
Volkskammer (1985)
I. Verfassungsrechtliche Stellung und Zusammensetzung
Die V. wird in Art. 48 der Verfassung als das oberste staatliche Machtorgan der DDR bezeichnet. Ihre Rolle und Funktion ergibt sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität (Demokratie, Sozialistische). Danach üben die Werktätigen durch die [S. 1440]Volksvertretungen die Macht aus, wobei diese Machtausübung gemäß dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus auf der Basis der Bündnispolitik erfolgt. Damit wird auch die Funktion der V. im Regierungssystem der DDR festgelegt.
Die V. entstand 1949 aus der Bewegung des Deutschen Volkskongresses, dessen 3. Kongreß im Mai 1949 den Deutschen Volksrat wählte. Dieser konstituierte sich am 7. 10. 1949 (Tag der Gründung der DDR) als „Provisorische Volkskammer“ der DDR.
Mit der ersten Wahl zur V. 1950 entfiel das „Provisorische“; danach erfolgten alle 4 Jahre (statt 1962 erst 1963) bis 1971 die Wahlen zur V.; seitdem wird die V. alle 5 Jahre gewählt. Seit 1963 umfaßt die V. 500 (vorher 466) Abgeordnete. Die (auch vor 1963) 66 Berliner Vertreter unter ihnen, wurden bis zur Wahl 1976 wegen des besonderen Status Berlins (Berlin, XV.) durch die Stadtverordnetenversammlung von Berlin (Ost) nominiert.
Das Wahlgesetz von 1976 (GBl. I, S. 301) wurde 1979 in diesem Punkt geändert (GBl. I, S. 139), und 1981 wurden erstmals 40 Abgeordnete in Berlin (Ost) direkt gewählt; diese Zahl war 1981 vom Staatsrat festgelegt worden (GBl. I, S. 98).
Die Pflichten und Rechte der Abgeordneten sind in der Verfassung und der Geschäftsordnung der V. vom 7. 10. 1974 (GBl. I, S. 469) festgelegt. Sie sollen u.a. ihre Fähigkeiten und Kenntnisse für das Wohl und die Interessen des sozialistischen Staates und der Bürger einsetzen, deren Mitwirkung an der Vorbereitung und Verwirklichung der Gesetze fördern und enge Verbindung zu den Wählern durch Sprechstunden, Aussprachen und Rechenschaftslegungen halten. Sie unterliegen nicht einem imperativen Mandat der Wähler, dürfen an den Sitzungen der örtlichen Volksvertretungen mit beratender Stimme teilnehmen, Anfragen an den Ministerrat oder eines seiner Mitglieder richten und genießen persönliche Schutzrechte (Immunität, Indemnität, Aussageverweigerung in bestimmten Fällen), können andererseits bei „gröblicher Verletzung (ihrer) Pflichten“ (§ 47 Wahlgesetz) durch die V. von ihrer Funktion abberufen werden.
Die Abgeordneten sind keine Berufsparlamentarier — die Abgeordnetentätigkeit wird neben dem Hauptberuf ausgeübt. Dies entspricht auch dem offiziellen Verständnis vom Abgeordneten in seiner Hauptfunktion als „Vermittler“ zwischen Bürger und Staat in allen Fragen der „Arbeits- und Lebensbedingungen“.
Aus ihrer Tätigkeit dürfen ihnen keine materiellen Nachteile entstehen; sie werden deshalb zu Plenartagungen und Ausschußarbeiten bei Weiterzahlung von Lohn oder Gehalt freigestellt und erhalten eine Entschädigung von 500 Mark sowie einen Freifahrtausweis der Deutschen Reichsbahn.
II. Parteien und Massenorganisationen in der Volkskammer
Die Abgeordneten bilden die Fraktionen der V. Seit 1963 sind die Fraktionen mit der folgenden Zahl von Abgeordneten vertreten Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 127, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) 68, Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD), Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) und Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) 52, Freie Deutsche Jugend (FDJ) 40, Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) 35, Kulturbund der DDR (KB) 22. Fraktionswechsel von Abgeordneten sind unbekannt; sie könnten auch durch einen Antrag der betroffenen Fraktion auf Aberkennung des Mandats verhindert werden.
Die Zugehörigkeit zu einer Fraktion der Massenorganisationen schließt die Mitgliedschaft in einer anderen Partei nicht aus. (Mitglieder der SED in anderen Fraktionen: FDGB 61; FDJ 36; DFD 31; KB 16.)
Unter den Abgeordneten der FDJ-Fraktion ist ein CDU-Mitglied, unter denen der DFD-Fraktion ein CDU- und ein NDPD-Mitglied, unter denen des KB ein NDPD-Mitglied. Alle Mitglieder der SED sind — unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit — in der Parteigruppe der SED in der V. zusammengefaßt.
III. Sozialstruktur der Abgeordneten
Die soziale Zusammensetzung der Abgeordneten hat sich in den letzten 3 Wahlperioden, legt man den erlernten Beruf bzw. die erste Erwerbstätigkeit zugrunde, mehrfach, wenn auch geringfügig, geändert:
Die Verteilung nach dem Geschlecht blieb relativ konstant:
[S. 1441]Ein anderes Bild von der sozialen Zusammensetzung der V. ergibt sich, legt man die Funktions- bzw. Tätigkeitsbereiche der V.-Mitglieder und die Verteilung auf die Fraktionen der Parteien zugrunde:
Es ist zu erkennen, daß danach die tatsächliche Zusammensetzung der V. nur bedingt der auf der Grundlage des erlernten Berufs bzw. der ersten Erwerbstätigkeit ermittelten Zusammensetzung entspricht. Daß die Blockparteien neben der SED in ihren Funktionen keine Beschäftigten aus Betrieben usw. haben, ist nicht allein auf das Rekrutierungsverbot von Produktionsarbeitern zurückzuführen, sondern auch auf die Prinzipien der Mandatsverteilung, nach denen diese in CDU, LDPD und NDPD schwach repräsentierten Gruppen bewußt ohne Mandat bleiben.
Die Verteilung nach Altersgruppen ergibt eine deutliche Zunahme der Abgeordneten über 51 Jahre:
Diese Zunahme kann auf Veränderungen bei der Kandidatenauslese (z.B. wurden weniger Abgeordnete ausgewechselt) zurückgeführt werden. Die Zahl der jeweils erstmalig gewählten Abgeordneten hat von 1963 an von Wahlperiode zu Wahlperiode ständig abgenommen:
IV. Aufgaben der Organe der Volkskammer
A. Fraktionen
Die Fraktionen haben im wesentlichen nur für die Plenartagungen Bedeutung. Sie verfügen über 1 Vorsitzenden und 1 Stellvertreter, haben das Recht, im Präsidium der V. vertreten zu sein, Anfragen und Anträge einzubringen und Stellungnahmen, vor allem zu Gesetzesanträgen, abzugeben. Das Recht der Gesetzesinitiative steht ihnen ebenfalls zu (außer ihnen noch dem Präsidium, 15 Abgeordneten und dem Bundesvorstand des FDGB), wurde aber bisher nur vom Ministerrat und vom Staatsrat wahrgenommen.
B. Präsidium
Das Präsidium der V. leitet die Arbeit der Volkskammer gemäß der Geschäftsordnung. Es wird auf der konstituierenden Sitzung der neugewählten V. [S. 1442]für die Dauer der — seit der Verfassungsänderung vom Oktober 1974 von 4 auf 5 Jahre verlängerten — Wahlperiode gewählt. Seine Aufgaben wurden durch die Geschäftsordnung vom 7. 10. 1974 ausgeweitet. Nach der Wahl 1981 (8. Wahlperiode) setzte es sich folgendermaßen zusammen: Präsident: Horst Sindermann (SED, Mitgl. d. PB. d. ZK der SED), Stellv. d. P.: Gerald Götting (CDU) Mitglieder: Eberhard Aurich (FDJ), Heinz Eichler (SED, Sekretär des Staatsrates), Werner Heilemann (FDGB), Wolfgang Heyl (CDU), Willi-Peter Konzok (LDPD, ersetzt durch Rudolf Agsten), Erich Mückenberger (SED, Mitgl. d. PB u. Vors. d. ZPKK), Wolfgang Rösser (NDPD), Rudi Rothe (DBD), Wilhelmine Schirmer-Pröscher (DFD), Karl-Heinz Schulmeister (KB).
C. Ausschüsse
Die Beteiligung der V. am Entscheidungsprozeß vollzieht sich im wesentlichen durch die Tätigkeit ihrer Ausschüsse. Seit 1963 werden in der V. in jeder Wahlperiode 15 Ausschüsse gebildet. Sie werden mit einer unterschiedlichen Anzahl von Abgeordneten (8. WP zwischen 8 und 51) und, bis auf 3, mit einer Anzahl Nachfolgekandidaten besetzt. Nachfolgekandidaten sind die auf der Liste placierten, aber nicht gewählten Kandidaten, die mit beratender Stimme an den Ausschußsitzungen teilnehmen. Insgesamt sind 364 (7. WP: 353) Abgeordnete und 142 (121) Nachfolgekandidaten in den meisten Ausschüssen der V. tätig. Es gibt A. für Auswärtige Angelegenheiten, für Nationale Verteidigung, für Industrie, Bauwesen und Verkehr, für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft, für Handel und Versorgung, für Haushalt und Finanzen, für Arbeit und Sozialpolitik, für Gesundheitswesen, für Volksbildung, für Kultur, für Eingaben der Bürger sowie einen Verfassungs- und Rechtsausschuß, einen Jugendausschuß, einen Geschäftsordnungs- und einen Mandatsprüfungsausschuß.
Die Aufgaben der Ausschüsse werden in der Verfassung und der Geschäftsordnung der V. festgelegt. Sie arbeiten nach einem Arbeitsplan, in dem die Vorhaben eines Jahres festgelegt werden. Ihr Arbeitsgebiet kann sich auf einen bestimmten Bereich der Wirtschaft konzentrieren, z.B. Handel und Versorgung. Dabei findet eine Zusammenarbeit mit dem zuständigen Ministerium statt. Im Fall des Ausschusses für Industrie, Bauwesen und Verkehr erstreckt sich der Tätigkeitsbereich auf mehrere Gebiete. Die Rechte der Ausschüsse liegen im Bereich der Information und Kontrolle. So ist z.B. der Ministerrat verpflichtet, sie über wichtige Fragen der Durchführung der staatlichen Politik zu informieren und die Ergebnisse der Tätigkeit der Ausschüsse in seine Arbeit einzubeziehen. Die Ausschüsse können die Anwesenheit eines Ministers bei ihren Beratungen verlangen; für die Betreuung eines Ausschusses ist im Ministerium oder einem anderen zentralen Organ ein leitender Mitarbeiter zuständig, der den Ausschuß über Vorhaben des Bereichs informiert und Informationen entgegennimmt.
Die Ausschüsse beraten Gesetzesvorhaben, diskutieren teilweise öffentlich die Entwürfe und führen Untersuchungen zu spezifischen Problemen durch, z.B. der effektiven Nutzung von Material, Arbeitskräften und finanziellen Mitteln, Formen der Wettbewerbsführung u.a.m. Die Ausschußmitglieder informieren über anstehende Gesetze, regen die Betroffenen an, Initiativen zu deren Durchführung einzuleiten, und tragen durch konkrete Informationen zur endgültigen Gestaltung des Gesetzes bei. 6 Ausschußvorsitzende sind Abgeordnete der Fraktion der SED, in der Mehrheit Sekretäre des ZK, je 2 Vorsitzende stellen die NDPD und die LDPD, die übrigen Fraktionen — außer dem DFD — jeweils einen.
D. Die Interparlamentarische Gruppe
Die Interparlamentarische Gruppe der V. der DDR ist kein Ausschuß der V. und wird in ihrer Geschäftsordnung nicht erwähnt. Sie ist für Kontakte mit Parlamenten und Parlamentariern anderer Länder zuständig, entsendet eigene bzw. empfängt ausländische Delegationen und beteiligt sich an den Tagungen der Interparlamentarischen Union (IPU). Innerhalb der Gruppe gibt es Untergliederungen, die sich auf bestimmte Regionen konzentrieren, wie z.B. die „Parlamentarische Freundschaftsgruppe DDR – Lateinamerika“.
E. Plenum
Als oberstes staatliches Machtorgan entscheidet die V. über die „Grundfragen der Staatspolitik“ und „verwirklicht in ihrer Tätigkeit den Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung“ (Art. 48). Damit ist der Bezug auf das in der marxistisch-leninistischen Staatslehre verankerte Prinzip der Gewalteneinheit und der Volksvertretungen als „arbeitender Körperschaften“ (Marx) hergestellt. Die Einheit ihrer Tätigkeit verwirklicht die V., indem sie einerseits durch Gesetze und Beschlüsse „die Ziele der Entwicklung der DDR“ sowie die „Hauptregeln für das Zusammenwirken der Bürger, Gemeinschaften und Staatsorgane sowie deren Aufgaben bei der Durchführung der staatlichen Pläne“ festlegt (Art. 49 Abs. 1 und 2), andererseits mit der Durchführung dieser Entscheidungen ihre Organe beauftragt, die auf der Grundlage der von der V. bestimmten Grundsätze tätig werden. Diese Organe sind der Staatsrat, der Ministerrat, der Nationale Verteidigungsrat der DDR (NVR), das Oberste Gericht (Gerichtsverfassung; Rechtswesen) und der Generalstaatsanwalt (Staatsanwaltschaft). Die Festlegung als „ober[S. 1443]stes staatliches Machtorgan“ bedeutet, daß die Entscheidungen der V. die verbindlichen staatsrechtlichen Grundlagen der Tätigkeit des Staatsapparates sind. Die Konzentration auf die „Grundfragen“ soll bewirken, daß die V. sich nur mit wichtigen Fragen der staatlichen Politik befaßt. Die V. tagt relativ selten:
Nicht die Ausarbeitung sachlicher Alternativen, aber die Korrektur von Vorlagen soll eine der Aufgaben der V. bzw. ihrer Ausschüsse sein. Die Unterbreitung von Personalvorschlägen gehört ebenfalls nicht zu ihren Aufgaben, auch wenn diese teilweise durch die Fraktionen erfolgen. Wahlen in Funktionen durch die V. erfolgen als Bestätigung der von der SED-Führung, in bestimmten Fällen in Zusammenarbeit mit den anderen Parteien und Massenorganisationen im Demokratischen Block erarbeiteten Vorschläge. Die V. wählt u.a. den Vorsitzenden des Staatsrates und dessen Mitglieder, den Vorsitzenden des Ministerrates, die Mitglieder des Ministerrates auf Vorschlag des Vorsitzenden, den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, den Präsidenten und die Richter des Obersten Gerichts sowie den Generalstaatsanwalt.
Die sachlichen Entscheidungen sollen sich an den „objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung“ orientieren, deren Erkenntnis ebenso wie die Ausarbeitung der daraus abzuleitenden Aufgaben im Selbstverständnis der Partei, faktisch der Parteiführung, allein zusteht. Aufgabe des staatlichen Willensbildungsprozesses ist es, diese Entscheidungen entsprechend den Bedingungen staatlicher Tätigkeit in die politische Realität umzusetzen. Insofern entspricht der politische Charakter der von der V. verabschiedeten Gesetze der im Marxismus-Leninismus verankerten Vorstellung, daß sie Ausdruck der übereinstimmenden („einheitlichen“) Interessen der Mitglieder der Gesellschaft und die Grundlage ihres Zusammenwirkens auf ein gemeinsames Ziel seien. Dieser Anspruch drückt sich u.a. auch in der mit einer Ausnahme (Einführung der Fristenregelung bei der Schwangerschaftsunterbrechung 1972 — 8 Enthaltungen, 14 Gegenstimmen —) stets einstimmigen Bestätigung der eingebrachten Gesetzesvorlagen aus. Daher ist die V., auch wenn manche ihrer Verfahrensweisen denen in parlamentarischen Demokratien ähneln, nicht mit einem westlichen Parlament vergleichbar.
Gero Neugebauer
Literaturangaben
- Brandt, H.-J.: Die Kandidatenaufstellung zu den Wahlen der Volkskammer der DDR. Baden-Baden: Nomos 1984.
- [S. 1444]Lapp, P. J.: Wahlen in der DDR. Wählt Kandidaten der Nationalen Front. Berlin: Holzapfel 1982.
- Mampel, S.: Die sozialistische Verfassung der DDR. Kommentar. 2., völlig neubearb. u. erw. Aufl. Frankfurt a. M.: Metzner 1982.
- Neugebauer, G.: Die Volksvertretungen, Der Staatsapparat, in: Erbe, G. u.a.: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der DDR. Studientexte für die politische Bildung. 2., verb. u. erw. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verl. 1980.
- Roggemann, H.: Die DDR-Verfassungen. 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin: Berlin-Verl. 1980.
- Schneider, E.: Die Wahlen zur Volkskammer der DDR (1981) und zum Obersten Sowjet der UdSSR (1979), in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 4/1981. Opladen: Westdeutscher Verl. 1981.
- Staatsrecht der DDR. Lehrbuch. Hrsg.: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR. Berlin (Ost): Staatsverl. d. DDR 1977.
- Die Volkskammer der DDR. 8. Wahlperiode. Berlin (Ost): Staatsverl. d. DDR 1982.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 1439–1444