x

Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2005

Biographische Studien zum Stalinismus: Nikolaj Ežov, Lavrentij Berija und Dmitrij Šostakovič

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 345-352 | Aufbau Verlag

Autor/in: Barry McLoughlin

Jansen, Marc/Petrov, Nikita: Stalin’s Loyal Executioner: People’s Commissar Nikolai Ezhov, Stanford: Hoover University Press 2002, XIII S. + 271 S., ISBN 0-8179-2902-9

 

Beria, Sergo: Beria, My Father. Inside Stalin’s Kremlin, London: Duckworth 2001,

XVII S. + 397 S., ISBN 0-7156-3062-8

 

Wolkow, Solomon: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler,

Berlin: Propyläen Verlag 2004, 462 S., ISBN 3-549-07211-2

 

Wie bei vielen Satrapen Stalins erzeugten auch im Falle Nikolaj Ežovs, des Volkskommissars für Innere Angelegenheit der Jahre 1936 bis 1938, verfälschte Autobiographien, hagiografische zeitgenössische Darstellungen und Berichte aus zweiter oder gar dritter Hand einen scheinbar unentwirrbaren Knäuel von Erzähl- und Deutungssträngen. Zwei Historiker, Marc Jansen (Professor an der Universität Amsterdam) und Nikita Petrov (Forschungsmitarbeiter von Memorial in Moskau) durften – im Gegensatz zur Mehrheit russischer und ausländischer Forscher – »streng geheime« Dokumente aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation bzw. aus den zentralen Aktenbeständen des russischen Geheimdienstes FSB studieren und konnten sie in ihrem beachtenswerten Gesamtbiographie über den Vollstrecker des Großen Terrors 1937/38 verwenden.

Ežov (1895 bis 1940) musste im Laufe seiner Karriere potentiell »verdachterregende« Teile seiner Herkunft weglassen, beispielsweise, dass er in Litauen auf die Welt kam, und dass seine Mutter, eine Litauerin, ihm ihre Muttersprache beibrachte. Zur proletarischen Ahnengalerie eines leitenden Kaders wie Ežov passte ebenso wenig die Tatsache, dass sein Vater eine Zeit lang ein Bordell betrieb, noch dass der Vater später als kleiner Anstreicherunternehmer mit zwei Gesellen tätig war. Sein Sohn, der nur 1,51 Meter große Nikolaj, war kränklich und konnte die Grundschule lediglich ein Jahr lang besuchen. Anschließend begann der Elfjährige eine Schneiderlehre in St. Petersburg. Drei Jahre später wechselte er in einen Metallbetrieb und verdingte sich bis zur Einberufung zum Militär 1915 als Schlosser in Litauen, Polen und Nordrussland.

Nach seiner Verwundung an der Front versetzte man Ežov in die Etappe, in eine Artilleriewerkstatt. Dort schloss er sich den Bolschewiken an und wurde Kommissar. 1918 abgemustert, kehrte Ežov zu seiner Familie zurück und fand Arbeit in einer Glasfabrik, wo er angeblich zum Parteiaktiv der RKP (b) gehörte. 1919 erfolgte seine Dienstverpflichtung in der Roten Armee, in einer radiotelegraphischen Einheit, wo Ežov für Agitation und Propaganda zuständig war. Diese Funktion übte er bald auch als Zivilist an seinem Stationierungsort Kazan’, der Hauptstadt von Tatarstan, aus.

Den ersten seiner zahlreichen, wegen »Überarbeitung« absolvierten Kuraufenthalte verbrachte Ežov, der jahrelang an TBC litt, Anfang 1922 im KremlKrankenhaus, wo er einflussreiche Politiker traf. Unmittelbar nach seiner Spitalsentlassung entsandte ihn das ZK-Sekretariat als Parteisekretär in die Autonome Republik Mari Ėl. Das war eine wichtige Aufgabe und dürfte zur ersten Begegnung Ežovs mit Stalin geführt haben. In der Hauptstadt Mari Ėls, Joškar-Ola, legte sich Ežov mit führenden Kommunisten an und zeigte wenig Verständnis für die nationalen Eigenheiten der kleinen Provinz. Seine Tätigkeit währte nur sieben Monate, da er neuerlich erkrankte. Ungeachtet der schlechten Kadercharakteristik aus Joškar-Ola (»aufbrausend und stur«) konnte Ežov seine Parteilaufbahn in Kasachstan fortsetzen. Aber auch dort gebärdete er sich hochmütig und unsicher. Obwohl bis dahin alle seine Einsätze als Parteisekretär bewiesen, dass Ežov an führender Stelle heillos überfordert war, hielt Stalin weiterhin an ihm fest. 

Ežov wurde zum 14. Parteitag der VKP (b) im Dezember 1925 delegiert und besuchte anschließend 1926/27 einen Einjahreskurs im Fach »Marxismus-Leninismus« an der Kommunistischen Akademie in Moskau. Während seines Studiums lernte er angehende führende Funktionäre kennen und fand nach einem weiteren Kuraufenthalt 1927 einen mächtigen Gönner – den führenden Tschekisten Ivan Trilisser (Moskvin), damals Leiter der Organisations- und Verteilungsabteilung (orgraspredotdel) des ZK.

Damit begann Ežovs steter Aufstieg. Als Moskvins Stellvertreter (ab 1927) und Nachfolger (ab 1930) bei der ZK-Abteilung beschäftigte er sich mit dem Auswahl und Einsatz führender Kader in der ganzen UdSSR. Seinem Amt oblag auch die Überprüfung lokaler Parteiorganisationen. 1929 profilierte er sich im »Kampf gegen die rechte Gefahr« (Bucharin) und wurde zum stellvertretenden Agrarkommissar ernannt, wo er während der Kollektivierungskampagne erstmals in Massenrepressionen verstrickt war. Ein Zeichen seines hohen Status war die Tatsache, dass er, obwohl nicht ZK-Mitglied, dennoch die schriftlichen Unterlagen dieses Gremiums erhielt und sogar zu den Sitzungen des Politbüros herangezogen wurde. 1930 ließ sich Ežov von seiner ersten Frau scheiden und heiratete Evgenija Solomonovna, eine zweifach geschiedene »Frau von Welt« mit intellektuellen Interessen, die einen literarischen Salon unterhielt. Dort machte Isaak Babel’ die für ihn verhängnisvolle Bekanntschaft des Ehepaars Ežov. Aber damals hatte Nikolaj Ežov noch nicht seine blutrünstige Reputation erworben, sondern galt als sehr fleißig und bescheiden, sogar hilfreich und charmant. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass er sich seinen Aufgaben nie gewachsen fühlte. Das zeigte sich in längeren Krankheiten, zahlreichen Ehe- und homosexuellen Affären sowie Quartalsaufereien.

Nach dem Kirov-Mord am 1. Dezember 1934 erhielt Ežov immer öfter Aufträge von Stalin direkt. Er leitete die »Untersuchung« über das Kirov-Attentat in Leningrad, überwachte die Parteisäuberung und bereitete die Schauprozesse vor. 

Die Darstellung von Ežovs Rolle als Chef der Geheimpolizei auf dem Höhepunkt des Terrors 1937/38 ist detailliert und mit Zahlen untermauert. Die Analyse diverser Vernichtungsstrategien – die vom Politbüro approbierte Liquidierung führender Partei-, Militär- und Wirtschaftskader einerseits und die Vernichtung von »kleinen Leuten« in so genannten »Massenoperationen« des NKVD andererseits – ist eine Stärke der vorliegenden Studie. Aufschlussreich und grauenvoll ist die Beschreibung von Ežovs langsamem Abstieg und geheim gehaltener Auslöschung. Als Praktiker der terroristischen Macht erkannte er die untrüglichen Zeichen seines nahen Endes. Ežov stürzte sich 1938/39 in alkoholische und sexuelle Ausschweifungen, befahl seiner Frau Evgenija den Selbstmord und erschien immer seltener in seinem neuen Amt, dem Volkskommissariat für Wassertransport. Schließlich wurde Ežov mit vielen seiner Handlanger im Februar 1940 erschossen. Die oft angegebenen »Gründe«, etwa dass er »zuviel wusste« oder sich beim Sammeln von Geheimdossiers (»kompromat«) über Politbüro-

Mitglieder als zu eifrig erwiesen hatte, sind unerheblich. Wesentlich ist, dass Ežov seinen Part als Hauptprotagonist des Massenterrors so überzeugend spielte, dass er in den Augen der Öffentlichkeit Stalin, den wahren Regisseur des blutigen Reinemachens, entlastete, womit der Volkskommissar des Innern seine »historische« Aufgabe erfüllt hatte.

Sein Nachfolger im Amt des Geheimdienst-Chefs war Lavrentij Berija (1938 bis 1953). Der vorliegende, aus dem Französischen übertragene Text Beria, My Father. Inside Stalin’s Kremlin ist der kaum überzeugender Versuch des Sohnes Berijas, Sergo Berija, einen der grausamsten Erfüllungsgehilfen Stalins politisch und moralisch zu rehabilitieren. Das Buch ist dennoch lesenswert, weil es Einblicke in das Alltagsleben der Berijas gewährt und darüber hinaus Familien der Politbüromitglieder und andere Stalin-Günstlinge in Einzelnporträts skizziert. Wichtig ist dabei die Rolle von Sergos Mutter Nina, die nach dem Selbstmord von Stalins zweiter Frau Nadežda Allilueva 1932 eine Ersatzmutter für die StalinKinder wurde.

Georgische – im Fall Berija eigentlich mingrelische – Familienbande waren stark, Clanloyalität kam an erster Stelle. Obwohl Stalin mit der tatkräftigen Mithilfe von Lavrentij Berija die kaukasischen Völker grausam unterdrückte, blieb Nina Berija bis zu ihrem Tode 1991 in der ukrainischen Verbannung, wo sie nach 1953 lebte, eine glühende Verehrerin Stalins, nicht zuletzt weil er Georgier war. Ihr Sohn Sergo sieht Stalin eher negativ, als berechnend und manipulativ, ist aber gleichzeitig krampfhaft bemüht, seinen Vater in ein gutes Licht zu stellen. Seinem Sohn zufolge war Lavrentij Berija ein fürsorgliches Familienoberhaupt. Er verbrachte viel Zeit mit seinem einzigen (ehelichen) Kind und gab ihm gute Ratschläge, wobei der wertvollste vermutlich war, sich aus der Politik herauszuhalten und einen ordentlichen Beruf zu ergreifen. Sergo, der als Kind von seinem Kindermädchen Deutsch lernte und von seiner Mutter zum Erlernen der englischen Sprache angehalten wurde, schlug die Ingenieurlaufbahn ein. Er wurde einer der führenden sowjetischen Raketenexperten und hätte in jedem politischen System sein Auskommen gefunden. 

Die erste Familienkrise ereignete sich 1937, ein Jahr bevor Berija nach Moskau übersiedelte und Ežov ersetzte. Es ging um die Frage, ob Berija als NKVD-Chef Georgiens und mächtigster Mann des Landes für Verhaftete aus Familien-, Verwandten- und Bekanntenkreisen intervenieren sollte. Er beteuerte, er sei machtlos. Ehefrau Nina glaubte ihm nicht und drohte mit der Scheidung. Sie blieb schließlich doch bei ihm, weil sie ihren Mann durch Trennung nicht »verraten« wollte. 

Berija Junior führt eine Reihen von Behauptungen an, die im schroffen Gegensatz zur historischen Kenntnislage stehen, etwa dass sein Vater gegen den Winterkrieg gegen Finnland 1939/40 und gegen die Erschießung der polnischen Offiziere in Katyn 1940 opponierte, oder dass Churchill, noch Oppositionspolitiker, während der tschechoslowakischen Krise im Herbst 1938 die britischen Geheimdienste geleitet und als Premierminister zwei Jahre später Geheimverhandlungen mit Nazi-Deutschland und später mit Rudolf Hess geführt hätte. Was Lavrentij Berija beim Mittagstisch im engsten Familienkreis über Gespräche mit Stalin erzählte, merkte sich sein aufgeweckter Sohn – und übernahm die Ansichten des Vaters. Für den Clanzusammenhalt war offensichtlich die im Text als roter Faden durchlaufende nationalistische Einstellung aller Familienmitglieder und ihre Ablehnung des »großrussischen Chauvinismus« bei der Bestellung von leitenden Posten in allen Teilrepubliken wichtig. 

Berija Senior, der sich als hervorragender Manager und Zyniker der Macht erwies, war trotz seiner Belesenheit und überdurchschnittlichen Intelligenz ein Gefangener der manichäischen Gedankenwelt der Bolschewiken. Er vertrat die Auffassung von Außenpolitik als Schurkenspiel imperialistischer Mächte und ihrer (auch in der UdSSR) tätigen »Agenten«. Daher hat er, als Geheimdienstchef nach 1938, die Politik der westlichen Staaten nicht richtig einschätzen können, auch jene Hitlers nicht. Insbesondere den rassistisch determinierten Expansions- und Vernichtungswillen der Nationalsozialisten hatten Berija und Stalin sträflich unterschätzt: sie hielten Hitler für einen rationalen Staatsmann, den die Beute bei der Aufteilung Osteuropas 1939/40 zufrieden stellen würde.

Bekanntlich fiel Berija ungeachtet seiner Verdienste als »Vater der sowjetischen Atombombe« in den letzten Jahren der Stalin-Herrschaft in Ungnade. Stalins krankhaftes Misstrauen der »alten Garde« gegenüber wuchs ins Pathologische; er beabsichtigte eine neue »Kaderrevolution«, eine Wiederholung der blutigen Parteisäuberung des Jahres 1937, aber diesmal verbunden mit Massenrepressionen gegen die jüdische Bevölkerung.

Die letzten Monate der Tätigkeit Berijas von März bis Juni 1953, als er zum Reformer mutierte, sind vielleicht der spannendste Teil des Buches. Berija zeigte nach dem Ableben des Tyrannen am 5. März 1953 in der Öffentlichkeit keine Trauer und legte zuviel Energie an den Tag. Er erweckte den Argwohn seiner Mitstreiter im Politbüro, weil er das Innenministerium und die Geheimpolizei wieder vereinte und weiterhin über ihm treu ergebene Truppenkontingente verfügte. Außerdem wollte der über internationale Vorgänge bestens informierte Berija einen Neuanfang: Versöhnung mit Jugoslawien und Deutschland, eine Änderung im politisch-wirtschaftlichen Kurs des Ulbricht-Regimes und eine Reform des sowjetischen Strafsystems. Langfristig schwebte ihm auch vor, die Partei aus den Regierungsgeschäften zu verdrängen, mit anderen Worten die Abschaffung der Fachabteilungen im ZK, die über mehr Entscheidungskompetenz als die jeweiligen Ministerien verfügten.

Bald begann Berija mit der Rehabilitierung der unzähligen Stalin-Opfer und befahl die Entlassung von etwa einer Million Gulag-Häftlinge, deren Strafausmaß unter fünf Jahren lag. Politische Gefangene waren davon ausgenommen. Die meisten Entlassenen waren daher Kriminelle, die im Sommer 1953 begannen, die Bevölkerung zu terrorisierten.

Größeren Unwillen unter seinen Führungskollegen provozierte indes der ehrgeizige Berija mit seinem Vorschlag, im Herbst 1953 ein ZK-Plenum abzuhalten, auf dem jedes Politbüromitglied seine Verantwortung für den Terror der StalinHerrschaft »vor der Partei« darzustellen hätte. Dazu kam es aber nicht. Es gelang ZK-Sekretär Nikita Chruščev den wichtigen, aber ängstlichen Ministerpräsidenten Georgij Malenkov aus dessen Bündnis mit Berija loszueisen und ihn auf seine Seite zu ziehen. Offensichtlich hatte der eingebildete Berija Chruščev als Rivalen nicht ernst genommen, wahrscheinlich weil dieser als bäuerlich-tölpelhaft galt und von dem ihn protegierenden Stalin regelmäßig verspottet worden war. Es stellte sich jedoch heraus, dass Nikita Chruščev Intrigen besser spielen konnte als der mingrelische Zwickerträger. Wesentlich für den Coup gegen Berija waren die Militärs, die vor und während des Krieges den Spitzeltrupps des Geheimdienstes ausgesetzt gewesen waren und Berija hassten. Es hatte daher symbolische Bedeutung, als hochrangige Armeeoffiziere am 25. Juni 1953 auf ein Geheimsignal in das Sitzungszimmer des Präsidiums des ZK hineinstürmten und den völlig verdutzten Berija an einen geheimen Ort abführten. Dort wurde über ihn ein Geheimprozess abgehalten, der am 23. Dezember 1953 mit seiner Hinrichtung endete. 

Die Anklage gegen ihn war teilweise fabriziert, da seine Verbrechen am sowjetischen Volk sich von jenen seiner einstigen Mitstreiter zwar quantitativ, aber nicht qualitativ unterschieden. Das war auch der Grund für das Verfahren in einem Militärbunker statt in einem öffentlichen Gerichtssaal. Einen Unterschied gab es aber doch – man ließ Nina und Sergo Berija am Leben; sie wurden nicht gefoltert und kamen relativ bald frei.

Sergo Berija, im Gegensatz zur Biographin seines Vaters Amy Knight[1] oder der Darstellung in der russischen Dokumentenedition Berija. Konec kar’ery (Deutsche Ausgabe 1992)[2], ist der festen Meinung, dass sein Vater in seinem Haus schon im Juni im Kugelhagel den Tod fand. Das ist nur eine der offenen Fragen, wie auch jene, ob Berija, als »Reformator« den Kurs der Geschichte verändert oder die UdSSR in eine lange Nacht neuerlichen Massenterrors gestoßen hätte.

Mit den Bedingungen des Künstlertums in den Zeiten des Terrors befasst sich eine weitere Biographie. Solomon Volkov, der vor seiner Ausreise 1976 aus der UdSSR Dmitrij Šostakovič (1906 bis 1975) einige Jahre kannte und 1979 dessen Memoiren herausgab, hat ein spannendes, umfassendes Werk über Stalin und Schostakowitsch vorgelegt. Das Werk ist blendend geschrieben und ein Lesegenuss auch für Nichtspezialisten. Der Autor beginnt mit der historischen Darstellung der Beziehung zwischen den russischen Alleinherrschern und »ihren« Künstlern. Vom 11. bis zum 18. Jahrhundert, also auch schon unter Iwan dem Schrecklichen, konnten so genannte »jurodiwy« (Gottesnarren), als »personifiziertes Volksgewissen« die Untaten der Zaren mehr oder minder gefahrlos anprangern. Der Autor sieht Šostakovič in dieser Tradition.

Die Großeltern Šostakovičs waren Revolutionäre und kannten Lenins Familie. Die Desillusionierung über die Bolschewiken setzte jedoch früh ein, nach dem Lynchmord in Petrograd an den Kadettenpolitikern Šingarev und Kokoškin. Zum Andenken an sie schrieb der elfjährige Dmitrij Šostakovič 1918 seine erste Komposition, einen Trauermarsch, den er seinen Mitschülern im Gymnasium vorspielte. 

Die frühen 20er Jahre waren hart für Šostakovič, der nach dem frühren Tod des Vaters zum Familienerhalter avancierte und ab 16 Jahren sein Geld als Klavierspieler in Kinos verdiente. Zu Geldschwierigkeiten gesellten sich andere Widrigkeiten – er wurde vom Konservatorium (Klavierunterricht) relegiert und erkrankte an TBC. Einige Freunde verschwanden in den Verliesen der Geheimpolizei und er selbst schnitt bei dem Internationalen Chopin-Wettbewerb 1926 in Warschau enttäuschend ab. Andererseits hatte er sich für eine Karriere als Komponist festgelegt und feierte 1926 ein gelungenes Debüt mit seiner Ersten Symphonie in der Leningrader Philharmonie. Seine Zweite Symphonie, »Widmung an den Oktober«, war eine Auftragsarbeit, von der er sich später distanzierte und die er aus seinem Werksverzeichnis strich.

Mit der Oper »Lady Macbeth von Mcensk«, die Šostakovič seiner Frau Nina widmete, wurde der Komponist 1933 nach triumphalen Aufführungen in Leningrad und Moskau berühmt, und bald darauf folgte die Anerkennung im Ausland. Die Partei, die das Werk anfangs als »den Beginn der großartigen Blüte des sowjetischen Opernschaffens« beschrieb, wendete sich 1936 scharf dagegen. Stalin, der sich die Oper Ende Januar 1936 im Bolschoi-Theater angehört hatte, hielt »Lady Macbeth« für formalistisch und zügellos. Er dürfte den in der Pravda am 28. Januar 1936 unter der Schlagzeile »Chaos statt Musik« erschienenen Hetzartikel gegen Šostakovič persönlich verfasst haben. Für den Diktator war die Oper »linksradikal« und habe »mit symphonischen Klängen nichts mehr gemein«. Stalin liebte die Volksmusik und sang selber gern, und nun da er proklamiert hatte, »Das Leben ist besser geworden, das Leben macht Freude«, brauchte er eine verständnisvolle Musik für die Massen und keine »expressionistische Ästhetik«. Außerdem hatte die drastische Mischung von Sex und Grausamkeit in »Lady Macbeth« den prüden Stalin empört. Feldmarschall Michail Tuchačevskij sowie der Schriftsteller Maksim Gor’kij nahmen den Komponisten in Briefen an Stalin in Schutz, so dass die Kampagne gegen Šostakovič, vermutlich auch wegen Rücksicht auf das Ausland in der Zeit der »Volksfront«, abebbte. 

Stalin äußerte sich auch über das Ballet »Der helle Bach« abfällig, obwohl die Handlung in einer fröhlichen Kolchose spielte. Anschließend machte er Šostakovič den »Vorschlag«, ihm künftig das Libretto zu schicken, damit das Werk »vor Arbeitern und Bauern« erprobt werden konnte. Šostakovič entkam dieser lästigen Pflicht – er schrieb Zeit seines Lebens nie mehr eine Oper und auch kein Ballet.

Das Komponieren von Filmmusik war weniger gefährlich und außerdem hoch ertragreich, so dass Šostakovič gut davon lebte, vor allem nachdem eines seiner Filmlieder (»Dem kühlen Morgen entgegen«) Stalins Wohlwollen gefunden hatte und ein sowjetischer Erfolgsschlager geworden war.

Inzwischen hatte der steigende Terror in Leningrad die Familie Šostakovič erfasst: Seine Schwiegermutter wurde in ein Straflager in Kasachstan eingeliefert, die älteste Schwester aus der Stadt verbannt, ein Onkel hingerichtet. In dieser schweren Zeit schuf er seine Fünfte Symphonie, die bei der Erstaufführung in Leningrad im November 1937 mit einer halbstündigen Ovation bedacht wurde. Diesmal fand Šostakovič auch Gnade in der Parteipresse, die das Werk als »ein Beispiel der realistischen Kunst unserer Ära« bezeichnete. Auch die Moskauer Aufführung 1938 war ein Triumph, die Symphonie wurde mehrmals im Radio übertragen und als Schallplatte gepresst. Seine größten Erfolge feierte Šostakovič mitten im Zweiten Weltkrieg, mit der Siebten und der Achten Symphonie. 1943 erschien er in Time-Magazin sogar auf der Titelseite. 

1948 geriet Šostakovič während des »Kampfes gegen den Formalismus« in eine ähnliche Lage wie im Jahr 1936. Er wurde in den Kreml zitiert und verlor seine Stellungen an den Konservatorien in Leningrad und Moskau. Viele seiner Werke unterlagen nun einem Aufführungsverbot. Trotzdem musste er eine weitere Demütigung erdulden und auf Geheiß von Vjačeslav Molotov an einer sowjetischen Friedensdelegation nach Amerika teilnehmen. Er weigerte sich mit dem Hinweis auf seinen schlechten Gesundheitszustand. Dann rief Stalin persönlich Šostakovič an und erfuhr, dass der Komponist nicht fahren könne, da seine Werke nicht aufgeführt würden, außerdem sei ihm »übel«. Stalin sorgte für die Aufhebung des Spielverbots sowie für eine gründliche Untersuchung des »Volkskünstlers« im Kreml-Krankenhaus. Šostakovič musste nach Amerika fahren und spürte dort 1949 den Kalten Krieg in seiner heißen Phase – seine Musik wurde als »sowjetische Propaganda« abgetan.

Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde in den Bereichen Musik und Literatur – Isaak Babel’, Osip Mandel’štam, Michail Bulgakov – überlebte Šostakovič den Stalinismus. Die Darstellung ihrer Verfolgung ist eine Stärke des Buches, da nur im Vergleich zu diesen Schicksalen die Motivation von Šostakovič zu verstehen ist, in seinen Werken manchmal eine verklausulierte Antwort auf die Tyranneien seiner Zeit zu geben.

 


[1]  Knight, Amy W.: Beria. Stalin’s First Lieutenant. Princeton, NJ 1993.

[2]  Nekrasov, V. F.: Berija. Konec kar’ery [Berija. Ende einer Karriere], Moskau 1991; Ders.: Berija – Henker in Stalins Diensten. Ende einer Karriere, Berlin 1992.

Inhalt – JHK 2005

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.