Der hier dokumentierte Text zum »Eisenberger Kreis« aus dem Jahr 1965 war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Er sollte Ereignisse, Gedankengänge und Zusammenhänge so, wie sie kurz nach Haftentlassung der letzten Mitglieder des »Eisenberger Kreises« erinnerlich waren, fixieren. Die damalige Zurückhaltung hinsichtlich einer Veröffentlichung hatte zwei Gründe: Die den »Freikauf« vermittelnden Rechtsanwälte Alfred Musiolik und Wolfgang Vogel sowie Mitarbeiter des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen baten die »Freigekauften« dringend, über den »Freikauf« und die Vorgänge, die zu den Verhaftungen und politischen Prozessen geführt hatten, zu schweigen, da zu befürchten sei, dass die DDR die »Freikauf«-Aktion andernfalls beenden würde. An diese Bitte haben sich die meisten der Betroffenen etwa zwei Jahre lang gehalten.
Ein zweiter Grund für relatives Stillschweigen in der Öffentlichkeit, damals auch für vollständiges Verschweigen mancher Fakten und Zusammenhänge, war, dass von der Zerschlagung der Gruppe im Jahr 1958 bis zum Zeitpunkt der Freilassung der letzten Verurteilten 1964 »nur« sechseinhalb Jahre verstrichen waren und damit zu rechnen war, dass das MfS sich noch immer für den »Eisenberger Kreis« und sein Umfeld interessierte – ein Verdacht, der sich später bei der Durchsicht der MfS-Akten bestätigte.
Die Sichtung des äußerst umfangreichen Aktenbestandes des MfS über den »Eisenberger Kreis« brachte vor allem Erkenntnisse über die Zerschlagung der Gruppe und über die Überwachung ihrer Mitglieder bis zum Ende der DDR. Das MfS hat im Zusammenhang mit dem »Eisenberger Kreis« eine solche Menge von Akten produziert, die zudem teilweise weit verstreut sind, dass sie von den Betroffenen schwerlich jemals vollständig erfasst werden können.
Bestätigt hat sich der Verdacht, dass das MfS einen hauptamtlichen Geheimen Mitarbeiter (GM) als angeblichen Agenten des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen in Jena auftreten ließ, der Kontakte zu Regimegegnern herstellen sollte, also eine so genannte »operative Kombination« durchführte. An der Planung wirkte auch ein sowjetischer »Berater« mit, wie es sie damals noch auf zentraler und mittlerer Ebene des MfS gab. Bei dem hauptamtlichen GM handelte es sich um Harry Schlesing, der in einer selten zu beobachtenden Aggressivität für das MfS etwa 1951 bis in die 60er Jahre in der DDR und in West-Berlin tätig war.[1] Dieser Schlesing ist nicht identisch mit dem im Dokument genannten Theologiestudenten Jürgen Keller, der allerdings Schlesings Kontakt zum »Eisenberger Kreis« herstellte. Schlesing war gezielt auf Keller angesetzt worden, weil das MfS vermutete, über ihn Zugang zu Regimegegnern in Jena zu bekommen. Der Kontakt zu Schlesing wurde der Gruppe in Anklageschrift und Urteil als »Spionage« für das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen angelastet, über die »operative Kombination« war nur Bezirksstaatsanwalt Paul Detzner, jedoch nicht das Bezirksgericht informiert.
Aus den MfS-Akten ergibt sich eine sofort nach der Zerschlagung des »Eisenberger Kreises« 1958 einsetzende und bis zum Ende der DDR andauernde Verfolgungs- und Überwachungskampagne gegen nicht inhaftierte und haftentlassene Mitglieder der Gruppe. Dies begann im Frühjahr 1958 mit dem Plan einer Entführung von zwei ihrer führenden Mitglieder, Reinhard Spalke und Wilhelm Ziehr, die inzwischen in Tübingen und Marburg studierten, in die DDR (in den MfS-Akten nannte man das »in die DDR ziehen«). Mehrere GM wurden nach Tübingen und Marburg geschickt, um die dortigen Wohnverhältnisse der zu entführenden Personen und das Gelände im Umland zu erkunden. Erst 1960 wurde der Plan auf Veranlassung der MfS-Zentrale (des stellvertretenden Ministers Generalmajor Bruno Beater) aufgegeben.
Das über nahezu alle Mitglieder der Gruppe und ihr Umfeld angelegte Überwachungsmaterial aus Berichten, Karteikarten, Formularen, Photos usw. reicht bis zum September 1989. Die Überwachungsaktionen ähneln zuweilen den Manöverspielen der FDJ gegen einen nicht existierenden Feind. Immer wieder glaubte das MfS, ein Fortwirken oder eine Wiederbelebung des »Eisenberger Kreises« zu erkennen. Man könnte die These wagen, dass der »Eisenberger Kreis« noch nach dem Ende seiner Existenz über Jahre hinweg ein beträchtliches Kräftepotential des MfS gebunden hat.
In der DDR-Forschung und in der Publizistik der Bundesrepublik fand der »Eisenberger Kreis«, wie generell Opposition und Widerstand in der DDR, bis zur Wiedervereinigung kaum Berücksichtigung, ausgenommen die Monographien von Karl Wilhelm Fricke, der sich nahezu als einziger DDR-Forscher diesem Thema widmete. Mitglieder des »Eisenberger Kreises« behandelten die Gruppe gelegentlich in Vorträgen in kleinem Kreis und in Aufsätzen in größeren Zusammenhängen. Nach dem Untergang der DDR erschienen in der Bundesrepublik zahlreiche Veröffentlichungen über Opposition und Widerstand in der DDR, in denen auch der »Eisenberger Kreis« ausführlich berücksichtigt wurde, ebenso war er teilweise oder allein Gegenstand von Ausstellungen. Eine Gesamtdarstellung enthält die 1995 erschienene Monographie von Patrik von zur Mühlen Der Eisenberger Kreis. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR, Bonn 1995.
Das hier abgedruckte Dokument aus meiner Feder wurde später dem Gesamtdeutschen Archiv übergeben, das 1969 im Gesamtdeutschen Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben aufging. Zum Teil, soweit es um das Untersuchungs- und Strafverfahren geht, ist es in Auszügen in der Dokumentation von Karl Wilhelm Fricke Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968, Köln 1979 (S. 384 ff.) veröffentlicht. Der Text gelangte später auch in andere Archive, u. a. das des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, der Robert-HavemannGesellschaft Berlin, und stand auch Patrik von zur Mühlen für seine Monographie von 1995 als Quelle zur Verfügung. Erstmals wird der Text hier vollständig publiziert.
Dokument 1:[2]
1. Die Entstehung des »Eisenberger Kreises« und seine Tätigkeit bis zum Ende des Jahres 1955.
Eine der häufigsten Fragen, die den 1958 festgenommenen Mitgliedern und Sympathisierenden des »Eisenberger Kreises« in der Untersuchungshaft immer wieder gestellt wurden, bezog sich auf die »wirklichen« Gründe, die uns als Studenten, die doch in der »DDR« erhebliche materielle Vorteile genossen und denen scheinbar alle Wege offenstanden, zu erbitterten Feinden dieses Staates werden ließen. Es war auffällig, daß diejenigen MfS-Offiziere, die einige Fähigkeiten zu besitzen schienen und die sich mit den Problemen ihrer Arbeit etwas intensiver beschäftigten, an einer eingehenden und wahrheitsgemäßen Beantwortung dieser Frage besonders interessiert waren (ganz im Gegensatz zu den Richtern, Schöffen und Staatsanwälten, denen nur daran gelegen war, unsere Motive in das von der SED vorgezeichnete Schema vom »imperialistischen Agenten« einzuordnen). Auch im Strafvollzug konnten es sich einige durchaus überzeugte Gegner der Kommunisten nicht recht erklären, daß sich Studenten, die scheinbar vom SED-Regime bevorzugt wurden, aus innerer Überzeugung gegen dieses Regime zum Widerstand zusammenschlossen. Gelegentlich klingt diese Frage auch in Gesprächen mit Bundesbürgern an. Vor uns selbst stand schließlich das Problem, ob die staatliche Förderung den Studenten in der »DDR« nicht zur Zustimmung zur Regierungspolitik oder doch wenigstens zum Stillhalten verpflichte.
Hierauf eine Antwort zu geben und einiges zu erläutern, was in der östlichen Propaganda bewußt verfälscht wurde und in der westlichen Presse auf Grund objektiver Schwierigkeiten nicht genau dargestellt werden konnte, ist das Ziel der folgenden Zeilen.
Es waren Oberschüler im Alter von 16–18 Jahren, die sich im September 1953 in Gesprächen zusammenfanden und mit dem Problem befaßten, ob man in Zukunft dem Vorgehen der SED und der FDJ-Leitung an der Oberschule Eisenberg mit ruhigem Gewissen zusehen könnte und ob das Auftreten eines Einzelnen, der den Mut zur Opposition aufbringt, überhaupt sinnvoll wäre. Kaum vor drei Monaten hatten wir den Zusammenbruch einer gewaltigen, aber spontanen Volksaktion gegen die von der Sowjetregierung eingesetzte und gestützte SED-Herrschaft erlebt. Wenige Wochen vorher hatten wir die Kampagne der SED gegen die »Junge Gemeinde« über uns ergehen lassen müssen, auf deren Höhepunkt die meisten unter uns von den Funktionären so überspielt wurden, daß sie, trotz teilweise offenen Widerspruchs, auf der FDJ-Vollversammlung nicht gegen den Ausschluß ihrer Kameraden aus der FDJ (und damit aus der Oberschule) stimmten. Die Zivilcourage einzelner Oberschüler war nutzlos geblieben, weil der unorganisierten Mehrheit eine Minderheit gut aufeinander eingespielter Funktionäre gegenüberstand. Selbst seit einem Jahr FDJ-Funktionär, hatte ich mitbekommen, wie die Partei solche Aktionen organisiert, und ich hatte die traurigen Gestalten, die dabei eine Rolle spielten, zur Genüge kennengelernt. Um so größer war unsere Erbitterung, nachdem die Regierung, wenn auch aus taktischen Gründen, unserer Meinung in der Frage der »Jungen Gemeinde«, die wir nicht hatten durchsetzen können, recht zu geben schien. – Schließlich hatte sich seit 1952 die bis dahin (wenigstens im Unterricht) vorherrschende pazifistische Linie zu einem geradezu hysterischen FDJ-Militarismus gewandelt, der uns fürchten ließ, über kurz oder lang in einen Krieg gegen die eigenen Landsleute gehetzt zu werden.
Der Entschluß, »etwas zu tun«, reifte schließlich auch auf einem Boden, den die SED durch ihre intensive Behandlung des antifaschistischen Widerstands mit vorbereitet hatte. Ich selbst war im Elternhaus im Sinne dieser Traditionen erzogen worden. Die Vorwürfe, die nach dem Zusammenbruch von 1945 auch gegen die Deutschen gerichtet wurden, die an den Untaten der Nazis nicht beteiligt waren, erinnerten uns an die eigene Verpflichtung, dem Unrecht, das wir als solches erkannt hatten, nicht tatenlos zuzusehen. Diese Überlegungen haben schon damals, wenn auch nicht in so klarer Form, für uns eine wesentliche Rolle gespielt. Neben vielen anderen Worten ist mir aus dieser Zeit auch die Äußerung eines unserer Lehrer in Erinnerung, der auf meine Frage, ob man denn weiteres »Wohlverhalten« noch verantworten könne, die müde-resignierende Antwort gab: »Mit Taschentüchern kann man nicht gegen Maschinengewehre angehen.« Beim Nachdenken über diese Worte kam ich allerdings nicht ganz zu dem Ergebnis, das dieser Lehrer vielleicht im Sinn hatte.
Für meine persönliche Entscheidung spielte auch das Erlebnis eine Rolle, das mir die Lektüre von Wyschinskis »Gerichtsreden« vermittelte. Dieses Buch, das übrigens jedem zu empfehlen ist, der sich keine Originaltexte von Plädoyers heutiger SED-Staatsanwälte beschaffen kann, ist mir im Alter von knapp 16 Jahren in der Eisenberger Stadtbücherei in die Hände gefallen, und der »Geist« dieser Reden ist mir auch heute noch gegenwärtig, obwohl ich das Buch seitdem nicht wieder gesehen habe.
Wir wußten, daß der Rückzug, den die Funktionäre nach der Verkündung des »Neuen Kurses« teilweise antreten mußten, ihre Wut nur gesteigert hatte, und daß sie die erste Gelegenheit zu einem noch härteren Vorgehen gegen mißliebige Personen an der Oberschule nutzen würden. Die Vorbereitungen eines organisierten Widerstandes gegen die von uns erwarteten neuerlichen Aktionen der Partei füllten in den ersten Monaten des Bestehens der Gruppe unsere Tätigkeit aus. Es gelang uns ohne allzu große Schwierigkeiten, die FDJ-Leitung mit unseren Freunden zu durchsetzen, denn die »Genossen« waren ja froh, daß überhaupt jemand diese unbeliebten Funktionen übernahm. Ebenso gewannen wir in jeder Klasse einige Vertrauensleute, auf die wir uns im Notfall verlassen konnten. Der Erfolg dieser Taktik war zufriedenstellend, denn die Tätigkeit der Partei- und FDJ-Leitung an der Schule konnte bis zum Beginn des Jahres 1956 weitgehend lahmgelegt werden.
Ein gewisser Wendepunkt trat ein, als im Februar 1954 ein bei seinen Schülern außerordentlich beliebter Lehrer unter der Beschuldigung verhaftet wurde, er habe innerhalb der von ihm gegründeten NDPD-Gruppe an der Oberschule eine staatsfeindliche Tätigkeit betrieben. Die an dieser Angelegenheit beteiligten Denunzianten waren ebenfalls sehr rasch bekannt geworden. Unter dem Eindruck dieses erneuten Gewaltakts kamen die führenden Mitglieder der Gruppe zu der Ansicht, daß eine abwartende Haltung gegenüber der SED nun nicht mehr zu vertreten sei. Trotzdem beschränkten wir uns bis zum Herbst 1955 auf einige Probeaktionen propagandistischer Art mit relativ geringer Wirkung, auf die Verbreitung meist russischer Flugblätter, die wir in der Umgegend fanden, sowie auf die Entwendung einiger alter Schußwaffen aus dem Eisenberger Heimatmuseum. Die »Volkspolizei« hatte die Verschrottung dieser Waffen angeordnet, weil sie ihr irgendwie gefährlich erschienen, obwohl es sich, wie sich dann bei genauerer Besichtigung herausstellte, um Vorderlader aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts handelte.
Bei den »Volkswahlen« im Oktober 1954 wurden die Schüler der höheren Klassen der Oberschule als Wahlhelfer eingesetzt, und wir hatten so Gelegenheit, die »Volksdemokratie« in Aktion zu sehen. Einen besonderen Beitrag zu unserer »Schulung« leistete die FDJ-Kreisleitung Eisenberg, der wir ein hektographiertes Formular entwenden konnten, auf dem die Wahlleiter u. a. aufgefordert wurden, jede Person namentlich aufzuführen, die die Wahlkabine zu benutzen wagte.
Unter uns befaßten wir uns mit dem Austausch und der Verbreitung von Nachrichten westlicher Rundfunksendungen, mit Lektüre über den Widerstand in der NS-Zeit (besonders über die Ereignisse des 20. Juli 1944, soweit uns die Beschaffung derartiger Literatur möglich war). Daneben wurden Maßnahmen vorbereitet, um einer organisierten Zustimmung zur Schaffung einer »Volksarmee« und der eventuell damit verbundenen Wehrpflicht entgegentreten zu können.
Die theoretischen Überlegungen gingen damals nur wenig über die Forderung nach freien Wahlen hinaus (diese Grundforderung blieb auch später Hauptgegenstand aller Propagandaunternehmen). Nur in allgemeiner Form wurde über die Beseitigung der Allmacht der SED, die Ausschaltung des Staatssicherheitsdienstes und die Freilassung der politischen Gefangenen gesprochen. Wir waren damals überzeugt, daß durch freie Wahlen eine Wiedervereinigung ohne große Schwierigkeiten zu erreichen wäre.
Die Losungen, die die Forderung nach freien Wahlen zum Inhalt hatten und die wir vor der Außenministerkonferenz im Oktober/November 1955 anbrachten, stellten nun keine Versuche mehr dar und wurden in der Öffentlichkeit in dem von uns gewünschten Umfang bekannt.
Den Abschluß dieser Periode der Tätigkeit des »Eisenberger Kreises« bildete die im Dezember 1955 vollzogene Vereinigung mit einer zweiten, bisher selbständig existierenden Gruppe unter der Leitung des Mathematikstudenten Peter H e r r m a n n.
2. Die Ausdehnung und Intensivierung der Widerstandstätigkeit der Gruppe im Jahre 1956 und die Beziehungen der Gruppe zur allgemeinen studentischen Opposition in Jena.
Das für die Welt so außerordentlich bedeutungsvolle Jahr 1956 begann für uns mit einer Aktion, die den bisherigen Rahmen sprengte. Wir setzten am 21. 1. 1956 das Gebäude des Eisenberger Schießstands, der von der GST [Gesellschaft für Sport und Technik], der VP und den Betriebskampfgruppen gemeinsam benutzt wurde, in Brand. Das Ziel dieser Unternehmung war nicht, dem Staat einen besonderen materiellen Schaden zuzufügen (er betrug etwa DM 2 000,–), sondern nachhaltig gegen die Schaffung der »Nationalen Volksarmee« (26. 1. 1956), mit der wir eine Einführung der allgemeinen Wehrpflicht erwarteten, zu protestieren. Auch in diesem Fall erreichten wir unser Ziel, indem die Zerstörung des Schießstandes in Eisenberg und der Umgegend bekannt wurde. Da die Behörden über ein Jahr mit der Wiederherstellung des Gebäudes, das vom Sportplatz etwa 100 m entfernt war, zögerten, hatten auch auswärtige Besucher Gelegenheit, die Ruine sich anzusehen.
Der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 änderte die Situation schlagartig zuungunsten der SED. Unsere Einschätzung der »Diktatur des Proletariats« wurde in vollem Umfang bestätigt und der ideologische Zusammenbruch der Kommunisten löste eine Reihe von Ereignissen aus, die der Widerstandstätigkeit der Gruppe beträchtlichen Auftrieb gaben, uns aber auch veranlaßten, genauere Überlegungen über Nah- und Fernziele anzustellen und legale und illegale Methoden in sinnvoller Weise miteinander zu kombinieren. Das, was später in der östlichen und westlichen Presse unter dem Begriff »Konzeption« oder »Zehn-Punkte-Programm« auftauchte, ist damals entstanden, wenn auch (heute muß man sagen – leider –) nicht in der festen Form, in der es das MfS später sehen wollte. Erhebliche Schwierigkeiten bei der Schaffung eines Grundsatzprogramms ergaben sich schon deshalb, weil die der Gruppe fest angehörenden Personen sich in vielen Detailfragen nicht einig waren und weil sich eigentlich nur eine Art »Einheitsfront« aus zur Sozialdemokratie, zu christlichen Anschauungen oder nationalen Ansichten tendierenden Menschen gebildet hatte. Selbst über den Namen »Stauffenberg-Gruppe« ist keine volle Einigung zustande gekommen, da es die Meinung gab, daß dieser Name als charakteristisch für eine nationalistische und einer gewaltsamen Lösung anhängende Haltung angesehen werden könne. Dennoch gab es eine Anzahl von Punkten, in denen grundsätzliche Einigkeit bestand:
a) Neben der SED und den ihr angeschlossenen »Blockparteien« sollte mindestens einen Oppositionspartei, u. U. die SPD, zugelassen und der Anspruch der SED auf alleinige Machtausübung beseitigt werden.
b) Neben der FDJ sollte eine nichtkommunistische Studenten- oder Jugendorganisation zugelassen werden.
c) Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und die Freilassung aller politischen Gefangenen ist Grundvoraussetzung für die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Mitteldeutschland.
d) Auf wirtschaftlichem Gebiet sollte die Wiederherstellung der Privatwirtschaft auf den Gebieten des Einzelhandels, des Handwerks, sowie der kleineren und mittleren Industriebetriebe und die Auflösung unrentabler LPG (sofern deren Mitglieder des wünschen) erwogen werden. Die Großindustrie sollte unter staatlicher Kontrolle verbleiben und ihre Organisation nach jugoslawischem Vorbild umgewandelt werden.
e) Das obligatorische Studium der Gesellschaftswissenschaften und der russischen Sprache an den Universitäten sollte beseitigt sowie Lehre und Forschung von politischer Bevormundung befreit werden.
f) Die Reisebeschränkungen zwischen beiden Teilen Deutschlands müssen aufgehoben werden.
g) Die Pressefreiheit, ausgenommen für rechtsradikale oder faschistische Publikationen, muß wiederhergestellt werden. Die Rundfunkstationen und Nachrichtenagenturen sollen eine vollständige und objektive Information der Öffentlichkeit über das politische Geschehen gewährleisten.
h) Personen, die an politischen Verhaftungen und an Urteilen in politischen Prozessen maßgeblich mitgewirkt haben, sollen keinen Einfluß auf die zukünftige politische Entwicklung in Deutschland haben. Wenn diese Personen für Todesurteile in politischen Prozessen verantwortlich sind, müssen sie vor ordentliche Gerichte gestellt werden.
i) Eine Herauslösung der »DDR« aus dem Warschauer Vertrag und der Abzug der sowjetischen Streitkräfte auf Grund einer Vereinbarung der vier Großmächte ist anzustreben.
Nach der Verwirklichung dieser Ziele in einer Übergangszeit sollte die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen vollzogen werden, die unter der Beobachtung der Vereinten Nationen abgehalten werden müßten, sofern die Gefahr einer ausländischen Einmischung noch bestand. Den Kommunisten sollten die gleichen Rechte und Chancen bei diesen Wahlen eingeräumt werden wie den übrigen demokratischen Parteien.
Die spätere Behauptung der SED-Propaganda, es hätte eine genau ausgearbeitete »Plattform« der Widerstandsgruppe gegeben, entspricht leider nicht den Tatsachen. Die führenden Mitglieder der Gruppe waren sich zwar darin einig, daß die oben angeführten Punkte die wesentlichen Ziele unserer Tätigkeit darstellten, sie stellten jedoch kein schriftliches Programm zusammen. Deshalb war auch nur ein kleiner Kreis von Personen vom Inhalt dieser Ziele genau informiert. Allgemein bekannt war unter uns allen, daß die »Diktatur des Proletariats« in Mitteldeutschland abgeschafft werden sollte, wenn nötig, in Etappen, wobei als erster Schritt die unmittelbaren Auswirkungen des Personenkultes in der SED zu beseitigen gewesen wären. Durch eine möglichst intensive Propaganda mit allen der Gruppe zur Verfügung stehenden oder von ihr noch zu beschaffenden Mitteln sollte die Bevölkerung zum allgemeinen passiven Widerstand aufgefordert werden, wobei den Menschen besonders der Gedanke nahegebracht werden sollte, daß mit zunehmender Ausdehnung dieser Art des Widerstandes (etwa in der Form des Wahlboykotts, des Boykotts der Massenorganisationen, der offiziellen Versammlungen und Demonstrationen, der Verlangsamung des Arbeitstempos in den VEB usw.) es der Regierung immer schwerer und schließlich unmöglich werden würde, Repressalien durchzuführen. Es war nicht beabsichtigt, etwa einen Aufstand vorzubereiten oder eine gewaltsame Auseinandersetzung mit den Kommunisten zu provozieren, denn dies, darüber waren wir uns alle im klaren, würde große Menschenopfer kosten, ohne daß ein Erfolg zu erwarten gewesen wäre.
Die Tatsache, daß die Gruppe einige Waffen besaß und sich auch bemühte, weitere Waffen zu beschaffen, steht zu der Absicht, einen allgemeinen passiven Widerstand zu organisieren, nicht im Widerspruch. Da wir die Absicht hatten, unsere Aktionen auf mehrere mitteldeutsche Städte auszudehnen und überhaupt unsere Propagandaaktionen zu intensivieren, mußten wir auch die erhöhte Gefahr eines Zusammenstoßes mit Polizei- und SSD-Streifen bei der Durchführung unserer Unternehmungen einkalkulieren. Sehr ausführliche Beobachtungen hatten uns einen Einblick in die Aktivität der Sicherheitsorgane zur Zeit besonderer politischer Ereignisse, bei bevorstehenden »Volkswahlen« und vor Staatsfeiertagen gegeben, wobei die verstärkte Streifentätigkeit besonders wichtig war. Da wir eine aktive Tätigkeit unserer Gruppe gerade in politischen Krisenzeiten für notwendig hielten, sollte es unseren Mitgliedern möglich sein, sich zu verteidigen, wenn sie etwa bei der Verteilung von Flugblättern angegriffen würden. Bei den meisten Unternehmungen, die die Gruppe tatsächlich durchgeführt hat, waren die Ausführenden jedoch nicht bewaffnet, da die Gefahr einer unmittelbaren Überraschung relativ gering war. Nur in einigen wenigen Fällen wurden Gaspistolen mitgeführt, nie jedoch vollwertige Schußwaffen.
Ein weiteres Argument, das für die Beschaffung von Waffen sprach, lag darin, daß es ja, unabhängig von den Zielen und der Aktivität der Gruppe, im Lauf einer politischen Krise doch zu einem Aufstand oder zu einem bewaffneten Vorgehen der Regierung gegen Demonstranten kommen konnte. In einem solchen Fall hätten wir kaum abseits gestanden, obwohl wir vom Erfolg eines gewaltsamen Vorgehens nicht überzeugt waren.
Unter diesen Gesichtspunkten sind auch die Behauptungen Albert N o r d e n s in einer Rede im Jenaer Volkshaus am 23. X. 1958 zu werten, die Gruppe habe Anschläge auf militärische Objekte und auf Parteifunktionäre bis in die Einzelheiten vorbereitet und geplant[3]. Die Wahrheit ist, daß unter dem Eindruck der 1953 und 1954 gefällten politischen Todesurteile, der Gewaltmaßnahmen der Sowjetregierung in Ungarn nach der Niederschlagung des Aufstands und dem bisher ungeklärten Tod des Jenaer Studenten H a m m e r[4] im mitteldeutschen Strafvollzug einige Mitglieder der Gruppe der Meinung waren, man müsse mit gleicher Münze zurückzahlen und auch einige Vorschläge in dieser Hinsicht machten. Irgendwelche Auswirkungen auf die Zielsetzung und die Tätigkeit des »Eisenberger Kreises« hatten diese Diskussionen schon deshalb nicht, weil diejenigen, die ein gewaltsames Vorgehen gegen das SED-Regime erwogen hatten, von diesen Ansichten wieder abrückten, als sich die unmittelbare Erregung über die oben erwähnten Vorgänge legte. Allerdings hatte sich gegen Ende des Jahres 1956 unter den führenden Mitgliedern der Gruppe die Meinung durchgesetzt, daß nach dem, was in unmittelbarer Vergangenheit geschehen und aus der etwas weiter zurückliegenden Geschichte durch den XX. Parteitag der KPdSU bekannt geworden war, eine Diskussion mit Kommunisten nicht mehr möglich sei.
Das Echo der Revolution[en] in Polen und Ungarn war an den Universitäten besonders deutlich spürbar. Nach kurzer Zeit war die SED-Universitätsparteileitung und die FDJ-Hochschulgruppenleitung nicht mehr Herr der Lage. Es ist keineswegs zutreffend, die zahlreichen turbulenten Studentenversammlungen dieser Tage, die Resolutionen gegen das obligatorische gesellschaftswissenschaftliche Studium und den obligatorischen Russischunterricht, die satirischen Programme des Physiker- und Chemikerballes Ende 1956 und die Aktionen zur Verteidigung der Akteure dieser Programme allein der Aktivität des »Eisenberger Kreises« zuzuschreiben, wie das in der SED-Presse und teilweise auch in westlichen Publikationen dargestellt wurde. Natürlich zahlte es sich jetzt in vollem Umfang aus, daß ich seit Herbst 1955 auch in Jena FDJ-Funktionär geworden und in der FDJ-Hochschulgruppenleitung tätig war, sodaß wir uns über die Absichten unserer Gegner weitgehend informieren konnten.
An den Vorgängen in der Fachschaft Mathematik/Physik war von den führenden Mitgliedern der Gruppe nur der Mathematikstudent Peter H e r r m a n n unmittelbar beteiligt, indem er einen gewissen, jedoch keineswegs entscheidenden Einfluß auf den Inhalt der auf den Fachschaftsversammlungen beschlossenen Resolutionen hatte, bei ihrer Durchsetzung gegen die Manöver der FDJ-Leitung durch entschlossenes persönliches Auftreten mitwirkte und einen Teil des satirischen Programms auf dem Physikerball 1956 verfaßte und spielte[5]. Jeder Kenner der damaligen Verhältnisse (dazu gehören auch die Mitarbeiter der MfS-Bezirksbehörde in Gera) weiß aber, daß der jahrelange Zwang zur Lüge und das sowjetische Vorgehen in Ungarn das Entstehen einer erregten und erbitterten Stimmung unter der mitteldeutschen Bevölkerung bewirkten, sodaß es auch ohne unsere Tätigkeit zu heftigen Reaktionen unter der Jenaer Studentenschaft kommen konnte. Das Vorgehen der Medizinstudenten gegen den obligatorischen Russischunterricht, der Biologen gegen die Einführung einer nochmaligen Prüfung im Fach Gesellschaftswissenschaft bei Studienabschluß, die Saalausgestaltung beim Chemikerball 1956 und mehrere illegale Propagandaaktionen, die nach dem Eingreifen der sowjetischen Truppen in Ungarn in Jena festgestellt werden konnten – dies alles spielte sich ohne Mitwirkung und vorheriges Wissen der Mitglieder des »Eisenberger Kreises« ab. Gerade die Resolutionen mit der Forderung nach Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts sind eindeutig auf die im Herbst 1956 vorherrschende antisowjetische Stimmung zurückzuführen, eine Tatsache, die beiden Seiten damals wohlbekannt war, aber natürlich auch von beiden Seiten in Abrede gestellt wurde.
Die wirkliche Situation wird am besten charakterisiert durch eine Äußerung des damaligen 1. Sekretärs der SED-Universitätsparteileitung, [Kurt] P ä t z o l d, auf einer Sitzung der FDJ-Hochschulgruppenleitung, April 1957, die besagte, daß nach seiner Meinung nur 150 Studenten an der Friedrich-Schiller-Universität (von damals 5500 immatrikulierten Studenten) fest zur »DDR« stehen würden. Das von mir angefertigte Stenogramm dieser Sitzung fiel später in die Hand des MfS, und die Offiziere behaupteten dann, daß der Parteisekretär die Lage »zu schwarz« gesehen habe. Der Wahrheitsgehalt des Stenogramms wurde jedoch vom MfS nie bezweifelt.
In der 1958 vom MfS Gera durchgeführten Untersuchung wurde im völligen Widerspruch zu den Tatsachen versucht, die Einflußnahme einiger Gruppenmitglieder auf das Geschehen an der Universität Jena im Jahre 1956 anderen, allgemein oppositionell eingestellten Studenten in dem Sinne anzulasten, sie wären an der eigentlichen illegalen Tätigkeit der Gruppe beteiligt gewesen.
Diese Linie wurde auch im Strafverfahren, besonders im 4. Prozeß verfolgt, denn nur auf diese Weise konnten einige Studenten für angebliche Straftaten noch 1958 verfolgt werden, die den Untersuchungsbehörden schon 1956 bekannt waren, weil die betreffenden Studenten gar keinen Wert auf eine Verschleierung ihrer Opposition gelegt hatten.
Schließlich ist dem MfS auch genau bekannt, daß durch das provokatorische Auftreten einiger Parteifunktionäre völlig ohne Mitwirkung der aktiven Widerstandsgruppe eine so gespannte Situation entstand, daß es nur dem Eingreifen einiger einflußreicher Mitglieder des Lehrkörpers (u. a. des 1962 wegen angeblicher Vorbereitungen zur »Republikflucht« zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilten Direktors des Pharmakologischen Instituts, Prof. Dr. H o f f m a n n) zu verdanken ist, daß sich die Empörung der Studenten nicht in heftigen Reaktionen Luft machte. Die Widerstandsgruppe hat nichts gegen diese Vermittlungsaktionen der Professoren getan, weil wir uns über die möglicherweise katastrophalen Folgen einer Demonstration durchaus im klaren waren. Auch muß vermerkt werden, daß die über die westdeutschen Rundfunkstationen an die mitteldeutsche Bevölkerung ergangenen Aufforderungen, Ruhe zu bewahren, verbunden mit dem eindringlichen Hinweis auf die in der »DDR« stationierten sowjetischen Truppen, mit dazu beitrugen, daß es nicht zu heftigeren Auseinandersetzungen kam.
Unsere aktive und völlig illegale Tätigkeit in Form der Verbreitung von Flugblättern und Losungen (besonders in der Nähe der Eisenbahnlinie Jena–Gera), die vor allem Solidaritätserklärungen mit der ungarischen und polnischen Revolution zum Inhalt hatten, wurde im Herbst 1956 verstärkt fortgesetzt. Die Gruppe erweiterte sich erheblich, unter teilweiser Nichtbeachtung der Konspiration, was auf die damals allgemein verbreitete Meinung zurückzuführen war, daß man sich in einer revolutionären Situation befinde, deren Klärung in unserem Sinne in absehbarer Zeit erwartet wurde.
3. Das letzte Jahr des Bestehens des »Eisenberger Kreises«: der Untergang der Gruppe und seine Ursachen.
Entgegen allen Erwartungen stabilisierten sich die Verhältnisse im Ostblock und damit auch in Mitteldeutschland in den ersten Monaten des Jahres 1957. Unter der Bevölkerung machte sich eine gewisse Resignation bemerkbar, die der verbreiteten Ansicht entsprang, daß der Westen in der Herbstkrise 1956 versagt und eine große Chance verpaßt habe, indem einige westliche Staaten sich gerade zu dieser Zeit auf die Verfolgung eng begrenzter nationaler Interessen beschränkten. Das Zurückbleiben der amerikanischen Raketenentwicklung hinter der sowjetischen verstärkte die Überzeugung, daß der Westen künftig nicht in der Lage sein werde, eine Befreiungsbewegung der Völker unter kommunistischer Herrschaft wirksam zu unterstützen.
Die allgemeine Enttäuschung erfaßte auch mehr oder weniger die meisten Mitglieder unserer Gruppe. Die Belastung durch die Vorbereitung mehrerer umfangreicher Flugblattaktionen verteilte sich nun auf eine geringere Anzahl unserer Freunde als früher, und der Mangel an finanziellen und technischen Mitteln wurde immer fühlbarer. Die Anforderungen des Studiums an die Studenten unter uns wuchsen, und wir mußten berücksichtigen, daß wir ja keine »Berufsrevolutionäre« waren. Mir selbst fiel es immer schwerer, die seit über 3 Jahren übernommene Doppelrolle als aktiver Mitarbeiter des »Eisenberger Kreises« und als »zuverlässiger« FDJ-Funktionär zu spielen. Trotz dieser Schwierigkeiten setzten wir unsere Tätigkeit fort. Es wurden Vorbereitungen für die Verbreitung eines Aufrufs zum Boykott der »Gemeindewahlen« im Juni 1957 getroffen, die jedoch durch verschiedene Hindernisse nicht zur Ausführung kamen. Versuche, eine einheitliche Protestaktion gegen das Verbot von Westreisen für Studenten, das das Staatssekretariat für Hochschulwesen im Mai 1957 erlassen hatte, zu organisieren, brachten ebenfalls nicht den gewünschten Erfolg. Wir konnten feststellen, daß das MfS seine Überwachung der Universität erheblich verstärkt hatte, und es gelang uns die Beschaffung einiger genauerer Informationen über die Art und den Umfang dieser Maßnahmen des MfS. Die Tatsache, daß der Gegner zunächst keinerlei Erfolg zu haben schien und für die Verfolgung seiner Absichten denkbar ungeeignete und unfähige Personen einsetzte, führte unsererseits zu einer gewissen Unterschätzung des Staatssicherheitsdienstes. Weiter befaßten wir uns mit Versuchen zur Herstellung von Flugblattraketen sowie einer durch einen Säurezeitzünder ausgelösten Apparatur zum Auswurf von Flugblättern. Im letzteren Fall waren die Versuche erfolgreich, und einige Wochen vor unserer Verhaftung begann die Herstellung einer größeren Anzahl dieser Apparate. Sie kamen aber nicht mehr zum Einsatz, hätten jedoch die Verbreitung von Flugblättern zweifellos sehr erleichtert, da dem Verteiler die Zeit von einer Stunde oder mehr zur Verfügung gestanden hätte, ehe die Flugblätter überhaupt auftauchten.
Im Herbst 1957 unternahmen wir außergewöhnliche Anstrengungen, um anläßlich des 1. Jahrestages der zweiten sowjetischen Intervention in Ungarn am 4. 11. 57 mehrere hundert Aufrufe an die Mitglieder des Lehrkörpers der Universitäten Leipzig und Jena mit der Post zu verschicken, angeregt durch die Methode der Geschwister Scholl, die sie bei ihren Aktionen 1943 angewendet hatten. Hierbei getroffene, teilweise sicherlich übertriebene Sicherheitsmaßnahmen (Beschaffung der Briefumschläge, des Papiers und der Briefmarken in mehreren, weit voneinander entfernten Städten, Benutzung einer etwa 50 Jahre alten Schreibmaschine, um der Gefahr einer Typenidentifizierung zu entgehen, usw.) sowie die geringe Zahl der erforderlichen Matrizen, die man damals bekommen konnte, führte dazu, daß der Termin nicht eingehalten werden konnte, obgleich schon eine Anzahl Abzüge des Aufrufs hergestellt waren. Auf einer Seite des Aufrufs war ein Auszug aus dem Schlußwort Prof. H u b e r s abgedruckt, der 1943 im Prozeß gegen die Geschwister S c h o l l zum Tode verurteilt wurde. Der von uns selbst verfaßte Text enthielt unter Hinweis auf die Ereignisse von 1956 und die Ergebnisse des XX. Parteitags der KPdSU die Aufforderung zum passiven Widerstand, der sich zunächst im Boykott kommunistischer Propagandaveranstaltungen und der »Volkswahlen« äußern sollte. Wir baten die Professoren und Dozenten, in ihren Lehrveranstaltungen in einer Weise, die sie nicht persönlich gefährdete, für die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse und gegen die Maßnahmen der SED-Diktatur einzutreten. – Dieser Aufruf wurde später vom MfS als das gefährlichste und bei erfolgter Ausführung folgenschwerste Unternehmen der Gruppe angesehen, und der Text wurde im späteren gerichtlichen Verfahren weitgehend geheimgehalten, den Akten, die den Anwälten zugänglich waren, lag er nicht bei. Im Gegensatz zu der internen Wertung dieses Unternehmens durch das MfS ließ die spätere offizielle Propaganda der SED-Presse diesen Aufruf fast völlig unter den Tisch fallen, da er ja als Beweis dafür hätte dienen können, daß wir Veränderungen in Mitteldeutschland mit Hilfe des passiven Widerstands und nicht durch gewaltsame Aktionen erreichen wollten.
Bis zum Herbst 1957 waren wir uns darin einig, daß die Gruppe nicht mit westlichen Dienststellen oder Nachrichtendiensten zusammenarbeitet. Wir waren der Ansicht, daß diese Stellen teilweise erheblich vom Gegner unterwandert sind (unsere Erlebnisse in der Haft haben diese Meinung vielfach bestätigt), daß der Widerstand in Mitteldeutschland materiell vom Westen unabhängig und auch geistig weitgehend eigenständig sein sollte und daß nachrichtendienstliche Tätigkeit unserer Sache nicht entscheidend nützen und auch moralisch zweifelhaft sein würde. Es wurde lediglich etwas Literatur beim Ostbüro der SPD geholt, ohne daß durch uns dort etwas über unsere Tätigkeit bekannt wurde.
Die spätere Unterstellung einer Verbindung der Gruppe mit dem Londoner Rundfunk durch die Untersuchungsbehörden hat keine andere Grundlage als einige Briefe, die ich persönlich mit einer Stellungnahme zu politischen Tagesfragen an BBC geschickt habe, ohne daß dort bis heute bekannt ist, wer der Absender dieser Briefe war.
Im Herbst 1957 revidierte ich meine Meinung in dieser Frage teilweise, indem ich erwog, das mir durch meine FDJ-Funktion [zugängliche], teilweise politisch recht interessante Material und einige andere, allerdings unbedeutende militärische Angaben, die uns zufällig in die Hände geraten waren, einer westlichen Dienststelle zugänglich zu machen, um dafür einige technische Mittel, die die Gruppe dringend benötigte, zu erhalten. Im Einverständnis mit einigen anderen führenden Mitgliedern der Gruppe stellte ich dann im Oktober 1957 Kontakt zu einem angeblichen westdeutschen Journalisten her, der Jena besuchte und behauptete, technische Hilfsmittel aus Westdeutschland beschaffen zu können. Nach dem ersten Gespräch verschwand dieser Mann spurlos und wurde nie wieder gesehen. Die bald darauf folgenden Ereignisse begründen den Verdacht, daß es sich bei diesem »Journalisten« möglicherweise um einen agent provocateur des MfS gehandelt hat[6]. Wenige Monate später stellte sich heraus, daß es sich bei dem Theologiestudenten Jürgen K e l l e r, der den Kontakt vermittelt hatte, um eine Art Doppelagent gehandelt hatte, der aus offensichtlich materiellem Interesse für beide Seiten arbeitete. Einige Tage vor unserer Verhaftung begannen wir sein Doppelspiel zu durchschauen. Da wir erfuhren, daß das MfS nunmehr brauchbare Angaben über unsere Gruppe hatte, wurden Vorbereitungen zur Flucht einiger gefährdeter Personen getroffen, sie wurden aber nicht sofort ausgeführt, weil wir damit rechneten, daß das MfS mit der Verhaftung noch etwas zögern werde, um einen vollständigen Überblick über die Gruppe, den es damals noch nicht hatte, zu bekommen. K e l l e r stellte sich jedoch dem MfS, nachdem eine vermutlich von ihm begangene Unterschlagung von Kollektengeldern offenbar geworden war. Da er dem MfS auch angab, daß wir über die kritische Lage informiert waren und für einige Personen die Flucht vorbereiteten, verzichtete man auf weitere Beobachtung und begann mit den Verhaftungen am 13. Februar 1958. Die Mehrzahl der Mitglieder des »Eisenberger Kreises«, die das MfS ermitteln konnte, wurde bis Ende April 1958 festgenommen. Einzelne Verhaftungen im Zusammenhang mit diesem Komplex erfolgten noch bis Frühjahr 1960 und betrafen meist Menschen, die mit der Gruppe gar nichts zu tun hatten, von den Sicherheitsorganen aber als oppositionell angesehen und deshalb »beim allgemeinen Aufwaschen« mit verhaftet wurden. Insgesamt sind in dieser Sache etwa 35 bis 40 Personen verhaftet worden, von denen 24 im September/Oktober 1958 in 4 Prozessen vom I. Strafsenat des Bezirksgerichts [Gera] verurteilt wurden. Ein Jugendlicher, der im Januar 1958 in die BRD geflüchtet war, wurde im Juni 1958 nach Ostberlin gelockt und dort festgenommen, nach seiner Zeugenaussage auf dem 1. Prozeß jedoch wieder freigelassen. Der Theologiestudent K e l l e r, der durch seinen Verrat die Verhaftungen ausgelöst hatte, wurde bis zum Juni 1958 festgehalten. Einige der Verhafteten wurden schon nach einigen Tagen wieder entlassen, nachdem das MfS beim besten Willen gegen die Betreffenden nicht genügend belastendes Material zusammenbringen konnte, auch versuchte man anfangs, die Zahl der verhafteten Randfiguren nicht zu groß werden zu lassen, damit vor allem die westliche Öffentlichkeit nicht zu früh auf die Angelegenheit aufmerksam wurde. Einige der nicht verurteilten Verhafteten wurden erst freigelassen, nachdem sie im ersten Prozeß offensichtlich diktierte Zeugenaussagen gemacht hatten, die möglichst belastend ausfallen sollten.
Wenn man die Ursachen untersucht, die zur Zerschlagung der Gruppe führten, so ist zunächst festzuhalten, daß der »Eisenberger Kreis« fast 4 ½ Jahre existierte und davon mindestens 3 Jahre auch äußerlich erkennbar aktiv tätig war. Bis Ende 1956 wurde das Prinzip streng eingehalten, daß kein Mitglied der Gruppe mehr Kenntnisse über andere Mitglieder und die Tätigkeit der Gruppe hatte, als für seine eigene Mitarbeit unbedingt notwendig war. Auch wurde jeder, der für die Gruppe gewonnen werden sollte, einer eingehenden Prüfung und Beobachtung unterzogen, bevor er für eine Mitwirkung angesprochen wurde. Unsere Unternehmungen wurden oft wochenlang vorbereitet, die örtlichen Bedingungen, die Erfordernisse der Absicherung und der Spurenbeseitigung genau untersucht und die nötigen Maßnahmen bis ins einzelne festgelegt (wobei sicherlich zuweilen zuviel des Guten getan wurde). Jedenfalls hat das MfS aus unseren Aktionen nie brauchbare Anhaltspunkte für seine Ermittlungen gewinnen können.
Andererseits machten sich bei einigen unter uns durch die jahrelange Belastung und Anspannung gewisse Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Dies zeigte sich einerseits in der Überbewertung einzelner Sicherheitsmaßnahmen, zum anderen in der mangelhaften Kontrolle des Kontakts einzelner Mitglieder der Gruppe untereinander und zu außenstehenden Personen. Im letzten Jahr des Bestehens der Gruppe entfalteten auch manche unserer Freunde eine zu große Eigenaktivität und Eigeninitiative, die sich z. B. in der Gewinnung ungeeigneter und nicht ausreichend geprüfter Menschen für die Widerstandstätigkeit auswirkte.
Die Gefährlichkeit des MfS wurde unterschätzt, da wir die Qualität seiner Mitarbeiter nach den Eigenschaften der uns täglich begegnenden SED- und FDJ-Funktionäre bewerteten, eine Einschätzung, die etwa bis 1955 zutreffend gewesen sein mag, den späteren (und natürlich den heutigen) Verhältnissen aber nicht mehr entsprach. Schließlich ergab sich im Verlauf der lebhaften Auseinandersetzungen des Jahres 1956 eine teilweise Vermischung der legalen und der illegalen Tätigkeit der Gruppe, sodaß sicherlich manches davon auch in Kreise durchsickerte, die nichts mit der Gruppe zu tun hatten. Damals beteiligten sich auch zeitweise Studenten an der Widerstandsarbeit, die durch den Schwung der Ereignisse mitgerissen wurden, auf die man aber in schwierigen Zeiten nicht so sicher rechnen konnte. Durch die Auswirkungen der ungarischen und polnischen Revolution wurden wir zeitweilig so in Anspruch genommen, daß die Konspiration nicht mehr genau beachtet wurde, zumal wir mit einem raschen Fortgang der Entwicklung rechneten. Die Zerschlagung der Widerstandsgruppe bestätigte jedenfalls meine spätere Überzeugung, daß sich eine kleinere, unabhängig arbeitende Gruppe bei ständiger Aktivität nicht auf die Dauer halten kann, da der Gegner ja nur auf Fehler, die nie ganz zu vermeiden sind, zu warten braucht und schließlich doch Gelegenheit findet, seine technischen Hilfsmittel und sein ausgebildetes Personal erfolgreich einzusetzen.
4. Untersuchungsverfahren und Prozesse.
Die im Zusammenhang mit der Zerschlagung des »Eisenberger Kreises« Verhafteten waren nach meiner Kenntnis keinen körperlichen Mißhandlungen ausgesetzt. Haftverschärfungen über das in MfS-Untersuchungshaftanstalten übliche Maß hinaus wurden nur in einigen Fällen für kurze Zeit angeordnet, wogegen nachdrückliche Proteste durchaus nicht wirkungslos blieben. Man konnte die Feststellung machen, daß das MfS sehr nervös auf die Ankündigung oder Durchführung eines Hungerstreiks reagierte. Auf unmittelbare Gewaltanwendung konnten die Untersuchungsbehörden schon deshalb verzichten, weil sie nach kurzer Zeit einige der Verhafteten zur Kapitulation und zu ausgedehnten Geständnissen bringen konnten und es damit möglich wurde, diejenigen von uns einzukreisen, die nicht, unvollständig oder falsch aussagten. Es machte sich für uns sehr nachteilig bemerkbar, daß keines der Gruppenmitglieder über Vernehmungsmethoden ausreichend orientiert war und daß wir, entsprechend den unter der Bevölkerung umlaufenden Gerüchten und den von westlicher Seite kommenden Veröffentlichungen auf ein ausschließlich gewaltsames Vorgehen des MfS eingestellt waren. In Wirklichkeit waren jene völlig primitiven und unfähigen Elemente, die nur mit dem Gummiknüppel zu einem Ergebnis in der Vernehmung kommen konnten, schon damals aus den Vernehmungsabteilungen weitgehend herausgezogen worden, sodaß heute wahrscheinlich physische Gewaltmaßnahmen nur noch sehr selten und als »letztes Mittel« angewendet werden. Die falschen Vorstellungen führten bei einigen von uns, die nicht so »hart« waren, wie sie es vorher schienen, zu einem baldigen Nachgeben vor den Drohungen der ersten Vernehmungen, während andere, die fest geblieben waren, von der Taktik der Vernehmer und den uns weitgehend unbekannten Methoden der »Gehirnwäsche« überfahren wurden.
Das MfS stellte sich nach kurzer Übergangszeit, in der »Schockvernehmungen« durchgeführt wurden, auf eine subtilere Art der »psychologischen Kriegführung« um. Man ließ Drohungen und Versprechungen, Wahrheit und Lüge, radikalste Ausdrucksweise und ausgesprochen friedfertige Unterhaltung in ständiger Abwechslung auf die Häftlinge einwirken. Beispielsweise stellte man mir in der gleichen Vernehmung einmal in Aussicht, mich im Strafvollzug in völlig isolierter Einzelhaft zu halten und bot mir andererseits an, daß ich, wenn ich dem MfS entgegen kommen würde, eine Arbeitsstelle als Pfleger im Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf oder im Haftarbeitslager Berlin-Hohenschönhausen bekommen könnte.
Ein beliebtes Mittel stellte auch die Drohung mit der Verhaftung der Angehörigen dar, was übrigens in bestimmter Hinsicht auch zur Ausführung kam. Man argumentierte mir gegenüber so, daß meine Mutter dadurch, daß ich in ihrem Haushalt lebte, als Mitwisserin feststehe und daß man meinen Bruder auf unbestimmte Zeit in einen Jugendwerkhof einweisen könne, da meine Mutter ihre Kinder ja nicht im Sinne »des Sozialismus« erziehe. Eine andere, etwas lächerlich klingende Erklärung war, daß das MfS dafür sorgen werde, daß gegen den Beschuldigten, der bei der Vernehmung Schwierigkeiten mache, ein zusätzliches Strafverfahren wegen »Behinderung der Tätigkeit der Staatsorgane« oder wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt« eingeleitet werde.
Ein im Ergebnis sehr erfolgreicher Bluff wurde auf folgende Weise in Szene gesetzt: Einige Tage vor unserer Verhaftung war ein Klassenkamerad von mir aus der Grundschule durch Selbstmord ums Leben gekommen. Da in Eisenberg Gerüchte umliefen, der Tote habe Beziehungen zur Staatssicherheit unterhalten, behauptete man nun, Mitglieder der Gruppe hätten deshalb diesen Mann ermordet und man könne erforderlichenfalls hierfür die benötigten Beweise zusammenstellen. Einigen einfachen Mitgliedern der Gruppe wurde dann erklärt, die Anführer der Gruppe hätten diesen Mord begangen oder veranlaßt, und jeder der Verhafteten wäre dafür mit verantwortlich. Darauf glaubten einige der Beschuldigten, diese Gefahr nur durch ein lückenloses Geständnis abwenden zu können, da sich ja dann der Beweis ergeben würde, daß die Gruppe keine Anschläge gegen irgendwelche Personen durchgeführt hatte.
Mit Versprechungen gingen die Vernehmer ebenfalls recht großzügig um, angefangen von dem absurden Angebot sofortiger Entlassungen sogar von Hauptbeschuldigten nach dem Prozeß über die Aussicht baldiger Strafaussetzung zur Bewährung (»Jedes Gesuch geht über unseren Schreibtisch.«) [bis] zur Schilderung des Strafvollzugs im günstigsten Licht.
Das Solidaritätsgefühl, das unter den meisten Gefangenen erhalten blieb, versuchte man der Sache des MfS dadurch dienstbar zu machen, daß man versprach, minder Belastete je nach dem Verhalten der Hauptbeschuldigten milder oder härter zu bestrafen. Andererseits bemühte man sich, durch Weitertragen angeblicher belastender Aussagen und Äußerungen, einer moralisch positiven oder negativen Haltung und persönlicher Angelegenheiten die einzelnen Verhafteten gegeneinander auszuspielen. Weiter versuchten einige Offiziere den Eindruck zu erwecken, daß sie die Häftlinge wirklich überzeugen und ihnen »helfen« wollten, wobei festzuhalten ist, daß sich einige der intelligenteren und innerlich für das System engagierten Vernehmer tatsächlich Diskussionen unter vier Augen, die nicht protokolliert wurden, stellten, in denen beiden Seiten ohne Zurückhaltung, was allgemeine Dinge betraf, sprachen. Es kann nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob diese Unterhaltungen vielleicht doch zuweilen einem echten Interesse entsprangen und ob es nicht damals in der MfSBezirksbehörde Gera eine Art »Wollweber-Fraktion«[7] gegeben hat. Jedenfalls wurden in einigen dieser Gespräche zuweilen Dinge zugegeben und Argumente durch den Vernehmer als berechtigt anerkannt, von denen das Regime offiziell nichts hören wollte. Ein weiteres Mittel der Beeinflussung bestand schließlich darin, einige politische Ereignisse, wie den damaligen Umsturz im Irak, die angebliche Aufhebung des Verbots der NSDAP in der Bundesrepublik oder die Verurteilung und Hinrichtung Imre Nagys[8] und seiner Minister durchzulassen, uns sonst aber natürlich keine Möglichkeit, irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren, zu geben. Schließlich wurde auch versucht, durch fremde Mithäftlinge oder Klopfzeichen völlig falsche Nachrichten in Umlauf zu bringen, um die Reaktion der Gefangenen, für die man sich interessierte, zu testen. Es war im allgemeinen durchaus praktikabel für den Häftling, den gelegentlichen lautstarken Schimpfkanonaden in gleicher Weise zu antworten. Die Vernehmer schienen an harte Worte gewöhnt zu sein und eine derartige Reaktion nicht allzu übel zu nehmen, ausgenommen, wenn man etwa Zweifel an den »wirklich freien Volkswahlen« anmeldete und erklärte, daß doch nun niemand die 99,9 % Ja-Stimmen ernstnehmen könnte. Mit einer derartigen »Provokation« konnte man sein Gegenüber mit ziemlicher Sicherheit aus der Ruhe bringen.
Schließlich wurde einige Male von MfS-Offizieren behauptet (u. a. mir gegenüber vom Leiter der Bezirksbehörde des MfS Gera, Oberstleutnant M i c h e l s b e r g e r ), daß es ohne weiteres möglich sei, die in die Bundesrepublik geflüchteten Mitglieder der Gruppe gewaltsam wieder nach Mitteldeutschland zurückzubringen, denn der Staatssicherheitsdienst könne seine Leute mit westdeutschen Kraftwagen ohne Schwierigkeiten in die Bundesrepublik schicken, und sie könnten dort tun, was sie wollten. Mit der Ankündigung derartiger Verschleppungen wollte man wahrheitsgemäße Aussagen über solche Angelegenheiten der Gruppe erzwingen, die nur oder überwiegend, außer dem unmittelbar Beschuldigten, den Flüchtlingen bekannt waren. Im Juni 1958 begrüßte mich dann eines Tages mein Vernehmer mit den Worten: »Sehnse, den ersten haben wir schon!« Da dies den Tatsachen entsprach[9], hatten wir natürlich in dieser Hinsicht zeitweise erhebliche Befürchtungen[10].
Außerhalb der eigentlichen Untersuchungen bemühte man sich teilweise, eine Art objektives »Feindbild« über die Gruppe, ihre Tätigkeit und Motive zu erhalten. Es wurde erklärt, diese Berichte, die dem Gericht nicht zugänglich waren, würden dem MfS Berlin und angeblich auch dem ZK der SED zur Verfügung gestellt, damit eventuell notwendige Schlußfolgerungen vor allem auf dem Gebiet der Hochschulpolitik gezogen werden könnten. Da sich ein Offizier vom MfS Berlin an den Vernehmungen beteiligte,[11] erschien der erste Teil der Behauptung durchaus plausibel. Natürlich konnte niemand erwarten, daß die SED ihre Haltung gegenüber der Jugend und besonders der Studentenschaft überprüfen würde.
Der Inhalt der Vernehmungsprotokolle, die dem Gericht vorlagen, wurde mit allen möglichen Mitteln und Tricks verdreht, verfälscht, in den Motiven auf den Kopf gestellt. Es ergaben sich oft tagelange Auseinandersetzungen zwischen Vernehmer und Häftling um einzelne Formulierungen, da das MfS auf die Anwendung der üblichen kommunistischen Terminologien größten Wert legte.
Über das Wachpersonal ist zu sagen, daß die Typen aus der schlimmsten Zeit des Staatssicherheitsdienstes zwar noch reichlich vorhanden waren, sich jedoch nicht mehr ganz ungehemmt betätigen konnten. Es sind mir aber auch einige Wachposten in durchaus angenehmer Erinnerung, denen anzumerken war, daß sie sich in ihrer Rolle nicht sehr wohlfühlten und die sich, teilweise entgegen den Anweisungen ihrer Vorgesetzten, so verhielten, daß wir ihnen kaum etwas vorzuwerfen haben. Die Vernehmungen wurden bis auf einige Randgebiete gegen Ende Mai 1958 abgeschlossen, und die Prozesse sollten am 23. 6. 58 beginnen. Aus Äußerungen der Vernehmer war zu entnehmen, daß wenigstens gegen die Hauptangeklagten ein Schauprozeß in Jena oder Gera, möglicherweise vor dem Obersten Gericht, stattfinden sollte. Die für den ersten Prozeß vorgesehenen Angeklagten konnten etwa eine Woche vorher erstmalig ihre Anwälte sprechen, auch wurden ihnen einige Hafterleichterungen gewährt (Bücher, regelmäßige Freistunde, etwas erhöhte Verpflegungsrationen), um sie in einen halbwegs präsentablen Zustand zu bringen. Es läßt sich heute nicht mit Sicherheit feststellen, welchen Wert die durchgesickerten Gerüchte hatten, nach denen Mitglieder der Bezirksleitung der SED Gera die Forderung nach wenigstens einem Todesurteil erhoben hätten.
Der schon festgelegte Termin wurde plötzlich wieder aufgehoben, offensichtlich mit Rücksicht auf die bevorstehende 400-Jahr-Feier der Jenaer Universität und vielleicht auch auf den V. Parteitag der SED (10.-16.7.1958). Selbstverständlich wurde von den Offizieren in voller Einmütigkeit bestritten, daß dieser der Grund für die Verschiebung sei.
Am 21. 8. 1958 flüchtete dann der Rektor der Friedrich-Schiller-Universität, Prof. Dr. Dr. h. c. H ä m e l, in die BRD, einige Tage vor Beginn der 400-Jahr-Feier der Universität. Kurze Zeit später war die Nachricht zu uns durchgedrungen, und sie bereitete uns nicht nur erhebliche Genugtuung, sondern gab uns auch die Sicherheit, daß die größte Gefahr für uns nun vorüber sei, was sich dann bestätigte.
Die wütende Reaktion des MfS war für mich natürlich ebenso erfreulich wie verständlich.
Die vier Prozesse wurden in der Zeit vom 22. 9. bis 13. 10. im kleinen Saal des Bezirksgerichts Gera vor dem I. Strafsenat abgewickelt. Die ersten drei Prozesse waren nur ausgewählten Delegationen zugänglich, der Termin war unter der Bevölkerung kaum bekannt, und man bemühte sich im Gegensatz zum ursprünglichen Vorhaben, das Verfahren [tatsächlich: die Verfahren] möglichst in aller Stille ablaufen zu lassen, was allerdings gründlich mißglückte. Die wenigen offiziellen »Vertreter der Universität« setzten sich ausschließlich aus Angehörigen der oberen SED- und FDJ-Leitungen zusammen, weiter waren einige Betriebsdelegationen anwesend, und den restlichen Zuschauerraum füllten MfS-Angehörige in Zivil. Für jeden der Angeklagten war ein Angehöriger zugelassen worden. Lediglich im 4. Prozeß konnten sich einige Jenaer Dozenten und Studenten Zutritt verschaffen[12].
Obwohl die Justizbehörden vier Monate Zeit zur Bearbeitung der Akten hatten, brachten sie nicht einmal eine dem »Niveau« der Protokolle entsprechende Anklageschrift und Urteilsbegründung zusammen. In beiden »Werken« wurden die in den Akten enthaltenen Verdrehungen nicht nur nochmals verdreht, sondern auch der Ablauf der Ereignisse so durcheinander geworfen, reine Erfindungen hinzugefügt und eine solche Menge von Phrasen gedroschen, daß es selbst etlichen Vernehmern peinlich wurde. Als sich einer der Angeklagten über die Unsinnigkeiten der Anklageschrift bei einem Offizier beschwerte, antwortete dieser: »Erzählen Sie das nicht uns, dieses Pamphlet haben wir nicht verfaßt.« In diesem Gespräch war dann auch zu erfahren, daß der Text der Anklageschrift aus Berlin (vermutlich von der Generalstaatsanwaltschaft) gekommen sei.
Die Urteilsbegründung enthielt dann auch solche Phantasieprodukte wie: »Die Angeklagten wollten wie die Konterrevolutionäre in Ungarn Menschen mit Benzin übergießen und verbrennen und durch Lastwagen zu Tode schleifen.« usw. Es wurde begründet, daß deshalb keine Todesstrafe ausgesprochen wurde, weil es sich noch nicht um »schwerste Verbrechen« gehandelt habe, man werde jedoch in einem solchen Fall die Todesstrafe unbedingt anwenden. Dann wurde begründet, daß man eine zeitliche Haftstrafe gewählt habe, weil es in der Vergangenheit vorgekommen sei, daß auch erbitterte Feinde schließlich noch zu Anhängern des »Sozialismus« geworden wären und weil die Verurteilten zur Zeit ihrer Entlassung dann in einem »sozialistischen Gesamtdeutschland« leben würden. Das Gericht blieb somit im Strafmaß im Rahmen des § 13 StEG[13] (Staatsverrat), obwohl sich die Anklage auch auf § 24 a–e StEG (Verschärfungsbestimmungen, die die Todesstrafe ermöglichen) erstreckt hatte.
Für die Qualität der Arbeit, die das Bezirksgericht Gera leistete, ist kennzeichnend, daß der bei § 13 StEG zwingend vorgeschriebene Vermögensentzug [Vermögenseinzug] im Urteilsspruch vergessen und uns erst einige Wochen später in einem nachträglichen besonderen Gerichtsbeschluß mitgeteilt wurde.
Die Verhandlung selbst lief teilweise in recht lautstarker und grober Form ab, Angeklagte und Verteidiger wurden vom Staatsanwalt mehrfach behindert. Während Bezirksstaatsanwalt [Paul] D e t z n e r, trotz radikaler Ausfälle, wenigsten noch einigermaßen beherrscht auftrat, wurde der Gerichtsvorsitzende, Oberrichter [Erich] F r e y b e r g [Freiberg], zuweilen zum Schüler Freislers und steigerte sich in einige Wutausbrüche hinein, die nicht gerade von einer heldenhaften Gesinnung zeugten (»Wir können uns schon denken, wie Sie mit uns verfahren wären, wenn es zu einer Konterrevolution in der DDR gekommen wäre!«)[14]. Sonst bemühte sich das Gericht nach Kräften um den Nachweis, daß es unmittelbar vor der Ausführung stehende Pläne der Gruppe über Gewaltakte gegen Funktionäre gegeben habe, wobei man so weit ging, daß mich der Vernehmer von entsprechenden Protesten mit den Worten abzuhalten suchte: »Nehmen Sie das nicht so ernst, man kann Sie ja nicht für Dinge verurteilen, die Sie nicht getan haben.« Die vom Gericht gewünschte Beweisführung wurde jedenfalls nicht zustandegebracht.
Die meisten Zeugenaussagen glichen einem Korreferat des Anklägers mit vorher auswendig gelerntem Text. Dabei ist festzuhalten, daß die Zeugen bis unmittelbar vor ihrem Auftritt ständig vom Vernehmer bearbeitet wurden. Als ich selbst als Zeuge geladen wurde, machten mich im Warteraum unmittelbar vor meiner Aussage zwei Offiziere darauf aufmerksam, daß etwaiger späterer Widerstand im Strafvollzug oder anderswo uns unbedingt den Kopf kosten würde. Entlastungszeugen gab es nicht, ich bin aber der Meinung, daß man als Zeuge, wenn man die Situation noch einigermaßen übersah, den Verteidigern mehr Argumente zuspielen konnte als dem Ankläger. Was die Verteidiger selbst betrifft, so kann man jedenfalls nicht behaupten, daß sie die Rolle eines 2. Staatsanwalts gespielt hätten, wie das in politischen Prozessen in Mitteldeutschland oft genug vorkommt.
Die ausgesprochenen Strafen lagen zwischen 1 ½ und 15 Jahren Zuchthaus, die Gesamtsumme aller Strafen der 4 Prozesse betrug 114 Jahre. Die letzten Entlassungen erfolgten am 28. 8. 1964. Zur Zeit leben nach meiner Kenntnis 9 der damals Verurteilten in der Bundesrepublik.
5. Die SED-Propaganda über den »Eisenberger Kreis« und die Haltung der westdeutschen Öffentlichkeit.
Das MfS versuchte die ganze Verhaftungsaktion zunächst nach Möglichkeit geheimzuhalten, und man beschränkte sich auf eine Art »psychologische Kriegführung« durch die Verbreitung von Gerüchten. So ließ man den Prorektor für Studentenangelegenheiten an der Universität Jena, Dr. [Otto] S t a m f o r t, und den Instrukteur im Prorektorat für Studentenangelegenheiten, S e s s i n g h a u s, erklären, daß die Gruppe auf einem Treff am Jenaer Nordfriedhof schwarze Listen über unbeliebte Funktionäre zusammengestellt habe, eine Behauptung, die weder im Untersuchungsverfahren noch im Prozeß jemals auftauchte.[15]
Die Eisenberger Bevölkerung suchte man mit etwas primitiveren Mitten zu beeinflussen, indem verbreitet wurde, es wären kistenweise Waffen, Munition und Sprengstoffe gefunden worden und die Gruppe hätte beabsichtigt, durch Vergiftung der Molkereimilch ein Massensterben in Eisenberg auszulösen. Soweit man heute übersehen kann, haben diese Schauermärchen der SED mehr als uns geschadet.
Durch weitgehenden Ausschluß der Öffentlichkeit hoffte das MfS anfangs, daß nicht allzuviel über die Angelegenheit nach draußen dringen werde. Diese Erwartung wurde aber schon Ende September von BBC durchkreuzt, und so brachte das Organ der SED-Universitätsparteileitung der SED Jena am 8. 10. 58 einen Prozeßbericht, der sich ziemlich genau an die von der Anklagebehörde gegebene Darstellung hielt und in dem lediglich der Versuch auffällt, besonders zu betonen, daß das »entschlossene Auftreten der Professoren gegen alle feindlichen Umtriebe« die Gruppe von der Versendung der Aufrufe im November 1957 abgehalten habe. Der nicht genannte Verfasser der »redaktionellen Bemerkungen« wird die Wahrheit wohl ebenso wie wir und die Jenaer Studentenschaft kennen, sodaß sich weitere Kommentare hierzu erübrigen. Nachdem Einzelheiten über die Tätigkeit der Gruppe und die Geraer Prozesse in erheblichem Umfang in westlichen Veröffentlichungen auftauchten und sich die SED auf einigen »Wahlversammlungen« unangenehmen Fragen aus der Bevölkerung ausgesetzt sah, war eine Stellungnahme kaum mehr zu umgehen. Die Kampagne wurde nach einer Rede Albert N o r d e n s am 23. 10. 1958 im Jenaer Volkshaus ausgerichtet, alle weiteren Veröffentlichungen in Mitteldeutschland erschienen erst nach diesem Zeitpunkt. N o r d e n unterschlug in seiner Rede die aktive Tätigkeit der Gruppe vollkommen. Er behauptete, die Gruppe habe ausschließlich im Auftrage »westlicher Agentendienststellen« gearbeitet, was schon durch die Ausstellung des beschlagnahmten Materials beim ersten Prozeß und durch ähnliche spätere Ausstellungen untermauert werden sollte. Die ausgelegte »faschistische und militaristische Literatur« (so im Prozeß bezeichnet) bestand aus Büchern wie: »Die weiße Rose« von Inge Scholl, »Die neue Klasse« von Milovan Djilas, »1984« von Orwell, »Die Revolution entläßt ihre Kinder« von Wolfgang Leonhard, »Der Nationalsozialismus« von Walter Hofer u. a. sowie westdeutschen Zeitungen, auch einigen Exemplaren des »Sonntag«, des Organs des mitteldeutschen Kulturbundes, aus dem Jahre 1956 mit Auszügen aus Werken von Tibor Dery und Gyula Hay. – Weiter sprach N o r d e n von der beabsichtigten Sprengung der 1.-Mai-Tribüne in Jena 1957 (»Nur durch die Wachsamkeit unserer Staatsorgane konnte in letzter Minute ein Unglück, der Tod vieler Menschen verhindert werden.«). Ich nehme Herrn N o r d e n diese Verfälschung gar nicht so sehr übel, denn irgendwie mußte er sich ja aus der Affäre ziehen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß nur eine Brandlegung an der Stoffbespannung und Fahnendekoration der Tribüne für die Zeit von 1.00 bis 2.00 [Uhr] morgens vorbereitet worden war, und das wurde keineswegs durch die »Wachsamkeit der Staatsorgane«, sondern durch eine »in letzter Minute« versagende Zündschnur verhindert. Zu den weiteren Ausführungen N o r d e n s wurde schon weiter oben Stellung genommen[16].
Am 29. 10. 1958 wurde im Jahnsaal in Eisenberg ein von (nach Angaben der »Volkswacht«) 800 Einwohnern besuchter Justizausspracheabend, verbunden mit einer Ausstellung des beschlagnahmten Materials, durchgeführt, auf dem u. a. Bezirksstaatsanwalt D e t z n e r und die Schöffin [Lina] S i t t i c h auftraten. Die Veranstaltung bewegte sich in dem von N o r d e n vorgegebenen Rahmen, zeigte aber, daß es die SED nötig hatte, »Gerüchten, die der RIAS unter der Bevölkerung zu verbreiten suchte« (»Volkswacht« vom 31. 10. 1958), entgegenzutreten, was als Hinweis auf eine beträchtliche Unruhe unter der Einwohnerschaft betrachtet werden kann.
Anfang November 1958 fand dann im Bühnensaal der Mensa in Jena eine Versammlung statt, zu der besondere Einladungen verschickt wurden und die nicht vorher angekündigt wurde. Hier wurde eine ganze Batterie von Funktionären aufgefahren, so der Bezirksstaatsanwalt D e t z n e r, Staatsanwalt [Rudi] S c h o e b e r, Bezirksgerichtsdirektor S c h m i e d e [r], Schöffin S i t t i c h, Schöffe H e y d r i c h, die SED-Universitätsparteileitung und die FDJ-Hochschulgruppenleitung. Der Bezirksstaatsanwalt hielt ein Referat, das, soweit zu erfahren war, in der Wiedergabe seines Plädoyers im Prozeß bestand. Bezirksgerichtsdirektor S c h m i e d e r soll darauf hingewiesen haben, daß eigentlich die Todesstrafe erforderlich gewesen sei, womit er »Drohbriefe« aus dem Westen beantworten wollte. Eine Diskussion war in der Versammlung nur vor dem Mikrophon möglich.
Sogar zwei Jahre später wurde in Eisenberg die Propaganda in dieser Sache nochmals aufgenommen und eine erneute Ausstellung des Beweismaterials in einem VEB angekündigt.
In der Bundesrepublik wurden die Verhaftungen zwar bald bekannt, zu Anfang hatten die inzwischen geflüchteten Mitglieder der Gruppe aber einige Schwierigkeiten, für ihre Nachrichten überhaupt Glauben zu finden. Als einzige öffentliche Registrierung der Verhaftungen vor dem Beginn der Prozesse liegt mir nur eine kurze Notiz des »Kurier« vom 3. 4. 1958 vor. Um so eindeutiger war die Reaktion in der BRD, als die Prozesse anliefen. Seit dem 26. 9. 1958 wurden Berichte eines Gewährsmannes über den Londoner Rundfunk gesendet, dem es irgendwie gelungen war, den ersten Prozeß mitzuerleben. Durch Berichte von Flüchtlingen hatte die Presse in der Bundesrepublik bald Gelegenheit, im Laufe des Oktober ausführlich über die Vorgänge zu berichten. Es kam zu einer Serie von Protesterklärungen der ASTA und von Studentenversammlungen vieler westdeutscher Hochschulen, zu Protesten des Landesverbandes der CDU Berlin, des Landtags von Rheinland-Pfalz (14. 10. 58), des Pressedienstes der SPD (17. 10. 58) und der Bundesregierung (Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung vom 17. 10. 58).
In der westlichen Berichterstattung wurde besonders auf das Programm und die Zielsetzung der Gruppe eingegangen, weniger auf ihre tatsächliche Aktivität, da unsere in der BRD befindlichen Freunde ja nicht wissen konnten, was dem MfS schon bekannt war, sodaß in dieser Hinsicht Zurückhaltung geboten war. Die Grundsätze und Ziele des »Eisenberger Kreises« sind in den westlichen Pressveröffentlichungen im wesentlichen richtig wiedergegeben worden. Durch dieses Echo sah sich die SED dann wohl oder übel gezwungen, aus ihrer Reserve herauszugehen und ihre Sache mehr schlecht als recht zu vertreten. Als dann eine ähnliche Gruppe ein Jahr später in Dresden zerschlagen wurde, begann man wenige Tage nach der Verhaftung der Betreffenden mit Veröffentlichungen in allen mitteldeutschen Presseorganen, um der Gegenreaktion im Westen sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen.[17]
Das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen gab 1959 und 1960 eine Broschüre über den »Eisenberger Kreis« unter dem Titel »2 x 2 = 8« heraus, für die der Verfasser, Dr. Rainer H i l d eb r a n d t, das Material aus den in der BRD erhältlichen Einzelbruchstücken zusammensuchte. Auch in dieser Publikation entspricht die Darstellung der Grundtendenz der Gruppe sinngemäß der Wirklichkeit, was für einige Ergänzungen, die durch den oft fehlenden Zusammenhang des vorhandenen Materials erforderlich schienen, und für die Zitate aus den Gerichtsverhandlungen und aus einigen Gesprächen der Gruppenmitglieder untereinander nicht in vollem Maße gilt. Es wäre mir persönlich angenehmer gewesen, wenn der Verfasser auf diese Ergänzungen und eine gewisse romatisch-gefühlvolle Art der Beschreibung verzichtet hätte, selbst wenn dadurch ein nicht ganz vollständiges Bild entstanden wäre. Es ist aber auf jeden Fall zu begrüßen, daß einer großen Zahl von Menschen in westlichen Ländern auf diese Weise Kenntnisse über den Widerstand in Mitteldeutschland und die Bedingungen, unter denen dort gemeinsame Aktionen von Arbeitern und Studenten gegen den totalitären Staat zustande kommen, vermittelt wurden.
Es ist unbestreitbar, daß die zahlreichen Protest- und Hilfsaktionen in der westlichen Welt von privater und amtlicher Seite, besonders auch die Bemühungen von »Amnesty international«, viel zur Erleichterung unserer Lage und zur vorfristigen Entlassung der meisten Verurteilten beigetragen haben. Es ist mir eine angenehme Pflicht, auch im Namen all derer, die dem »Eisenberger Kreis« angehörten oder nahestanden, den Menschen zu danken, die sich so einmütig für uns eingesetzt haben.
6. Bemerkungen zum Widerstand in Mitteldeutschland heute.
In der Bundesrepublik ist jetzt oft die Meinung zu hören, die mitteldeutsche Bevölkerung habe sich mit dem SED-Regime arrangiert und sei ihm gegenüber heute weitgehend loyal. Sicherlich haben sich nach dem 13. 8. 1961 viele Menschen darauf eingerichtet, noch längere Zeit in einer »DDR« leben zu müssen. Die scharfe Absperrung trägt ebenfalls dazu bei, daß kaum etwas über Widerstandsaktionen in der »DDR« nach Westen dringt. Selbst vor dem Bau der Mauer ist vieles, was die Menschen gegen die Diktatur unternahmen, in der Bundesrepublik nicht bekannt geworden. Auch wird heute vielfach nicht mehr mit einer wirksamen westlichen Hilfe für die Unterdrückten in den kommunistisch regierten Staaten gerechnet, sodaß man oft darauf hofft, daß sich das System durch das Übergreifen der Unabhängigkeitsbestrebungen in Ostmitteleuropa auch auf Mitteldeutschland ändern werde, und man bemüht sich, jede hier sich bietende Chance zu nutzen und zu vergrößern. Es ist natürlich fraglich, ob sich diese Hoffnung einmal bestätigen wird. Der aktive Widerstand richtet sich jetzt vorwiegend auf das Ziel der »Republikflucht«, aber auch kleinere Widerstandsgruppen, die aktiv gegen das Regime vorgehen wollen, bilden sich immer wieder, was man durch Befragung der Neuzugänge im Strafvollzug feststellen kann. Allerdings hat das MfS seinen Apparat so gut ausgebaut und verbessert, daß ihm die Zerschlagung solcher Gruppen oft schon im Anfangsstadium gelingt. Gegen Menschen, die sich in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zusammenfinden und die sich dabei westliche Literatur beschaffen können, wird der Staatssicherheitsdienst jedoch kaum viel Erfolg haben.
Ein vorübergehendes Nachlassen des staatlichen Zwanges zu ständigen politischen Bekenntnissen im Sinne der Partei mag die Gegenreaktion vor allem unter den Studenten ebenfalls etwas mildern. Es gibt aber in der letzten Zeit Anzeichen, daß die SED ihre Politik in dieser Hinsicht wieder verschärfen will.
Die Feststellungen, die ich im Strafvollzug durch Beobachtung der politischen Häftlinge und der teilweise von ihnen geleisteten Widerstandsarbeit und der VP-Angehörigen treffen konnte, bestätigen meine Überzeugung, daß sich das SED-Regime auch heute nicht ohne sowjetische militärische Unterstützung halten könnte. Eine anständige Gesinnung macht schon längst nicht mehr vor der Uniform halt, und der »revisionistische Bazillus«, der Zweifel an dem Grundsatz, daß die Partei immer recht hat, hat viele von denen befallen, die sich noch vor 10 Jahren bedingungslos für die SED geschlagen hätten. Ulbricht und seine Anhänger werden auch in Zukunft mit der Ablehnung der von ihnen betriebenen Politik durch die von ihnen beherrschten Menschen rechnen müssen.
[1] Eisenfeld, Bernd/Kowalczuk, Ilko-Sascha/Neubert, Ehrhart: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte, Bremen 2004, S. 513 ff. u. 539 ff.
[2] Archiv Thomas Ammer.
[3] Neues Deutschland vom 23. Oktober 1958.
[4] Der Physikstudent Franz Hammer leitete eine von etwa 1949 bis 1954 in Jena bestehende Widerstandsgruppe. Es ist inzwischen erwiesen, dass er 1957 in der Strafvollzugsanstalt Waldheim durch Selbstmord ums Leben kam.
[5] Siehe Herrmann, Peter/Steudel, Heinz/Wagner, Manfred: Der Physikerball 1956. Vorgeschichte – Ablauf – Folgen, Jena 1995.
[6] Siehe die Vorbemerkung zu diesem Dokument.
[7] Ernst Wollweber, 1953 bis 1955 Staatssekretär im MfS, 1955 bis 1957 Minister für Staatssicherheit, erzwungener Rücktritt wegen angeblicher Vernachlässigung seiner Aufgaben im Kampf gegen »feindliche Agenten«, tatsächlich wegen Zugehörigkeit zu der in Opposition zu Ulbricht stehenden Gruppe um ZK-Sekretär Karl Schirdewan.
[8] Hingerichtet in Budapest am 16. Juni 1958.
[9] Siehe Abschnitt 3. in diesem Dokument.
[10] Siehe die Vorbemerkung zu diesem Dokument.
[11] Werner Lonitz, 1989 MfS-Oberst in der Hauptabteilung XVIII »Schutz der Volkswirtschaft«.
[12] Im August 1960 hat das Bezirksgericht Gera drei Jenaer Studenten wegen der Weitergabe von Informationen über die Prozesse an einen inzwischen in der Bundesrepublik lebenden ehemaligen Jenaer Philosophiestudenten zu Freiheitsstrafen bis zu zweieinhalb Jahren verurteilt. Diese Informationen waren an die Westpresse und auch an das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen gelangt.
[13] StEG – Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 (Gesetzblatt I, S. 643), gültig bis zum Inkrafttreten des Strafgesetzbuches der DDR vom 12. Januar 1968.
[14] Freiberg war 1957 selbst wegen ideologischer Abweichungen in Schwierigkeiten geraten und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, Bezirksgerichtsdirektor geworden. Siehe Weber, Petra: Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961, München 2000, S. 222.
[15] Der damalige 1. Sekretär der SED-Universitätsparteileitung und spätere Historiker Kurt Pätzold verbreitete dieses Gerücht in Jena noch in den 90er Jahren.
[16] Siehe Abschnitt 2 in diesem Dokument.
[17] Es handelte sich um den »Nationalkommunistischen Studentenbund«, eine Widerstandsgruppe von Studenten an der Technischen Hochschule Dresden, die von 1957 bis 1959 bestand und im Frühjahr 1959 vom Bezirksgericht Dresden verurteilt wurde.