x

Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2009

Archivsituation in der Volksrepublik China

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 7-18 | Aufbau Verlag

Autor/in: Vivian Wagner

Die Volksrepublik China hat eine partikulare Form der archivischen Erinnerungsverwaltung hervorgebracht, die aus der Verschmelzung des sowjetischen Modells und der marxistisch-leninistischen Geschichtstheorie mit traditionellen Geschichtskonzepten und der indigenen Archivpraxis resultierte.1 Das chinesische Archivsystem wurde unmittelbar nach der Staatsgründung 1949 unter Anleitung von sowjetischen Experten aufgebaut. Übersetzte russische Fachliteratur bildete die Grundlage der chinesischen Archivtheorie, und die erste Generation chinesischer Archivare wurde von sowjetischen Lehrern ausgebildet. Chinas Archivare waren eifrige Schüler des sowjetischen Modells – nicht nur was die mit den Ge­fahren des Klassenkampfs begründete Geheimhaltungskultur (und die damit einher­gehende Furcht vor feindlicher Unterwanderung) betrifft, sondern auch in Bezug auf archiv­gestützte Fahndungsdienste im Rahmen von Säuberungskampagnen, die geschichtspäda­gogische Verwertung von Archivmaterial und das historiografische bzw. kompilatorische Engagement. Im Hinblick auf Umfang und Reichweite staatlicher Kontrolle übertrafen die chinesischen Adepten ihr Vorbild sogar: Mit der flächendeckenden Einrichtung von Lokalarchiven bekundete die chinesische Regierung großes Interesse an der Dokumentation der Vorgänge auf den unteren Verwaltungsebenen und schloss darüber hinaus auch nichtamtliches Schriftgut in die Abgabebestimmungen ein. Allerdings reichte der Zentrali­sierungsgrad in der Praxis auch in China nie an den theoretischen Anspruch heran, der mit dem Lenin’schen Begriff des »Nationalen Archivfonds« verbunden ist.2

Dennoch verfügt China heute über ein beispiellos umfassendes Netz staatlicher Archive, die parallel zu den Verwaltungsebenen eingerichtet und in die Behörden- und Parteihierarchie eingebunden sind. An der Spitze stehen die drei Nationalen Archive: das Zentralarchiv und das Erste Historische Archiv in Beijing sowie das Zweite Historische Archiv in Nanjing. Im Zentralarchiv laufen die Akten der zentralen Regierungsbehörden und Parteiorgane zusammen. Außerdem beherbergt das direkt dem Allgemeinen Büro des ZK der KPCh (Kommunistischen Partei Chinas) unterstellte Zentralarchiv Bestände zur »Revolutionsgeschichte«, also Parteidokumente der KPCh sowie ihr nahestehender Organisationen, die vor 1949 datieren. Im Zweiten Historischen Archiv lagern unter anderem die Akten der republikzeitlichen (1912–1949) Zentralbehörden, das Erste Historische Archiv verwahrt Dokumente des Kaiserhofs. Unterhalb der nationalen Ebene betreibt jede Provinz, jeder Bezirk, jede Stadt und jeder Kreis ein eigenes allgemeines Archiv, in dem die Akten sowohl der Partei- als auch der Regierungsbehörden der jeweiligen Verwaltungsebene aufbewahrt werden und das in der Regel auch über einen Bestand an historischem Schriftgut verfügt, das vor 1949 entstanden ist.3

Das Modernisierungsprojekt der Reformer mit dem Staatsziel nationalen Wohlstands hat zur Folge, dass sich der Umfang des potenziell Überlieferungswürdigen in nie zuvor gekanntem Ausmaß über staatliche Verwaltungsunterlagen hinaus ausgedehnt hat. Gerade Dokumente aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, einschließlich solcher aus Privat- und Kollektiveigentum, sind als mögliche Entwicklungsressourcen ins Blickfeld der staatlichen Erinnerungsverwaltung gelangt. Als ein neues Kriterium der Bewertung und der Erschließungsreihenfolge ist dementsprechend die Benutzernachfrage eingeführt worden. Jenseits wirtschaftspolitischer Interessen konzentrierten sich Erinnerungsverwaltung und Propaganda im Zuge der »nationalistischen Wende« in den Neunzigerjahren verstärkt auf offiziell zum Vorbild erhobene historische Persönlichkeiten, die als nationale Identifikationsfiguren und Quell patriotischer Empfindungen dienen sollen. Während das Herausstellen regionaler Besonderheiten in der Mao-Ära als unbotmäßige Abweichung vom Einheitspostulat des orthodoxen Geschichtsbilds geahndet wurde, ist die Pflege eines gewissen Lokalpatriotismus bzw. die Förderung lokaler Sub-Identitäten heute politisch erwünscht. Zur Bereicherung der Bestände werden deshalb schwerpunktmäßig Archivalien mit »regio­naler Eigenart« gesammelt.

Wie präsentieren sich Chinas staatliche Archive heute? Besuchen wir dazu die Website des Beijinger Stadtarchivs.4 Dort lädt das Archiv der Hauptstadt dazu ein, gleich online mit der Recherche zu beginnen. Verschiedene digitale Kataloge mit derzeit fast 800 000 Einträgen stehen dafür zur Verfügung. Gibt man in deren Suchmaske ein Stichwort ein, erscheint eine übersichtliche Liste der relevanten Dokumente. 17 Millionen Aktenblätter sind bereits digitalisiert worden, das sind 29,1 Prozent des Bestands des Beijinger Archivs.5 Immerhin 1 520 000 Aktenblätter können online im Volltext abgerufen werden: Nur ein weiterer Klick auf die Aktensignatur der gefundenen Titel ist nötig, und schon öffnet sich das eingescannte Dokument. Manche chinesische Archive bieten heute außerdem eine Reihe weiterer Dienstleistungen an, die die Recherche und Auswertung von Archivmaterial beträchtlich erleichtern. Als Bürger der VR China genügt es – de jure –, seinen Ausweis in einem beliebigen staatlichen Archiv vorzuweisen, um Einsicht in freigegebene Akten zu erhalten.

So viel Offenheit mag den westlichen Beobachter erstaunen. Von einem autoritären Staat unter Führung einer kommunistischen Partei erwartet man anderes. Tatsächlich galten Archive in China jahrzehntelang als »vertrauliche Arbeitseinheiten« – geheimnisumwobene Orte, die, von der Öffentlichkeit abgeschirmt, ausschließlich Partei- und Regierungsbehörden dienten. Doch bereits in den frühen Achtzigerjahren setzte ein historischer Kurswechsel ein, der schließlich zur schrittweisen Öffnung der Archivbestände führte. Was stand hinter dieser Kehrtwende? Die Reformpolitiker unter Deng Xiaoping betrachteten die exzessive Geheimhaltungspolitik der Mao-Ära als Hemmschuh für die Durchsetzung ihres Modernisierungsprogramms und des Wirtschaftsaufbaus. Das alte, traditionsreiche Konzept vom hermetischen Archiv musste angesichts des wachsenden Informationsbedarfs korrigiert werden. Archivmaterial wird seither vor allem als unverzichtbare Entwicklungsressource definiert, die es in möglichst großem Umfang zu erschließen gilt. Zudem machten das Rehabilitierungsprogramm6 für Opfer der Kulturrevolution und anderer Säuberungskampagnen sowie die Revision der Parteigeschichte in den frühen Jahren der Reformpolitik einen vereinfachten Zugang erforderlich. Mit dem Inkrafttreten des Archivgesetzes im Jahr 1988 öffneten sich die Schleusen so weit, dass auch bislang völlig ausgeschlossene »Normalbürger« in die Archive Einlass erhielten.7 Erstmals in der Geschichte Chinas wurden Sperrung und Freigabe von Archivmaterial rechtlich verankert. Ein Großteil der Bestände ist seither der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Sowohl die chinesische als auch die internationale Forschung hat davon enorm profitiert. Von den zahlreichen Archivführern und informativen Internetauftritten der chinesischen Archive über die geradezu sensationelle Teilöffnung des Archivs des Außenministeriums8 bis zu der am 1. Mai 2008 in Kraft getretenen »Verordnung über die Veröffentlichung von Regierungsinformationen«9 – allenthalben spiegelt sich das Bemühen der offiziellen Seite um mehr Transparenz und Benutzerfreundlichkeit.

Zugangspolitik: Tabuzonen und Geheimnishierarchie

Dennoch ist der Zweifel, der sich in das Erstaunen über diese neue Offenheit mischt, berechtigt: Auch im Rahmen der Reform- und Öffnungspolitik müssen chinesische Archivare bei der Aktenfreigabe und der Auswertung von Archivmaterial das Primat der Staats- und Parteiinteressen beachten. Betrachtet man lediglich die Vorgaben des Archivgesetzes von 1988, ist dies noch nicht offensichtlich: Bürger der VR China scheinen danach vergleichbar liberale Zugangsbedingungen wie in westlichen Demokratien vorzufinden. Mit der Praxis zahlreicher westlicher Archive übereinstimmend, gestattet das chinesische Archiv­gesetz die Freigabe von Akten 30 Jahre nach ihrer Entstehung. Artikel 19 des Gesetzes legt – ebenfalls im Einklang mit international üblichen Vorgaben – fest, dass diese Frist im Falle von Unterlagen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Inhalts unterschritten werden darf. Dokumente, die die nationale Sicherheit bzw. Staatsinteressen berühren, können dagegen bis zu 50 Jahre oder länger gesperrt bleiben; auch diese Einschränkung entspricht der internationalen Praxis. Doch bereits in Bezug auf die Fachterminologie existieren grundlegende Differenzen. So sind die Implikationen der chinesischen 30-Jahresfrist nicht mit den Sperrfristen westlicher Länder vergleichbar, da Akten in der VR China nach Ablauf dieses Zeitraums nicht automatisch freigegeben werden, sondern zunächst einen Unbedenklichkeitstest in Form einer »Freigabe-Bewertung« durchlaufen müssen.10 Dabei kommen eine Reihe offizieller und informeller, die Vorgaben des Archivgesetzes präzisierender Richtlinien zur Anwendung. Diese Normen schränken die Öffnung der Archive signifikant ein und bestimmen sowohl den Umfang als auch den Inhalt des frei zugänglichen Materials.

Die offiziellen Richtlinien für die Freigabe-Bewertung finden sich in der 1991 gemeinsam vom Staatlichen Archivbüro (Guojia dang’anju; im Folgenden: SAB) und dem Staatlichen Büro für Geheimnisschutz (Guojia baomiju) veröffentlichten »Provisorischen Verordnung über die Freigabe und die Definition des Umfangs eingeschränkt benutzbarer Archivbestände der Staatlichen Archive aller [Verwaltungs-]Ebenen« (im Folgenden: Provisorische Verordnung).11 Neben Dokumenten, die zum Schutz vitaler Staatsinteressen, wie auch in westlichen Archiven, gewissen Zugangsbeschränkungen unterliegen, werden darin im Wesentlichen drei Kategorien von Schriftstücken bestimmt, die nur »eingeschränkt benutzt« werden dürfen: Dokumente, die 1) umstrittene »bedeutende politische Ereignisse« betreffen, 2) den Persönlichkeitsschutz berühren oder 3) ethnische, religiöse oder territoriale Angelegenheiten zum Inhalt haben. Zur ersten Gruppe präzisiert die Provisorische Verordnung: »Archivalien, die bedeutende Fragen [sowie] bedeutende politische Ereignisse unserer Partei und des Staates berühren, über die noch kein abschließendes Urteil gefällt worden ist [und] die sich [darüber hinaus] nicht zur Veröffentlichung eignen, [sowie Archivalien,] deren Öffnung die Einigkeit in der Partei oder die reguläre Arbeit von Partei- und Regierungsbehörden beeinträchtigen kann.«12 Parteiinterner Konsens über die Bewertung signifikanter historischer Ereignisse ist demnach Bedingung für die Freigabe der betreffenden Akten. Umgekehrt formuliert: Hat man sich auf höherer Parteiebene noch nicht auf ein einvernehmliches Urteil verständigt, bleiben die entsprechenden Dokumente gesperrt. Nach der Logik der chinesischen Erinnerungsverwaltung ist das Ansehen der betroffenen historischen Persönlichkeiten so lange gefährdet, bis ein positives parteiamtliches Urteil vorliegt. Damit sind wir bei der zweiten Kategorie »eingeschränkt benutzbarer« Unterlagen. Die Provisorische Verordnung gewährt theoretisch jedem Bürger der VR China Persönlichkeitsschutz, indem Dokumente, die »die Privatsphäre von Staatsbürgern berühren« und deren Freigabe »der Reputation sowie den Rechten und Interessen des Staatsbürgers schaden kann«, gesperrt bleiben müssen. Allerdings sieht die Verordnung für Unterlagen, die die politische Führungsschicht, offizielle Identifikationsfiguren und »progressive Patrioten« chinesischer Abstammung betreffen erhöhte Benutzungsschranken vor. Die entsprechenden Absätze beziehen sich auf Akten, die »Bewertungen der politischen Geschichte« beinhalten, »die Tätigkeit und das Leben von Partei- und Staatsführern aller Ebenen« sowie von »berühmten patriotisch-progressiven Persönlichkeiten verschiedenster gesellschaftlicher Kreise« betreffen und »ungeeignet für die Freigabe« sind bzw. »dem Ansehen, der Menschenwürde und der Reputation« der Betroffenen schaden könnten.13 Auch »patriotisch-progressive« Auslandschinesen kommen in den Genuss dieses besonderen Persönlichkeitsschutzes.

In diesen partikularistischen Vorgaben geht es demnach primär um die Wahrung des Ansehens der politischen Elite der VR China sowie der unter dem Dach der »Einheitsfront« versammelten, politisch konformen Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Sektoren, einschließlich der Gruppe prominenter Auslands- bzw. Überseechinesen. Die datenschutzrechtliche Privilegierung »berühmter Persönlichkeiten« lässt sich zum einen mit der retro­spektiv orientierten Herrschaftslegitimation der KPCh und dem Interesse an der geschichts­­pädagogischen Verwertung für legitim erklärter Vorbilder erklären, zum anderen trägt sie deutliche Anklänge an das traditionelle historiografische Prinzip der »angemessenen Verschleierung«.14 Zwar ist ist der Konflikt zwischen Persönlichkeitsschutz und Informationsfreiheit bzw. Wissenschaftsinteresse auch im Westen virulent, die Vorgaben der Provisorischen Verordnung zeigen jedoch, dass diese Auseinandersetzung in der VR China fundamental anderer Natur ist: Nicht der Schutz der Privatsphäre steht im Mittelpunkt der Benutzungsschranken, sondern die interessengeleitete Imagepflege eines exklusiven Personenkreises. Persönlichkeitsrechte können demnach als Vorwand für die Zurückhaltung politisch »schädlicher« bzw. den Betreffenden belastender Informationen dienen. Dabei bleibt es freilich der subjektiven Einschätzung des jeweiligen Archivars überlassen, welche Informationen die in der Provisorischen Verordnung angeführten negativen Folgen nach sich ziehen könnten. Der Ermessensspielraum ist hier relativ groß, entsprechend variabel dürfte die Anwendung der betreffenden Vorgaben ausfallen.

Die dritte Kategorie umfasst Dokumente, die sensible territoriale, ethnische und religiöse Angelegenheiten berühren und deren Freigabe eine Gefährdung der »gesellschaftlichen Stabilität« und der »nationalen Einheit« befürchten lasse.15 Dazu zählen »interne Entscheidungen über politische Maßnahmen in Bezug auf ethnische Konflikte«, Religionsangelegenheiten, die Einheitsfront und Auslandschinesen. Das Shanghaier Stadtarchiv hält folglich die Aktenfonds von Behörden, die mit Auslandschinesen, Minderheiten- und Religionsfragen befasst sind, zu fast 70 Prozent unter Verschluss.16 Der ehemalige Direktor des SAB, Wang Gang, mahnte die Teilnehmer einer Tagung zur Archivarbeit in Minderheitengebieten, bei der Freigabe von Akten »mit äußerster Sorgfalt« vorzugehen, und betonte, dass sämtliche Unterlagen, die der nationalen Einheit, der territorialen Integrität und der gesellschaftlichen Stabilität in Minderheitengebieten schaden könnten, nicht geöffnet werden dürften.17 Gesperrt bleiben müssen darüber hinaus Unterlagen über Demarkationslinien zwischen Verwaltungsgebieten, deren Öffnung »Grenzkonflikte provozieren oder die soziale Stabilität und Einheit des Volkes beeinträchtigen« könnten.18 Schließlich sind Akten zurückzuhalten, »die präzise Beschreibungen von Sitten, Gebräuchen und Lebensweisen von Volksgruppen enthalten, welche dem Gegner nützliche Informationen in Bezug auf militärische und ökonomische Strategien liefern oder das Ansehen der betreffenden Nationalität schädigen können«.19 Eine Mitarbeiterin der Rechtsabteilung des SAB erläuterte im Interview, dass hier der Begriff »präzise« als Schlüsselwort zu interpretieren sei.20 Gemeint seien exakte Angaben zu den Sitten bestimmter Grenznationalitäten wie etwa die Schilderung traditioneller grenzüberschreitender Wallfahrten, die von Gegnern für militärische oder wirtschaftliche Zwecke genutzt werden könnten. Auch Schilderungen »unerfreulicher« traditioneller Praktiken könnten dem Ansehen einer Volksgruppe schaden. Im Einklang mit diesen Bestimmungen hält das Beijinger Stadtarchiv die zwischen 1715 und 1956 entstandenen Akten der Russisch-Orthodoxen Kirche (Fond J22) sowie die Unterlagen der mit Religionsangelegenheiten befassten Ausschüsse des Beijinger Parteikomitees (Fond 108) bzw. des Volkskomitees (Fond 107) unter Verschluss. Das Shanghaier Stadtarchiv hat immerhin einen kleinen Teil der Akten des lokalen Büros für religiöse Angelegenheiten freigegeben (Fond B22). Möglicherweise handelt es sich hier allerdings um eher allgemeine, unverfängliche Inhalte.

Offenbar fällt es vielen Archivaren schwer, die Provisorische Verordnung »richtig« zu interpretieren.21 Sie beklagen regelmäßig das Fehlen präziserer Vorschriften und stützen sich daher bei der Aktenöffnung auf eine Reihe griffiger Slogans.22 Eine der einflussreichsten informellen Richtlinien ist die fest in der chinesischen Geheimnishierarchie verankerte Unterscheidung »politisch / unpolitisch«, die bei der Freigabe-Bewertung in Form des Leitspruchs »politische Dokumente strikt, unpolitische Dokumente großzügig behandeln« auftaucht.23 Unter dem Stichwort »politische Dokumente« subsumiert die Fachliteratur Unterlagen über Massenkampagnen, Öffentliche Sicherheit, Außenpolitik und Ähnliches. Als »unpolitisch« gelten dagegen wirtschaftliche, kulturelle und technische Archivalien. Sehr deutlich manifestiert sich diese Richtlinie in der Freigabepraxis des Shanghaier Stadtarchivs: Im Unterschied zu den Aktenfonds politischer Institutionen hat das Archiv die Unterlagen von Versicherungen, Banken, Gewerbeverbänden und Unternehmen fast zu 100 Prozent freigegeben.24 Innerhalb der freigegebenen Aktenfonds der städtischen Regierungsbehörden Shanghais bleiben unter anderem solche Unterlagen unter Verschluss, die im Zusammenhang mit politischen Kampagnen (z. B. Fond B13) und auswärtigen Angelegenheiten (Fond B15, B16) stehen.25 Im Beijinger Stadtarchiv sind die Fonds von Institutionen des Industrie- und Handelssektors bis auf sehr wenige einzelne Akten freigegeben worden.

Am Katalog freigegebener Akten für den Fond Nr. 42 des Beijinger Stadtarchivs lässt sich das Zurückhalten von Archivmaterial über politische Massenkampagnen demonstrieren. Die Unterlagen des harmlos klingenden »Untersuchungskomitees für Einsparungsmaßnahmen« sind vermutlich deshalb zu über 96 Prozent gesperrt, weil dieses Gremium des Stadtparteikomitees für die Durchführung der »Drei-Anti-« und der »Fünf-Anti-Bewegung« (1951 / 52) zuständig war.26 Nach Dokumenten über diese Kampagnen sucht man auch im Online-Katalog vergeblich. Unter dem Stichwort »Kampagne zur Ausrottung von Konterrevolutionären (Sufan yundong)« erscheint hingegen immerhin eine Liste mit 25 Einträgen. Zielscheibe dieses im Juni 1955 eingeleiteten Säuberungsfeldzugs waren mutmaßliche »üble Elemente« und »Konterrevolutionäre«, die angeblich Partei- und Regierungsorgane infiltriert hatten.27 Der Katalog Nr. 7 des Fonds des Beijinger Volkskomitees für 1955, also das Jahr der Sufan-Kampagne, weist allerdings auffallend mehr abgeklebte Titel auf als die Kataloge anderer Jahrgänge des gleichen Fonds. Die Sufan-Kampagne gilt bis heute als derart brisantes Thema, dass die offizielle Geschichtsschreibung es für geboten hält, sie weiterhin auszublenden. Die Anti-Rechts-Kampagne wird dagegen in der regierungsamtlichen Parteihistoriografie ausführlich geschildert und mit einer teils kritischen Einschätzung bedacht.28 Im Katalog Nr. 10 des oben genannten Fonds (für das Jahr 1958) finden sich denn auch zahlreiche freigegebene Dokumente, die im Zusammenhang mit der Anti-Rechts-Kampagne stehen. In dieses Bild passt es wiederum nicht, dass der Online-Katalog zu dem Stichwort »Anti-Rechts« gar keinen Treffer liefert. Diese Uneinheitlichkeit bei der Umsetzung der Freigaberichtlinien resultiert in einer Unberechenbarkeit, die für den Benutzer durchaus positive Effekte haben kann: So besteht immerhin die Möglichkeit, dass historische Tabubereiche von einzelnen Archiven bzw. Archivaren weniger restriktiv behandelt werden als sonst üblich.

Aufgrund der 30-Jahresfrist haben die meisten Archive erst 2006 begonnen, ihre Bestände zur längsten und umfassendsten aller politischen Massenkampagnen – der Kulturrevolution (1966–1976) – zu öffnen. Da die KPCh bis heute keine unabhängige Aufarbeitung der Geschichte jener Zeit gestattet, dürften sich die freigegebenen Akten inhaltlich innerhalb der eng abgesteckten offiziellen Grenzen und Interpretationsspielräume bewegen. Unter dem Stichwort »Kulturrevolution« liefert Beijings Online-Katalog gerade neun, unter »Rote Garden« nur einen Treffer. Erwähnenswert ist, dass die meisten der im Stadtarchiv Wuzhong freigegebenen Kulturrevolutionsakten aus den Jahren 1972–1976 stammen, während nur ein Bruchteil in der turbulenten Hochphase der Kulturrevolution (1966–1969) entstanden ist.29 Dies lässt sich nicht allein damit erklären, dass eine Reihe von Behörden und Institutionen in dieser heißen Phase aufgelöst wurden und die Arbeit erst mit Beginn der Wiederaufbauperiode Anfang der Siebzigerjahre wieder aufnahmen. Denn auch Unterlagen der seit 1967 eingerichteten Revolutionskomitees sucht man in den Katalogen vergebens.

Innerhalb der »politischen« Unterlagen wird Akten von Parteibehörden per se ein höherer Geheimniswert beigemessen als solchen von Regierungsorganen. Folglich liegt die Menge der freigegebenen Partei- deutlich unter der der zugänglichen Regierungsakten. So hatte das Beijinger Stadtarchiv im Jahr 1997 91 Prozent der Volkskomitee-Akten, aber lediglich 26 Prozent der Parteikomitee-Akten freigegeben,30 ähnlich verhielt es sich im Shanghaier Stadtarchiv. Im Stadtarchiv von Wuzhong beträgt das Verhältnis von freigegebenen Partei- zu Regierungsakten etwa 1:3.31

Nach dem Stichjahr 1949 entstandene Dokumente werden generell als sensibler eingestuft als vor der Staatsgründung produzierte Schriftstücke. Der entsprechende Leitspruch der Archivare lautet: »Zuerst das Entfernte, dann das Nahe.«32 So stellt das Beijinger Stadtarchiv bislang nur Akten aus der Republikzeit (1912–1949) im Volltext auf seiner Website zur Verfügung. Von der Richtlinie ausgenommen sind Zeugnisse aus der Republikzeit, die der Revolutionsgeschichte zugeordnet werden und deshalb in der Geheimnishierarchie ganz oben rangieren. Maßgeblich ist demnach nicht allein die zeitliche Entfernung, sondern auch die politische bzw. genealogische Verbindung mit der gegenwärtigen Regierungselite bzw. dem Legitimationsmythos der VR China. So hat das Beijinger Stadtarchiv bis 1997 zwar über 90 Prozent der Akten der »Alten Regime« freigegeben, von den fünf revolutionsgeschichtlichen Fonds hingegen nicht ein einziges Dokument.33 Noch geringeren Geheimniswert als zwischen 1911 und 1949 entstandenes Schriftgut der »Alten Regime«, das zur unmittelbaren Vorgeschichte der VR China gehört, besitzen Dokumente aus der Kaiserzeit. Das Beijinger Stadtarchiv hat sämtliches Schriftgut aus der Qing-Zeit freigegeben, während von den 223 republikzeitlichen Fonds 19 Prozent gesperrt bleiben.

Die Ausrichtung am Entstehungsdatum spiegelt sich in der unterschiedlichen Zugangspolitik der drei nationalen Archive wider. Viele westliche Archivnutzer teilen die Beobachtung, dass das Erste Historische Archiv eine deutlich liberalere, benutzerfreundlichere Zugangspolitik verfolgt als das Zweite Historische Archiv. Das Zentralarchiv schließlich ist mit seinen revolutionsgeschichtlichen und nach 1949 datierenden Beständen nach wie vor eine hochgradig exklusive Einrichtung. Die Tore dieses Sanktuariums staatlicher Erinnerungsverwaltung haben sich auch nach Beginn der Reformpolitik kaum einen Spalt breit geöffnet. Zutritt hat nur ein eng begrenzter Benutzerkreis, und selbst diese privilegierte Gruppe muss sich einem strengen Reglement unterwerfen. In Betracht kommen allein institutionelle bzw. in offiziellem Auftrag recherchierende Besucher.34 Als einziges staatliches Archiv der VR China unterhält das Zentralarchiv zudem keine eigene Website. Auch auf der Homepage des SAB, das 1993 formal mit dem Zentralarchiv fusionierte, findet sich nicht einmal ein Hinweis auf das Herzstück des Staatsgedächtnisses der VR China.

Ein weiterer Slogan empfiehlt, strenger bei der Freigabe »inoffizieller« und großzügiger bei »offiziellen« Dokumenten vorzugehen.35 »Inoffizielle Dokumente« wie etwa Sitzungsprotokolle36 überliefern naturgemäß kontroverse Inhalte und gelten deshalb als sensibel. Sie dokumentieren bislang unveröffentlichte Differenzen innerhalb der Führungsebene oder sprechen »konkrete, einzelne Personen betreffende Sachverhalte« an.37 Wenn man hier nicht sorgfältig abwäge, könne dies »Schwierigkeiten nach sich ziehen«.38 Angesichts der engen Verbindung zwischen lokalen Archiven und den örtlichen Partei- bzw. Regierungsbehörden darf man annehmen, dass die Archivare bei ihren Entscheidungen persönliche Treuepflichten und die Interessen lokaler Führungskader berücksichtigen. In den stichprobenartig durchgesehenen offenen Katalogen des Beijinger Stadtarchivs spiegeln sich die Vorbehalte gegenüber inoffiziellen Schriftstücken in der Tatsache, dass die Rubrik »Sitzungsprotokolle« als einzige Dokumentengruppe in mehreren Katalogen flächen­deckend abgeklebt ist.39

Benutzerfreundlichkeit und Eigendynamik der Öffnungspolitik

Noch heute, 20 Jahre nach dem Beginn der Archivöffnungen, liest man in chinesischen Fachzeitschriften, dass für viele Archivare das Umdenken von Geheimhaltung auf Nutzung, von Abschottung auf Offenheit, von Verwaltung auf Freigabe, von institutionellen Nutzern auf private Besucher, von eingesperrten Findbüchern auf frei zugängliche Findmittel noch immer eine beträchtliche Herausforderung darstelle.40 Abgesehen vom Sonderfall Zentralarchiv, hängt der Grad der Öffnung bzw. die Benutzerfreundlichkeit von vielen Faktoren ab und kann von Archiv zu Archiv stark variieren. Nach meinen eigenen Erfahrungen liegen etwa Welten zwischen dem Shanghaier Stadtarchiv und dem Archiv der Provinz Shandong. Hier erwartete mich ein offener, herzlicher Empfang, dort wehte der eisige Wind des Kalten Krieges.41 Selbst innerhalb desselben Archivs kann ein Personalwechsel auf der Führungsebene die Zugangsbedingungen von heute auf morgen erheblich verbessern oder aber drastisch verschlechtern. Auch wenn ein Aktenfond offiziell freigegeben ist, kann es passieren, dass dem Benutzer dennoch die Einsicht verwehrt wird. Umgekehrt können bestimmte Voraussetzungen des Benutzers zum Sesam-öffne-dich für gesperrte Bestände werden: Mit hohem Status und ausgezeichneten Beziehungen ausgestattet, können auch westliche Forscher darauf hoffen, sogar gesperrte Bestände einsehen zu dürfen.

Die derzeitige Rechtsordnung bietet bezüglich der Bewilligung oder Ablehnung von Anträgen auf Akteneinsicht keinen ausreichenden Schutz vor willkürlichen Entscheidungen42 – das würde auch dem Primat politischer Interessen zuwiderlaufen, denn chinesische Archivare müssen bei ihren Entscheidungen Verschiebungen in der politischen Agenda, Revisionen der offiziellen Historiografie und gelegentlich sogar tagespolitische Konstellationen in Betracht ziehen. Sie vollführen dabei einen permanenten Drahtseilakt zwischen Öffnung und Kontrolle. Der breite Interpretationsspielraum kann sich im Einzelfall jedoch auch zugunsten der Benutzerinteressen auswirken. In einigen Archiven, die sich wie das Shanghaier Stadtarchiv durch große Benutzerfreundlichkeit einen Namen gemacht haben, gewann ich den Eindruck, dass man die Sperrung bestimmter Akten beinahe als lästig empfand und die offiziellen Geheimnisschutzvorgaben deshalb gelegentlich unterlaufen wurden. So scheint das in den Köpfen der Archivare bislang dominierende Geheimhaltungsethos schleichend von einem »kundenorientierten« Dienstleistungsgedanken aufgeweicht zu werden. Die chinesische Zugangspolitik ist deshalb vor allem eins: unberechenbar.

Die staatliche Erinnerungsverwaltung agiert zudem nicht in einem abgeschlossenen Raum. Ihre hegemoniale Stellung wird unter anderem durch den wachsenden Informationszufluss von außen unterminiert. So hat die Öffnung der ehemaligen sowjetischen Archive – die etwa zeitgleich mit der der chinesischen stattfand – Material zutage gefördert, aufgrund dessen die Parteigeschichte »neu geschrieben« werden muss.43 Russische Dokumente über die chinesisch-sowjetischen Beziehungen, die »auf Umwegen« in die VR China gelangt sind, stellen orthodoxe Interpretationen infrage.44 Beijing hat mit wechselndem Erfolg versucht, gegenzusteuern, etwa indem »von chinesischer Seite vor einer zu freizügigen Freigabe von Dokumenten gewarnt« wurde.45 Aussagekräftiges Material zu den chinesisch-sowjetischen Beziehungen der Fünfzigerjahre im Archiv des russischen Außenministeriums blieb deshalb zunächst mit der Begründung gesperrt, die Freigabe würde Proteste noch lebender Agenten hervorrufen und möglicherweise die russisch-chinesischen Beziehungen belasten.46 Nicht verhindern konnten die Wächter der staatlichen Erinnerungsverwaltung dagegen beispielsweise, dass die Öffnung sowjetischer Akten Ende der Neunzigerjahre den Anstoß zu einer neuen Betrachtung der Rolle Chinas im Korea-Krieg gab.47

Fazit

Offizielle und informelle Geheimhaltungsrichtlinien umreißen mit vergleichsweise groben Strichen bestimmte Tabubereiche des staatlichen Gedächtnisses. Sie sind in vielen Fällen dafür verantwortlich, dass bestimmte Aktenfonds unter Verschluss bleiben, doch die Uneinheitlichkeit bei ihrer konkreten Umsetzung wirkt einer stromlinienförmigen Anpassung des verfügbaren Erinnerungsstoffs entgegen. Das Ergebnis ist eine heterogene Archiv­landschaft.

Auch die Reformer haben das chinesische Archivsystem dem Primat der Politik unterstellt. Sie begreifen Archive als Schlüsselinstitutionen staatlicher Erinnerungslenkung und Legitimitätsschöpfung und damit als Instrumente der Staatspolitik. Trotz der fortgesetzten Öffnung der Archive sind deshalb bis zum Jahr 2003 erst 20,8 Prozent ihres Gesamtbestands für die Öffentlichkeit freigegeben worden.48 Dennoch: Neue Vorgaben und die konsequente Fortführung des einst auf maximale Überwachung zugeschnittenen Konzepts des Nationalen Archivfonds haben die chinesischen Archive zu potenziellen Speichergedächtnissen, zu reichhaltigen Reservoirs kontrapräsentischer Erinnerungen gemacht.49 Als »Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens« und »Korrektiv für aktuelle Funktionsgedächtnisse« könnten sie nach einem hypothetischen Regimewechsel »recycelt und reaktiviert« werden.50 Solange die Diktatur der KPCh andauert, werden Chinas Archivare jedoch weiterhin zwischen dem Primat des Diensts für die Partei einerseits und dem Kommerzialisierungsdruck und den Bedürfnissen einer sich immer weiter differenzierenden Gesellschaft andererseits manövrieren müssen.

Unterdessen wird der Öffnungsprozess durch wachsende Kritik vonseiten der chinesischen Fachwelt forciert. Forderungen nach dem »öffentlichen Archiv« (»public archives«) als »Garant der Informationsfreiheit und des gleichberechtigten Zugangs für alle Bürger zu allen Beständen in allen Archiven« erhöhen den Druck, das Archivwesen weiter zu liberalisieren und internationalen Standards anzupassen.51 Eine Geschichtsprofessorin konstatierte vor Kurzem in einer der liberalsten chinesischen Tageszeitungen: »Zu glauben, es sei ein Gnadenakt gegenüber den Bürgern, wenn Archive einen Teil ihrer Akten freigeben, ist wahrlich grotesk.«52 Die Regierung nehme irrigerweise an, sie habe das Recht, Akten zu monopolisieren. Das sei falsch. Die Archivbestände gehörten dem Volk, und die Archive seien in der Pflicht, sie allen Bürgern zur Verfügung zu stellen.


1 Siehe hierzu ausführlich: Vivian Wagner: Erinnerungsverwaltung in China: Staatsarchive und Politik in der Volksrepublik, Köln 2006.

2 Adolf Brenneke: Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäi­schen Archivwesens, Leipzig 1953, S. 267 f., Anm. 115 u. S. 269 f.

3 Charakteristisch für das sowjetische Archivwesen war die getrennte Verwaltung von Regierungs- und Partei­unterlagen in jeweils eigenständigen Archivsystemen (siehe Patricia Kennedy Grimsted: Archives and Manuscript Repositories in the USSR, Prince­ton 1972, S. 26 f.). Anfangs plante die VR China ein zweigleisiges Archivsystem nach sowjetischem Muster, Ende der Fünfzigerjahre wurden die Archivsysteme von Partei und Regierung jedoch zusammengelegt (siehe Wagner: Erinnerungsverwaltung in China [Anm. 1], S. 206 f.).

4 Englische Version: www.bjma.org.cn/eng.ycs; Online-Kataloge (chinesisch): 210.73.80.51/main.asp.

5 Chinesische Archive sind gesetzlich verpflichtet, virtuelle Formen der Nutzung anzubieten. Soweit die materielle und finanzielle Ausstattung der staatlichen Archive es erlaubt, wird die Digitalisierung von Findmitteln und Archivalien vorangetrieben, und Dienstleistungen werden auch online angeboten; siehe Hao Shuxia: Wangluo huanjing xia dang’anguan liyong fuwu gongzuo de fazhan quxiang [Entwicklungstendenzen in der Archivdienstleistung im Internet], in: Dang’an guanli [Archiverwaltung] 2 (2007), S. 80.

6 Siehe auch den Beitrag von Agnes Schick-Chen in diesem Band.

7 Englische Fassung des Archivgesetzes: www.saac.gov.cn/articleaction.do?method=view&id=ff808081172649a8011729fc01ca0019f; chinesische Fassung: www.saac.gov.cn/articleaction.do?method=view&id=ff808081172649a801172660f3010001.

8 Siehe Frank Ching: China Creeps Towards a Culture of Openness, in: Japan Times vom 12. Februar 2004. Website des Archivs des Außenministeriums mit Online-Katalog: dag.fmprc.gov.cn/chn/.

9 »Zhonghua renmin gongheguo zhengfu xinxi gongkai tiaoli«, www.dezhou.gov.cn/127/2008/01/17/­16446,127.aspx.

10 Fu Hua: Dang’an liyong yu kaifang de bijiao [Vergleich der Aktennutzung und -freigabe], in: Waiguo dang’an gongzuo dongtai [Trends der Archivarbeit im Ausland] 2 (1997), S. 35.

11 »Geji guojia dang’anguan guancang dang’an jiemi he huafen kongzhi shiyong fanwei de zanxing guiding«, dafz.cqfd.gov.cn/News_View.asp.

12 Artikel 7, Absatz 1.

13 Siehe Artikel 7, Absätze 2, 5, 17 und 18.

14 Im kaiserlichen China verpflichtete das Berufsethos den amtlich bestallten Historiker, das Ideal der objektiven Stellungnahme zu relativieren und Unzulänglichkeiten oder Fehlverhalten bestimmter Personengruppen wohlwollend zu übersehen oder euphemistisch zu verbrämen. Dazu gehörten unter anderem enge Verwandte des Kaisers und Würdenträger (siehe William G. Beasley / Edwin G. Pulleyblank [Hg.]: Historians of China and Japan, London 1961, S. 49; 51 f.).

15 Siehe Artikel 7, Absätze 7, 8, 9 der Provisorischen Verordnung.

16 Fonds B20, B21, B22 (Shanghai shi dang’anguan zhengji liyong shi 1996 [Büro des Shanghaier Stadtarchivs für Sammlung, Ordnung und Nutzung {von Archivmaterial}]).

17 Guojia dang’anju Zhongyang dang’anguan bangongshi [Büro des Staatlichen Archivbüros und des Zentralarchivs] (Hg.): Dang’an gongzuo wenjian huiji diliu ji [Dokumentensammlung zur Archivarbeit, Band 6], Beijing 1997, S. 61.

18 Artikel 7, Absatz 8 der Provisorischen Verordnung.

19 Ebd., Absatz 9.

20 Interview CX [Die Interviews wurden auf Wunsch der Gesprächspartner anonymisiert], 6. 2. 1998, Beijing.

21 Siehe Sun Mingfang / Chen Xizhou: Kaifang dang’an gongzuo zhong de wenti [Probleme bei der Aktenfreigabe], in: Zhongguo dang’an [Chinesische Archive] 9 (1997), S. 32.

22 Siehe Liu Xinze / Yuan Yueli: Ruhe zuohao kaifang dang’an yewu gongzuo [Wie man richtig bei der Aktenfreigabe vorgeht], in: Dang›an guanli 2 (2006), S. 58.

23 Siehe ebd.; Chen Kongxiu: Kaifang dang›an jiemi huakong de zhidao sixiang, biaozhun ji yuanze [Leitgedanken, Standards und Prinzipien der Entsperrung und Kontrolle bei der Aktenfreigabe], in: Fujian dang’an [Fujian-Archiv] 4 (1989), S. 30–34.

24 Shanghai shi dang’anguan zhengji liyong shi [Büro für Sammlung, Ordnung und Nutzung des Shanghaier Stadtarchivs] (Hg.): Shanghai shi dang’anguan kaifang dang’an quanzong mulu [Katalog der freigegebenen Aktenfonds des Shanghaier Stadtarchivs] (10 Bde.), Shanghai 1987–1997.

25 Ebd., Bd. 8, 1996. Im Beijinger Stadtarchiv sind die Fonds zweier mit auswärtigen Angelegenheiten befassten Behörden ebenfalls gesperrt (Fonds 102, 104).

26 Siehe Beijing shi dang’anguan [Beijinger Stadtarchiv]: Beijing shi dang’anguan zhinan [Führer des Beijinger Stadtarchivs], Beijing 1996, S. 258 f.

27 Sämtliche Arbeitseinheiten hatten einen bestimmten Prozentsatz »versteckter Konterrevolutionäre« nach oben zu melden. Kandidaten für diese Quote waren u. a. »Personen mit einer problematischen Vergangenheit« (siehe Rudolf G. Wagner: Inside a Service Trade. Studies in Contemporary Chinese Prose [Harvard-Yen­ching Institute Monograph Series 34], Cambridge, Mass.-London 1992, S. 34f.). Hier waren die Dienste der Archivare gefragt: Sie waren maßgeblich an der Durchführung dieses Feldzugs beteiligt (siehe Wagner: Erinnerungsverwaltung in China [Anm. 1], S. 190 f.).

28 Siehe Hu Sheng (Hg.): Zhongguo gongchandang de qishi nian [70 Jahre Kommunistische Partei Chinas], Beijing 1991, S. 355–360 sowie den Beitrag von Monika Gänßbauer in diesem Band.

29 Die Liste der freigegeben Fonds des Stadtarchivs Wuzhong findet sich hier: www.nxwzdazw.gov.cn/Article/ShowArticle.asp?ArticleID=568.

30 Die Prozentzahlen ergeben sich aus der Fondsübersicht des Beijinger Archivführers (Beijing shi dang’anguan 1996) und den Übersichten zu den 1996 bzw. 1997 freigegebenen Beständen des Archivs.

31 Das ergibt sich aus der Liste der freigegebenen Aktenfonds, die auf der Website des Archivs abgerufen werden kann: www.nxwzdazw.gov.cn/Article/ShowArticle.asp?ArticleID=568.

32 Wang Shuzhen / Zhang Jianzhong: Zhengque chuli kaifang dang’an gongzuozhong de yewu wenti [Fachliche Probleme bei der Aktenfreigabe korrekt behandeln], in: Shandong dang’an [Shangdonger Archive] 5 / 6 (1994), S. 48.

33 Beijing shi dang’anguan [Beijinger Stadtarchiv]: Beijing shi dang’anguan diyi pi kaifang dang’an mulu ce [Katalog des ersten Satzes freigegebener Akten des Beijinger Stadtarchvis], Beijing 1997; Beijing shi dang’anguan: Beijing shi dang’anguan kaifang dang’an quanzong mulu [Katalog der freigegebenen Aktenfonds des Beijinger Stadtarchivs], Beijing 1997.

34 Interview DV, 16.2.1998, Beijing, und Interview UF, 2.12.1997, Beijing.

35 Interview CW, 22.12.1997, Jinan.

36 »Sitzungsbeschlüsse« (huiyi jiyao) können dagegen freigegeben werden, da sie die amtliche Kollektivmeinung vertreten (Interview OL, 23.12.1997, Jinan).

37 Interview CW, 22.12.1997, Jinan.

38 Chen: Kaifang dang’an (Anm. 23), S. 32.

39 Siehe Fond 2, Kataloge Nr. 1, 7, 10 und 20.

40 Liu / Yuan: Ruhe zuohao (Anm. 22); Ye Chu: Xin shiqi dang’an gongzuo de ›qige zhuanbian‹ [Die »sieben Veränderungen« in der Archivarbeit der neuen Periode], in: Dang›an guanli 4 (2006), S. 31 f.

41 Die guten Kontakte des Heidelberger Sinologischen Seminars zum Shanghaier Stadtarchiv waren hier sicher hilfreich. Auf vergleichbare »Beziehungen« (guanxi) konnte ich mich im Falle des Shandonger Provinzialarchivs nicht stützen.

42 Siehe Xu Li / Hu Mingwei: Lun dang’an liyong zhong gongquan yu siquan de zhiheng [Über die gegenseitige Kontrolle von öffentlichen und individuellen Rechten bei der Nutzung von Archivalien], in: Dang’anjie [Archivwelt], 2008; online abrufbar unter www.danganj.net/UpLoadFiles/Article/2008-1/2008013015000679582.doc.

43 Interview EU, 3. 12. 1997, Beijing.

44 Interview KQ, 18. 2. 1998, Beijing. Herr KQ erläuterte, dass die fraglichen Akten von chinesischen Historikern offiziell nicht eingesehen werden durften, weshalb man nur eine Delegation von Übersetzern – keine Historiker – nach Moskau geschickt habe. Übersetzer gälten als »ungefährlich«, da ihnen die historischen Kenntnisse fehlten.

45 Eva-Maria Stolberg: Moskauer Archive: Zur Geschichte der sowjetisch-chinesischen Beziehungen in der Nachkriegszeit, in: Archivmitteilungen 2 (1994), S. 63.

46 Siehe ebd., S. 62.

47 Siehe Wagner: Erinnerungsverwaltung in China (Anm. 1), S. 579.

48 Siehe Su Junhua: Gonggong dang’anguan de shehui lixiang yu xianshi kunjing de kaoliang [Überlegungen zum Dilemma von gesellschaftlichem Ideal und der Wirklichkeit öffentlicher Archive], in: Dang’an guanli 4 (2007).

49 Siehe Wolfgang Ernst: Kybernetik des Archivs – An der Grenze zum Medium, in: Friedrich Beck et al.: Archive und Gedächtnis. Festschrift für Botho Brachmann, Potsdam 2005, S. 30.

50 Aleida Assmann: Artikel »Schrift«, in: Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinä­res Lexikon, Hamburg 2001, S. 528.

51 Su: Gonggong dang’anguan (Anm. 48).

52 Cheng Meibao: Chayue gongong dang’an: gongmin you quan, zhengfu you ze [Öffentliche Akten einsehen: Der Bürger hat das Recht, die Regierung ist in der Pflicht], in: Nanfang Zhoumo [Südliches Wochenende] vom 10. 4. 2008, online abrufbar unter www.southcn.net/epaper/nfzm/content/20080410/ArticelE30003FM.htm.

Inhalt – JHK 2009

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.