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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

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JHK 2012

Der Einfluss grundlegenden ökonomischen Wandels auf ethnische Auseinandersetzungen in multinationalen Staaten. Die Beispiele Jugoslawien und Sowjetunion

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 381-388 | Aufbau Verlag

Autor/in: Jörg Roesler

Die Beispiele Jugoslawien und Sowjetunion

Marie-Janine Calic/Dietmar Neutatz/Julia Obertreis (Hg.): The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s, Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 231 S., ISBN 978-3-525-31042-7

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, hg. von Ulrich Herbert), München: C. H. Beck Verlag 2010, 415 S., ISBN 978-3-406-60645-8

Olaf Ihlau/Walter Mayr: Minenfeld Balkan. Der unruhige Hinterhof Europas, München: Siedler Verlag 2009, 304 S., ISBN 978-3-88680-916-5

Buchpublikationen über den Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in den osteuropäischen Staaten sind zahlreich. Das gilt auch, vielleicht sogar in besonderem Maße für die Sowjetunion1 und Jugoslawien2, wo das Ende des Realsozialismus vom Zerfall des Staatswesens begleitet war. In beiden Fällen trat an die Stelle des Vielvölkerstaates eine Anzahl ethnisch definierter Länder in den Grenzen der in den beiden multiethnischen Föderationen bereits zuvor existierenden regionalen Republiken.3

In Teilen Jugoslawiens und in der sowjetischen Kaukasusregion mündeten die heftigen Auseinandersetzungen in einen blutigen Bürgerkrieg, auf dem Gebiet des Balkanstaats und der Sowjetunion waren sie in jedem Fall von Flucht bzw. Vertreibung des zur nationalen Minderheit gewordenen »Hauptvolkes« der Bundesstaaten begleitet. Diese brutalen Entwicklungen haben manche Autoren, die über das Ende der beiden Vielvölkerstaaten schrieben, veranlasst, ja verführt, die ethnischen Konflikte zur Leitlinie der historischen Darstellung dieser Staaten zu machen. Unterschieden wird dann zwischen Phasen, in denen es – sei es kraft Überzeugung oder mittels Repression – gelang, die ethnischen Konflikte in den Hintergrund zu drängen und jene, in denen diese Konflikte deutlich zutage traten.

Dieses Konzept liegt offensichtlich dem Buch der Journalisten bzw. Sozialwissenschaftler Olaf Ihlau und Walter Mayr zugrunde, das überwiegend dem Zerfall Jugoslawiens nach 1990 gewidmet ist — der »Dekade der vier jugoslawischen Erbfolgekriege«. Es enthält aber auch historische Rückblicke bis hin zur 600 Jahre zurückliegenden Schlacht auf dem Amselfeld, als die »Geburtsstunde des großserbischen Volksmythos« schlug. Vor diesem historischen Hintergrund, geschürt und missbraucht durch den »großen Puppenspieler des Balkan«, Slobodan Milošević, werden auch der Zerfall der jugoslawischen Föderation und die Bürgerkriege der Neunzigerjahre erklärt.

Als Gegenfigur zu Milošević fungiert bei Ihlau und Mayr Jugoslawiens langjähriger Präsident Josep Broz Tito. Er, der »kommunistische Berufsrevolutionär«, der »einen Personenkult mit monarchischen Ausschweifungen« pflegte, wird als charismatischer Führer geschildert, der das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit dafür einsetzte, die ethnischen Konflikte im Vielvölkerstaat unter Kontrolle zu halten. »Brüderlichkeit und Einheit«, heißt es bei Ihlau und Mayr, erhob Tito zur Staatsparole. Wer dagegen verstieß, konnte durch Ämterentzug, Positionsverlust, aber auch mit Gefängnis hart bestraft werden. Titos auf die multiethnische Balance ausgerichtete Innenpolitik sei darüber hinaus »durchaus machiavellistisch« gewesen. Der Staatspräsident auf Lebenszeit habe sich nicht gescheut, die im Bund vereinigten sechs gleichberechtigten Teilrepubliken und zwei autonomen Provinzen gegeneinander auszuspielen. Ihlau und Mayr zitieren in diesem Zusammenhang eine kroatische Politikerin mit folgenden Worten: »Die Mazedonier ermutigte er in ihrer Abwehr gegen die Serben, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Die Bosnier unterstützte er wiederum gegen die Mazedonier. Den Slowenen und auch den Bosniern setzte er den Floh ins Ohr, dass sich die Kroaten und Serben vielleicht auf Kosten der Slowenen verständigen könnten. Den Bosniern schmeichelte er mit der These, sie seien der wichtigste Gleichgewichtsfaktor in Jugoslawien.« (S. 37) Vor allem aber, so die Bewertung Ihlaus und Mayrs, sei es Tito gelungen, die hegemonialen Ansprüche der Serben zu kontrollieren. Tito starb 1980. Sein Tod wurde von einem Großteil der jugoslawischen Bevölkerung beklagt. Titos Erben, »politische Pygmäen«, hätten aber in den Achtzigerjahren »die zentrifugalen Kräfte, die in der Geschichte verkapselten Furien des ethnischen Hasses« nicht länger bändigen können, so die beiden Autoren.

Zu einer deutlich anderen Einschätzung der Ursachen von Zusammenhalt und Verfall der jugoslawischen Föderation als Ihlau und Mayr gelangt Marie-Janine Calic, Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München in ihrer Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, die sie mit der Neuordnung des Balkans auf Bismarcks »Berliner Kongress« 1878 beginnen lässt. Der Band schildert im ersten Teil die Entwicklung des Landes bis zur Bildung des jugoslawischen Staates 1918 und in weiteren fünf Abschnitten das Königreich bis zu seiner Zerstörung durch die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, den Partisanenkrieg und das sozialistische Jugoslawien von seiner Gründung bis zum Tode Titos, sowie die Zeit nach Tito, den Zerfall der Föderation und den Nachfolgekrieg. Das Buch, die erste in Deutschland veröffentlichte Gesamtdarstellung Jugoslawiens seit der Auflösung der Föderation,4 ist auf der Grundlage sorgfältiger Recherche entstanden, die bereits eine frühere Publikation der Autorin – zur Geschichte Serbiens im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auszeichnete.5 Hervorzuheben ist für dieses Buch von Marie-Janine Calic wie auch für die von ihr wesentlich mitgeprägte Publikation zur Entwicklung der Sowjetunion und Jugoslawiens in den Siebzigerjahren, auf die später ausführlicher eingegangen werden soll, die außerordentliche Fähigkeit der Autorin, Politik-, Ökonomie- sowie Sozial- und Kulturgeschichte überzeugend miteinander zu verbinden.

Titos Tod ist bei Calic nur ein Ereignis unter vielen in der Anfang der Achtzigerjahre einsetzenden Staats- und Gesellschaftskrise Jugoslawiens, die zunächst vor allem auf ökonomischem Gebiet spürbar wurde. Die weltweite Wirtschaftskrise 1981/82 verschärfte den Verdrängungswettbewerb auf den westlichen Märkten, der bereits nach der ersten Nachkriegskrise (1974/75) eingesetzt hatte. Hinsichtlich Qualität, Service und Marketing erwiesen sich jugoslawische Produkte immer weniger als wettbewerbsfähig. Ausbleibende Deviseneinnahmen konnten seit Ausbruch der internationalen Schuldenkrise 1981 auch nicht mehr durch eine Kreditaufnahme bei westlichen Banken ausgeglichen werden. Die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit hätte die Umstellung der Wirtschaft auf Sparten wie Elektronik oder Telekommunikation erfordert. Dazu wäre gleichzeitig die Konzentration der knappen Investitionsmittel in der Hand des Bundes notwendig gewesen. Reformvorschläge zur Stärkung der Macht der serbisch dominierten jugoslawischen Bundesregierung lehnten Kroatien und Slowenien jedoch ab. Sie kultivierten »eine Art kollektive[n] Wohlstandsegoismus, der keine Rücksicht mehr auf die Folgen für den Gesamtstaat nahm« (277). Diese auf die eigene Ethnie gerichtete Interessenpolitik entzog Jugoslawien im Verlauf der Achtzigerjahre den Rest seiner Steuerungsfähigkeit. »Alle Arten von Konflikten wurden in genuin ethno-politische Gegensätze uminterpretiert.« (278) Nicht nur ökonomisch, auch politisch und kulturell kapselten sich die jugoslawischen Teilrepubliken immer mehr voneinander ab. Desintegration und Staatsverfall standen 1989/91 am Ende dieser Entwicklung. Stützt man sich auf Calics Ursachenanalyse für Jugoslawiens Verfall, dann wäre die geschilderte Negativ-
entwicklung auch bei einem Weiterleben Titos bzw. durch einen charismatischen Nachfolger nicht aufzuhalten gewesen.6

Die unterschiedliche Darstellung der Ursachen der jugoslawischen Gesellschaftskatastrophe bei Ihlau/Mayr auf der einen und bei Calic auf der anderen Seite ist zwei Momenten geschuldet. Erstens ist eine deutlich unterschiedliche Beurteilung der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte zu spüren, aber zweitens auch eine beträchtliche Differenz in der Beurteilung des Einflusses der sich wandelnden materiellen Rahmenbedingungen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. »Wirtschaftliche und soziale Verwerfungen« werden von Ihlau und Mayr für das Jugoslawien der Achtzigerjahre zwar konstatiert, sie wären – bei anderen Qualitäten der Führer des Balkanlandes – aber zu bewältigen gewesen.

In Minenfeld Balkan einerseits und in der Geschichte Jugoslawiens andererseits manifestieren sich zudem unterschiedliche Auffassungen in der Beurteilung von Nationalgeschichte. Für Ihlau/Mayr ist »der Balkan«, als dessen Kernland sie Jugoslawien betrachten, eine »über Jahrhunderte von ethnischer und religiöser Zwietracht heimgesuchte Region« (9), der »unruhige Hinterhof Europas«, ein »Minenfeld« seit eh und je. In den blutigen Auseinandersetzungen der Neunzigerjahre habe sich diese Grundstruktur, typisch für den Balkan von Anbeginn an, wieder einmal offenbart.7

Im Unterschied zu Ihlau/Mayr vertritt Calic die Auffassung, dass Völker, Nationen und Kulturen in ihrer Art und in ihren Beziehungen zueinander nicht ein für alle Mal vorgeprägt, »sondern selbst geschichtlichem Werden und Wandel unterworfen« (13) sind. Vor allem »wer, warum, unter welchen Umständen und wie ethnische Identität und Diversität zu einem Konfliktgegenstand machte«, interessiert die Autorin in ihrem Buch zur Geschichte Jugoslawiens. Nicht ethnokulturelle Gegensätze und die dem Balkan (im Unterschied etwa zu Mitteleuropa) nachgesagten zivilisatorischen Inkompatibilitäten rückt Calic in den Vordergrund, sondern die Frage, wie die großen sozialen, wirtschaftlichen und intellektuellen Veränderungen, die ganz Europa an der Wende zum 20. Jahrhundert erfassten und den Übergang zur modernen Industrie- und Massengesellschaft markierten, sich auf das Balkanland auswirkten, wie sie von der jugoslawischen Förderation verarbeitet wurden.

Wenn man wie Calic nicht nationale bzw. regionale Besonderheiten, sondern den weltweit nachvollziehbaren gesellschaftlichen Strukturwandel zum Ausgangspunkt der Analyse der Nationalgeschichte macht, dann ist vom methodischen Konzept her auch der Weg für Vergleiche zwischen Ländern mit unterschiedlicher Kultur und Tradition geebnet. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Marie-Janine Calic Herausgeberin und Mitautorin eines explizit dem – überaus selten vorgenommenen –Ländervergleich zwischen Jugoslawien und der UdSSR gewidmeten Buches ist, das die »Krise der Moderne« in ihren Auswirkungen auf beide Länder untersucht: The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. Die Autoren dieses Bandes fragen nach, ob und wie sich ein Balkanland und ein Nicht-Balkanland in den Siebzigerjahren auf den sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vollziehenden Übergang zur Postmoderne vorbereiteten. Bekannt ist, dass beide Staaten an dieser Aufgabe – endgültig zu Beginn der Neunzigerjahre – gescheitert sind. Bekannt ist auch, dass mangelnde Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit, sich verstärkende Immobilität auf den Gebieten Wirtschaft, Soziales, Politik und Kultur in beiden Ländern in den Achtzigerjahren bereits von außen erkennbar waren. Historiker haben diese Entwicklungen bisher selten beschrieben.8 Ein gänzlich unbeschriebenes Blatt ist jedoch noch die Periode der Siebzigerjahre, als Wirtschaft und Wohlstand noch zunahmen und Anzeichen der Stagnation weder in beiden Ländern selbst diskutiert noch von ausländischen Beobachtern wahrgenommen wurden.

Ungeachtet dessen haben sich die Autoren des Bandes, allesamt Ost- und Südosteuropahistoriker der Universitäten Freiburg bzw. München, die Frage gestellt, ob das an der Oberfläche wahrgenommene Bild von Wirtschaft und Gesellschaft der Sowjetunion und Jugoslawiens während der Siebzigerjahre stimmig ist. Ausgangspunkt für die Überlegungen der Herausgeber Calic, Neutatz und Obertreis waren ursprünglich die gesellschaftlichen Entwicklungen in Westeuropa. Ab Mitte der Siebzigerjahre vollzogen sich dort jene volkswirtschaftlichen und sozialen Umbrüche, die Reaktionen auf das Ende der traditionellen Massenfertigungsindustrien waren. Konnten sich die Länder des Realsozialismus diesen Veränderungen entziehen, weil sie Planwirtschaften waren, weil sie hauptsächlich über eine separate Handelsunion, den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – Jugoslawien war assoziiertes Mitglied –, untereinander verbunden waren? Manches sprach dafür, die gerade in den Siebzigerjahren zunehmenden Verflechtungen – nicht nur Jugoslawiens, sondern auch der Sowjetunion – mit den westlichen Märkten dagegen.

Da sie ihren Blick durch das Wissen um die gesellschaftlichen Umbrüche im Westen geschärft haben, sind Calic, Neutatz und Obertreis im von ihnen herausgegebenen Band in der Lage, bezogen auf die Sowjetunion und Jugoslawien, eine Antwort auf eine Frage zu geben, die sie nachdrücklich aufgeworfen haben: Gehörte die Zeit zwischen 1970 und 1980 noch zu den »goldenen Jahren« des Realsozialismus, oder wies dieses Jahrzehnt bereits Merkmale jenes aus der Nichtbewältigung der Ansprüche einer sich globalisierenden Welt rührenden Verfalls auf, der in den osteuropäischen Ländern in den Achtzigerjahren offensichtlich wurde und Anfang der Neunzigerjahre so katastrophal endete?

Im Falle Jugoslawiens gelangt Marie-Janine Calic zu der Auffassung, dass die Grundlagen für den Niedergang des Bundes nach 1980 bereits in den Siebzigerjahren gelegt wurden, obwohl die Föderation in diesem Jahrzehnt »die größte Investitionswelle aller Zeiten« erlebte und die Wirtschaft Jugoslawiens zwischen 1970 und 1980 – gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – schneller wuchs als die ihrer Nachbarn Österreich und Italien. Die umfangreichen Investitionen gaukelten eine Prosperität vor, die zu einem beträchtlichen Teil nicht mehr das Ergebnis eigener Wirtschaftsleistung war. Bereits in den Siebzigerjahren zeigte sich, dass die jugoslawische Wirtschaft nicht in der Lage war, die globalen Herausforderungen der säkularen Transformation zu meistern, d. h. den Strukturwandel in Richtung Informations- und Kommunikationsgesellschaft nachzuvollziehen. Absatzverluste auf den westlichen Märkten waren die Folge, Importe konnten nicht mehr durch Exporte gedeckt werden. Wenn daneben noch massenhaft Investitionsmittel für neue Straßen und moderne Wohnviertel aufgebracht wurden, dann nur noch auf Pump. Zwischen 1973 und 1981 erhöhten sich die Verbindlichkeiten Jugoslawiens gegenüber westlichen Banken von knapp fünf auf 21 Milliarden US-Dollar. Doch solange die Kredite flossen, konnten Krisenanzeichen wie das wachsende Handelsbilanzdefizit und die steigende Inflationsrate noch ignoriert werden. Geflissentlich verheimlicht wurde seitens der Herrschenden, dass Jugoslawien immer stärker in jene Schuldenfalle geriet, die dann Anfang der Achtzigerjahre zuschnappen sollte.

Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wies, das ergibt sich aus der auf die Fragestellung »Krise oder Stabilität?« zugespitzten Analyse von Stephan Merl,9 in den Siebzigerjahren ökonomische Strukturen auf, die sie von der jugoslawischen Föderation in mancherlei Hinsicht deutlich unterschieden. Das betraf natürlich in erster Linie die dort noch ausgeprägte zentrale Kommandowirtschaft. Hinzu kommt: Die Sowjetunion war unvergleichlich reicher an Rohstoffen, die sie auch in Zeiten harter Konkurrenz bei Erzeugnissen der verarbeitenden Industrie auf dem Weltmarkt absetzen konnte. Als Erdölexporteur profitierte sie von den nach dem Preisschock vom Herbst 1973 sprunghaft gestiegenen Weltmarktpreisen. Doch ähnlich wie die Jugoslawien gewährten westlichen Kredite wiegten die sowjetischen Erdölmilliarden die Regierenden fälschlicherweise in Sicherheit und ließ sie Reformen, die in den Sechzigerjahren begonnen worden waren, aber nicht zum erhofften Erfolg geführt hatten, ad acta legen.

Auch in der Sowjetunion mehrten sich somit in den Siebzigerjahren die Zeichen, dass das Land den Übergang zur postindustriellen Gesellschaft nicht bewältigen würde: Die Ergebnisse der Forschung und Entwicklung im Bereich der Mikroelektronik wurden nicht über den militärisch-industriellen Bereich hinaus wirksam. Die im Rüstungssektor getätigten ungeheuren Aufwendungen – von Merl in seinem Aufsatz m. E. zu wenig beachtet – konnten dadurch nicht produktivitätswirksam werden. Der Energieverbrauch blieb verschwenderisch. Moderne Konsumgüter mussten importiert werden. Mit dem Ende der klassischen Industriemoderne wurde somit auch in der Sowjetunion das tragende Fundament des wirtschaftlichen Aufschwungs der Dreißiger- bzw. Fünfziger- bis Sechzigerjahre untergraben. Aktuelle Befragungen über die Versorgung der Bevölkerung in den Siebzigerjahren ergaben, dass 54 Prozent der Bürger meinten, das Angebot von Konsumgütern habe sich verschlechtert. Merl führt diese Einschätzung allerdings eher auf angesichts der Wirtschaftslage nicht mehr einhaltbare Versprechen der Regierung zur weiteren Verbesserung des Lebensniveaus als auf eine reale Verschlechterung der Versorgungslage zurück. Genau dazu sollte es dann allerdings in den Achtzigerjahren kommen.

Die Aussagen der drei Publikationen über die Gesellschaftsentwicklung Jugoslawiens und der Sowjetunion während der Siebzigerjahre regen den Leser auch zu Reflexionen über die Entwicklung der DDR in jenem Jahrzehnt an. Allerdings in unterschiedlichem Maße: Die Art der Darstellung von Ihlau/Mayr, die den Balkan innerhalb Europas als historisch-politische Sonderregion betrachten, erlaubt eigentlich nur Vergleiche hinsichtlich der »Kunst« der Staatsführung. Man kann nur konstatieren: Erich Honecker verfügte nicht über das Charisma von Tito. Negative Auswirkungen hat dies für die Stabilität der DDR in den Siebzigerjahren aber offensichtlich nicht gehabt, was andererseits Zweifel an der Aussage der beiden Autoren weckt, es sei in erster Linie auf staatsmännische Politik von Tito zurückzuführen gewesen, dass sich die jugoslawische Föderation in den Siebzigerjahren noch verhältnismäßig gut schlug, nach seinem Tode dann aber umso schlechter.

Nach der Lektüre von Calic gewinnt man jedoch eher den Eindruck, es sei das »geborgte« Wirtschafts- und Wohlstandswachstum gewesen, das die jugoslawische Gesellschaft während der Siebzigerjahre im Großen und Ganzen noch zufrieden mit der Einparteienherrschaft sein ließ. Vergleichbares galt sicher auch für die sich nach 1970 gegenüber dem Westen ständig stärker verschuldende DDR. Die für den Leser erkennbaren Ähnlichkeiten in der Entwicklung Jugoslawiens und der DDR während der Siebzigerjahre sind nicht auf die ausufernde Verschuldung beider Länder beschränkt, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen erkennbar. »Mit dem Mut der Verzweiflung und einer gehörigen Portion Ignoranz«, schreibt Calic in dem Band Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert im Rückblick auf die jugoslawische Gesellschaft in den Siebzigerjahren, »hielt das System verbissen an seinen nun ganz unrealistischen Wohlstandsversprechen fest. Es finanzierte öffentliche Leistungen auf Pump, verweigerte sich grundlegenden Reformen und agierte dergestalt als Garant überkommener industrieller Strukturen.« (263) Welcher Kenner der DDR-Geschichte denkt bei diesem Satz nicht an Honeckers »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« und deren desaströse Langzeitfolgen! Offensichtlich handelte es sich bei dessen populistischer risikoreicher Politik weniger um eine spezifisch ostdeutsche Strategie als um den generell im »sozialistischen Lager« – auch in der Sowjetunion, wie die Analyse von Merl zeigt – unternommenen Versuch, im anbrechenden Zeitalter des strukturellen Umbruchs die Bevölkerung mit leistungsunabhängigen materiellen Vergünstigungen bei Laune zu halten. Nur in ihrem Fall nicht durch Schulden, sondern durch Erdölexporte finanziert. Dass die Betonung der Sozialpolitik, von der Subventionspolitik bis zum Wohnungsbau, in beiden Ländern vor allem auf Zufriedenstellung durch Befriedigung wachsender materieller Bedürfnisse zielte und es weniger um Ersatzleistungen für vorenthaltene demokratische Mitbestimmung ging, lässt sich anhand der jugoslawischen Entwicklung zumindest vermuten. Denn Aleksandr Jakir und Predrag Marković weisen in ihren Beiträgen im Band The Crisis of Socialist Modernity nach,10 dass die Betonung von Dezentralisierung in der jugoslawischen Verfassung von 1974, die kulturelle Liberalisierung und der weitere Ausbau basisdemokratischer Mitbestimmung in der Wirtschaft in den Siebzigerjahren anders als die zur Steigerung des Wohlstands ergriffenen Maßnahmen nicht zur Stabilisierung von Staat und Gesellschaft beigetragen haben. »Die Vorstellung, dem jugoslawischen Einparteienstaat mit Verhandlungsökonomie, Selbstverwaltungschaos und Delegiertenkarussell mehr Demokratie einzuhauchen, erwies sich als illusorisch« (259), so der Kommentar von Marie-Janine Calic hinsichtlich dieser Politik in Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert.

Was hier mit einigen Überlegungen nur angedeutet werden soll, gilt generell für die beiden Publikationen, an denen Marie-Janine Calic beteiligt war: Sie regen an zum Vergleichen und Nachdenken auch über die Entwicklung in anderen realsozialistischen Ländern. Dass dies in erfreulichem Maße möglich wird, ist in erster Linie dem methodischen Ausgangspunkt der Autoren geschuldet, der die nationalstaatliche Entwicklung stets im Rahmen sich global vollziehender gesellschaftlicher, vor allem ökonomischer Veränderungen betrachtet. Das heißt: Diese Bücher sind für den Leser von Wert auch über ihren unmittelbaren (Länder-) Bezug hinaus, während die konzeptionell vom Balkan als einer Sonderregion innerhalb Europas ausgehende Publikation von Ihlau/Mayr »nur« der Vervollständigung des Wissens um die jüngste Geschichte Jugoslawiens, genauer noch, der Entwicklung seiner früheren Teil- und heutigen Nachfolgestaaten, dienen kann.


1 Siehe u. a. Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009; Jan Hallenberg: The Demise of the Soviet Union. Analysing the collapse of a state, Aldeshot 2002.

2 Siehe u. a. Rajko Djuric/Bertold Bengsch: Der Zerfall Jugoslawiens, Berlin 1992; Wolfgang Libal: Das Ende Jugoslawiens. Chronik einer Selbstzerstörung, Wien 1991; Daniel Eisermann: Der lange Weg nach Dayton. Die westliche Politik und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien 1991–1995, Baden-Baden 2000; Susan Woodward: Balkan tragedy. Chaos and dissolution after the Cold War, Washington 1995.

3 Siehe z. B. Noel Malcolm: Geschichte Bosniens, Frankfurt/M. 1996; Holm Sundhausen: Geschichte Serbiens, 19.–21. Jahrhundert, Wien 2007; Peter Stih/Vasko Simoniti/Peter Vodopivec: Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz 2008.

4 Seit diesem Jahr (2011) ist eine weitere Gesamtdarstellung in deutscher Sprache erhältlich: Sabrina 
P. Ramet: Die drei Jugoslawien, München 2011. Es handelt sich um die deutsche Ausgabe einer 2006 in Washington D. C. erschienenen Ausgabe.

5 Marie-Janine Calic: Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941. Der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung, München 1994.

6 Jörn Happel argumentiert in dem Band The Crisis of Socialist Modernity ganz ähnlich für die Sowjetunion. Am Anfang des Zerfalls standen nicht ethnische Rivalitäten, sondern eine zunehmende ökonomische Stagnation und damit einhergehende Wohlstandsverluste. Jörn Happel: In the Streets of Kazan – Nationality Problems in the Soviet Union During the 1970s, in: Marie-Janine Calic/Dietmar Neutatz/Julia Obertreis (Hg.): The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s, Göttingen 2011, S. 156–183.

7 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Erklärungskonzept relativ häufig anzutreffen, aber auch – gerade bei Wissenschaftlern aus den Balkanländern – auf Widerstand gestoßen ist. Siehe Maria Nikolaeva Todorova: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999.

8 Siehe Sabrina P. Ramet: The Balkan babel. The disintegration of Yugoslavia from the death of Tito to ethnic war, Boulder 1996.

9 Stephan Merl: The Soviet Economy in the 1970s – Reflections on the Relationship Between Socialist Modernity, Crisis and the Administrative Command Economy, in: Calic/Neutatz/Obertreis (Hg.): 
The Crisis (Anm. 6), S. 28–65.

10 Predrag Marković: Where Have All the Flowers Gone? – Yugoslav Culture in the 1970s Between Liberalisation/Westernisation and Dogmatisation; Aleksandar Jakir: The Economy Trigger – The Status 
of ›Nationality‹ in a ›Self-Managed‹ Economy During the 1960s and 1970s in Socialist Yugoslavia, in: 
Calic/Neutatz/Obertreis (Hg.): The Crisis (Anm. 6), S. 118–133 bzw. S. 134–155.

Inhalt – JHK 2012

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