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DDR von A-Z, Band 1979

Sozialistische Betriebswirtschaftslehre (SBWL) (1979)

 

 

Siehe auch:

  • Sozialistische Betriebswirtschaftslehre: 1985
  • Sozialistische Betriebswirtschaftslehre (SBWL): 1975

 

I. Wesen und Grundlagen der Sozialistischen Betriebswirtschaft (SBW) werden nach der in der DDR gegenwärtig herrschenden Lehre durch die Wirtschafts- und Eigentumsordnung sowie insbesondere durch die Stellung und Funktion der Volkseigenen Betriebe bestimmt, die als juristisch selbständige, arbeitsteilige Glieder der Volkswirtschaft in Gestalt sozialistischer Warenproduzenten und als „politisch-soziale Einheiten der Gesellschaft“ verstanden werden. Daher ist die SBW als primär praxisbezogene Unterweisung zum wirtschaftlichen, sozialen und betrieblichen Geschehen durch zwei Grundfunktionen gekennzeichnet: eine „produktive“ einerseits und eine „ideologische“ oder „gesellschaftsgestaltende“ Funktion andererseits.

 

In ihrer „produktiven Funktion“ wird die SBW definiert „als gesellschaftlich bewußt organisierte, durch die Ziele des Staatsplans bestimmte Arbeit sozialistischer Produzentenkollektive zur effektiven Nutzung und Vermehrung des im betrieblichen Reproduktionsprozeß organisierten gesamtgesellschaftlichen Eigentums auf der Grundlage der objektiven ökonomischen Gesetze des Sozialismus“ (Lehrbuch „Sozialistische Betriebswirtschaft“, 3. Aufl., 1975).

 

Zur Verwirklichung des gesamtgesellschaftlichen Rationalitätsprinzips werden als Hauptziele u. a. eine planmäßige Bedarfsdeckung und Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung, eine ständige Wachstums- und Effektivitätssteigerung insbesondere durch technischen Fortschritt und sozialistische ökonomische Integration (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) sowie eine höchstmögliche Gewinnerzielung proklamiert. Wichtigste Methoden zur Realisierung dieser ökonomischen Funktion der SBW sind das System der operativen Betriebsführung (Leitung und Planung), die Wirtschaftliche Rechnungsführung, der Sozialistische Wettbewerb, das Rechnungswesen sowie die Methoden und das Instrumentarium zur Intensivierung und Rationalisierung (Sozialistische Wirtschaftsführung; Netzplantechnik; Information; Elektronische ➝Datenverarbeitung).

 

Demgegenüber umfaßt die „gesellschaftsgestaltende Funktion“ der SBW wichtige ideologisch-pädagogische Aspekte wie die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, Steigerung des sozialistischen Bewußtseins und die Gestaltung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens im Betrieb (Gesellschaftliches ➝Bewußtsein). Gleichermaßen gehören hierzu die „Weiterentwicklung des Einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“ und die „Sicherung der sozialistischen Landesverteidigung“. In dieser ist den Betrieben die Funktion eines Organisators der zivilen Landesverteidigung im Betriebsbereich durch Betriebskampfgruppen zugewiesen (Kampfgruppen). Über den Betriebsbereich hinaus soll sich der betriebliche Einfluß auch regional auf den Wohnbereich der Belegschaft und die wechselseitige Zusammenarbeit mit der für den Betrieb zuständigen staatlichen Administration erstrecken (Örtliche Organe der Staatsmacht). Hauptfunktionsträger für die gesellschaftsgestaltenden Aufgaben sind die Vertretungen gesellschaftlicher Organisationen im Betrieb (SED; FDGB; FDJ). Hierzu gehören weiterhin die betrieblichen Kommissionen der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion.

 

Der wissenschaftlichen Durchdringung dieses breit gefächerten Aufgabenkataloges dient die SBWL, die als spezielle Disziplin der marxistisch-leninistischen Wirtschaftswissenschaft und „als Lehre vom effektiven Wirtschaften sozialistischer Betriebe“ verstanden wird.

 

Sie wird definiert als die wissenschaftliche Verallgemeinerung der Prinzipien und Erfordernisse der SBW. Untersuchungsgegenstand sind, unter dem Aspekt der Interdependenz zwischen Betrieb und Volkswirtschaft, die inner- wie zwischenbetrieblichen, politischen, ökonomischen, ideologischen und sozialen Beziehungen des Wirtschaftsprozesses. Dabei wird der betriebliche Reproduktionsprozeß „vorwiegend als konkreter Wirkungsbereich der ökonomischen Gesetze des Sozialismus“ (Reproduktion; Politische Ökonomie) verstanden. Die Forschungsbereiche der SBWL betreffen danach sowohl die Erforschung dieses Wirkungsmechanismus und seine wissenschaftliche Interpretation als auch die Analyse und Bestimmung der Bedingungen und Erfordernisse des Ausnutzungsmechanismus dieser Gesetze im Sinne einer optimalen Gestaltung betrieblicher Leitung, Planung, Organisation und ökonomischer Stimulierung. Der Zusammenhang von SBWL und politischer Ökonomie wird als Relation des Besonderen zum Allgemeinen erklärt.

 

[S. 965]In der gegenwärtigen Diskussion wird zwischen allgemeiner und spezieller (insbesondere wirtschaftszweigbezogener) SBWL unterschieden.

 

Die allgemeine SBWL soll auf der Basis der Lehre von der politischen Ökonomie und in enger Wechselwirkung mit der sozialistischen Volkswirtschaftslehre, der sozialistischen Wirtschaftsführung und Erkenntnissen anderer Wissenschaftsdisziplinen (z. B. Recht, Soziologie, Naturwissenschaften) allgemeine theoretische Prinzipien für rationelles Verhalten der Beschäftigten, rationelle Verfahren und ein den betrieblichen wie den gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen dienendes ökonomisches Instrumentarium für den Betrieb entwickeln. Dabei sind bestimmte Elemente, wie z. B. die Preisbildung, für die SBWL weitgehend überbetrieblich vorgegeben, die in der westlichen BWL eindeutig dem Kompetenzbereich Betrieb zuzuordnen sind.

 

Für die spezielle SBWL wird eine Differenzierung nach 1. Industrie, 2. Bauwesen, 3, Landwirtschaft, 4. Verkehrswesen und 5. Binnenhandel gegenwärtig für ausreichend erachtet. Sowohl historisch bedingt als auch entsprechend sowjetischem Vorbild gibt es daneben noch sogenannte „Ökonomiken“ der Wirtschaftszweige oder -bereiche. Gegenwärtig umfassen diese meist auch (mehr oder weniger eingehend) betriebswirtschaftliche Probleme (Landwirtschaftliche Betriebslehre, Agrarökonomie). Diese Zweigökonomiken sollen zukünftig auf der Basis der SBWL nur noch die Darstellung spezieller Branchenprobleme übernehmen.

 

Anders als in der westlichen Betriebswirtschaftslehre (BWL) gelten grundsätzlich alle betriebswirtschaftlichen Sachverhalte als ideologisch determiniert. Daher wird die Möglichkeit systemindifferenter betriebswirtschaftlicher Tatbestände und Methoden (so selbst auf dem Gebiete des Rechnungswesens) ausgeschlossen und die SBWL nachdrücklich von der angeblich „technizistischen Betrachtungsweise“ der „bürgerlichen“ BWL abgegrenzt. Unbeschadet dessen läßt sich die systemgerechte Transformation und Adaption mancher Ergebnisse der westlichen BWL kaum von der Hand weisen. Andererseits unterscheidet sich — unabhängig von ideologischen Vorzeichen — die SBWL grundsätzlich von der westlichen BWL, da vor allem ein autonom wirtschaftendes Unternehmen als wissenschaftliches Erkenntnisobjekt nicht existiert. Daher erscheint eine generelle Unterscheidung zwischen westlicher und sozialistischer BWL auch sachlich begründet. Dies gilt um so mehr, als gleichlautende Termini in Ost und West vielfach ein anderes betriebswirtschaftliches Begriffsverständnis beinhalten.

 

II. Historisch gesehen steht die Entwicklung der SBWL in der DDR im Zeichen einer ambivalenten Einschätzung. Die lange Tradition deutscher betriebswirtschaftlicher Forschung und ihre wissenschaftliche Selbständigkeit wurden nach 1945 mit der Rezeption des sowjetischen Wirtschaftsmodells im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands unterbrochen. Ein besonders deutlicher Ausdruck hierfür war eine Auseinandersetzung um die Jahreswende 1949/50 über das Verhältnis der politischen Ökonomie zur BWL und ihrer wissenschaftlichen Eigenständigkeit zwischen Wirtschaftstheoretikern des Marxismus-Leninismus (Winternitz, Behrens, Berger) auf der einen und einem maßgeblichen Vertreter der „klassischen“ BWL auf der anderen Seite (Mellerowicz).

 

Mit der Negierung der modernen westlichen Nationalökonomie als Wissenschaft wurde auch die BWL als unwissenschaftlich und falsch abgelehnt. Ihr wurde vorgeworfen, sie stelle nicht mehr als eine technische Disziplin dar; eigenständige Lehrstühle für BWL an den Hochschulen der DDR wurden aufgelöst.

 

Eine Reihe betriebswirtschaftlicher Methoden und Erkenntnisse fand ihre Entwicklung in der Folgezeit im Rahmen von Untersuchungen der in der UdSSR entstandenen Lehre der „Ökonomik der sozialistischen Industrie“ wie auch der Ökonomiken anderer Wirtschaftsbereiche und -zweige. Infolge ihrer relativ engen fachlichen Begrenzung (Verwaltungsstruktur, Betriebsorganisation, Planmethodik) konnten sie jedoch nur bedingt als Weiterführung einer BWL angesehen werden.

 

Hatte in der Sowjetunion das betriebswirtschaftliche Interesse im Zeitraum der „Neuen ökonomischen Politik“ der 20er Jahre einen großen Aufschwung erlebt, kam dies nach 1930 mit zunehmender Zentralisierung der staatlichen Lenkung und Planung rasch zum Erliegen. Eine eigentliche betriebswirtschaftliche Betrachtung und Forschung erstreckte sich nur noch auf Teilbereiche (z. B. Rechnungswesen, Arbeitswissenschaft). Trotz Einführung des Systems der wirtschaftlichen Rechnungsführung (einer der wichtigsten betriebswirtschaftlichen Kategorien) nach sowjetischem Muster (Chosrastschot) im Jahre 1951 blieb die BWL als Wissenschaft in der DDR verpönt. Dagegen brachten die Jahre 1952/53 in der UdSSR eine umfangreiche Diskussion über Gegenstand und Inhalt einer SBWL und ihr Verhältnis zu den „Ökonomiken der Zweige“. Gleichwohl wurden auch in der DDR in den 50er Jahren gewisse betriebswirtschaftliche Entwicklungen, insbesondere im Bereich des Rechnungswesens (Goll), gefördert.

 

Wachsende Arbeitsteiligkeit und zunehmende Komplikationen der wirtschaftlichen Zusammenhänge einerseits sowie die mangelnde Flexibilität des Wirtschaftssystems der DDR andererseits führten im Jahre 1963 zum Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖS). Stationen auf diesem Weg waren vor allem die Kritik der sog. Revisionisten in den Jahren 1956/57 (Behrens, Benary, Oelßner) und die Liberman-Diskussion in der UdSSR 1962.

 

Wenn auch vielfach unausgesprochen, waren an dieser Entwicklung die Erkenntnis über ein unzureichendes oder fehlendes betriebswirtschaftliches Instrumentarium und das Eingeständnis offenkundiger Lücken in der entsprechenden wissenschaftlichen Forschung wesentlich beteiligt. Bedeutsame Funktionsschwächen des Wirtschaftssystems, wie das Verhältnis von betrieblicher zu gesamtwirtschaftlicher Planung, mangelndes Interesse der Betriebe im Absatzbereich und fehlender Zwang zur Übernahme des technischen Fortschritts und die geplante Steuerung betrieblicher Motivationen zur [S. 966]Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Ziele waren vorwiegend betriebswirtschaftlicher Natur. Unter der Bezeichnung eines in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel als eines Kernstücks des NÖS rückten wichtige betriebswirtschaftliche Kategorien (Kosten, Preis, Umsatz, Rentabilität oder Gewinn) in den Mittelpunkt.

 

Entscheidendes Datum für die Proklamation einer komplexen wissenschaftlichen SBW war der VII. Parteitag der SED im April 1967. Sie wurde im Gesetz über den Volkswirtschaftsplan 1968 verankert. Wenn auch damit die frühere Negierung dieser Disziplin aufgehoben wurde, blieben die Auffassungen der Wissenschaftler über Gliederung und Einordnung in den wirtschaftswissenschaftlichen Bereich zunächst noch uneinheitlich. Als erster Versuch einer Gesamtdarstellung ist ein im Jahre 1968 vorgelegter Beitrag über „Die Rolle der sozialistischen Betriebswirtschaft bei der Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus“ (Schmidt) zu werten (1969 veröffentlicht). Die Abkehr von den Ulbrichtschen Prinzipien der Wirtschaftsreform Ende 1970 führte auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 zu einer Reihe von Korrekturen an diesem Programm. Statt relativ ausgeprägter Akzentuierung von sozialistischen Management-Methoden und mathematisch-kybernetischen Verfahrenstechniken rückte bei der SBWL nach 1971 eine verstärkte Betonung der Wechselwirkungen zwischen SBWL, Wirtschaftswissenschaften und, politischer Ökonomie in den Vordergrund. Hierzu gehören der Fortfall des 1968 als ein Hauptanliegen deklarierten Prinzips der sozialistischen Geschäftstätigkeit und der marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft; auch die Anwendung der Methoden der Operationsforschung (Operations research) wurde stark reduziert. Für die heute in der DDR vertretene Auffassung war die Interdependenz des Gesamtprozesses betriebswirtschaftlicher Belange in der Konzeption von 1968 nur unzureichend berücksichtigt worden.

 

Die Forschung im Bereich der SBWL wird seit Anfang der 70er Jahre wieder stärker forçiert. Nach Gründung eines Wissenschaftlichen Rates für Fragen der SBWL am 30. 10. 1973 beim Wissenschaftlichen Rat für wirtschaftswissenschaftliche Forschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR sind an verschiedenen Hochschulen der DDR betriebswirtschaftliche Lehrstühle eingerichtet worden. Ende 1973 erschien erstmalig ein umfassendes Hochschullehrbuch „Sozialistische Betriebswirtschaft“, das jedoch auch in seiner 3. Auflage (1975) den vielfältigen konkreten betriebswirtschaftlichen Problemen in der DDR noch nicht ausreichend Rechnung zu tragen vermochte. Der Notwendigkeit einer intensiveren Behandlung betriebswirtschaftlicher Fragen und Zusammenhänge für einen größeren Leserkreis ist vor allem durch zwei neuere Veröffentlichungen, das Fachschullehrbuch „Sozialistische Betriebswirtschaft für Ökonomen“ (1977) und ein Fachbuch für den Meisterbereich „Sozialistische Betriebswirtschaft“ (1976), entsprochen worden. Wesentliche Ursache für die Konzentration betriebswirtschaftlicher Thematik in der jüngsten Zeit, deren Bedeutung sowohl in der Fünfjahrplandirektive und dem zentralen Forschungsplan der Gesellschaftswissenschaften für den Zeitraum 1976–1980 als auch auf wichtigen Tagungen von führenden Wirtschafts- und Parteifunktionären nachdrücklich hervorgehoben worden ist, war das stark geförderte Programm der sozialistischen Intensivierung. In einer Reihe neuerer Publikationen werden deshalb verschiedene häufig bislang vernachlässigte betriebswirtschaftlich relevante Detailfragen oder -bereiche behandelt.

 

Unbeschadet dieser gesteigerten Bemühungen erfüllt der gegenwärtigen Stand der SBWL in der DDR noch nicht die Erwartungen, die an ein geschlossenes System methodisch gewonnener und systematisch geordneter Erkenntnisse über das wirtschaftliche, soziale und politische Geschehen in den Betrieben der DDR gestellt werden müssen.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 964–966


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.