums der DDR und ihre Souveränität anzugreifen. Auch Angriffe auf Leben und Gesundheit der führenden Repräsentanten der DDR und gegen deren verfassungsmäßige Tätigkeit werden als H. angesehen. Der strafrechtliche Schutz erstreckt sich nicht nur auf die Staatsordnung, sondern — und hierin kommt die Einheit von Partei und Staat zum Ausdruck — ebenso auf die sozialistische Gesellschaftsordnung. Schließlich ist von der Strafandrohung des H. auch betroffen, „wer es unternimmt, in verräterischer Weise die Macht zu ergreifen“. In diesem Fall braucht der Vorsatz des Täters nicht auf Beseitigung der sozialistischen Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtet zu sein. Einen praktischen Anwendungsfall für diesen 1968 neu eingeführten Tatbestand hat es noch nicht gegeben. Die Strafdrohung für jedes hochverräterische Unternehmen lautet auf Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche Freiheitsstrafe. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden.
2. Landesverrat. Unter die Strafbestimmungen des L. fallen:
a) Spionage (§ 97 StGB). Der strafrechtliche Schutz des Spionage-Tatbestandes erstreckt sich auf Nachrichten oder Gegenstände, die geheimzuhalten sind. Auch hier ist 1968 mit dem neuen StGB eine Ausdehnung des Tatbestandes erfolgt. Als Empfänger von Spionagenachrichten nennt das StGB „eine fremde Macht, deren Einrichtungen oder Vertreter oder einen Geheimdienst oder ausländische Organisationen sowie deren Helfer“. Die Bezeichnung „imperialistischer Geheimdienst“ ist mit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz ebenso weggefallen wie die „Organisationen, deren Tätigkeit gegen die DDR oder andere friedliebende Völker gerichtet ist“. Bestraft wird, wer die geheimzuhaltenden Nachrichten oder Gegenstände sammelt, verrät, ausliefert oder in sonstiger Weise zugänglich macht. Der Tatbestand ist bereits bei Anwerbung für den erwähnten Empfängerkreis erfüllt. Als Strafen sind Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren, in besonders schweren Fällen lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Todesstrafe angedroht.
b) Landesverräterische Nachrichtenübermittlung (§ 99 StGB). Neben der eigentlichen Spionage ist die Sammlung oder Übermittlung nicht geheimzuhaltender Nachrichten an den unter a) erwähnten Empfängerkreis strafbar, wenn dies zum Nachteil der Interessen der DDR geschieht. Damit ist dieser Straftatbestand — früher „Agententätigkeit“ — uferlos ausgedehnt. Angedroht sind Freiheitsstrafen von 2 bis 12 Jahren.
c) Landesverräterische Agententätigkeit (§ 100 StGB). Hiermit wurde der nur für außerhalb der DDR sich aufhaltende Staatsbürger der DDR geltende „landesverräterische Treubruch“ abgelöst. Nunmehr erstreckt sich die Strafdrohung von 1 bis 10 Jahren Freiheitsstrafe gegen jeden, der zu den in § 97 genannten Stellen oder Personen [s. oben unter a)] „Verbindung aufnimmt, oder sich zur Mitarbeit anbietet oder diese Stellen oder Personen in sonstiger Weise unterstützt, um die Interessen der DDR zu schädigen“.
Spionagehandlungen, durch die die militärische Sicherheit gefährdet wird, fallen in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit (Gerichtsverfassung, VI.).
[S. 1303]3. Terror (§§ 101, 102 StGB). T. liegt vor, wenn der Täter mit bewaffneten Anschlägen, Geiselnahmen, Sprengungen, Brandstiftungen, Zerstörungen, Havarien oder anderen Gewaltakten das Ziel verfolgt, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung zu leisten oder Unruhe hervorzurufen. In dieser Zielsetzung liegt das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zu anderen Straftatbeständen (Brandstiftung, Widerstand gegen die Staatsgewalt). Wichtige Schutzobjekte dieser Strafbestimmung sind die Mauer in Berlin und die Sperren an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland. Häufig wurde von der Rechtsprechung ein Fluchtunternehmen („Grenzdurchbruch“) als T. (früher „Terrorismus“) gewertet und hart bestraft. Strafrechtlichen Schutz vor terroristischen Angriffen genießen nach § 102 StGB auch die Funktionäre, und zwar nicht nur die im Staatsapparat tätigen, sondern auch diejenigen, die ausschließlich gesellschaftliche Tätigkeiten ausüben, z.B. hauptamtliche Partei-, FDGB- und FDJ-Funktionäre. Auch hier muß beim Täter die Zielvorstellung bestehen, daß er mit seinem Angriff die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der DDR schädigen will. Die Strafandrohung für beide Arten von T. lautet auf Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren, in besonders schweren Fällen auf lebenslängliche Freiheitsstrafe oder auf Todesstrafe.
4. Diversion (§ 103 StGB). Dieser Begriff wurde durch den Befehl 160 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) in das Strafrecht eingeführt. Unter Strafe gestellt sind das Zerstören, Unbrauchbarmachen, Beschädigen und Beiseiteschaffen von Maschinen, technischen Anlagen, Gebäuden u.a.m., was für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, die Volkswirtschaft oder die Verteidigung wichtig ist. Beim Täter muß die Zielsetzung bestehen, die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR zu schädigen. Die Strafdrohung ist Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren, in besonders schweren Fällen lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Todesstrafe. In der strafrechtlichen Praxis der DDR wird dieser Tatbestand seit Jahren vereinzelt bei Brandstiftungen auf dem Lande herangezogen.
5. Sabotage (§ 104 StGB). Auch dieses Staatsverbrechen stammt ursprünglich aus dem SMAD-Befehl Nr. 160, der bei den zum Zwecke der Enteignung durchgeführten Strafverfahren der 50er Jahre eine wichtige Rolle spielte. Das StGB versteht unter S. das mit dem Ziel der Untergrabung oder Schwächung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und unter Mißbrauch einer Funktion oder Stellung oder durch Irreführung der zuständigen staatlichen oder volkswirtschaftlichen Organe vorgenommene Durchkreuzen oder Desorganisieren der planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft oder der Erfüllung der Volkswirtschaftspläne oder der Tätigkeit der Staatsorgane, gesellschaftlicher Organisationen, Verteidigungsmaßnahmen oder Außenwirtschaftsmaßnahmen der DDR. Damit wurde der Tatbestand gegenüber der alten Bestimmung des Strafrechtsergänzungsgesetzes erweitert. Angedroht ist Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren, in besonders schweren Fällen lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Todesstrafe.
6. Staatsfeindlicher Menschenhandel (§ 105 StGB). Im Jahre 1955 hatte das Oberste Gericht begonnen, für die Aufforderung zum Verlassen der DDR oder für die Hilfe bei der Republikflucht den Straftatbestand der Abwerbung zu entwickeln, die als eine Erscheinungsform der Boykotthetze im Sinne des Art. 6 der alten Verfassung gewertet wurde. Das Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. 12. 1957 (GBl. S. 643) formulierte diesen Tatbestand dann als „Verleitung zum Verlassen der DDR“ und enthielt Strafandrohungen bis zu 15 Jahren Zuchthaus. Mehr und mehr ging die allgemeine Sprachregelung von „Abwerbung“ über auf „Menschenhandel“ und „Schleusungsverbrechen“, bis dann in § 105 StGB der StM. formuliert wurde. Für dessen Abgrenzung zu dem an anderer Stelle im StGB (§ 132) geregelten kriminellen M. und Mädchenhandel sollen in erster Linie die Zielsetzung des Täters, die beim StM. auf Schädigung der DDR gerichtet sein muß, oder seine Zusammenarbeit mit den in § 97 genannten Stellen oder Personen [s. o. 2 a)] entscheidend sein. Hier hat es in der Rechtsprechung seit 1979 eine merkwürdige Differenzierung gegeben (Republikflucht). Der äußere Tatbestand wird mit „abwirbt, verschleppt, ausschleust“ beschrieben. Gegenüber dem früheren Rechtszustand ist eingefügt worden der Straftatbestand, jemanden an der Rückkehr in die DDR zu hindern, und das 3. Strafrechtsänderungsgesetz bedroht jeden zusätzlich mit Strafe, der „in sonstiger Weise an der Tat mitwirkt“. Die Strafdrohung für alle Formen des StM. ist Freiheitsstrafe von 2 bis zu 15 Jahren; in besonders schweren Fällen kann auf lebenslängliche Freiheitsstrafe erkannt werden (2. Strafrechtsänderungsgesetz vom 7. 4. 1977, Anlage I, Ziff. 14 — GBl. I, S. 100).
In der Praxis spielt § 105 StGB vor allem seit Inkrafttreten des Transitabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Kampf gegen westliche Fluchthelfer eine große Rolle. Mit den vor dem Ost-Berliner Stadtgericht vom 30. 10. bis 5. 11. 1973 und vom 20. 1. bis 26. 1. 1976 durchgeführten Verfahren (Schauprozesse) sollte der Nachweis geführt werden, daß Bundesregierung und Senat von Berlin (West) durch Duldung und sogar aktive Förderung der Fluchthelfergruppen sich einer völkerrechtswidrigen Verletzung des Transitabkommens schuldig machten. Zahlreiche weitere Prozesse, auch vor Bezirksgerichten, folgten. Die verhängten Strafen waren hart; sie erreichten in mehreren Fällen 15 Jahre Freiheitsentzug.
Aus der Zeit vom 4. 6. 1972 (Inkrafttreten des Viermächte-Abkommens) bis zum 31. 3. 1984 sind 831 Verurteilungen wegen StM. bekanntgeworden.
7. Staatsfeindliche Hetze (§ 106 StGB). Dieser Straftatbestand hat seine Vorgänger in der „Boykotthetze“ in Art. 6 der Verfassung von 1949 (Strafrecht) und in der mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz am 1. 2. 1958 eingeführten „staatsgefährdenden Propaganda und Hetze“. Jetzt wird als Tatbestandsverwirklichung der Angriff oder die Aufwiegelung gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und [S. 1304]Gesellschaftsordnung der DDR durch das Einführen, Herstellen, Verbreiten oder Anbringen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR „diskriminierender“ Schriften, Gegenstände oder Symbole, das Androhen von Verbrechen gegen den Staat oder die Aufforderung, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der DDR zu leisten, gesehen. Wer „Repräsentanten oder andere Bürger der DDR wegen deren staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ oder „die Freundschafts- und Bündnisbeziehungen der DDR diskriminiert“ oder „den Faschismus oder Militarismus verherrlicht“, begeht gleichfalls staatsfeindliche Hetze. Das entscheidende Tatbestandsmerkmal „diskriminieren“ ist so allgemein gehalten, daß es jeder Auslegung fähig ist. Angedroht ist Freiheitsstrafe von 1 Jahr bis zu 5 Jahren. Ein schwerer Fall, der Freiheitsstrafen von 2 bis zu 10 Jahren nach sich zieht, liegt vor, wenn der Täter „zur Durchführung des Verbrechens mit Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen zusammenwirkt, deren Tätigkeit gegen die DDR gerichtet ist oder das Verbrechen planmäßig durchführt“.
8. Verfassungsfeindlicher Zusammenschluß (§ 107 StGB). Dieser Straftatbestand war 1968 als „staatsfeindliche Gruppenbildung“ neu aufgestellt worden, um einem inneren Widerstand mit strafrechtlichen Mitteln begegnen zu können. Er wird von demjenigen erfüllt, der „einer Vereinigung, Organisation oder einem sonstigen Zusammenschluß von Personen angehört, die sich eine verfassungsfeindliche Tätigkeit zum Ziel setzen“. Die verfassungsfeindliche Tätigkeit wird nicht näher beschrieben. Die Strafandrohung geht für die Angehörigen einer solchen Vereinigung von 2 bis zu 8 Jahren Freiheitsstrafe, für die Gründer oder Organisatoren von 3 bis zu 12 Jahren und für denjenigen, der „fördert oder in sonstiger Weise unterstützt“, von 1 bis zu 5 Jahren.
9. Gefährdung der internationalen Beziehungen (§ 109 StGB). Dieser ebenfalls neue Tatbestand soll dem Schutz der friedlichen internationalen Beziehungen der DDR dienen. Wer diese Beziehungen durch Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung gegen Angehörige eines anderen Staates oder Volkes gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von 2 bis zu 10 Jahren bestraft.
Nach § 108 StGB werden die vorgenannten St. (mit Ausnahme Ziff. 9) auch dann bestraft, wenn sie sich gegen Staaten richten, die mit der DDR verbündet sind. Bis 1979 hieß es „Staaten des sozialistischen Weltsystems“. Mit Einführung dieser auf die „sozialistische Interessengemeinschaft und den proletarischen Internationalismus“ gestützten Bestimmung ist die DDR in ihrer Strafgesetzgebung dem Beispiel der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten gefolgt.
Ebensowenig wie die Republikflucht gehört die öffentliche ➝Herabwürdigung (vor dem 2. Strafrechtsänderungsgesetz vom 7. 4. 1977 „Staatsverleumdung“ — § 220 StGB) in den Katalog der St.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1302–1304
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