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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2015

DDR-Geschichte als Kommunismusgeschichte begreifen: Plädoyer für eine Perspektiverweiterung

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 271-278 | Metropol Verlag

Autor/in: Anna Kaminsky

25 Jahre nach der Friedlichen Revolution hat sich im vereinten Deutschland eine hoch differenzierte »Aufarbeitungslandschaft« herausgebildet. Vielerorts informieren Museen und Gedenkstätten über Opposition und Repression im SED-Staat sowie über das DDR-Grenzregime. Nach einem Boom in den 1990er Jahren ist die Forschung zur DDR-Geschichte im Gegensatz dazu jedoch stark rückläufig. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Hochschullehre, die stets ein Spiegelbild aktueller Forschungsinteressen ist. Mittel- und langfristig wird diese Entwicklung auch Konsequenzen für den Schulunterricht haben: In dem Maße, in dem Lehrangebote zur SED-Diktatur reduziert werden, steigt die Zahl der angehenden Geschichtslehrerinnen und -lehrer, die die Universitäten verlassen, ohne mit dem Thema in der eigenen akademischen Ausbildung in Berührung gekommen zu sein. Ein solcher Trend könnte die in den letzten Jahren zu verzeichnenden Bemühungen der Kultusverwaltungen konterkarieren, der SED-Diktatur im Schulunterricht mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Positiv wirkt sich die dennoch anhaltende Präsenz des Themas in den Medien, in Dokumentar- und Spielfilmen, aber auch auf dem Buchmarkt aus. Dies spiegelt sich nicht nur in steigenden Besucherzahlen der einschlägigen Museen und Gedenkstätten wider, sondern auch in der Nachfrage nach Zeitzeugenangeboten und Lehrerfortbildungen, etwa der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Auch niedrigschwellige Angebote wie die zeithistorischen Ausstellungen in Plakatform, die die Bundesstiftung seit 2009 regelmäßig anbietet, belegen das steigende Interesse an der jüngsten deutschen Geschichte. So wurde 2014 eine Ausstellung zur Geschichte von Diktatur und Demokratie in Europa im 20. Jahrhundert bundesweit in über 1 000 Kommunen gezeigt und vielerorts von Veranstaltungen begleitet.

Während in den 1990er Jahren Verantwortliche der SED-Diktatur in den Medien und insbesondere in Talkshows viel Raum zur Selbstdarstellung erhielten, sind es mittlerweile ehemalige Oppositionelle und Opfer der Diktatur, denen wachsende öffentliche Aufmerksamkeit widerfährt. Dazu haben nicht zuletzt die seit 2003 von wachsendem öffentlichen Interesse begleiteten Jahrestage des 17. Juni 1953, des Mauerbaus, der Friedlichen Revolution sowie der deutschen Einheit beigetragen. Obwohl die Opfer der SED-Diktatur und deren Verbände heute mehr Gehör finden, gibt es im Bereich der Anerkennung von Haftfolgeschäden und damit der Entschädigung weiterhin beklagenswerte Defizite.

Dass sich der Prozess der Aufarbeitung der SED-Diktatur im 25. Jahr der deutschen Einheit insgesamt positiv entwickelt hat, ist nicht zuletzt dem Bund zu verdanken. Seit 1990 erfreut sich eine wachsende Zahl an Gedenkstätten und Museen zur NS- wie auch zur SED-Diktatur einer institutionellen Förderung des Bundes, der damit, gemeinsam mit den Ländern, wesentlich zur Ausgestaltung der gesamtdeutschen Erinnerungskultur beiträgt. Durch die Arbeit der Stasi-Unterlagenbehörde gelang es in den 1990er Jahren, die geheimen Zuträger des Regimes zu identifizieren, auf Antrag Auskunft zu erhalten, ob und in welchem Maße das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auf das eigene Leben Einfluss genommen hat, sowie die Rolle des MfS in der DDR zu erforschen und zu dokumentieren. Schließlich leitete die Gründung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 1998 eine neue Etappe ein: Einerseits bekräftigte der Bundestag mit der Stiftungsgründung die andauernde gesellschaftliche Relevanz des Themas. Andererseits hatten schon die beiden Enquetekommissionen des Bundestages zwischen 1992 und 1998 öffentlich dokumentiert, dass sich die Geschichte der DDR nicht auf ihre Geheimpolizei reduzieren lässt. Diesen von den Enquetekommissionen begonnenen Weg der umfassenden Aufklärung setzt die Stiftung bis heute fort.

Auftrag der Bundesstiftung Aufarbeitung ist es, die umfassende Auseinandersetzung mit den Ursachen, der Geschichte und den Folgen der SED-Diktatur und der deutschen Teilung zu fördern. Mit bislang fast drei Millionen Euro an alljährlich bewilligten Projektmitteln ist die Bundesstiftung die wichtigste Fördermittelgeberin für eine bundesweite, multiperspektivische und vor allem dezentrale Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Zu den Akteuren auf diesem Gebiet gehören darüber hinaus die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, die Stasi-Landesbeauftragten, die parteinahen Stiftungen, die großen Museen und Gedenkstätten des Bundes und der Länder sowie vielfältige Träger der außerschulischen Bildungsarbeit. Daneben leisten die Archive, Gedenk- und Geschichtswerkstätten, die in den 1990er Jahren von DDR-Bürgerrechtlern gegründet wurden, wichtige Beiträge zur politischen Bildungsarbeit.

Aber auch Defizite und Fehlentwicklungen müssen benannt werden. Die Aufarbeitung konzentrierte sich in den Jahren nach 1989/90 aus guten Gründen vor allem auf die Geschichte des Regimes, das von ihm begangene politische Unrecht, dessen Opfer sowie auf jene, die Widerstand leisteten oder in der Opposition aktiv waren. Der Horizont der Aufarbeitung war zeitlich auf die Jahre zwischen 1945 und 1990 und geografisch auf die SBZ/DDR beschränkt. Die im doppelten Wortsinn geteilte deutsche Nachkriegsgeschichte geriet allenfalls bei den Themen Deutschlandpolitik und SED-Grenzregime in den Blick. Eine gesamtdeutsche Perspektive auf die Nachkriegsentwicklung, wie sie etwa von Christoph Kleßmann konzipiert wurde, bleibt in Forschung und historischer Bildung bis heute die Ausnahme – die Teilungsgeschichte setzt sich in der Geschichtsschreibung fort. Noch schlechter bestellt ist es um die Einordnung der Diktatur in SBZ und DDR in die langen Linien des 20. Jahrhunderts einerseits sowie in die Entwicklung Nachkriegseuropas andererseits. Weder in der Forschung und in der Hochschullehre noch in der historisch-politischen Bildung gibt es nennenswerte Angebote, die SED-Diktatur in das »Zeitalter der Extreme« im Allgemeinen oder in die Geschichte des Ostblocks im Besonderen einzuordnen. Nicht minder problematisch ist der Umstand, dass die bis heute spürbaren Folgen der Diktatur in Ostdeutschland nur selten Thema der Aufarbeitung sind.

Die thematische Engführung schränkt sowohl die Forschung als auch die historisch-politische Bildung in ihren Erkenntnismöglichkeiten ein. Mit der Einordnung der DDR-Geschichte in ihre historischen Kontexte kann gleichermaßen Tendenzen der Verharmlosung als auch der Dämonisierung des SED-Regimes vorgebeugt werden. Denn wer etwa Aussagen über den repressiven Umgang des SED-Regimes mit politisch Andersdenkenden treffen will, mit sozial unangepassten Kindern und Jugendlichen, Heimkindern, Alten oder politischen Häftlingen, gewinnt an Urteilskraft, wenn der Blick mindestens die jeweilige zeitgenössische Praxis in der Bundesrepublik berücksichtigt. Nur so können zeittypische Handlungsweisen von systembedingter Praxis unterschieden werden. Aber auch die vergleichende europäische Perspektive zu Polen oder der Tschechoslowakei oder anderen Staaten des Ostblocks würde Gemeinsamkeiten und Unterschiede kenntlich machen, die bislang ausgeblendet werden. Letzteres verweist auf ein Kardinalproblem der DDR-Aufarbeitung. Diese wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu wenig als Teil einer notwendigen Aufarbeitung der kommunistischen Nachkriegsdiktaturen verstanden: Es ist einer Mischung aus fehlender Zuordnung der DDR zum sowjetischen Machtbereich und den Staaten Mittel- und Osteuropas, mangelndem Interesse sowie Sprachbarrieren geschuldet, dass die Geschichte der ostmitteleuropäischen Volksdemokratien (von der Geschichte einiger Aufstände bzw. sowjetischer Interventionen abgesehen) bislang kaum zum Thema geworden ist.

Die Engführung der Perspektive spiegelt sich auch in der Begrifflichkeit »SED-Aufarbeitung« wider. Diese enstand Anfang der 1990er Jahre während des Vereinigungsprozesses und sollte auch dazu beitragen, deutlich zu machen, dass es eine Unterscheidung zwischen Regime und Gesellschaft gibt. Inhaltlich lässt der Begriff jedoch vergleichsweise viel Raum für Interpretation, was denn eigentlich genau hier aufgearbeitet werden soll. Anders verhält es sich in den ostmitteleuropäischen Staaten. Dort käme niemand auf die Idee, von der Notwendigkeit zu sprechen, sich mit der Geschichte der PVAP-Diktatur in Polen oder der KPTsch-Diktatur in der Tschechoslowakei auseinanderzusetzen. Hier ist mit einer großen Selbstverständlichkeit von der Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen die Rede. Eine solche nicht nur sprachliche Einordnung der DDR-Diktatur in die Kommunismusgeschichte des 20. Jahrhunderts ist auch für die deutsche Aufarbeitungsdebatte erforderlich. Wer von der kommunistischen Diktatur in Deutschland spricht, wird gerne belehrt, dass sich Ulbricht und Honecker allenfalls auf dem Weg zum Kommunismus wähnten und man daher doch besser etwa von parteidiktatorischen Regimen sowjetischen Typs sprechen sollte. Oder es steht der Vorwurf im Raum, man würde rein ideologisch, weil antikommunistisch argumentieren. Hier wirken auch politische Kontroversen nach, die seit den 1930er und 1940er Jahren virulent sind. Diese haben dazu geführt, dass in Deutschland die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert bislang nur unzureichend diskutiert und bewertet worden ist.

Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur und dem verbrecherischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg hatte Thomas Mann den Antikommunismus 1943 im US-amerikanischen Exil zur »Grundtorheit unserer Epoche« erklärt. Zu diesem Zeitpunkt war es auf dem europäischen Kontinent vor allem die Sowjetunion, die sich unter unvorstellbaren Verlusten dem unaufhaltsam scheinenden Vormarsch der Wehrmacht und dem nationalsozialistischen Deutschland entgegenstellte. So gesehen erschienen die Verbrechen nachrangig, die das sowjetische Regime in den 1920er und 1930er Jahren im eigenen Land begangen hatte. Der antifaschistische Abwehrkampf der Sowjetunion verhalf ihren Parteigängern, die die nationalsozialistischen Lager und Gefängnisse überlebt hatten, in den ersten Nachkriegsjahren zu einem moralischen Kredit. Auch wenn sie diesen als Vasallen sowjetischer Macht- und Sicherheitspolitik alsbald wieder verspielten, wurde der »Große Vaterländische Krieg« zum Mythos, der bis heute selbst in Westeuropa fortwirkt. So erinnert beispielswise die Rue de Stalingrad in Paris daran, dass sowjetische Soldaten auch für die Befreiung Frankreichs von deutscher Besatzung gestorben sind. Die Bezeichnung suggeriert, die Menschen in der Sowjetunion hätten damals weniger ums nackte Überleben als vielmehr für Stalin und die kommunistische Ideologie gekämpft. Der Anteil der deutschen Kommunisten an der Instabilität und am Untergang der Weimarer Demokratie, die politischen Massenverbrechen in der Sowjetunion der 1930er Jahre, der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen wie auch die Verbrechen, die die Rote Armee auf ihrem Vormarsch nach Berlin und nach ihrem Sieg begangen hatte, werden dagegen bis heute kaum thematisiert.

Vor allem in den 1970er Jahren hatten Publikationen Konjunktur, in denen die im Ersten Weltkrieg entstandene Spartakus-Bewegung verklärt und die Sozialdemokratie diskreditiert wurden. Die Rolle der KPD in der Revolution 1918 und der Weimarer Republik wurde romantisiert und deren Beitrag zum Untergang der Weimarer Demokratie negiert. Besondere Aufmerksamkeit fand nun auch der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der in der Bundesrepublik wegen seiner antidemokratischen Intention lange Zeit aus der Geschichte ausgegrenzt und gering geschätzt wurde. Der Trend, dem kommunistischen Widerstand einen herausgehobenen Platz einzuräumen, wurde aus Ost-Berlin nach Kräften lanciert. Kritische Kommunismusforscher wie der Mannheimer Historiker Hermann Weber sahen sich in dieser Zeit dem Vorwurf ausgesetzt, dem Antikommunismus Vorschub zu leisten. Damals bildete sich eine lange Zeit gültige »Arbeitsteilung« heraus, in der die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor allem von politisch links denkenden Menschen befördert und die Kommunismuskritik vor allem von konservativen Gruppen betrieben wurden. Wer diese Logik durchbrach und sich als Linker für die ostmitteleuropäische Dissidenz einsetzte, stieß in beiden Lagern auf Misstrauen, wenn nicht Feindseligkeit. Autoren wie Aleksandr Solženicyn, die die sowjetischen Massenverbrechen zum Thema machten, wurden von Konservativen gefeiert und von vielen Linken ignoriert.

Der Historikerstreit in den 1980er Jahren verhärtete die Fronten. Die These Ernst Noltes, der sowjetische Terror und die Bedrohung durch den Kommunismus seien ursächlich für den nationalsozialistischen Judenmord und den von Deutschland entfesselten Rassen- und Vernichtungskrieg gewesen, wurde zu Recht zurückgewiesen. Gleichwohl zementierte die Debatte eine Hierarchisierung des historischen Gedenkens, das neben der erklärten Singularität des Holocaust aus Furcht vor dem Vorwurf der Relativierung der NS-Verbrechen kaum Raum für die sowjetischen Massenverbrechen ließ. Daran änderte auch die Debatte um das Schwarzbuch des Kommunismus nichts, die Ende der 1990er Jahre im vereinten Deutschland kurz, aber heftig geführt wurde. Rasch wurde den Autoren des Buches unterstellt, sie würden die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus betreiben und Letzteren relativieren. Damit einher ging der Vorwurf, die Diktatur in der DDR werde dämonisiert. Deren Aufarbeitung hatte damals einen ersten Höhepunkt erreicht und zu einem erinnerungskulturellen Konflikt geführt, der oft verkürzt mit dem Begriff der »Opferkonkurrenz« beschrieben wurde. Der Bochumer Historiker Bernd Faulenbach hat im Rahmen der Debatten bei den Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages zur DDR-Aufarbeitung eine Formel geprägt, die den Konsens in der Kommission im Hinblick auf die Behandlung beider Diktaturen aufgreift und mittlerweile den größten gemeinsamen Nenner der beiden Aufarbeitungslandschaften beschreibt: »Die NS-Verbrechen dürfen nicht mit Hinweis auf das Nachkriegsunrecht relativiert, dieses Unrecht darf aber auch nicht angesichts der NS-Verbrechen bagatellisiert werden.«

Erstaunlicherweise war es der Streit um die SED-Diktatur nach 1990, der die NS-Aufarbeitung in die Mitte der Gesellschaft rückte. Heute zählt die Erinnerung an die NS-Diktatur und deren Opfer zum Konsens der Demokraten. Dafür steht symbolisch der von Roman Herzog 1996 proklamierte »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« am 27. Januar und materiell die Förderung der NS-Gedenkstätten durch den Bund, an die vor der Wiedervereinigung nicht zu denken war.

Zwischenzeitlich hat sich nun auch in Bezug auf die SED-Diktatur ein mit unterschiedlicher Empathie getragener Konsens herausgebildet. Die eingangs beschriebene Aufarbeitungslandschaft sowie die Ausgestaltung herausragender Jahrestage sind dafür beredtes Beispiel. Diesem Konsens war die hier konstatierte Engführung der Perspektive sogar dienlich. Die Loslösung der SED-Diktatur aus dem historischen Kontext des Jahrhunderts der Diktaturen im Allgemeinen und der Kommunismusgeschichte im Besonderen wurde zum kleinsten gemeinsamen Nenner der gesamtdeutschen Erinnerungskultur. Dieser bietet selbst im erinnerungskulturellen Milieu der Postkommunisten Anschlussmöglichkeiten. So können dort die verinnerlichten Klischees von der guten kommunistischen Bewegung, die tragischerweise zeitweilig von Stalinisten usurpiert worden sei, weiter gepflegt und entwickelt werden. Sie entfalten eine Wirkungsmacht, die weit über dieses Milieu hinausreicht.

So kommt es zu Bonmots der Art, dass die NS-Diktatur »Leichenberge«, die SED-Diktatur indes nur »Aktenberge« (Egon Bahr) hinterlassen habe. Solche Reduktionen befördern die Schwierigkeiten, die nicht nur junge Menschen haben, die SED-Diktatur zu bewerten. Ihnen sollte nicht dadurch begegnet werden, dass vor allem die Gemeinsamkeiten mit der NS-Diktatur beschworen werden. Diese sind in einigen Bereichen offenkundig und bieten dort sowohl für die Forschung als auch für die historisch-politische Bildung Potenzial. Mit einem weitaus größeren Erkenntnisgewinn wäre die Verortung der SED-Diktatur in der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert verbunden. Doch diese Geschichte wird in der historischen Forschung sowie in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit stiefmütterlich behandelt. Auch heute noch wird die Geschichte des Kommunismus nicht selten mit bewussten oder unbewussten politischen Zielstellungen thematisiert. Auf der einen Seite zur Delegitimierung dieser Bewegung und auf der anderen Seite zur eigenen historischen Legitimation. Es ist bemerkenswert, dass derzeit die meisten Forschungen zur Geschichte etwa der KPD oder ihrer Protagonisten von Autoren verfasst werden, die im weitesten Sinne dem Umfeld der Linkspartei zuzuordnen sind. Einen besonderen Stellenwert haben dabei Forschungen zu Protagonisten der Bewegung, die in Konflikt zur Parteilinie geraten waren oder dritte Wege beschreiten wollten. Hier zeichnet sich eine neue Perspektive ab, die sich vom Stalinismus abgrenzt und nach den »guten Anfängen« im Kommunismus sucht. In der Mitte der Forschungslandschaft werden diese Themen – nach einem kurzen Boom in den 1990er Jahren – kaum noch aufgegriffen.

Im 25. Jahr der deutschen Einheit ist es an der Zeit, die SED-Diktatur unter einer doppelten Perspektive zu betrachten: für die Zeit nach 1945 als Teil der deutschen und europäischen Teilungsgeschichte sowie als Teil der Kommunismusgeschichte. Eine solche Erweiterung der Perspektive wird den Blick nicht nur auf das gesamte 20. Jahrhundert, sondern auch über die Grenzen der SBZ/DDR hinaus lenken. Wer den Aufbau und den Charakter der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland begreifen will, darf erstens das Jahr 1945 nicht als Zäsur behandeln, an der Forschungsinteressen enden oder beginnen. Die SED-Diktatur war von Menschen aufgebaut worden, die in der KPD Weimars, im Widerstand, in NS-Zuchthäusern und KZs oder als Emigranten von den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion geprägt worden waren. Diese Säuberungen hatten auch jene Besatzungsoffiziere verinnerlicht, die nach 1945 die Errichtung der kommunistischen Diktaturen sowjetischen Typs in ganz Ostmitteleuropa angeleitet hatten. Schon in den 1960er Jahren hat Hermann Weber die Betrachtung der KPD und der kommunistischen Bewegung insgesamt in zwei Phasen unterteilt: die KPD ohne staatliche Macht und die KPD als Staatspartei. So gilt es zweitens, die DDR als Teil dieser Diktaturen zu verstehen, deren politische und soziale Geschichte in Deutschland weithin unbekannt ist. Eine vergleichende Perspektive auf die DDR und Ostmitteleuropa erfordert somit zunächst einmal die Beschäftigung etwa mit der Geschichte Volkspolens oder der ČSSR, was aus Gründen der guten Nachbarschaft schon längst hätte passieren müssen. Schließlich muss die Geschichte der SED-Diktatur drittens mehr denn je mit der der Bundesrepublik in Beziehung gesetzt werden. Eine solche gesamtdeutsche Perspektive würde aufzeigen, wie die kommunistische Diktatur der DDR und die demokratische Bundesrepublik auf die sich wandelnden politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegsjahrzehnte reagierten. Diese Herausforderungen waren trotz Mauer und Stacheldraht vielfach dieselben. Auf diese Weise könnten die Unterschiede zwischen einem demokratischen und einem diktatorischen System weitaus deutlicher herausgearbeitet werden, als wenn die SED-Diktatur weiterhin allein Gegenstand der Betrachtung bliebe.

Der Bund und die Länder, aber ebenso die Wissenschaft sowie die Institutionen der historisch-politischen Bildung sind aufgefordert, einen solchen Perspektivwechsel einzuleiten und die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Zeit drängt. 2017 wird sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal jähren. Es ist absehbar, dass dieses Ereignis viel Aufmerksamkeit finden wird. Es wäre eine vertane Chance, wenn dieser Jahrestag den Blick vor allem auf das Ereignis selbst und nicht auf dessen Folgen lenken würde. Und es wäre höchst bedauerlich, wenn 2017 vor allem zu postkommunistischen Vergangenheitskonstruktionen einerseits sowie einem neuen politischen Lagerkampf andererseits führen würde. Das Jahr 2017 sollte Anstoß dafür sein, mit der Kommunismusgeschichte endlich ein zentrales, bislang stark vernachlässigtes Kapitel der deutschen, europäischen und internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen; mit langem Atem und über 2017 hinaus. 

Inhalt – JHK 2015

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