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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2011

Das Netz des Siegfried Bittermann. Eine explorative Netzwerkanalyse des Widerstands

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 323-340 | Aufbau Verlag

Autor/in: Ulrich Eumann

Die Flucht Siegfried Bittermanns endete am 27. Dezember 1935 im Kölner EL-DE-Haus, dem damals gerade neu bezogenen Sitz der Zentrale der Geheimen Staatspolizei für den Regierungsbezirk Köln. Zwei Jahre zuvor, Ende 1933, war Bittermann Leiter des in die Illegalität gedrängten Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands (KJVD) für die Kölner Stadtbezirke Ehrenfeld und Bickendorf geworden. Im August 1934 floh er über die Grenze nach Belgien, nachdem die Gestapo begonnen hatte, die KJVD-Gruppen in Köln zu zerschlagen.

Auf Bittermanns Festnahme in Köln folgte ein wahrer Aussagemarathon. Im Laufe von fünf Vernehmungen, die zwischen dem 27. Dezember 1935 und dem 3. Januar 1936 stattfanden, schilderte Bittermann der Kölner Gestapo alles, was er über den Kölner KJVD und die anderen kommunistischen Organisationen wusste. Er wurde zur wichtigsten Informationsquelle, die die Stapostelle Köln in Bezug auf den Widerstand jemals haben sollte. Das Protokoll seiner Aussagen umfasste am Ende fast 30 Doppelseiten – mehr als das jedes anderen Widerstandskämpfers, der in Köln vernommen worden ist. In diesen acht Tagen nannte er die Namen von insgesamt 114 Personen, mit denen er im Rahmen des Wiederaufbaus des KJVD 1933/1934 in Köln zusammengearbeitet oder von deren Tätigkeit er Kenntnis gehabt hatte.1

Das allein macht Siegfried Bittermann sicher schon zu einem interessanten Thema für einen Forschungsbeitrag. Folglich sollen seine Biografie, sein Weg zwischen Flucht und Rückkehr, die Motive für seine umfangreichen Geständnisse und die Konsequenzen seines Zuträgertums für die von ihm belasteten Personen hier auch Erwähnung finden. Im Mittelpunkt des Textes steht aber etwas anderes: ein für die Geschichtswissenschaft relativ neuer Ansatz zur Analyse von großen Personengruppen und eine damit zusammenhängende neue Methode zur Vermittlung der Erkenntnisse aus dieser Analyse. Es handelt sich um die Soziale Netzwerkanalyse und die Visualisierung von Netzwerken.

I. Widerstandsforschung und Soziale Netzwerkanalyse

Wer den Widerstand gegen den Nationalsozialismus erforscht, untersucht, gemessen an der Reichsbevölkerung, zunächst einmal eine relativ kleine Personengruppe. Je nachdem, wie streng die Definition des Begriffs »Widerstand« ausgelegt wird, haben wir es reichsweit vielleicht mit einigen 10 000 bis maximal wenigen 100 000 Personen zu tun. Ihr Ziel war es, den totalitären Auswüchsen des Nazi-Regimes Grenzen zu setzen, und die von ihnen unterstützten, in den Untergrund getriebenen Organisationen am Leben zu erhalten. Mithilfe von gemalten Parolen oder Flugschriften versuchten sie, das Meinungsmonopol der Machthaber zu umgehen und waren teilweise sogar entschlossen, den Nationalsozialismus als Ganzes zu stürzen. Bei der Erforschung des Widerstands in einer Millionenstadt wie Köln kommt man da schnell auf mehrere 1000 Personen, zwischen denen gut 10 000 Verbindungen bestehen.

Nach den bisherigen Erkenntnissen wurden in 112 Verfahren allein vor dem Oberlandesgericht Hamm 947 Kölnerinnen und Kölner wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« angeklagt – ein typisches Delikt des Widerstands.2 Inzwischen hat sich gezeigt, dass insgesamt 173 Prozesse mit Kölner Beteiligung vor dem OLG Hamm durchgeführt worden sind. Rechnet man die Zahl der Angeklagten auf Basis des bisher bekannten Durchschnitts von etwa acht bis neun Beschuldigten pro Verfahren hoch, so kommt man auf insgesamt etwa 1463 Kölnerinnen und Kölner allein vor diesem Gericht. Darüber hinaus wurden mindestens 76 Kölnerinnen und Kölner in mindestens 19 Verfahren vor dem Volksgerichtshof wegen oppositioneller Aktivitäten angeklagt. Die daraus summierte Zahl von 1539 Personen bezeichnet das absolute Minimum an Widerständlern in Köln. Wenn wir, was unsere bisherigen Auswertungen nahelegen, von durchschnittlich etwa drei widerstandsrelevanten Verbindungen pro Person ausgehen, käme man auf gut 4600 Verbindungen zwischen den Akteuren. Ein derart großes Netzwerk kann nicht mehr allein mit den traditionellen historiografischen Methoden analysiert werden. Auch die konventionellen Vermittlungsmedien historiografischer Informationen stoßen hier an ihre Grenzen.

Der Begriff des Netzwerks im Zusammenhang mit der Widerstandsforschung ist nicht neu. Allerdings blieb der Begriff bisher immer auf der metaphorischen Ebene. Kaum einmal wurden die oppositionellen Netze und ihre Strukturen als solche zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht. Kaum einmal wurde der Versuch unternommen, den sozialen Mehrwert, den der Zusammenschluss von Individuen als solcher erzeugt, mit modernen sozialwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Dabei stellt der seit 40 Jahren bestehende Ansatz der Sozialen Netzwerkanalyse eine ganze Reihe von theoretischen Konzepten, Verfahren, Methoden und seit 15 Jahren auch immer vollkommenere Software-Programme zur Erfassung, Auswertung und grafischen Darstellung von Netzwerken bereit.3 Für die Durchdringung der komplexen Widerstandsstrukturen ist die Soziale Netzwerkanalyse daher von unschätzbarem Wert. Sie beschreibt und erklärt die Strukturmerkmale sozialer Netze. Ausgefeilte Algorithmen zur Berechnung bestimmter struktureller Größen – zum Beispiel den Einfluss oder die Zentralität eines bestimmten Akteurs oder die Zusammensetzung des Gesamtnetzwerks aus Cliquen oder Fraktionen – machen Netzwerke transparent und vor allem vergleichbar. Die grafische Visualisierung von Netzwerken schließlich bietet einen Zugang zu komplexen Personenformationen wie ihn kein narrativer Text und keine tabellarische Übersicht zu leisten vermögen.

Als Historiker merkt man der Sozialen Netzwerkanalyse allerdings leider deutlich ihre Herkunft aus der quantifizierenden Soziologie und der mathematischen Graphentheorie an. Das Grundproblem der Anwendung der Sozialen Netzwerkanalyse im geschichtswissenschaftlichen Bereich besteht darin, dass wir unsere Netzwerke nicht über Interviews mit lebenden Personen erheben können, sondern die relationalen Daten in den uns zur Verfügung stehenden, lückenhaften und nicht selten mit methodischen Fallstricken versehenen Quellen zusammensetzen müssen. Bei der Verwendung der unterschiedlichen Methoden der Sozialen Netzwerkanalyse ist es also notwendig, eine gewisse Zurückhaltung an den Tag zu legen. Sie sind für uns in erster Linie heuristische Mittel zur intellektuellen Durchdringung großer Personenverbände; die Visualisierung von Netzwerken betrachten wir dementsprechend vor allem als ein Instrument zur Vereinfachung der Kommunikation von Forschungsergebnissen.

Ein zentrales Problem der Sozialen Netzwerkanalyse in den Sozialwissenschaften ist das der Netzwerk-Abgrenzung. In der Anwendung auf historische Quellen stellt sich das Problem ebenfalls, wenn auch weniger tiefgreifend. In unserem ganz konkreten Fall lautet die Frage: Wer gehört zu unserem Kölner Widerstandsnetzwerk und wer nicht? Um dieses Problem zu umgehen, habe ich mich dafür entschieden, diese explorative Studie zur Anwendung der Sozialen Netzwerkanalyse in der Widerstandsforschung am Beispiel eines Netzwerks durchzuführen, das sich eindeutig von der Außenwelt abgrenzen lässt: das kognitive Netzwerk, das Siegfried Bittermann in seinen Vernehmungen entwickelt. Ihm gehören ausschließlich die Personen an, deren Namen er in den Vernehmungen nennt.

Die Quellengrundlage für eine Netzwerkanalyse des Kölner Widerstands bilden die Ermittlungsakten der Kölner Widerstandsprozesse. Entsprechend wurden von uns vor allem die Vernehmungsprotokolle der Kölner Gestapo ausgewertet. Eine Quellengattung, die sicher nicht unproblematisch ist, da die Verhörsituation alles andere als eine neutrale Gesprächssituation war. Dennoch hat diese Quellenart eine ganze Reihe von Vorzügen etwa gegenüber den (sehr dünn gesäten) Selbstzeugnissen aus dem Widerstand, vor allem die zeitliche Nähe der Aussagen zu den beschriebenen Ereignissen und das immense Interesse der Gestapo an den Widerstandsverbindungen der Vernommenen sind hervorzuheben.

Die Qualität des von uns erstellten Widerstandsnetzwerks steht und fällt allerdings mit dem Wahrheitsgehalt der Aussagen vor den Gestapo-Ermittlern. Sollte es einer Vielzahl von Vernommenen gelungen sein, große Teile ihrer Verbindungen trotz Folter vor der Gestapo geheim zu halten, wäre das Ergebnis unserer Aktenauswertung ein Artefakt ohne Wert. Dafür spricht aber wenig. Da es in den Widerstandsgruppen unter den Aktivisten kaum Absprachen über eine im Fall der Verhaftung zu erzählende Geschichte gab und die Gestapo schon bald die gängigsten Ausflüchte durchschaute, reichte oft ein einzelner Verhafteter, der ein umfangreiches Geständnis ablegte, um quasi in einem Schneeballverfahren ganze Gruppen auszuheben. Der Ermittlungsfortschritt und das System gegenseitiger Belastungen kann im Übrigen mit keinem methodischen Instrument so gut durchdrungen und veranschaulicht werden wie mit der Sozialen Netzwerkanalyse.

Für die Netzwerkanalysen wird pro Archivakte eine Tabellendatei erstellt. Nach der Auswertung einer Akte werden die einzelnen Akten-Netzwerke dann in einer Datei zum Gesamtnetzwerk des Kölner Widerstands zusammengeführt. Die Tabellen umfassen die Daten aus zwei Arbeitsmappen: Eine beinhaltet Informationen über die Verbindungen (Person 1, Person 2, Intensität der Verbindung, Zeitpunkt, Quelle usw.), die andere Informationen über die Personen (Alterskohorte, Geschlecht, Parteizugehörigkeit usw.).4 Die Daten in der ersten Arbeitsmappe bestimmen die Struktur des Netzwerks, die Angaben in der zweiten Arbeitsmappe lassen sich über die Farben der Punkte im Netzwerk visualisieren.

II. Kurzbiografie Siegfried Bittermanns

Siegfried Bittermann wurde am 14. April 1915 als jüngstes von sechs Kindern von Simon und Gertrud Bittermann in Köln-Ehrenfeld geboren. Da seine Eltern der Freidenkerbewegung nahestanden, besuchte er in Köln eine Freie Schule. Nach dem Abschluss der Mittelschule begann Siegfried 1932 eine kaufmännische Lehre. Bittermanns Vater Simon, der jüdischer Herkunft war, war seit spätestens 1929 Mitglied der KPD. Siegfrieds Brüder und Schwestern standen der kommunistischen Bewegung ebenfalls nahe oder waren sogar Mitglieder des KJVD. Der Kölner Gestapo blieb die Überzeugung der Familie Bittermann nicht verborgen, wie sie am 25. März 1935 dem Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) berichtete: »Simon Bittermann ist hier seit Jahren als Kommunist bekannt, der auch seine Kinder im gleichen Sinne erzogen hat.«5

Am 20. Oktober 1931 wurde Siegfried durch seinen drei Jahre älteren Bruder Wilhelm in den Kommunistischen Jugendverband aufgenommen. Schon ein halbes Jahr später hatte er die Position des Organisatorischen Leiters der Stadtteilgruppe Köln-Bickendorf inne und übernahm im Juli 1932 als Politischer Leiter eine KJVD-Zelle in demselben Viertel. Außerdem fungierte er zwischen August 1932 und Ende Januar 1933 als Kassierer seiner Stadtteilgruppe. Diese Funktionen bilden die Grundlage für Bittermanns umfangreiches persönliches Netzwerk.

Nach der Machtübernahme durch die NSDAP und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung dauerte es eine Weile, bis der KJVD in Köln wieder eine halbwegs funktionierende Struktur aufgebaut hatte. Siegfried Bittermann blieb, wie auch die meisten anderen Kölner Jungkommunisten, zunächst passiv. Im September 1933 ließ er sich aber durch seinen Freund Josef Berndgen reaktivieren und folgte diesem einen Monat später als Politischer Leiter für die Stadtteile Ehrenfeld und Bickendorf nach. Berndgen selbst war in die Bezirksleitung aufgestiegen. Bis ins Frühjahr 1934 arbeitete Polleiter Bittermann mit Hochdruck daran, weitere KJVD-Gruppen in Köln und im angrenzenden Umland aufzubauen und sie mit Druckmaterial zu versorgen.6

Nachdem die Kölner Gestapo damit begonnen hatte, die Strukturen des KJVD zu zerschlagen und erste Verhaftungen von Mitgliedern der Bezirksleitung durchgeführt wurden, hielt es Siegfried Bittermann Ende August 1934 für sicherer, seine Flucht ins benachbarte Ausland vorzubereiten. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte, denn am 30. August fiel sein Name zum ersten Mal in einem Verhör bei der Gestapo. Gertrud Krämer hatte ihn als die Person benannt, an die sie die Flugschrift Photo Reklame geliefert hatte. Bald darauf erschien die Gestapo in der Wohnung von Bittermanns Eltern. Bevor der Sohn am Arbeitsplatz verhaftet werden konnte, wurde dieser aber durch einen Anruf seiner Mutter gewarnt. Trotz seiner Flucht ins Ausland behielt die Gestapo Bittermann im Auge. Während man 1934/1935 weiter mit Hochdruck an der Zerschlagung des Kölner KJVD arbeitete, wurden alle in den Vernehmungen angesprochenen Verbindungen zu Siegfried Bittermann sorgfältig registriert. Das Amtsgericht Köln erließ daher schließlich am 13. März 1935 einen Haftbefehl gegen ihn.7

Die erste Anlaufstelle in der Emigration war für Bittermann die Familie Warrink im südlimburgischen Heerlen. Dort traf er die ebenfalls geflohenen Funktionäre der Kölner KJVD-Bezirksleitung Hans Meinel und »Richard«, von denen er zunächst nach Lüttich geschickt wurde. Zu seiner Legitimation wurde ihm angeblich ein offizieller Ausweis der Bezirksleitung ausgestellt: »Siegfried Bittermann ist absolut emigrationsberechtigt und bitte ich, denselben dortselbst in die Emigration aufnehmen zu wollen.« Dieses Papier sicherte ihm vorerst den Lebensunterhalt im belgischen Exil. Noch bevor er sich mit Unterstützung der Roten Hilfe in Lüttich eingerichtet hatte, bekam er im September Besuch von Adam Göbbels, dem Lütticher Verbindungsmann der Zentralstelle für Emigration in Brüssel, der ihn laut Bittermanns Vernehmung vom 31. Dezember 1935 dazu aufforderte, nach Heerlen zurückzukehren.8

Von Lüttich aus machte sich Bittermann am 10. September 1934 über Heerlen auf den Weg nach Amsterdam. Dort nahm er an Schulungskursen teil. Seinen Lebensunterhalt finanzierte er sich – wie viele andere politische Emigranten – mit dem Verkauf kommunistischer Literatur, aber auch durch das Erteilen von Musikunterricht. Ende 1934 wurde Siegfried Bittermann dort von Alfred Arendt besucht, der von der Auslandsleitung des KJVD in Amsterdam ausgewählt worden war, den Jugendverband in Köln wieder aufzubauen, und sich auf die Reise nach Deutschland vorbereitete.9

Spätestens im Herbst 1935 überwarf sich Siegfried Bittermann mit der Leitung des westdeutschen KJVD in Amsterdam. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Es hat den Anschein, dass der 20-jährige Bittermann mit den Beschlüssen des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (25. Juli bis 20. August 1935) und des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Jugend-Internationale (25. September bis 11. Oktober 1935) über die Volksfront und dem daraus resultierenden taktischen Schwenk des KJVD nicht einverstanden gewesen ist. Da er in Amsterdam ausgeschlossene ehemalige Jungkommunisten besucht hatte, erfolgte am 26. Oktober 1935 seine »Strafversetzung« nach Gouda.10

Die seiner Ansicht nach schlechte Unterbringung und Verpflegung, seine Isolierung von den anderen KJVD-Emigranten und seine wachsende Verärgerung über die Politik des KJVD, führten dazu, dass er am 3. Dezember 1935 der Auslandsleitung in Amsterdam mitteilte, »dass ich den Schwindel nicht mehr länger mit machen werde und abhaue«.11 Da ihm in Gouda ohne den Zuschuss der Roten Hilfe die Lebensgrundlage fehlte, sah sich Bittermann gezwungen, das deutsche Konsulat in Amsterdam um Hilfe zu bitten. Dieses übergab ihn jedoch der niederländischen Fremdenpolizei, die ihn über Emmerich abschob, wo er am 5. Dezember von der deutschen Polizei empfangen und zunächst im Amtsgerichtsgefängnis untergebracht wurde. Am 14. Dezember erfolgte die Überführung in das Gefängnis Klingelpütz in Köln, wo er am 16. Dezember um 23.45 Uhr eintraf.12

Die nächsten knapp zehn Tage verbrachte er dort, ohne dass wir wissen, was mit ihm im Einzelnen geschehen ist. Am 27. Dezember, dem Tag seiner ersten offiziellen Vernehmung, tauchte er bei der Kölner Stapostelle wieder auf. Es folgte der schon erwähnte Vernehmungsmarathon, der bis zum 3. Januar dauerte. Während Bittermann nach Abschluss der Verhöre im Kölner Gefängnis auf seine Anklage wartete, wurde entschieden, in welcher Form und vor welchem Gericht ihm der Prozess zu machen sei. Bis Juli 1936 behielt sich der Oberreichsanwalt eine Anklage vor dem Volksgerichtshof vor. Dann aber ging der Fall an den Generalstaatsanwalt in Hamm zurück, der in der Folge zumindest eine Zeit lang zwei Klagen vorbereitete: die eine ausschließlich gegen Siegfried Bittermann unter dem Aktenzeichen 6 O.J. 103/35 und eine weitere gegen 35 andere Personen unter dem Aktenzeichen 6 O.J. 166/36. Am 12. September beschloss man aber die Zusammenlegung der beiden Verfahren, sodass Bittermann vor Gericht mit den Personen konfrontiert wurde, deren dortiges Erscheinen nicht zuletzt eine Folge seiner ausführlichen Aussagen zum Jahreswechsel 1935/1936 war.13

Die mündliche Verhandlung fand am 17. Oktober 1936 vor dem II. Strafsenat des Oberlandesgerichts in Hamm unter dem Vorsitz von Senatspräsident Bergmann statt. Der Generalstaatsanwalt beantragte in seinem Plädoyer für Siegfried Bittermann, obwohl dieser zum Tatzeitpunkt noch minderjährig gewesen war, eine Zuchthausstrafe wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Höhe von 15 Jahren; die Anträge für die anderen Angeklagten lagen zwischen 18 Monaten Gefängnis und viereinhalb Jahren Zuchthaus. Da das Gericht insgesamt in seiner Strafzumessung etwa 25 Prozent unter den Anträgen blieb, kam auch Bittermann mit einer dennoch recht hohen Zuchthausstrafe von zehn Jahren davon, wovon zehn Monate Untersuchungshaft abzuziehen waren.14

Seine Haftstrafe verbüßte Bittermann zunächst wie viele andere verurteilte Kölner »Hochverräter« in der Strafanstalt Rheinbach, von wo aus er am 17. März 1938 in die Strafanstalt Siegburg verlegt wurde. Am 17. Juni 1943 wurde Bittermann im Rahmen der »Thierack-Aktion« als »Mischling 1. Grades« zur »Vernichtung durch Arbeit« in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht, wo er am 18. August 1943 im Alter von 28 Jahren und vier Monaten einer fortgeschrittenen Lungentuberkulose erlag.15

III. Die Verhöre

An fünf der acht Tage zwischen Freitag, dem 27. Dezember 1935, und Freitag, dem 3. Januar 1936, wurde Siegfried Bittermann eingehend vernommen. Da es sich bei den Gestapo-Protokollen grundsätzlich um Ergebnisprotokolle handelt, geben sie keinen Aufschluss darüber, wann die einzelnen Sitzungen begannen und wie lange sie dauerten. In welcher Weise die Vernehmer auf den Vernommenen einzuwirken versucht haben, ist auch nur indirekt abzulesen. In vielen Vernehmungen lassen sich Konflikte zwischen dem Vernehmer und dem Vernommenen ausmachen. Die Formeln »ich bestreite«, »wenn mir vorgehalten wird«, »auf Vorhalt gebe ich zu« oder »ich will jetzt die Wahrheit sagen« weisen darauf hin, dass der Vernommene versucht hat, die ihm vorgeworfene Tat zu bestreiten oder seinen Tatbeitrag herunterzuspielen. Im Protokoll zu Bittermanns Vernehmungen findet sich nur einmal eine dieser Formeln, als er versuchte, seine Schwester zu schützen. Das Problem, den Verhafteten erst »aufschließen« und dann »enthemmen« zu müssen, stellte sich anscheinend nicht.16 Von einer seelischen oder körperlichen Einwirkung der Gestapo-Ermittler auf den Vernommenen lässt sich mit den uns zur Verfügung stehenden Methoden und Quellen nichts erkennen.17 Siegfried Bittermann kooperierte wahrscheinlich von Anfang an, machte keine Ausflüchte, erzählte keine Lügen, täuschte keine Unkenntnis vor, erfand keine Namen oder Legenden, um bestimmte Personen zu schützen, und musste auch nicht ermahnt werden, die Wahrheit zu sagen.

Im Gegenteil, Bittermann nannte nicht nur alle Personen, mit denen er während seiner Widerstandstätigkeit zu tun gehabt hatte oder von deren Aktivitäten er wusste, sondern auch deren Wohn- oder Aufenthaltsorte. Darüber hinaus umriss er den Beitrag, den die von ihm benannten 115 Personen zum Widerstandsnetz des KJVD geleistet hatten. Falls er eine Person nicht mit Namen kannte, versuchte er sie so genau wie möglich zu beschreiben. Bittermann nannte sogar die Namen von Personen, die für das konkrete Ermittlungsverfahren der Gestapo – die Zerschlagung des Kommunistischen Jugendverbands – völlig irrelevant waren, wie den seines Bruders Wilhelm, nur weil dieser mit bestimmten Personen aus dem Widerstandsnetz des KJVD in Verbindung gestanden hatte, oder den seines Vaters, nur weil dieser ihn mit einem KJVD-Genossen bekannt gemacht hatte.18 Mindestens einmal hat er aus der Zelle heraus von sich aus um eine erneute Vernehmung gebeten, weil ihm neue Aspekte eingefallen waren. Die beiden Gestapo-Beamten Josef Hoegen und Paul Trierweiler äußerten sich daher in ihrem Bericht an das Gestapa vom 3. Januar 1936 nur positiv über Bittermanns Aussageverhalten: »Die Vernehmung des Beschuldigten Siegfried Bittermann dauerte mehrere Tage, insbesondere dieselbe in ruhigem Verlauf und geordnet von Bittermann geschildert wurde. Bittermann ist ein äusserst intelligenter Mensch, dem selten etwas durchgeht. Er macht im grossen und ganzen einen guten Eindruck und erscheinen seine gemachten Aussagen durchaus glaubwürdig.«19

Während der Vernehmungen zwischen Ende 1935 und Anfang 1936 avancierte Siegfried Bittermann zum wichtigsten Zeugen, den die Kölner Stapostelle in Bezug auf die Bekämpfung des Widerstands jemals gehabt hatte. Daher ließ das Interesse an ihm auch mit dem Ende des Verhörmarathons am 3. Januar 1936 nicht nach. Zwar wurde er zunächst in das Untersuchungsgefängnis Klingelpütz überführt. Im Laufe der folgenden sechs Monate musste Bittermann sich jedoch immer wieder Verhören der Gestapo im EL-DE-Haus stellen, weil im Zuge der Zerschlagung des KJVD bei Vernehmungen anderer Personen neue Aspekte hinzugekommen waren, zu denen seine Einschätzung gefragt war. Aus diesem Grund wurde Bittermann zwischen dem 9. Januar und dem 8. Juni 1936 mindestens drei weitere Male ausführlich verhört und nahm außerdem mindestens 21-mal an Gegenüberstellungen im Rahmen von Vernehmungen von Personen teil, die er während seines ersten Verhörs belastet hatte.20

Die Ermittler waren von der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit der Aussagen Bittermanns derart überzeugt, dass die beiden Gestapo-Beamten Hoegen und Trierweiler ihrem Kronzeugen von den geschilderten Fakten bis in seine Interpretationen und seine Irrtümer hinein folgten, wenn die Anschuldigungen gegenüber Dritten nur weitgehend genug waren und damit viele Trophäen versprachen. Falls es Widersprüche zwischen den Aussagen Bittermanns und den Aussagen der von ihm belasteten Personen gab, entschieden sich die Vernehmer grundsätzlich für die weitergehende Version, also in nahezu allen Fällen für die Version Bittermanns.21 Wer dennoch auf seiner abweichenden Aussage beharrte, musste so lange mit weiterer Folter rechnen, bis die Version des Vernommenen mit der Version Bittermanns übereinstimmte.

Bittermanns Motive und ihre Hintergründe

Leider ist nicht überliefert, was zwischen dem 16. und dem 27. Dezember 1935 mit Bittermann geschehen ist. Normalerweise wartete die Gestapo nicht mehr als eine Woche mit dem ersten Verhör eines Beschuldigten, vor allem nicht, wenn sie 16 Monate nach ihm gefahndet hatte. Es lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass Bittermann während dieser eineinhalb Wochen im Kölner EL-DE-Haus durch die Gestapo so misshandelt wurde, dass es während des offiziellen Verhörs keiner sogenannten verschärften Vernehmung mehr bedurfte. Ein vergleichbarer Fall ist der von Hans Adolf Löwendahl, Reichskurier der Kommunistischen Partei-Opposition, der ebenfalls aus Köln stammte, und zwischen dem 5. und dem 15. Februar 1937 in sieben ausgedehnten Vernehmungen durch die Düsseldorfer Gestapo ein umfangreiches Geständnis über seine Verbindungen im In- und Ausland abgelegt hat. Bei Löwendahl sind die schweren Misshandlungen seitens der Gestapo im Unterschied zu Bittermann allerdings aktenkundig. Er scheint davon so verunsichert und verängstigt gewesen zu sein, dass es während des tagelangen Verhörs kaum noch weiteren Drucks bedurfte, um von ihm die erwarteten Aussagen zu erhalten.22

Die These einer Misshandlung Bittermanns durch die Gestapo, die nach 16-monatiger Flucht alle Schleusen bei ihm geöffnet hat, hätte den Vorzug, dass sie Bittermann von der moralischen Verantwortung für seine Aussagen und die Konsequenzen, die diese für zahlreiche junge Menschen hatten, weitgehend freisprechen würde. Es kann aber nicht die Aufgabe einer wissenschaftlichen Studie sein, Thesen zu bevorzugen, mit denen sich die Schuld von Beteiligten verringern lässt, auch wenn diese letztlich vor allem Opfer des NS-Regimes gewesen sind. Das Verhalten von Siegfried Bittermann im Verhör ist ohnehin auf eine so einfache Weise nicht zu erklären, sofern Vernehmungsprotokolle überhaupt ein geeignetes Medium sind, sich einer Persönlichkeit und ihren Motiven zu nähern. Auch ein sensibler, musischer Mensch wie Bittermann ist bei aller zu unterstellenden Angst vor möglicher (weiterer) Folter in der Lage, die Konsequenzen seines Handelns einigermaßen einzuschätzen. Daher ist davon auszugehen, dass es ihm durchaus möglich gewesen wäre, Wissen zurückzuhalten, das im konkreten Fall weder von ihm verlangt wurde, noch angesichts des Umfangs seiner Gesamtaussage bei der Beurteilung seiner Kooperationsbereitschaft sonderlich ins Gewicht fiel. Die Befürchtung, dass in der Vernehmung einer anderen Person etwas über ihn herauskommen könnte, was er nicht selbst schon mitgeteilt hatte, mag eine gewisse Rolle gespielt haben, aber der Verlauf der Ermittlungen zeigt aus heutiger Sicht, dass diese Gefahr nicht bestand. Man wird daher wenigstens zum Teil davon ausgehen müssen, dass Bittermann seine eigenen Motive hatte, die Erwartungen der Gestapo derart überzuerfüllen.

Bittermanns Wut auf den KJVD hat dabei sicherlich eine zentrale Rolle gespielt. Von der kommunistischen Bewegung, die er wohl schon als Kind vergöttert hatte, die ihm seit dem 16. Lebensjahr politische Heimat und zum Teil auch Lebensinhalt gewesen war, hatte er sich enttäuscht abgewendet, nachdem sie ihn fallengelassen hatte. In der Sprache der Vernehmungsprotokolle heißt das: »Mit der KPD habe ich vollständig gebrochen.«23 Was hätte ihn also daran hindern sollen, es der Partei heimzuzahlen, indem er dabei half, ihre Netze zu zerschlagen? Gefühlen wie Angst oder Wut sollte man allerdings keine zu langen Halbwertzeiten zubilligen. Sie können daher nicht erklären, wieso Bittermann mehr als ein halbes Jahr bei seiner Version und seinem Engagement geblieben ist. Die besonders bei Gegenüberstellungen zu erfahrende Macht über die Schicksale anderer Personen hat vielleicht auch einen Teil dazu beigetragen, Hemmungen zu verlieren. Ein gewisser Ehrgeiz ist allerdings deutlich zu spüren. Seine Redseligkeit lässt darauf schließen, dass Bittermann mehr als alles andere darauf erpicht war, seine Version der Wahrheit bis ins kleinste Detail kundzutun.

Als »unbestechlicher Chronist« des Kölner KJVD-Widerstands ging Siegfried Bittermann in die Gegenüberstellungen, die auch den Beschuldigten die Identität der Person offenbarten, die sie denunziert hatte, und hielt mit seltenen, rein präzisierenden Ausnahmen an seinen ursprünglichen Aussagen fest.24

Es lässt sich aber auch nicht ausschließen, dass die Gestapo Bittermann – ehrlich gemeint oder als taktische Finte – einen Strafnachlass in Aussicht gestellt hat oder dass er sich einen solchen erhofft hat. Die Korrespondenz zwischen den juristischen Instanzen bietet für ein ehrlich gemeintes Angebot keinen Anhaltspunkt. Dass die Richter am Ende ein Drittel unter dem für Bittermann geforderten Strafmaß des Generalstaatsanwalts geblieben sind, muss kein Ergebnis einer derartigen Vereinbarung gewesen sein, sondern ist vielmehr als ein Ausdruck des ritualisierten »Spiels« zwischen Ankläger und Gericht zu werten.25

Die Fünfergruppen in der Widerstandspraxis

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage, wieso Siegfried Bittermann so viele beim Wiederaufbau des KJVD aktive Genossen mit vollem Namen kennen konnte? Der Kölner KJVD hatte sogar schon knapp ein halbes Jahr vor der »Machtergreifung« das Prinzip der Fünfergruppe eingeführt, um die Untergrundarbeit abzusichern.26 Theoretisch kennen die Leiter der Fünfergruppen nur die Leiter der benachbarten Gruppen und vielleicht einen Funktionär der nächsthöheren Ebene – aber ausschließlich mit ihren Decknamen (siehe Abb. 1). Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass bei der Verhaftung eines einfachen Mitglieds mehr als die anderen vier Genossen der Fünfergruppe und ihr Leiter der Gestapo bekannt würden. Bei der Verhaftung eines Funktionärs würden somit Einblicke in die Struktur und vor allem die komplette Auflösung der Organisation nachhaltig erschwert.

Eine konsequente Umsetzung des Fünfergruppensystems hätte jedoch bedeutet, die bestehenden Gruppen nach einem Zufallsprinzip geografisch völlig neu auf das Kölner Stadtgebiet zu verteilen, um so die auf das jeweilige Stadtviertel bezogenen, während der Weimarer Republik gewachsenen Bekanntschafts-Netzwerke der einzelnen Mitglieder des KJVD vollständig zu zerstören. Die Genossen hätten dann, auf mehrere Fünfergruppen in ganz Köln verstreut, die Mitglieder der benachbarten Fünfergruppen nur noch zu einem unbedeutend und damit ungefährlich kleinen Prozentsatz persönlich und mit Namen gekannt.

Doch solche ausgefeilten Methoden der Konspiration blieben Wunschdenken. Da eine derart gravierende Umorganisation weder angestrebt wurde noch unter den Bedingungen der Nazi-Diktatur realisierbar war, blieben die alten Verbindungen aus der Zeit, in der der KJVD noch legal agieren konnte, bestehen. Jeder im Widerstand aktive Genosse kannte eine ganze Reihe anderer Genossen aus anderen Fünfergruppen. Der Kreis der den früheren Funktionären bekannten Genossen war wohl noch um einiges größer als die Bekanntschafts-Netzwerke der einfachen Aktivisten. Wer wie Siegfried Bittermann in eine kommunistische Familie hineingeboren worden war, mindestens 15 Monate lang KJVD-Funktionär auf Stadtteilebene gewesen war und dazu noch über ein halbes Jahr lang als Kassierer Woche für Woche die Runde bei den Genossen im Viertel wegen der Beiträge gemacht hatte, brachte es auf ein immens großes Bekanntschafts-Netzwerk. Dieses wies auch nach dem Aderlass durch die Verhaftungen und den Rückzug ängstlicher Kameraden in der ersten Jahreshälfte 1933 noch einen beträchtlichen Umfang auf und hätte durch keine Anweisung über konspiratives Arbeiten ausgelöscht werden können. Jeder Funktionär, der in Bezug auf die aktiven Mitglieder der Untergrundbewegung über ein solches Wissen verfügte, war eine potenzielle Zeitbombe, die im Falle der Verhaftung durch die Verhörpraktiken der Gestapo je nach charakterlicher Stärke schneller oder langsamer zur Explosion gebracht werden konnte.

IV. Das Netz des Siegfried Bittermann

In den ersten fünf Verhören zum Jahreswechsel 1935/1936 nannte Siegfried Bittermann insgesamt 115 Personen. Zu 96 Personen hatte er laut seiner Aussage selbst unmittelbar Kontakt gehabt, die Namen der anderen 19 Mitkämpfer kann er also nur von Genossen erfahren haben, die die Regeln der Konspiration grob missachtet hatten. Zwei Personen, deren Namen er gar nicht, und sieben Personen, von denen er nur den Decknamen kannte, lassen sich nicht ermitteln. Von weiteren 19 Personen ist nur ein Teil des Namens bekannt. Insgesamt lassen sich also 87 Personen eindeutig identifizieren. Von diesen 87 Personen sind 25 bereits vor dem 27. Dezember 1935 vernommen und zum Teil im Rahmen des ersten großen KJVD-Prozesses verurteilt worden. Von den 87 eindeutig identifizierbaren Personen gelangten somit 62 Personen erst durch Siegfried Bittermann ins Blickfeld der Gestapo. Gemeinsam mit ihm standen am 17. Oktober 1936 34 Personen vor dem II. Strafsenat des Oberlandesgerichts in Hamm. Vier von ihnen waren der Gestapo erst durch seine Aussage bekannt geworden: Heinrich Fischer, Franz Kautz, Josef Krahe und Konrad Spieß. Sie wurden zu insgesamt acht Jahren Gefängnis oder Zuchthaus verurteilt; das Verfahren gegen den ebenfalls erst von Bittermann ins Spiel gebrachten Cornelius Moll wurde eingestellt. Die Verurteilungen von Eduard Giesen, Elisabeth Jansen, Paul Kretzen, Otto Lambertz und Wilhelm Struchhold basierten ebenfalls zu kleineren oder größeren Teilen auf Bittermanns Aussagen. Sein Schwager Alfred Schütza wurde trotz Bittermanns Angaben freigesprochen. Die anderen Mitangeklagten Bittermanns waren nicht unmittelbar von ihm belastet worden. Inwieweit seine Aussagen letztlich zu ihnen geführt haben, kann wohl nur durch eine sehr aufwändige Netzwerkanalyse ermittelt werden.

Die Struktur des kognitiven Netzwerks in Grafik zwei offenbart sich auf einen Blick, auch wenn das kleine Format der JHK-Druckseite und der Verzicht auf die Dimension Farbe die Informationsaufnahme etwas erschwert. Besonders fallen die Personen am Rande des Netzes ins Auge, mit denen Bittermann selbst gar keine Verbindung hatte, sowie die Querverbindungen zwischen den Genannten, von denen er nach den Gesetzen der Konspiration also gar keine Kenntnis haben durfte.27

Eine aufschlussreiche »Gegenprobe« zu Siegfried Bittermanns kognitivem Netzwerk ist das ihm zugeschriebene Netzwerk auf Grundlage der Aussagen der anderen Personen, die im Rahmen der gegen den KJVD geführten Ermittlungen vernommen wurden. Das Bittermann zugeschriebene sogenannte Ego-Netzwerk umfasst, wenn man nur unmittelbare Verbindungen zählt, 54 Kontaktpersonen. Nach eigener Aussage war Bittermann aber immerhin mit 96 Personen unmittelbar verbunden.

Vergleicht man die beiden Netzwerke in den Grafiken zwei und drei mit den Namenslisten, die sich anhand der Vernehmungsprotokolle aufstellen lassen, zeigt sich, dass 41 Personen aus dem zugeschriebenen Ego-Netzwerk auch von Bittermann selbst während des Aussagemarathons als unmittelbare Kontakte angeführt wurden. Bittermanns durch die Gestapo vernommene Genossen kannten zusammen also weniger als die Hälfte seiner unmittelbaren Verbindungsleute, 55 direkte Kontaktpersonen waren ihnen verborgen geblieben, von denen aber 33 als unmittelbare Verbindungen bekannt waren. Insgesamt bewegen sich in beiden Netzwerken 111 Personen plus Bittermann selbst. Zwölf unmittelbare Verbindungen, die Bittermann zugeschrieben wurden, tauchen also in seinen eigenen Aussagen zwischen dem 27. Dezember 1935 und dem 3. Januar 1936 nicht als unmittelbare Verbindungen auf. Die Quelle dieser Differenz lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Wie der dritten Grafik zu entnehmen ist, handelt es sich wohl um Randfiguren, die im Verhör Bittermanns keine Rolle gespielt haben. Acht der zwölf Ungenannten werden in den Verhören zu den KJVD-Verfahren nur ein einziges Mal erwähnt, nur für zwei liegen mindestens zwei voneinander unabhängige Aussagen vor.

Die Besonderheit der Netzwerkforschung zeigt sich in solchen Analysen von Strukturen. Hier sei nur ganz kurz angedeutet, welche Möglichkeiten die Algorithmen solcher Programme wie UCINet oder Pajek dafür zu bieten haben. Das Zentralitätsmaß nach Linton Freeman etwa misst für jeden Knoten die Zahl der mit ihm verbundenen Knoten und ermittelt auf diese Weise die »Zentralität« verschiedener Akteure. In diesem Zusammenhang wird auch der Grad der Netzwerk-Zentralisierung berechnet. Ein »Star-Netzwerk« mit einem Akteur, der mit allen anderen verbunden wäre und diese nur mit ihm, käme auf einen Wert von 100 Prozent. Wenn wir diesen Wert für die verschiedenen im Rahmen dieser Studie erstellen Netzwerke ermitteln, kommt man zu folgendem Ergebnis: Das kognitive Netzwerk Bittermanns (Grafik 2) hat einen Zentralisierungsgrad von 81,3 Prozent – es kommt einem »Star-Netzwerk« also wie erwartet schon recht nah. Das Gesamtnetz des Kölner KJVD auf der Basis aller Verfahren gegen den Jugendverband (Grafik 3) hat einen Wert von 22,2 Prozent und das lockere idealtypische Fünfergruppen-Netz (Grafik 1) einen von gerade einmal 2,8 Prozent – dort haben alle Akteure nahezu dieselbe Zentralität.

Ein anderes Maß zum Vergleich verschiedener Netzwerke ist das Dichtemaß. Zu seiner Berechnung wird die Zahl der existierenden Verbindungen durch die Zahl der möglichen Verbindungen dividiert. Ein vollkommen dichtes Netz käme dabei auf einen Wert von 1,0. Das idealtypische Fünfergruppen-Netzwerk (Grafik 1) präsentiert sich als äußerst gering verknüpftes Netz (Density 0,029). Das kognitive Netzwerk Bittermanns (Grafik 2, Density 0,038) ist, da es ja nur auf die Aussage einer zentral platzierten Person zurückgeht, nicht viel dichter. Das KJVD-Netzwerk auf Basis aller Aussagen (Grafik 3) ist mit einem Wert von 0,077 zwar doppelt so dicht, aber immer noch recht locker gefügt.

V. Fazit

Zwischen 1933 und 1937 gelang es der Kölner Gestapo immer wieder, die neu aufgebauten Organisationen der Arbeiterbewegung zu zerstören. Aufgrund der unzureichend eingeübten und angewandten Techniken der Konspiration, reichten oft die Aussagen weniger Personen, um ganze Widerstandsnetze aufzurollen. Der Fall von Siegfried Bittermann liefert dafür ein extremes Beispiel.

Die Forschung über den Widerstand der Arbeiterbewegung beruhte immer schon zu einem Großteil auf der Auswertung der Vernehmungsprotokolle der Gestapo, hat sie allerdings bisher immer nur mit den klassischen historiografischen Methoden interpretiert.

Dieser Aufsatz hat demgegenüber zu zeigen versucht, welchen Beitrag ein für die Geschichtswissenschaft relativ neuer Ansatz wie die Soziale Netzwerkanalyse auf der Basis derselben Quellen zu leisten vermag. Dabei konnten die vielfältigen Möglichkeiten dieses Ansatzes nicht einmal annähernd ausgeschöpft werden.

Wenn wir erst einmal das Gesamtnetz des Kölner Widerstands erfasst haben werden, können wir mithilfe der Sozialen Netzwerkanalyse Tiefenanalysen der Struktur vornehmen. Wir hoffen, unter anderem diejenigen Personen identifizieren zu können, die über die Jahre die Verbindungen zwischen den verschiedenen Organisationen aufrechterhielten. In diesem Rahmen wäre auch die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und den Mitgliedern der sozialistisch-kommunistischen Kleinorganisationen eingehend zu analysieren.

Über die von einem solchen Ansatz zu erwartenden Erträge hinaus liefert das Arbeiten mit den Konzepten und Methoden der Sozialen Netzwerkanalyse einen Mehrwert. Mit der Visualisierung des Schneeballsystems der Verhöre, Aussagen und Verhaftungen erhalten wir, ganz nebenbei, einen Einblick in die Gestapo-Ermittlungen, wie er sonst kaum zu bewerkstelligen wäre. Bei der Quellenlektüre aufkommende Hypothesen über bestimmte Teilstrukturen oder Eigenschaften des Netzwerks lassen sich schnell und mit geringem Aufwand überprüfen. So hat es etwa den Anschein, dass in Köln mehr ehemalige Sozialdemokraten als Einzelpersonen einen Beitrag zum Widerstand anderer, nicht selten kommunistischer Gruppen leisteten, als in sozialdemokratischen Widerstandsorganisationen aktiv waren. Eine solche Erkenntnis ist auf konventionellem Weg kaum zu gewinnen.


1 Siehe Landesarchiv NRW (im Folgenden: LAV NRW) W Q211a, 9230, Bl. 43–60.

2 Siehe Reinhold Billstein (Hg): Das andere Köln, Köln 1979, S. 498–505.

3 Siehe den Abschnitt zur Geschichte der Sozialen Netzwerkanalyse, in: Dorothea Jansen: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen 1999, S. 37–50.

4 Am schwierigsten ist in den Akten die Zugehörigkeit zu einer Organisation zu ermitteln. Die Partei oder die Nebenorganisation einer Partei, um deren Wiederaufbau es in den Ermittlungen meistens ging, eignet sich nur begrenzt, da wir nicht wissen, zu welchem Grad die Personen wirklich als Mitglieder gewertet werden können. Wir verwenden daher vor allem die Angaben der Vernommenen über ihre Mitglied-
schaften vor dem 30. Janauar 1933, auch wenn diese vielleicht für den Zeitpunkt der widerständigen Verbindung, die wir erfassen, nicht mehr sehr bedeutend gewesen sein mag.

5 LAV NRW W Q211a, 6180, Bl. 111v.

6 Siehe LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 43 f.

7 Siehe LAV NRW W Q211a, 4907, Bl. 183. Am 14. Mai 1935 verurteilte das OLG Hamm im ersten großen Kölner KJVD-Prozess 54 Angeklagte, die zum Teil der Sozialistischen Arbeiterpartei angehörten, zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und acht Jahren. Siehe in: LAV NRW W Q211a, 4912.

8 Siehe LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 55v. Laut Bittermanns Aussagen in einem Verhör vom 28. Oktober 1940 hatte ihm Göbbels einen Brief der Zentralstelle für Emigranten in Brüssel ausgehändigt, in dem Bittermann dazu aufgefordert wurde, nach Köln zurückzukehren, da er »nicht emigrationsberechtigt« gewesen sei. Siehe in: LAV NRW W Q211a, 139, Bl. 150. Sollte diese Version stimmen, wäre Bittermanns Konflikt mit führenden KJVD-Funktionären im Exil also nicht erst im Herbst 1935 entstanden. Laut Beatrix Herlemann galt die Anweisung »alle Emigranten, die weniger als fünf Jahre Zuchthaus zu erwarten hätten«, zurückzuschicken (dies.: Die Emigration als Kampfposten, Königstein im Taunus 1982, S. 73). Das Risiko, das der zurückgesandte Emigrant für die noch in Freiheit verbliebenen Genossen bedeutete, hat man dabei offenbar vollkommen ignoriert. Das romantische Ideal des unbeugsamen Bolschewisten, der lieber stirbt, als der zaristischen Geheimpolizei Ochrana unter Folter auch nur einen Genossen preiszugeben, dürfte dabei eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben.

9 Siehe LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 55v; LAV NRW W Q211a, 6180, Bll. 8.

10 Siehe LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 57r. Da der Forschungsstand zum KJVD für die Jahre zwischen 1933 und 1945 nur als katastrophal bezeichnet werden kann, ließen sich die Hintergründe für Bittermanns Abwendung vom Jugendverband nicht weiter ermitteln.

11 Ebd.

12 Siehe Herlemann: Kampfposten (Anm. 8), S. 81; LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 35. Nach Ansicht seiner Schwester Katharina Schütza, fühlte sich Bittermann in Gouda »seines Lebens nicht mehr sicher« und habe sich deswegen beim deutschen Konsulat gestellt. Siehe in: LAV NRW W Q211a, 9231, 
Bl. 298.

13 Siehe LAV NRW W Q211a, 9270, Bl. 186. Die Anklageschrift gegen Bittermann datiert vom 4. September 1936, die gegen die – vor der Flucht von Hans Beckschäfer aus dem Kölner Gestapogefängnis am 26. September 1936 – noch 35 weiteren Angeklagten vom 23. Juli 1936.

14 Siehe LAV NRW W Q211a, 9270, Bl. 219–222.

15 Siehe LAV NRW W Q211a, 9234, Bl. 28; Internationaler Suchdienst (ITS), Bad Arolsen: Konzen-
trationslager Buchenwald, indiv. Unterlagen Männer (Siegfried Bittermann).

16 Siehe Friedrich Arntzen: Vernehmungspsychologie, München 1978, Kapitel III.

17 Der laut Beschreibung in seiner Häftlings-Personal-Karte des Konzentrationslagers Buchenwald von 1943 lückenhafte Zustand von Bittermanns Gebiss könnte ein Hinweis auf eine mögliche Misshandlung durch die Kölner Gestapo sein, kann allerdings nach achtjähriger Haftzeit auch ganz andere Ursachen haben, siehe ITS, Bad Arolsen: Konzentrationslager Buchenwald (Anm.15).

18 Beide waren allerdings schon 1935 im Rahmen eines Verfahrens vor dem OLG Hamm wegen Wiederaufbau der KPD verurteilt worden.

19 LAV NRW W Q211a, 9221, Bl. 46 f. Am 1. Februar 1936 ordnete der Generalstaatsanwalt in Hamm Ermittlungen an gegen »[d]ie gesamten, auf Grund der Angaben des Bittermann entstehenden neuen Vorgänge [...], es handelt sich nach dem dortigen Bericht um etwa 60 bis 80 Personen.« In: LAV NRW 
W Q211a, 9221, Bl. 6r.

20 Die letzte bekannte Vernehmung datiert vom 28. Oktober 1940, weil infolge der deutschen Besetzung der Niederlande, Belgiens und Frankreichs seit Langem gesuchte Emigranten wieder in Reichweite der Kölner Gestapo kamen, siehe in: LAV NRW W Q211a, 139, Bl. 150 sowie LAV NRW W Q211a, 9228, Bll. 35V, 40–42, 71, Bände 9221 bis 9228.

21 Heinrich Ballheimer ließ sich davon in seiner Vernehmung nicht beirren: »Ich bleibe auch bei meinen Aussagen, wenn mir hier eröffnet wird, daß Bittermann bisher stets die Wahrheit gesagt hat und für die Staatspolizei unbedingt glaubwürdig erscheint.« In: LAV NRW W Q211a, 9222, Bl. 20r.

22 Siehe LAV NRW W Q211a, 10025, 164–237. Siehe auch Jan Foitzik: Zwischen den Fronten, Bonn 1986, S. 60. Bei Löwendahl fehlen ebenfalls die Floskeln, die in den Gestapo-Protokollen ein besonderes Einwirken durch den Vernehmer oder ein ausweichendes oder zögerliches Aussageverhalten des Vernommenen belegen.

23 LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 60r. [alte Paginierung].

24 Für diese Einstellung steht folgende Episode: Am 4. Februar 1936 erwähnt Bittermann, Willi Nagelschmidt habe ihn zu sagen gebeten, er sei 1934 aus dem KJVD ausgeschlossen worden. Bittermanns Reaktion darauf laut Protokoll: »Ich muss trotz der Bitte des Nagelschmidt bei meiner früher gemachten Aussage bleiben, weil sie richtig ist.« In: LAV NRW W Q1211a, 9221, Bl. 61r.

25 Am 3. März 1936 bat Bittermann den Hammer Generalstaatsanwalt darum, ihm zu erlauben, sich Papier und Schreibzeug kaufen zu dürfen, um zum Zeitvertreib zu malen oder zu zeichnen. Da die Briefe der Untersuchungshäftlinge an die Anklagebehörde zumeist dazu dienten, eine mildere Beurteilung der eigenen Tat zu erreichen, mutet das Schreiben Bittermanns bizarr an. Es vermittelt das Bild eines Untersuchungshäftlings, der sich gar keine Sorgen über eine eventuelle Strafe macht. Siehe in: LAV NRW W Q211a, 9230, Bl. 94f.

26 Siehe Wilfried Viebahn/Walter Kuchta: Widerstand gegen die Nazidiktatur in Köln, in: Billstein (Hg): Köln (Anm. 2), Köln 1979, S. 308.

27 Die Anordnung der Punkte (»Knoten«) wird von einem Algorithmus namens Spring Embedder durchgeführt. Dies führt zu einer Netzwerkstruktur, bei der wichtige Akteure im Zentrum stehen und unbedeutende am Rand.

Inhalt – JHK 2011

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