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Architektur (1985)
I. Theorie
A. als das Ergebnis einer Tätigkeit, die sich mit der Gestaltung der räumlichen Umwelt befaßt, hat von jeher einen ästhetischen (Baukunst) und ökonomischen (Bauwesen) Aspekt. Nach Auffassung der Theoretiker in der DDR sind durch die Veränderungen des gesellschaftlichen Systems seit 1945 zum ersten Male auf deutschem Boden die Voraussetzungen geschaffen worden, den Dualismus zwischen der künstlerischen und ökonomischen Seite des Bauens zu überwinden. Der Gegensatz von wenigen Kunstbauten und der Vielzahl kunstloser Bauten sei beseitigt und das Künstlerische zu einem durchgängigen Moment der Umweltgestaltung geworden, weil mit dem Marxismus-Leninismus die Möglichkeit bestehe, die objektiven Funktionen und Wirkungen der A. für die gesellschaftliche Produktions- und Lebensweise zu erkennen.
Es liegen keine Untersuchungen darüber vor, inwieweit die aufgrund dieser Prinzipien gebaute A. tatsächlich milieu- und bewußtseinsprägend geworden ist. Jedoch zeigen die Auseinandersetzungen in der bisherigen Geschichte der A. der DDR um die Begriffe Formalismus bzw. Funktionalismus, daß die jeweils konkret realisierte Verbindung von Ökonomie und Kunst nicht widerspruchsfrei war. So hat die Bekämpfung des Formalismus zugunsten des sozialistischen Realismus zu Qualitätsmangeln in der A. der DDR geführt, weil sich eine durch die Ökonomie des industriellen Bauens forcierte Monotonie breitmachte. Die Gefahren einer verbalen Ablehnung des Funktionalismus bei gleichzeitiger Praktizierung eines mit Zweckmäßigkeit begründeten Schematismus werden seit längerem diskutiert. Die jüngere DDR-A. versucht mit z. T. neuen Konzepten (Städtebau) diesen Gefahren zu entgehen, scheitert jedoch oft an den begrenzten ökonomischen Möglichkeiten der DDR oder an politischen Vorgaben, die Monumentalität als Alternative zur Monotonie verstehen. (Bildende Kunst III.)
II. Geschichte
Die gesellschaftlichen Veränderungen in der SBZ/DDR nach 1945 schufen vor allem durch die Änderung der Eigentumsverhältnisse die Voraussetzungen für neue Möglichkeiten des Bauens: Grund und Boden sind überwiegend gesellschaftliches Eigentum bzw. können ohne größere Schwierigkeiten enteignet werden (Aufbaugesetz) (Inanspruchnahme); der größte Teil der Gebäude wie auch der Baubetriebe ist verstaatlicht; staatliche Organe sind nahezu die alleinigen Auftraggeber. Trotzdem hat es fast 20 Jahre gedauert, bis die städtebauliche Planung in die Volkswirtschaftspläne voll integriert war, bis über Verflechtungsbilanzen Städtebau, Industrieinvestition, Verkehrsplanung, Wohnungsbau und Raumplanung aufeinander bezogen wurden. Es lassen sich 3 Etappen der A. der DDR unterscheiden:
1945–1955: Erste Wiederaufbauphase, Schaffung der theoretischen und praktischen Grundlagen für eine Neuorientierung des Bauens in der SBZ/DDR.
1955–1966: Durchsetzung der neuen Prinzipien des Bauens in der DDR, vor allem deutlich in der Industrialisierung des Bauwesens.
Seit 1966: Über die Grundprinzipien bestehen keine Diskussionen mehr. Die tatsächliche Bauleistung hängt von Entscheidungen der Parteiführung ab (z.B. Ulbricht: Ausbau der Stadtzentren, Honecker: Lösung der Wohnungsfrage).
Am bedeutsamsten für die Entwicklung des Bauens war die Zeit von 1954 bis 1967, in der sich die für die DDR typische Form der A. (industrialisierter Massenwohnungsbau — Akzentuierung der gesellschaftlichen Bauten) herausbildete. In dieser Phase wandelte sich die gesamte Bauwirtschaft von einem Handwerkszweig in einen Bereich der industriellen Fertigung mit allen Konsequenzen, die das für Architekten, Wissenschaftler, Baufunktionäre und auch für Auftraggeber und Benutzer der A. hatte. Im einzelnen ist auf folgende Daten hinzuweisen:
1946 Wohnungsbauprogramm der KPD („Planwirtschaft im Wohnungsbau“).
1950 1. Deutsche Bautagung in Leipzig (Fünfjahrplan: Industriezentren und Städtebau); 16 Grundsätze des Städtebaus; Aufbaugesetz; Nationales Aufbauprogramm.
1951 Gründung der Deutschen Bauakademie; Karl- Marx-Allee (damals Stalinallee) (1. Bauabschnitt).
1952 Beginn des Aufbaus von Eisenhüttenstadt (Grundstein 21. 8. 1950); Industriebau: Eisenhüttenkombinat Ost, Groß-Kokerei Lauchhammer, Eisenhüttenwerk Calbe, Stahlwerk Freital u.a.; Bund Deutscher Architekten (BDA) gegründet; 1. Ausgabe von „Deutsche Architektur“ (April).
1953 Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft/AWG gegründet.
1955 1. Baukonferenz der DDR „Programm der umfassenden Industrialisierung und Typisierung des Bauens“; Ministerrat: Wichtige Aufgaben im Bauwesen (Beschluß); 2. wissenschaftlich-technische Konferenz der DDR (Standardisierung, Typisierung, Normung); Richtlinien für eine einheitliche Typenprojektierung.
1956 Beginn: Hoyerswerda (industrielle Plattenbauweise); Industriebau: Schwarze Pumpe, Überseehafen Rostock, Reaktor Rossendorf, Kraftwerk Lübbenau u.a.
[S. 88]1958 Karl-Marx-Allee (2. Abschnitt); 2. Baukonferenz: Stärkung der örtlichen Bauindustrie; IX. RGW-Tagung: Ständige Kommission Bauwesen gegründet (Schaffung einer RGW-Maßordnung für den Fertigbau: TGL statt DIN).
1960 Industriebau: Petrochemie (Schwedt/Leuna II); Ministerrat: Grundsätze zur Planung und Durchführung des Aufbaus der Stadtzentren (Beschluß).
1963 Ministerrat: Anwendung der Grundsätze des NÖSPL im Bauwesen (Beschluß).
1965 Berlin (Ost): Straße Unter den Linden (1962–1965) fertiggestellt.
1966 4. Baukonferenz: Überwindung der Monotonie im Bauwesen; Anfänge der Metalleichtbauweise; Reorganisation des Instituts für Städtebau und A. der DBA.
1967 VII. Parteitag: Komplexe Generalbebauungspläne der Bezirke und Städte gefordert.
1968 4. Tagung des ZK der SED: Beschleunigter Aufbau der Zentren der wichtigsten Städte der DDR.
1971 Ensemble Alexanderplatz Berlin (Ost).
1973 10. Tagung des ZK der SED: Orientierung auf den Wohnungsbau (bis 1990) und die Sanierung der Altbausubstanz.
1976 Beschlüsse des Ministerrates zur Förderung des genossenschaftlichen und privaten Wohnungsbaus; Palast der Republik in Berlin (Ost); Architekturpreis der DDR (gegr.); Rekonstruktion des Bauhauses in Dessau.
1982 Politbüro des ZK des SED und Ministerrat: Grundsätze für Städtebau und Architektur (Gleichrangigkeit von Neubau und Erhaltung der Altbausubstanz).
Nach Auffassung der Architekten in der DDR drückt sich das Neue der DDR-A. insbesondere in 2 Bereichen aus: im Wohnungsbau und bei den gesellschaftlichen Bauten (z.B. beim Bau der Stadtzentren, Städtebau). Im Wohnungsbau wurde die Industrialisierung des Bauens durchgesetzt. Die Entwicklung von Hoyerswerda bis zu den letzten Abschnitten von Halle-Neustadt weist Fortschritte auf. Trotz großer Anstrengungen ist jedoch der Wohnungsbestand stark überaltert und noch immer unzureichend ausgerüstet. Deshalb muß in den nächsten Jahren die Renovierung der Altbausubstanz eine noch größere Rolle spielen. Dies dürfte für die A. neue Probleme mit sich bringen, da sich die Bauweise des vergangenen Jahrzehnts — Aufbau 5stöckiger Wohnhäuser in Montagebau auf großen Freiflächen — in den Zentren der mittleren und kleineren Städte nicht fortsetzen läßt.
Die Konzentration der Mittel auf den Wohnungsbau hat seit 1971 dazu geführt, daß für den Bereich der „strukturbestimmenden“ gesellschaftlichen Bauten weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Das ambitionierte Programm des Umbaus der Stadtzentren aller größeren Städte der DDR wird nur dort, wo es wegen der Investitionen der Vergangenheit unumgänglich ist, weitergeführt. Die A. der DDR, die mit dem Aufbau der Zentren ein eigenes Gesicht zu bekommen schien, wurde durch die Diskussionen über die Verbindung mit der bildenden Kunst und die geforderte Umsetzung von Ergebnissen der Informationswissenschaften (Semiotik: Die A. soll unverwechselbare monumentale Zeichen geben) zunächst belebt, ist heute jedoch mehr oder weniger mit sozialpolitischen Aufgaben (Wohnungsbau) beschäftigt. Hinzu kommt eine Neubewertung der Altbausubstanz: Der Renovierung und Rekonstruktion von überkommenen Bauten wird aus ökonomischen, aber auch aus künstlerischen Erwägungen ein zunehmend größerer Stellenwert beigemessen.
Nach dem erklärten Willen von Partei- und Staatsführung der DDR soll die Wohnungsfrage bis 1990 durch den Bau (bzw. Um- oder Ausbau) von 2,8–3 Mill. Wohnungen gelöst sein. Die Gesamtkosten werden für die Jahre 1975–1990 auf über 200 Mrd. Mark geschätzt. Im laufenden Fünfjahrplan sollen 600.000 Wohnungen neu gebaut und 340.000 modernisiert werden. Seit 1971 wird der private Eigenheimbau in begrenztem Umfang gefördert (verstärkt seit 1976). Gegenwärtig werden jährlich etwa 13.000 Eigenheime fertiggestellt (ohne Wochenendhäuser, „Datschen“ o.ä.) (Bau- und Wohnungswesen, VII.; Kredit).
Die A. der DDR wird gegenwärtig von dem Bemühen bestimmt, Neubau und Erhaltung bzw. Modernisierung der Altbausubstanz als gleichrangige Aufgabe zu realisieren. Konkret heißt das: Deutliche Aufwertung der Altbauten. Die generell höhere Wertschätzung des vor 1945 Gebauten hat einen ökonomischen (bessere Ausnutzung des Bestehenden) und künstlerischen Aspekt. Zwar wird bisher eine dem westlichen Postmodernismus (Funktionalismus) vergleichbare Abwertung der Moderne abgelehnt, dennoch ist in der Baupraxis eine verstärkte Hinwendung zu historischen Bauten und Baustilen festzustellen. Beispiele hierfür sind Rekonstruktionen wie die Semperoper in Dresden, der Platz der Akademie in Berlin oder das Vorhaben, in Berlin wieder ein Stück Altstadt mit einer Mischung aus historischen und historisch nachempfundenen Bauten zu errichten (Bereich Nikolaikirche). Ein Ausweg aus dem Schematismus des Massenwohnungsbaus ist die Rückbesinnung auf das traditionelle Erbe; daneben stehen Versuche, durch bessere Qualität oder stärkere Berücksichtigung von Wünschen der Benutzer der DDR-A. zu mehr Vielfalt zu verhelfen.
III. Baugebundene Kunst
Seit der forcierten Industrialisierung des Bauens Mitte der 50er Jahre gibt es verstärkte Bemühungen, [S. 89]einer Monotonie im Bauwesen durch die bewußte Verbindung von A. und bildender Kunst zu begegnen. Ökonomische Zwänge sorgten bis heute dafür, daß Kunst hierbei Zusatz zum Zweckbau blieb. Trotzdem sind einige für die DDR typische Entwicklungen festzustellen, die alle von der Absicht geprägt sind, Kunst in der Verbindung mit A. aus dem abgeschiedenen Bereich eines Museums publikumsnah mitten in verkehrsreiche Stadtzentren oder in Wohngebiete zu stellen:
Alle Neubaugebiete der DDR enthalten Zeichen einer Verbindung von bildender Kunst und A. Am häufigsten anzutreffen ist die Bereicherung eines Fertigbaukomplexes durch Plastiken, hierbei reicht die Skala von politischer Monumentalität (Marx-Kopf von Lew Kerbel in Karl-Marx-Stadt) bis zur verspielten Kleinplastik, letztere oft als Brunnen.
Eine direkte Verbindung gehen Bildkunst und Bauwerk bei der Gestaltung großdimensionierter Wandbilder ein. Musterbeispiel ist hier der von Walter Womacka geschaffene Bildfries um das Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexanderplatz (1964; mit 125 m × 7 m zugleich eine der flächenhaft größten Kunstschöpfungen in Europa). Die großen Wandbilder, Metallreliefs, Glasfenster, Kachelmosaiken, Keramiken oder im Innern auch Teppiche sind eine für die DDR kennzeichnende Form baugebundener Kunst.
In den 60er Jahren gab es unter der Wortführung von Hermann Henselmann (Städtebau) den Versuch, repräsentative Bauwerke selbst als signifikante Kunstwerke zu gestalten. Ein Beispiel für diese „Zeichen-A.“ ist das nach einer Idee von Henselmann 1968–1975 gebaute Leipziger Universitätshochhaus mit seiner zugespitzten Dachhaube. Der Unterschied zwischen diesem Trend und dem heutigen baukünstlerisch ambitionierten Bauen wird deutlich in dem direkt daneben errichteten Neuen Gewandhaus von Rudolf Skoda mit seinem von außen und innen einzusehenden über 3 Etagen laufenden 700 qm großen Wandgemälde von Sighard Gille. Dieses 1977–1981 fertiggestellte Bauwerk ist in jeder Hinsicht das gelungenste Beispiel einer Verbindung von Kunst und A. in der DDR.
In den Jahren des umfassenden politischen Umbruchs wurde baugebundene Kunst durch die Gestaltung radikal neuer Anlagen konzipiert (z.B. Alexanderplatz Berlin, Sachsenplatz Leipzig, Zentrum Karl-Marx-Stadt). Heute ist rücksichtsvolleres Einfügen des Neuen in die überkommene Bausubstanz mehr gefragt; durch ensemblegerechten Entwurf von Neubauten, durch Anpassung an die geschichtliche Umgebung vermischen sich Baukunst und Denkmalpflege (z.B. Planung Hotelneubau Dresden/Elbufer).
IV. Information und Dokumentation
Zentrale Einrichtung für Wissenschaft und Technik im Bauwesen ist die „Bauinformation“ der Bauakademie der DDR, 1020 Berlin (Ost), Wallstr. 27. Den Benutzern stehen neben ständig wechselnden Bauausstellungen und einer Fachbibliothek mit umfassenden Katalogen ein Recherchesystem für Dokumente (Verordnungen, Aufsätze, Fotos und Filme), Patente und technische Vorschriften zur Verfügung. Die Bauakademie publiziert eine Dokumentationskartei: Zeitgeschichte des Bauwesens der DDR, I. 1945–1970, II. 1971–1976 und eine Schriftenreihe für Bauforschung, insbes. Reihe: Städtebau und Architektur; VEB Verlag für Bauwesen, Berlin. Zeitschrift „Architektur der DDR“ (1952 als „Deutsche Architektur“ gegr.). Bau- und Wohnungswesen; Städtebau.
Manfred Ackermann
Literaturangaben
- Andrä, Klaus, Renate Klinker u. Rainer Lehmann: Fußgängerbereiche in Stadtzentren. Hrsg. Bauakademie der DDR, Institut für Städtebau und Architektur. Berlin (Ost): Verl. f. Bauwesen 1981.
- Architektur in der DDR. Berlin (Ost): Henschel 1980. (Schriften des Instituts für Städtebau und Architektur.)
- Flierl, B.: Zur sozialistischen Architekturentwicklung in der DDR. Hrsg. Bauakademie der DDR. Berlin (Ost): Henschel 1979.
- Krenz, Gerhard: Architektur zwischen gestern und morgen. Ein Vierteljahrhundert Architekturentwicklung in der DDR. Berlin (Ost): Verl. f. Bauwesen 1974.
- Städte und Stadtzentren in der DDR. Ergebnisse u. reale Perspektiven des Städtebaus in der DDR. Hrsg. von Gerhard Krenz, Walter Stiebitz u. Claus Weidner. Berlin (Ost): Verl. f. Bauwesen 1969.
- Städtebau in der DDR, in: Stadt — Zeitschrift für Wohnungs- und Städtebau. Hrsg. Vorstand der Unternehmensgruppe Neue Heimat. Sondernummer 1/1983. Hamburg 1983.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 87–89
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