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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2004

Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung – Festschrift zum 75. Geburtstag Hermann Webers

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 406-412 | Aufbau Verlag

Autor/in: Wolfgang Schuller

Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hrsg. im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur): Bilanz und Perspektiven der DDRForschung, Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2003, XXII S. + 558 S., ISBN 3506-70110-X

 

Hermann Weber hat zum 75. Geburtstag eine so themenreiche Festschrift bekommen, dass schon allein die Aufzählung der behandelten Gegenstände und Autoren den für diese Besprechung zur Verfügung stehenden Platz zu sehr einengen würde: 55 Autoren skizzieren fast genauso viele Gegenstände der DDRForschung. Die meisten Beiträge beschränken sich dabei nicht auf die Darstellung des jetzigen Forschungsstandes, sondern unterscheiden die Zeit vor 1989 von der danach und nehmen entsprechend dem Titel des Buches Ausblicke in die Zukunft vor. In den meisten Fällen haben die Beiträge den Charakter eines kühl referierenden, gelegentlich im Einzelnen wertenden Forschungsberichts. Eine Ausnahme von der Regel ist allein Rolf Steininger (»Die Berlin-Krise und der 13. August 1961«), der temperamentvoll und erfrischend seine Sicht der Ereignisse zur Geltung bringt. Nimmt man noch die über hundert Seiten starke Bibliographie mit 2066 aufgeführten Titeln hinzu, leider fehlen Register, dann kann behauptet werden, dass hier wirklich ein Standardwerk vorgelegt wird, das seinem Titel, der verspricht, »Bilanz« zu ziehen und »Perspektiven« aufzuzeigen, vollständig gerecht wird.

Bei jedem Forschungsgegenstand treten auch dann unterschiedliche Meinungen und Akzentuierungen auf, wenn er in sich wenig Brisanz aufweist. Erst recht ist das der Fall, wenn er ein Gebiet betrifft, das wie die DDR unterschiedlich wahrgenommen wurde, und vor allem, wenn die Forschungsgeschichte selber einen ähnlich tiefen Einschnitt aufweist, wie ihn der Zusammenbruch dieses Staates im Jahre 1989 darstellt. Dieser Einschnitt vergrößerte nicht nur ruckartig und in überwältigendem Maße das zur Verfügung stehende Quellenmaterial. Er hat auch die sehr reale politische Macht des SED-Staates beseitigt, von der kraft ihrer bloßen Existenz eine erhebliche Wirkung auf Forschungsmöglichkeiten sowie auch auf manche Sichtweisen und Bewusstseinslagen ausgegangen war. Daher fordert diese neue Situation nach 1989/90 zwangsläufig zu der Frage heraus, inwieweit die bisherige DDR-Forschung methodisch und inhaltlich ihrem Gegenstand gerecht geworden war, und da fast jeder Beitrag des Buches die gesamte Forschung zu dem betreffenden Gebiet resümiert, muss es zunächst interessieren, ob und wie auf dieses Problem eingegangen wird.

Obwohl durchgängig ein konzilianter Ton herrscht, gibt es bei näherem Hinsehen in der Sache Uneinheitlichkeiten. Der Grundtenor scheint mir der zu sein, alles in allem eine Kontinuität zu sehen, die nur durch die qualitativ neue Quellensituation eine Veränderung erfahren habe. So heißt es beispielsweise bei Hermann Wentker im Beitrag »Justiz und Politik in der DDR«, diese neue Situation habe die Forschung zur politischen Justiz »intensiviert« (S. 126), als ob sie mit Ausnahme der zuvor im Beitrag genannten wenigen Bücher aus den Jahren 1978 und 1980 jemals nennenswert intensiv gewesen wäre. Ebenso betrachtet Mary Fulbrook in ihrem Beitrag über die westdeutsche »DDR-Forschung bis 1989/90« deren methodische Unterschiede eher konziliatorisch – mit einer Präferenz für den »immanenten Ansatz« – und meint, »als Ganzes« beziehungsweise »insgesamt« habe die damalige Forschung die DDR schon richtig gesehen (S. 369). Freilich nennt sie dabei die Arbeiten von Karl Wilhelm Fricke zusammen mit durchaus anders gearteten, so dass man an das Bonmot erinnert wird, Friedrich der Große und Maria Theresia hätten ja eigentlich doch nur dasselbe gewollt, nämlich Schlesien.

Deutlich andere Einschätzungen kann man in gelegentlichen Nebenbemerkungen lesen. So spricht Manfred Wilke in »Die DDR – Wandlungen der historischen Deutung« sehr zurückhaltend von dem durch einen namhaften Forscher »nicht behandelte[n] MfS« (S. 32)[1] oder Rainer Eckert ebenso zurückhaltend davon, dass – zufällig – derselbe Forscher in seiner Geschichte der beiden deutschen Staaten »nur am Rande auf oppositionelles Geschehen in der DDR« eingegangen sei (S. 167, Beitrag »Dissidenz und Opposition im Schatten der Mauer – die sechziger und siebziger Jahre«). Wenn also der »immanenten« Forschungsrichtung attestiert wird, ihr sei es um die objektive Erkenntnis der Realität in der DDR gegangen, und wenn ebendiese Richtung Repression und Opposition zu wenig oder gar nicht beachtete, dann sollte darauf insistiert werden, dass diese beiden Gebiete auch zur DDR-Realität gehört hatten und dass ein DDR-Bild falsch war, das sie aus der Betrachtung ausschloss. Diese Vernachlässigung sollte Folgen haben, und zwar in Bezug auf die Vorhersehbarkeit des Zusammenbruchs der DDR. 

Fulbrook erklärt apodiktisch und etwas rechthaberisch: »Die Revolution von 1989/90 war nicht vorhersehbar.« (S. 370) [2] Dass das zumindest relativiert werden muss, zeigen nicht nur Titel und Inhalt des Buches Die Vereinigung war voraussehbar (Bibliographie Nr. 1887),[3] sondern auch vorsichtigere Formulierungen an verschiedenen Stellen des Buches. Sie sprechen z. B. davon, dass der Zusammenbruch der DDR »für viele überraschend« kam (Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan: »Die achtziger Jahre – Erosion der SED-Herrschaft«, S. 80). Also: nicht für alle.[4] Es war doch für diejenigen, die in Anlehnung an die vorzügliche Analyse Detlef Pollacks der »Bedingungsfaktoren der friedlichen Revolution 1989/90« (S. 188–195) Repression und Widerstand nicht aus den Augen verloren,[5] mit Händen zu greifen, dass sich Grundlegendes, Umstürzendes änderte. Diese praktizierten also keine »selbstgewählte Abstinenz« (Karl Wilhelm Fricke: »Widerstand und Opposition in den vierziger und fünfziger Jahren«, S. 153) und hatten damit die zutreffendere »Analyse der DDR-Gesellschaft« als unverzichtbare Bedingung zum Verstehen der Herbstrevolution (Pollack: Bedingungsfaktoren, S. 192) vorgenommen.

Mir kommt es nicht darauf an, meinerseits rechthaberisch aufzutrumpfen, sondern auf zwei sachliche Erfordernisse aufmerksam zu machen. Das erste ist dieses, dass die auf unzutreffender Analyse beruhende mangelnde Voraussicht der revolutionären Ereignisse als solche benannt wird. Dazu gehören der Verzicht auf die Behauptung, man habe es objektiv nicht wissen können, ebenso wie der Verzicht auf unpräzise und verschleiernde Darstellungen des Sachverhalts. Das zweite Erfordernis ist die Aufgabe, die Ursachen für dieses Fehlverhalten zu erforschen. Gewiss war die »Abstinenz« »politisch motiviert« (Fricke: »Widerstand und Opposition«, S. 153), jedoch verdient der hochkomplexe Sachverhalt eine eingehendere Untersuchung.[6] 

Nun zur erfreulicheren Aufgabe, positive und besonders interessante Aspekte hervorzuheben, was nur deshalb schwierig ist, weil es so viele sind, dass ich nur einige nennen kann. Schon die Anordnung der Beiträge ist aussagekräftig: Bereits die Existenz eines Staates DDR war nichts Naturwüchsiges, sondern entsprang einem bewussten politischen Akt, und ebenso folgte alles, was sich an gesellschaftlichen Sachverhalten und Entwicklungen herausbildete aus bewusst gesetzten politischen Entscheidungen und Maßnahmen. Daher war es schon immer falsch, die DDR primär als eine, womöglich nur »andere«, Gesellschaftsordnung statt als ein vornehmlich politisch bestimmtes und gewolltes System zu interpretieren. Demgemäß ist das Buch richtigerweise so gegliedert, dass auf einen der Übersicht dienenden ersten Teil gleich die Teile »Herrschaft und Repression« und anschließend »Widerstand und Opposition« folgen. Erst daran schließen sich systematische Gegenstände an: Religionsgemeinschaften, Innenpolitik und Gesellschaft, Deutschland- und Außenpolitik und schließlich Auseinandersetzung »mit der SED-Diktatur« seit 1990. Schon diese Formulierung wäre vor 1989 zumindest sehr kritisch betrachtet worden, und allein diese Tatsache dementiert die Behauptung von einer fast bruchlosen Kontinuität der DDR-Forschung.

Der »Kernbereich« der SED-Herrschaft (Hubertus Knabe: »Die Zentren der Repression – Lager und Haftanstalten in Ostdeutschland«, S. 140) war Gewaltanwendung der unterschiedlichsten Art, von individueller Einschüchterung bis zur militärförmigen Abriegelung des ganzen Staates. Da sich aber auf Bajonetten schon immer schwer regieren ließ und der SED-Staat eine neuzeitliche Weltanschauungsdiktatur war, kam es aus herrschaftstechnischen wie aus Gründen der eigenen Überzeugung darauf an, Zustimmung zu erzeugen. Demgemäß stoßen die sämtlich sehr informativen Kapitel über »Marxistische Ideologie – Herrschaftsinstrument und politische Heilslehre« (Beate Ihme-Tuchel), »DDR-Medien und Medienpolitik« (Gunter Holzweissig), »Kultur und Kulturpolitik in der DDR« (Rüdiger Thomas)[7], »Die sozialistische Schule – Erziehung und Bildung in der DDR« (Thomas Ammer) und »Wissenschaft in der DDR« (Claus Burrichter/Andreas Malycha) auf besonderes Interesse. Obwohl nach meinem Eindruck in der DDR an marxistische Grundvorstellungen länger geglaubt wurde als in anderen Teilen des sozialistischen Lagers, ist die Frage interessant – und sehr schwer zu beantworten –, inwieweit auch dort der Verlust einer inneren Bindung um sich gegriffen und zum Untergang des Staates beigetragen hatte (dazu Eckhard Jesse: »Die friedliche Revolution 1989/90«, S. 196 f.). Zu Recht spricht das Kapitel über die Wissenschaft nicht über Rechtswissenschaft. Wenn nämlich zu einer Wissenschaft als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung die offene Problemdiskussion gehört, gab es in der DDR keine Rechtswissenschaft. Daher ist es folgerichtig, dass von dem, was so genannt wurde, in Wentkers Beitrag über »Justiz und Politik« die Rede ist.

Besonders hervorgehoben sei Annette Kaminskys Übersicht über die Forschungen zu »Alltagskultur und Konsumpolitik«. So gewiss die konkrete Lebenswirklichkeit – trotz eines Verdikts aus Bielefeld – ein unverzichtbarer Bestandteil einer jeden historischen Darstellung ist, so schwer ist ihr in der Regel nachzugehen. Das liegt zum einen an der Quellenlage und weiter daran, dass es je nach gesellschaftlicher (und persönlicher) Situation eine Fülle solcher Lebenswirklichkeiten gibt. Wie notwendig auf der anderen Seite gerade für die Zeitgeschichte eine solche Aufgabe ist, zeigt sich in fast sinnlicher Weise daran, dass für diejenigen, die die DDR erlebt haben, zahlreichen Post-DDR-Publikationen trotz allen sachlichen Zutreffens ein Hauch von Irrealität anhaftet. Oder anders gesagt: Die Atmosphäre des konkreten Lebens in der DDR – auf den verschiedensten Ebenen – wird kaum noch vermittelt. Da aber für die Lebenswirklichkeit der DDRVergangenheit Quellen in unendlicher Anzahl zur Verfügung stehen (könnten), kann und sollte dieses Forschungsgebiet weit intensiver betrieben werden, als es nach Kaminskys Darstellung der Fall ist.[8]

Punktuelles in Stichworten: Wichtig das Forschungsergebnis, dass die Militarisierung der DDR-Gesellschaft »frühzeitiger und intensiver« stattgefunden hat als bisher angenommen (Michael Lemke: »Die fünfziger Jahre – Aufbau und Krisen der DDR«, S. 56). Monika Kaiser scheint ihre frühere These vom Reformer Ulbricht, der von Honecker gebremst worden sei, zu relativieren (»Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker«, S. 74). Zur Vereinigung von KPD und SPD 1946 hätte Hermann Webers plastische und zutreffende Bezeichnung »Zwangs- und Betrugs-Vereinigung«[9] Erwähnung finden können (Andreas Malycha: »›Die Partei hat immer recht‹ – Die Geschichte der SED«, S. 87). Die Rolle des MfS als strafprozessuales Untersuchungsorgan hätte deutlicher herausgehoben werden können (Jens Gieseke: »Die Geschichte der Staatssicherheit«, S. 117–125). Den Ausdruck »zweite deutsche Diktatur« halte ich deshalb für schief, weil dadurch die sowjetische Urheberschaft und die Paralleldiktaturen in Osteuropa einschließlich Russlands aus dem Blick geraten. Daher ist Frickes Bezeichnung »zweite Diktatur in Deutschland« (S. 153) nicht nur eleganter, sondern auch zutreffender. Dass es gegen die Biermann-Ausbürgerung auch »Proteste in der Bevölkerung« (Robert Grünbaum: »Die Biermann-Ausbürgerung und ihre Folgen«, S. 177) und nicht nur solche von Prominenten gab, kann nicht oft genug hervorgehoben werden. Sehr erfreulich ist die Nachricht, dass die Samisdat-Publikationen jetzt in großem Umfang dokumentiert werden (Ehrhart Neubert: »Die Opposition in den achtziger Jahren«, S. 183). Gisela Helwig charakterisiert die Art der Gleichberechtigung der Frau in der DDR zutreffend als »großzügig gewährte Mitwirkung« (»Frauen in der DDR zwischen Familie und Beruf«, S. 277). Ein Beispiel für allzu vorsichtige Formulierung ist der Satz »Erfolgreich warb sie [die SED, W. Sch.] für die Schließung der Erfassungsstelle in Salzgitter.« (Helmut Müller-Enbergs: »Deutschlandpolitik 1961–1982«, S. 344), womit wohl die Einstellung der Zahlung durch die SPD-geführten Länder gemeint ist, was aber nicht gesagt wird. Das das Ende der DDR schildernde Buch von Charles S. Maier (Bibliographie Nr. 893)[10] wird von Michael Richter als »ausgezeichnet« gewürdigt, weist aber tatsächlich nicht wenige Mängel auf.[11]

Angesichts der Fülle des Sachverstandes und der Ausführlichkeit der Dokumentation könnte es anmaßend erscheinen, wenn nun zum Schluss zu den ohnehin zahlreich thematisierten Perspektiven der Forschung weitere Desiderate formuliert werden. Es sind vor allem drei große prinzipielle Gesichtspunkte. Sie ergeben sich, zum Teil bereits früher formuliert, aus der Lektüre des Buches selbst, und was könnte es Besseres für ein wissenschaftliches Werk geben, als dass es zu weiteren Fragen Anlass gibt. Im einleitenden Essay Bernd Faulenbachs über die »DDR im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts« bejaht – und relativiert – Faulenbach im Anschluss an Hermann Weber richtigerweise die Frage, ob die DDR als »homunculus sovieticus« anzusehen sei. Freilich scheint mir eine andere Perspektive als die von ihm gewählte richtiger zu sein. 

Zunächst nämlich widmet er sich in drei Abschnitten den Fragen, ob die DDR als antifaschistischer Staat zu gelten habe, eine Schöpfung der Arbeiterbewegung gewesen sei und in welchem Verhältnis die DDR zum »deutschen Weg« der Geschichte gestanden habe. Dadurch wird das historisch und sachlich grundlegende Doppelfaktum zu sehr an den Rand gedrängt, dass sie zusammen mit der Herrschaft der kommunistischen Partei durch die sowjetische Besatzungsmacht überhaupt erst geschaffen wurde sowie in konstitutiven Einzelheiten dem Sowjetsystem entsprach und dass das in allen anderen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas genauso der Fall war; immerhin schlägt Jan Foitzik in einem späteren Beitrag dieses vergleichende Thema kurz an. Erst auf diesem Hintergrund sollten die »nationalen Besonderheiten« betrachtet werden, die, wie könnte es anders sein, in jedem der betreffenden Länder anders geartet und in der DDR wegen ihres Charakters als Teilstaat besonders ausgeprägt waren. Gewiss war diese Herrschaft, wie anderswo auch, durch die einheimischen Kommunisten vermittelt, gleichwohl war sie ein Implantat.

Der zweite Gesichtspunkt betrifft bestimmte Aspekte der konkreten Herrschaft der kommunistischen Partei. Sie lassen sich unter dem Begriff der »Abgeschlossenheit« zusammenfassen. Darunter ist zum einen die Tatsache zu verstehen, dass das kommunistische Herrschaftshandeln grundlegend von konspirativem Verhalten geprägt war, etwa in dem Sinne, dass bestimmte Entscheidungen nur mündlich bekannt gemacht wurden; hier wären empirische Forschungen höchst erwünscht. Zum anderen sollte häufiger die Tatsache thematisiert werden, dass alle Sachverhalte durch ein politisches System bedingt waren, in dem offenes Handeln nicht möglich war. Nichts auch nur irgendwie Politisches konnte wirklich diskutiert werden, gegen nichts konnte man sich wirklich wehren, über nichts konnte man sich frei mit anderen verständigen, nichts konnte öffentlich gemacht werden; alles geschah im Bezugsrahmen einer Gesellschaft, die von einer Allmacht beanspruchenden und im Wesentlichen durchsetzenden Partei beherrscht war und die bestimmte, was gewusst und gesagt werden durfte und was nicht. Wir, die wir das erlebt haben oder uns wissenschaftlich damit befassen, setzen das meistens als Selbstverständlichkeit voraus. Es ist der Mühe wert, diesen Tatbestand ständig bewusst zu haben und jeweils zu thematisieren, denn viele Sachverhalte erklären sich überhaupt erst dadurch oder gewinnen mindestens dadurch ihren besonderen Charakter.

Letztens sei die Anregung wiederholt, die oben bereits gemacht wurde und die sich aus den inneren Unstimmigkeiten der einzelnen Beiträge im Buch ergibt. Die DDR-Forschung sollte dadurch zu ihrem eigenen Gegenstand gemacht werden, dass man fragt, warum sie eigentlich die DDR einschließlich ihrer letzten Phase so extrem falsch eingeschätzt hatte, und dass ihr Zusammenbruch für viele überraschend kam. Welche mentalen und weiteren Faktoren verstellten einen unbefangenen Blick auf die Realitäten?

 


[1]  Kleßmann, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn 1988.

[2]  Damit korrespondiert das noch 1988 geäußerte Fazit der erwähnten Geschichte der beiden deutschen Staaten bis 1970, deren Existenz sei zum Zeitpunkt des Erscheinens des Werkes »endgültig« gewesen, worauf Manfred Wilke auf S. 34 hinweist.

[3]  Walters, Vernon A.: Die Vereinigung war voraussehbar. Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres. Die Aufzeichnungen des amerikanischen Botschafters, Berlin 1994.

[4]  Ich bereite einen Sammelband mit meinen eigenen Arbeiten entsprechenden Inhalts aus der Zeit vor dem November 1989 vor.

[5]  Zu ihnen gehörte Hermann Weber. Siehe Schuller, Wolfgang: Besprechung von Hermann Weber: Die DDR 1945–1986, München 1988, in: Der Staat 28 (1989), S. 154 f. 

[6]  Jens Hackers (Bibliographie Nr. 1698) wird dieser Komplexität leider nicht gerecht. Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin/Frankfurt a. M. 1992.

[7]  Der Beitrag musste wie alle anderen notwendigerweise kurz gehalten werden. Hier sei zusätzlich auf die Wiederentdeckung mehrerer meist eindrucksvoller Schriftstellerinnen der DDR durch Ines Geipel verwiesen. Geipel, Ines (Hrsg.): Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen der frühen DDR. Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker, Berlin 1999.

[8]  Vielleicht ein wenig zu amüsant dargeboten, aber aufschlussreich ist Deutz-Schröder, Monika/Staadt, Jochen (Hrsg.): Teurer Genosse! Briefe an Erich Honecker, Berlin 1994.

[9]  Weber, Hermann: 50 Jahre Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD – Widerstand und Verfolgung, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): 7. Bautzen-Forum, Leipzig 1996, S. 28–39, hier S. 30.

[10]  Maier, Charles S.: Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a. M. 1999.

[11]  Schuller, Wolfgang: Dreimal DDR, in: Wissenschaftlicher Literaturanzeiger 41 (2002), H. 1, S. 27 f. 

Inhalt – JHK 2004

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