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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2019

Der Leninismus und die nationale Frage in Afrika

Kulturtransfer in der kolonialen und postkolonialen Welt

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 209-222 | Metropol Verlag

Autor/in: Constantin Katsakioris

1. Einführung

 Die Anziehungskraft des Marxismus und Kommunismus in Afrika ist ein ebenso wichtiges und unübersehbares wie kompliziertes Kapitel der zeitgenössischen transnationalen Geschichte. Es ist wichtig, weil während des Kalten Krieges Intellektuelle, Aktivisten, antikoloniale Bewegungen oder herrschende Regime, wie in Äthiopien und Mosambik, den wissenschaftlichen Kommunismus nachzuahmen versuchten, während verschiedene Länder, von Algerien über Tansania bis Burkina Faso, obwohl inspiriert von Leninismus, Marxismus und den Beispielen der Sowjetunion, Chinas oder Kubas, dennoch versuchten, ihre eigenen afrikanischen Wege zum Sozialismus zu beschreiten. Es ist ein unübersehbares Kapitel, weil breitere sozialistische Visionen einerseits und der Marxismus-Leninismus als wissenschaftliche Theorie und umfassende Strategie nationaler Souveränität und Modernisierung andererseits in ganz Afrika Eingang fanden. So konnte man nur wenige Regierungen und Parteien finden, die sich nicht in der einen oder anderen ideologischen Version als sozialistisch bezeichneten und die nicht versuchten, eine von der sozialistischen Welt inspirierte Sozial-, Kultur-, Wirtschafts- oder Bildungspolitik durchzuführen. Diese intensiven kulturellen Transfers zwischen Afrika und der sozialistischen Welt zwingen die Historiker, die soft power der sozialistischen Länder in der kolonialen und postkolonialen Welt neu zu bewerten. Gleichzeitig nötigen sie sie dazu, die afrikanischen Befürworter des Marxismus, des Kommunismus oder des afrikanischen Sozialismus und ihren politischen und intellektuellen Kontext in den Vordergrund zu rücken, um die Komplexität dieser Transfers zu erfassen und ihre Begründung vom Standpunkt der Afrikaner aus zu hinterfragen.

Während der Ära des Kalten Krieges untersuchten Politikwissenschaftler die Anziehungskraft des Marxismus und Kommunismus in Afrika, oft aber nur als Teil ihrer Bemühungen, die Implikationen für den Westen abzuschätzen und Vorschläge zu entwickeln, wie dieser Anziehungskraft entgegengewirkt und deren Konsequenzen umgekehrt werden könnten. Einerseits konzentrierten sie sich auf die von den sozialistischen Ländern entwickelte Politik einer Einflussnahme auf Afrika.[1] Andererseits befassten sie sich hauptsächlich mit afrikanischen Staatsoberhäuptern und Regierungsparteien, die sich dem Sozialismus oder Marxismus-Leninismus anschlossen, und versuchten, deren Motive zu verstehen. Einem großen Analysestrang zufolge waren die Machthaber der Dritten Welt in erster Linie daran interessiert, die Techniken der Regierung und des Social Engineering aus den sozialistischen Ländern zu importieren – so die Avantgardepartei und ihre Massenorganisationen –, um ihre autoritäre Herrschaft zu konsolidieren, die Opposition zu beseitigen, die Bevölkerung zu disziplinieren und den postkolonialen Nationalstaat aufzubauen.[2] In ähnlicher Weise bestritten die Forscher die Existenz genuiner sozialistischer Überzeugungen unter mehreren selbsterklärten afrikanischen Sozialisten in Mali, Guinea Conakry, Benin oder Sambia und taten ihre Regime als »Wegweisersozialismus« ab, dessen Ziel es war, nationale Ressourcen zu monopolisieren sowie ausländische Hilfe aus dem Westen und Osten zu erhalten.[3] 1992 schrieb Chris Allen »Die kurze und traurige Geschichte des Sozialismus in Benin«, dem Land, dessen Herrscher, Lieutenant Mathieu Kérékou, 1974 den Marxismus-Leninismus zur Staatsideologie erklärt hatte, um »Strich drunter!« zu sagen.[4] Die tiefe Wirtschaftskrise der sozialistischen Länder in den 1980er-Jahren, der Zusammenbruch des Ostblocks und der UdSSR und der Triumph des Neoliberalismus von Ägypten bis nach Südafrika waren Bestätigung für jene, die den Sozialismus aus dem einen oder anderen Grund ablehnten und das sozialistische Kapitel in der afrikanischen Geschichte als abgeschlossen ansahen.

Doch seit den 2000er-Jahren, als der nach dem Ende des Kalten Krieges vorherrschende Triumphalismus ebenfalls verblichen war, begann eine neue Forschergeneration die Ära der sozialistischen Aspirationen und Experimente produktiv zu überdenken. Mithilfe von Archiven, Quellenpublikationen und Interviews haben Historiker und Anthropologen neues Licht auf die Beziehungen zwischen Afrika und den sozialistischen Ländern geworfen, die ideologischen, politischen und bewaffneten Kämpfe auf dem Kontinent sowie die Entwicklungsprojekte und ihre Auswirkungen untersucht. Während die meisten Autoren der Cambridge History of the Cold War[5] die Zentralität der Ideologie betonen, verweisen Wissenschaftler, die die Perspektive der Dritten Welt einnehmen, auf die Akteure, auf nationale Visionen und lokale Zwänge und konzentrieren sich auf verschiedene Gruppen von Jugendlichen und Guerillas, Künstler und, seltener, Gewerkschafter.[6]

Angesichts dieser älteren und gegenwärtigen Debatten soll dieser Beitrag dieses wichtige Kapitel der Geschichte, Afrikas Auseinandersetzung mit dem Marxismus und Leninismus, einer Überprüfung unterziehen. Mir geht es dabei besonders um die Auswirkungen von Lenins Zugang zur nationalen Frage auf die Attraktivität des sowjetischen föderalen Modells für Afrika.[7] Ich argumentiere, dass das, was man gewöhnlich den leninistischen Ansatz oder die leninistische Lösung der nationalen Frage nannte, und was in Wirklichkeit die von Lenin und Stalin nach 1917 entwickelte und am Beispiel der UdSSR verkörperte Politik war, eine erhebliche Anziehungskraft auf mehrere krisengeschüttelte multiethnische Länder ausübte. Neben einem breiten Überblick plädiere ich mit diesem Beitrag auch für einen theoretischen und methodologischen Ansatz, der für die Analyse dieses historischen Kapitels besonders geeignet erscheint: der Kulturtransferansatz, den die Historiker Michel Espagne und Matthias Middell vorgeschlagen haben und der in europäischen und eurasischen Fallstudien breit, wenn auch eher restriktiv angewendet wird.[8] Afrikas Auseinandersetzung mit dem Marxismus und Leninismus, so argumentiere ich, ist ein historisches Kapitel par excellence, das die von Middell vorgegebenen Kriterien erfüllt, um unter dem Blickwinkel von Kulturtransfers untersucht zu werden – so das Handeln und die lokal verankerten Überlegungen der Kulturvermittler –, während es gleichzeitig Espagnes Insistieren auf den intrinsischen Wert jeglicher Wiederaneignung bestätigt.

 

2. Afrikas Auseinandersetzung mit der nationalen Frage

Die Ansichten der sowjetischen Führer und die Debatten innerhalb der Kommunistischen Internationale über die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien oder in der semidependenten Welt wurden von Wissenschaftlern gründlich untersucht. Im Hinblick auf Afrika und die afrikanische Diaspora liegt mit Hakim Adis jüngster Studie Pan-Africanism and Communism die bei Weitem detaillierteste Darstellung der Rolle der Komintern und der afrikanischen Reaktionen sowohl auf die Komintern als auch auf die internationale Politik der Sowjetunion während der Zwischenkriegszeit vor.[9] Wie der Titel zeigt und wie Adi überzeugend darlegt, sahen afrikanische und afroamerikanische Aktivisten lange Zeit keinen Widerspruch zwischen Panafrikanismus und Kommunismus. Insbesondere zwischen 1928 und 1933, als die Komintern die afrikanische Arbeiter- und nationale Befreiungsbewegung trotz aller strategischen Fehler unterstützte, bekannten sich führende Gewerkschafter wie George Padmore und Otto Huiswood zum Kommunismus, um Rassismus und Kolonialismus zu bekämpfen. Als Antwort auf den Aufstieg des Faschismus in Europa kehrte die Sowjetunion jedoch ihre Politik um, ging ein Bündnis mit Großbritannien, Frankreich und den USA ein und gab 1934 die Unterstützung der antikolonialen Bewegungen auf, die gegen den westlichen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit kämpften. Danach wurden afrikanische Kommunisten bis Mitte der 1950er-Jahre angewiesen, mit ihren europäischen Genossen und unter der Schirmherrschaft der britischen und französischen kommunistischen Parteien nicht für die nationale Unabhängigkeit, sondern für die Weltrevolution zu kämpfen, von der erwartet wurde, dass sie sich nach China, Nordkorea und Vietnam und nach der Besetzung Osteuropas im industrialisierten Westen ausbreiten würde.

Frustriert von dieser Politik, brachen viele afrikanische Intellektuelle und Politiker mit dem Kommunismus oder den europäischen kommunistischen Parteien. Zwei mächtige Interventionen versinnbildlichen diesen Bruch. 1955 veröffentlichte George Padmore sein Opus Magnum unter dem Titel Pan-Africanism or Communism? The Coming Struggle for Africa, in dem er die Manipulation der Afrikaner durch europäische Kommunisten anprangert und die Westmächte warnt, wenn sie den afrikanischen Ländern keine Unabhängigkeit gewähren, dass die Afrikaner sich dem Kommunismus zuwenden könnten. Padmore hat indes die Verdienste und die Bedeutung des Kommunismus für Afrika nicht verleugnet. Bei all ihrem Paternalismus, behauptete er, hätten die Kommunisten konsequent gegen Rassismus gekämpft, während die Sowjetunion große Anstrengungen unternommen hatte, das Zarenreich in eine friedliche »Föderation« größerer und kleinerer europäischer und asiatischer Nationen zu verwandeln. Padmore hatte diese Transformation bereits in seinem 1946 erschienenen Buch How Russia Transformed Her Colonial Empire: A Challenge to the Imperialist Powers gefeiert.[10] Im selben Jahr verfasste ein weiterer Student an den Schulen der Komintern, der Ghanaer Kweku Bankole Awoonor-Renner, ein kraftvolles Pamphlet: The West African Soviet Union. Darin betrachtete er die Sowjetunion nicht nur als Modell der ökonomischen und sozialen Entwicklung, sondern vor allem als politisches Modell für die Vereinigung Westafrikas zu einem Bundesstaat und für die Sicherung der Freiheit und Koexistenz aller ethnischen und religiösen Gruppen innerhalb dieses Staates.[11] Sowohl Awoonor-Renner, der Radikale, als auch Padmore, der Visionär des Panafrikanismus, sprachen sich für Ghanas Unabhängigkeit vom Britischen Empire aus und argumentierten, dass ein föderales afrikanisches Staatswesen unmittelbar nach der Unabhängigkeit Afrikas von den europäischen Kolonialmächten entstehen sollte. Ihre Schriften waren deutlich geprägt von Lenins Überlegungen und den Thesen der frühen Komintern zur nationalen und kolonialen Frage.

Debatten über die Relevanz der »leninistischen Lösung der nationalen Frage« fanden auch im Französischen Empire statt. Im Vergleich zum Britischen Empire beeinflussten zwei Faktoren die Debatte im französischen imperialen Kontext. Zum einen die Präsenz der starken Kommunistischen Partei Frankreichs (Parti Communiste Français, PCF), die in Afrika aktiv und im französischen Mutterland machtvoll war. Durch die Tätigkeit der kommunistischen Studiengruppen in Afrika, die Ausbildung von Kadern in Frankreich oder der Sowjetunion und die Unterstützung der Kämpfe der afrikanischen Arbeiter für Rechte und höhere Löhne konnte die PCF viele Afrikaner für den Marxismus und Leninismus gewinnen. Zum anderen waren es die französische assimilationistische Ideologie und Politik, die in gewissem Maße afrikanische Visionen von Föderation oder Konföderation sowohl in afrikanischen Ländern als auch in Frankreich speisten, wie Frederick Cooper kürzlich ausführte.[12] Aufgrund dieser und anderer Faktoren spielte die Frage einer Assoziation mit Frankreich eine prominente Rolle in den französisch-afrikanischen Debatten. In diesem Punkt, so erinnert der radikale Ökonom Samir Amin, befürwortete die PCF die Transformation der Französischen Union nach dem Vorbild der Sowjetunion. Diese Idee implizierte jedoch, dass die Franzosen, so wie die Russen die Oberhand in der UdSSR hatten, ihre dominierende Rolle innerhalb der Französischen Union behalten sollten. Von dieser Position aus würden sie die arabischen und afrikanischen Völker der sozialistischen Französischen Union auf den Weg des Fortschritts führen, wie es die Sowjets dank der bolschewistischen Herrschaft für die asiatischen und kaukasischen Nationen des Sowjetreiches getan hatten.[13]

Trotz des Festhaltens der Afrikaner an der Idee der Gleichberechtigung in der Französischen Union war die Attraktivität dieses politischen Projekts bestenfalls kurzlebig. Nach 1945 schloss sich die algerische Kommunistische Partei (Parti Communiste Algérien, PCA) in Französisch-Algerien unter ihrem in Moskau ausgebildeten Generalsekretär Larbi Bouhali offiziell dieser Idee an. Algerische Mitglieder der ansonsten europäisch dominierten Partei besuchten 1950 die Sowjetunion und äußerten nach ihrer Rückkehr Bewunderung sowohl für das sozialistische Wirtschaftsmodell als auch für die sowjetische Nationalitätenpolitik. Der bedeutende kommunistische Schriftsteller Kateb Yacine veröffentlichte in der algerischen Presse sein Gedicht The Red Star sowie einen Bericht über seine Eindrücke aus der UdSSR und insbesondere aus Usbekistan, in dem er die Vorzüge des sowjetischen multinationalen Gemeinwesens hervorhob und betonte, dass die sowjetische Herrschaft beides beseitigt habe, »Rassismus und religiöse Verfolgung«.[14] Wie die kürzlich veröffentlichte Studie von Allison Drew zeigt, hat dieses Projekt unter den algerischen Parteimitgliedern jedoch wenig Beachtung gefunden. Vor dem Hintergrund der französischen Vorherrschaft und Repression wurde der algerische Nationalismus stärker. Der Ausbruch der Algerischen Revolution im November 1954 machte jede Illusion einer föderalen Lösung zunichte.[15]

Dies war jedoch nicht überall im Französischen Empire der Fall. Von 1954 bis 1956 verurteilten Abgeordnete aus den Überseegebieten, die in die französische Nationalversammlung gewählt wurden, den Aufstand der algerischen Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) und die daraus folgende revolutionäre Gewalt. Im März 1956 schlossen sich diese Abgeordneten unter dem Banner der PCF den anderen Parteien an, indem sie ein Gesetz verabschiedeten, das der französischen Regierung »besondere Befugnisse« (pouvoirs spéciaux) gab, um die FLN und die Revolution zu stürzen. Zu diesen kommunistischen Abgeordneten gehörte der bedeutende Schriftsteller und Dichter Aimé Césaire aus Martinique. In den meisten Biografien von Césaire – heute eine Ikone der Cultural und Postcolonial Studies – ist diese Episode weitgehend unbemerkt geblieben. David Alliot hat sie jedoch kürzlich in seiner akribischen Studie über Césaires Beziehung zum Kommunismus und zur PCF wieder zum Vorschein gebracht.[16] Alliot zeichnet Césaires intellektuellen und politischen Weg vom Surrealismus in der Zwischenkriegszeit zum Kommunismus nach 1945 und bis Oktober 1956 nach, als er aus der PCF austrat. Während seiner kommunistischen Jahre unterstützte Césaire aktiv die Linie der Sowjetunion und der PCF, einschließlich der nationalen und kolonialen Frage. Er schrieb Jubelgedichte auf Stalin und nahm 1953 an der Beerdigung des Diktators teil, während er, wie erwähnt, auch für das Gesetz vom März 1956 votierte. Im Wesentlichen stimmte Césaire, Autor eines so kanonischen antikolonialen Textes wie Discourse on Colonialism,[17] gegen die »Scheidung« Algeriens von Frankreich und unterstützte die Linie der PCF für die Transformation der Französischen Union nach dem Vorbild der Sowjetunion. Alliot rekonstruiert sorgfältig Césaires politischen Aufstieg vom Bürgermeister von Fort-de-France zum Abgeordneten der Französischen Nationalversammlung in Martinique und beleuchtet seinen Konflikt mit dem Dichter und führenden kommunistischen Intellektuellen Louis Aragon. Alliots Darstellung lässt kaum Zweifel aufkommen, dass Césaire den Kommunismus bereitwillig annahm, um seine politischen Ambitionen zu erfüllen.

Diese Episode ist dennoch sehr bedeutsam, da sie die Existenz marxistisch inspirierter Alternativen zum Nationalismus aufzeigt. Ausgehend von Lenins und Stalins Denken sahen diese Alternativen Selbstbestimmung und nationale Befreiung nicht im Gegensatz zu einer reformierten sozialistischen föderalen Union, die schließlich den weniger entwickelten Regionen zugutekommen sollte. So könnten innerhalb einer Union freie und autonome Länder mit der ehemaligen Metropole koexistieren. In einer solchen sozialistischen föderalen Union, die nach der Beseitigung von Ungleichheiten strebte, konnte das Recht auf Abspaltung nicht geltend gemacht werden, da dies den Interessen der arbeitenden Klassen zuwiderliefe. Diese ideologischen Strömungen wurden in der Forschung weitgehend vernachlässigt und von den starken marxistisch inspirierten Befreiungsbewegungen überdeckt, die in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau für die Entkolonialisierung kämpften und keinerlei irgendwie geartete Assoziation mit Portugal vorsahen. Ende 1956 folgte auch Aimé Césaire George Padmores Beispiel. Durch seinen Offenen Brief an Maurice Thorez gab er seinen Austritt aus der Kommunistischen Partei bekannt, prangerte den Stalinismus und das Sowjetsystem an und äußerte seine Sympathie für die antisowjetischen und unabhängigen sozialistischen Bewegungen in Osteuropa. Nur wenige Monate, nachdem er mit der PCF für die »Sonderbefugnisse« in Algerien votiert hatte, verurteilte Césaire die Haltung der PCF gegenüber Algerien und die Ausnutzung der Kolonialfrage durch die UdSSR und die stalinistische PCF für ihre eigenen politischen Interessen.[18] Danach verschleierte er seine kommunistische Vergangenheit und löschte seine Lobeshymnen auf Stalin und den Kommunismus aus seinen gesammelten Schriften.

Im postkolonialen Algerien wurde die »ambivalente« Haltung der Algerischen Kommunistischen Partei zur nationalen Unabhängigkeit vor und während der Revolution von der FLN oft als antipatriotisch gegeißelt. Infolgedessen verbrachte Larbi Bouhali einen Großteil seines Lebens im Exil in Frankreich, Ostdeutschland und der Tschechoslowakei, während Kateb Yacine, ebenfalls ein Berber, wegen seiner internationalistischen Neigungen und seines Eintretens für die Sache der Berber argwöhnisch betrachtet wurde. Sein Landsmann, der prominente berberische Ethnograf und Schriftsteller Mouloud Mammeri, der wegen der Teilnahme an Konferenzen und Versammlungen afroasiatischer Schriftsteller mehrmals die Sowjetunion besucht hatte, bekundete ebenfalls sein Interesse für das Vielvölkermodell der Sowjetunion, offensichtlich mit Blick auf die Berberfrage. Die algerische Regierung verfolgte allerdings eine Politik der Arabisierung und verweigerte der Berbergemeinschaft entschieden kulturelle Rechte. Als eine multinationale sowjetische Delegation 1965 Algerien besuchte und anregte, dass das sowjetische Modell des Zusammenlebens aller nationalen Kulturen für das Land passend wäre, reagierten algerische Offizielle wütend und brachen die Diskussion ab.[19] Trotz seiner sozialistischen Ausrichtung war das postkoloniale Algerien entschlossen, einen homogenen Nationalstaat zu schaffen, wie es die europäischen Länder seit dem 19. Jahrhundert auf systematische und brutale Weise getan hatten. Wieder einmal konnte die leninistische Lösung der nationalen Frage die herrschenden Eliten und politischen Akteure, die einen homogenen Nationalstaat als Voraussetzung nationaler Stärke und Souveränität ansahen, nicht gewinnen.

Ein viel dringenderes Problem war die nationale Frage im Sudan, einem anderen multiethnischen afrikanischen Land. Am Vorabend der Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien 1956 brach der Bürgerkrieg zwischen dem arabisch dominierten nördlichen Teil und dem subsaharischen südlichen, überwiegend christlichen und animistischen Sudan aus, der auf Autonomie und gleiche Vertretung in der Regierung drängte. Als sich Khartum den Forderungen der Aufständischen widersetzte, blieb die Sudanesische Kommunistische Partei die einzige konstruktive politische Kraft im Land. Die seit Langem etablierte und unter dem charismatischen Generalsekretär Abd al-Chaliq Mahdschub gut organisierte Partei lehnte Arabisierung und Islamisierung gleichermaßen ab, trat für die Anerkennung der nationalen Vielfalt des Landes ein und forderte die Wahrung der Rechte aller religiösen Gemeinschaften, Muslime, Christen oder Animisten.[20]

Ein glühender Verfechter des leninistischen Ansatzes zur Lösung der nationalen Frage im Sudan war Joseph Garang, ein hochrangiges Parteimitglied und Intellektueller aus dem Südsudan. In seiner Broschüre Das Dilemma des südlichen Intellektuellen. Ist es gerechtfertigt? erinnerte Garang an Lenins Schriften und verwies ausdrücklich auf die friedliche Koexistenz von Russen, Armeniern, Georgiern, Tataren, Usbeken, Kasachen innerhalb der Sowjetunion als Vorbild, dem der Sudan nacheifern solle. Außerdem argumentierte er als orthodoxer Marxist-Leninist, dass die Ursache des ethnischen Konflikts weder national noch kulturell bedingt sei, sondern ihren Ursprung in der ökonomischen Vorherrschaft einer arabischen Bourgeoisie habe. Nachdem Oberst Dschafar Muhammad an-Numairi im Mai 1969 die Macht übernommen hatte, unterstützte die Sudanesische Kommunistische Partei sein Regime im Kampf gegen die Umma-Partei und die Muslimbruderschaft, und Garang wurde für kurze Zeit Minister für Angelegenheiten des Südens. Diese »Zweckehe« geriet jedoch 1970 in eine Krise und endete im Juli 1971 tragisch. Nach dem fehlgeschlagenen Staatsstreich kommunistischer Offiziere leitete an-Numairi eine Repressionswelle gegen die Kommunistische Partei ein. Neben den Hunderten Opfern von Numairis Blutbad wurden Abd al-Chaliq Mahdschub und Joseph Garang wegen ihrer angeblichen Rolle beim Staatsstreich hingerichtet. Nach einem kurzlebigen Friedensabkommen zwischen Nord- und Südsudan begann der Bürgerkrieg von Neuem, die Stimme der Kommunistischen Partei aber blieb unterdrückt.[21]

Neben anderen wichtigen Quellen und Aufsätzen zur Geschichte der Sudanesischen Kommunistischen Partei wurde Garangs Text ins Englische übersetzt und 2010 mit einer Einleitung von Rogaia Mustafa Abusharaf in einer Sonderausgabe des South Atlantic Quarterly unter dem Titel »What’s Left of the Left« publiziert.[22] Ein Jahr später wurde die Republik Südsudan unabhängig und trat den Vereinten Nationen bei. In dem neuen unabhängigen Land brach jedoch schnell ein neuer Bürgerkrieg mit ethnischen Anklängen aus. Allgemein erlitten im Sudan seit den 1970er-Jahren die Mitglieder der Kommunistischen Partei, von denen viele inhaftiert, gefoltert und hingerichtet wurden, und mit ihnen der Marxismus und Leninismus einen furchtbaren Rückschlag. Dank der Sonderausgabe im South Atlantic Quarterly wurde Fragmenten der Geschichte der sudanesischen Kommunistischen Partei erneut Aufmerksamkeit zuteil. Darunter spielen die Positionen der Kommunistischen Partei zur nationalen Frage und die Zentralität von Lenins Ansatz sowie das Beispiel der Sowjetunion eine herausragende Rolle. Sie erinnern eindringlich daran, dass der homogene Nationalstaat nicht das einzige Modell war, das die politische Vorstellungskraft der Völker in postkolonialen Ländern fesselte. Selbst wenn sie unterdrückt und besiegt wurden, gab es sowjetisch inspirierte Alternativen zum Nationalismus.

Auch in anderen afrikanischen Kontexten bezogen sich verschiedene Oppositionsbewegungen und Intellektuelle auf den leninistischen Ansatz zur Lösung der nationalen Frage. Wie der Sudan in den 1960er-Jahren geriet auch Nigeria in einen Bürgerkrieg zwischen dem sezessionistischen Biafra und dem Rest der Bundesrepublik (1967–1970). Wie Maxim Matusevich gezeigt hat, unternahmen die Biafraner Annäherungsversuche an die Sowjetunion und betonten die sozialistische Ausrichtung ihres Landes. Aus realpolitischen Gründen entschied die Sowjetunion jedoch, sich auf die Seite der nigerianischen Bundesregierung zu schlagen, und stellte ihr militärische Ausrüstung zur Verfügung, um die Sezessionsbewegung zu stürzen. Lenins Ansatz diente in diesem Fall sowohl Moskau als auch seinen nigerianischen sozialistischen Verbündeten, namentlich der Socialist Workers and Farmers Party (SWAFP), um ihre Position gegen die Unabhängigkeit Biafras und die Unterstützung einer vereinigten föderalen Politik zu rechtfertigen.[23] Gleichwohl hielten sozialistisch gesinnte Intellektuelle ihre Kritik an der Herrschaft der Militärregierung (Federal Military Government, FMG) nicht zurück. Auf der einen Seite teilte die Militärregierung die größeren Staaten auf und schuf kleinere, um die Opposition und die separatistischen Bewegungen zu schwächen. Diese Politik stärkte jedoch die lokalen Häuptlinge und förderte Klientelismus und Korruption. Auf der anderen Seite wurde die Situation durch die grassierende Korruption im boomenden Ölsektor, die unkontrollierbaren Ströme von Petrodollars und die Politik des wirtschaftlichen laissez faire, die in der Ära des Ölbooms eingeführt wurde, verschärft.[24]

Vor diesem Hintergrund verurteilten mehrere Naija-Marxisten, deren Schriften Adam Mayer in einer faszinierenden Studie untersucht hat, die autoritären Herrscher und forderten umfassende Reformen, um Nigeria auf einen sozialistischen Entwicklungsweg zu bringen.[25] Insbesondere zwei marxistische Historiker, die zwischen 1975 und 1976 im Constitution Drafting Committee in Nigeria mitarbeiteten, zählten zu den schärfsten Kritikern des Regimes. Der in der Sowjetunion ausgebildete Segun Osoba und der in Großbritannien ausgebildete Yusufu Bala Usman veröffentlichten ihren eigenen Minderheitenbericht, in dem sie die Teilung des Landes in kleine politische Einheiten kritisierten, die Korruption anprangerten und eine landesweite Kampagne starteten, um ihre Landsleute von der Bedeutung des Sozialismus für Nigeria zu überzeugen. Zehn Jahre später rückte ein anderer in der Sowjetunion ausgebildeter Intellektueller, der Yoruba-Archäologe und Kunsthistoriker Omotoso Eluyemi, das Problem der Nationalitäten und des Föderalismus in den Vordergrund. In seiner Schrift Lenin’s Thoughts on the National Question. Reflections on Nigeria lobte Eluyemi Lenins Politik, die soziale Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung kleinerer und größerer Nationen garantierte, und kam zu dem Schluss, dass die Sowjetunion mit Abstand das erfolgreichste und für Nigeria wichtigste Beispiel eines Landes sei, das die nationale Frage friedlich gelöst hatte.[26]

Der wichtigste Fall eines Landes, in dem verschiedene politische Bewegungen, die sich auf Lenins Thesen zur nationalen und kolonialen Frage bezogen, auf die Straße gingen und Kriege führten, um die Thesen (in ihrer Interpretation) umzusetzen, war zweifellos Äthiopien. Als einziges Land, das der europäischen Kolonisation entkommen war, war Äthiopien selbst ein multiethnisches Mini-Imperium. Dieses Imperium wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinten Nationen Äthiopien erlaubten, die ehemalige italienische Kolonie Eritrea in eine lose Föderation zu integrieren. Die Verbitterung über die autokratische Herrschaft des Kaisers Haile Selassie und über die amharische Vorherrschaft nahm jedoch in mehreren Regionen zu, besonders in Eritrea, das einen bewaffneten Kampf begann, aber 1962 von Äthiopien annektiert wurde. Wachsendes Bewusstsein für die nationalen Spannungen, Frustration über die sozioökonomische Rückständigkeit des Landes und über die Reformunwilligkeit des Regimes sowie die zunehmende Attraktivität des Sozialismus und des Antiimperialismus schufen die Voraussetzungen für eine Radikalisierung. Vor diesem Hintergrund wandten sich äthiopische Studenten im In- und Ausland dem Marxismus und Leninismus zu, um Lösungen für die Probleme des Landes zu finden. Neben dem Ruf nach der Umverteilung von Land an die Ackerbauern und nach einer radikalen Wirtschaftsreform führte die Studentenbewegung eine hitzige Debatte über die Nationalitätenfrage. Ein Artikel mit dem Titel »Zur Nationalitätenfrage in Äthiopien«, der im November 1969 von Wallelign Mekonnen, Student der Politikwissenschaften an der Universität Addis Abeba, veröffentlicht wurde, löste diese Debatte aus. Wallelign, ethnisch ein Amhara, verteidigte das legitime Recht der Eritreer, gegen Unterdrückung zu kämpfen, stellte sich aber der eritreischen Befreiungsbewegung entgegen, weil sie, wie er betonte, von der Bourgeoisie und den Feudalherren geführt wurde. Gleichzeitig lud er alle Äthiopier ein, »einen echten Nationalstaat zu schaffen, in dem alle Nationalitäten gleichberechtigt an staatlichen Angelegenheiten beteiligt sind«.[27] Die Befreiung würde, so Wallelign, nicht dadurch geschehen, dass man die Amhara durch eritreische Herren ersetzt, sondern durch Errichtung eines sozialistischen Völkerbundes, eines wirklich egalitären »Nationalstaates«, der die Interessen der arbeitenden Massen sichern und das Land in sozialistischer Gestalt entwickeln würde. Andere Studenten erwiderten jedoch, dass, weil Eritrea eine Kolonie sei und weil in naher Zukunft die Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Föderation nicht erfüllt seien, die Sezession nach Lenins Theorie ein legitimes Recht sei.[28]

Krieg und Hunger, Inflation und Frustration lösten die von Studenten geführten Volksproteste aus, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Kaiser zu entthronen und eine sozialistische Regierung zu errichten. Bekanntlich wurde der Volksprotest von einer Gruppe rangniedriger Offiziere, bekannt als Derg,[29] aufgegriffen, die 1974 die Macht ergriffen, den Kaiser absetzten und für einige Zeit ein Bündnis mit radikalen Studentenorganisationen eingingen. Der Provisorische Militärverwaltungsrat verstand sich als marxistisch-leninistisch, führte eine Landreform durch und gewährte ethnischen Gruppen sprachliche Rechte und kulturelle Freiheit. Gleichzeitig entfesselte er eine Welle des Roten Terrors gegen seine Gegner, setzte den Krieg des Kaisers in Eritrea fort, drängte die somalische Invasion zurück und führte langwierige Kriege an anderen Fronten, namentlich gegen den Separatismus in den Regionen Ogaden und Tigray.[30] Auch die Tigrische Volksbefreiungsfront (Tigray Peopleʼs Liberation Front, TPLF), die sich als wichtigste Oppositionskraft herauskristallisierte, war eine marxistisch und maoistisch inspirierte Befreiungsbewegung, die die zentralistische Herrschaft des Derg ablehnte. Während die TPLF in den 1970er-Jahren für die Abspaltung kämpfte, änderte sich dies nach einer gewissen Zeit: In den späten 1980er-Jahren waren ihr erklärtes Ziel die Entmachtung des Derg, die Erhaltung des äthiopischen Staates und die radikale Inangriffnahme der Nationalitätenfrage. Für die Tigray-Führung, die die vom Derg desillusionierten und verfolgten linken Studenten hinter sich gebracht hatte, entsprach dieses Ziel der Leninʼschen Lösung der nationalen Frage.

Wallelign Mekonnens Ansatz diente als ideologische Grundlage der TPLF. Der letzte Angriff auf den Derg im Jahr 1991 trug den Codenamen Operation Wallelign, benannt nach dem ermordeten Studentenführer. Walleligns Ansichten lagen auch der Nationalitätenpolitik der äthiopischen Regierung nach der Absetzung des Derg zugrunde; diese ging sogar noch weiter als Wallelign selbst, indem sie in der äthiopischen Verfassung das Recht »jeder Nation, Nationalität und Volksgruppe in Äthiopien […] auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Sezession« festschrieb. Von der Studentenbewegung über den Bürgerkrieg bis zum ethnischen Föderalismus nach 1991 kann die Geschichte Äthiopiens nicht ohne Referenz auf den Transfer des Leninʼschen und Stalinʼschen Ansatzes und des sowjetischen Modells für die Behandlung der Nationalitätenfrage verstanden werden.[31]

Der Leninismus inspirierte auch andere Befreiungsbewegungen in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau und Südafrika. In diesen Fällen waren jedoch der antiimperialistische Teil von Lenins Theorie und seine »Richtlinien« zur Schaffung einer Avantgardepartei als Kulturtransfer am willkommensten und nützlichsten. Gewiss, die Südafrikanische Kommunistische Partei (South African Communist Party, SACP) hat Lenins Lösung der nationalen Frage voll und ganz zugestimmt. Der bedeutende südafrikanische Schriftsteller und prominentes Mitglied der SACP, Alex La Guma, lobte in seiner Soviet Journey Lenins Einstellung zu Nationalitäten und das sowjetische Modell einer Föderation größerer und kleinerer nationaler Gruppen, wie er es während seiner Reisen in Zentralasien und im Kaukasus erlebte.[32] Das Föderalismusproblem blieb jedoch sowohl für die SACP als auch für den African National Congress (ANC) besonders ärgerlich. Ein Grund dafür, dieses Problem herunterzuspielen, lag darin, dass das Apartheid-Regime bereits den Plan der autonomen Bantustans verwirklicht hatte. Daher würde die Betonung des Föderalismus im südafrikanischen Kontext Pretoria in die Hände spielen. Bantustans wurden als Versuch angeprangert, die schwarze Bevölkerung zu fragmentieren und eine Politik der Zersplitterung zu fördern. Sowohl die SACP als auch der ANC interpretierten Südafrika als eine »Kolonie besonderer Art«, in der Kolonisatoren und Kolonisten innerhalb eines Staates koexistierten. Statt eines ethnisch basierten Föderalismus stellten sie sich eine vereinte multirassische Nation vor.[33]

Die portugiesischen Kolonien bieten eine weitere Illustration der Grenzen der Rezeption des leninistischen Ansatzes im Kontext nationaler Befreiungskämpfe und Bürgerkriege. Nach Jahren des antikolonialen Kampfes in Mosambik übernahm 1975 die marxistisch inspirierte Befreiungsfront FRELIMO (Frente de Libertação de Moçambique) kurz nach dem Sturz des autoritären Estado-Novo-Regimes in Portugal die Macht. Zwei Jahre später erklärte sich die FRELIMO offiziell zu einer marxistisch-leninistischen Partei und setzte ihre Pläne durch, das Land in sozialistischem Sinn zu transformieren und einen Nationalstaat zu errichten. Michel Cahen wies darauf hin, dass die FRELIMO-Politik des nation building die ethnische und sprachliche Vielfalt des Landes kaum berücksichtigte und im Widerspruch zum Leninismus stand.[34]

Ähnlich verfolgte in Angola die Volksbewegung zur Befreiung des Landes MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola), die 1975 mit kubanischer und sowjetischer Unterstützung an die Macht kam und 1977 den Marxismus-Leninismus als Staatsideologie proklamierte, eine Politik des nation building, die aus verschiedenen anderen Gründen ethnische Gruppen entfremdete. Wie Christine Hatzky argumentiert, fanden die mestizischen MPLA-Eliten in Kuba nicht nur militärische Unterstützung, sondern auch das Modell einer rassisch und kulturell gemischten afro-lateinamerikanischen Nation, die ihrer eigenen Identität entsprach und viel besser in ihre Erzählung des nation building passte als die Sowjetunion.[35]

 

3. Fazit

Wissenschaftler, die die afrikanische Linke und den afrikanischen Sozialismus untersucht und sich auf den Import, die Anpassung und den Einfluss von Ideen, Techniken oder Modellen aus den sozialistischen Ländern konzentriert haben, rücken zu Recht zwei wichtige Punkte in den Vordergrund. Zum einen Kulturtransfers im Zusammenhang mit der Organisation der revolutionären Bewegung, der Avantgardepartei, dem Einparteienstaat und seinen Massenorganisationen, die eindeutig vom Leninismus geprägt waren und sich vom Beispiel der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern herleiten. Zum anderen die Sphäre des politischen und ideologischen Diskurses, in dem Lenins Theorie und insbesondere seine berühmte Imperialismustheorie immer wiederkehrende direkte oder indirekte Bezugnahmen darstellten.

In diesem Beitrag wurde jedoch festgehalten, dass kulturelle Transfers auch in Verbindung mit anderen brennenden Themen wie der nationalen Frage sowohl innerhalb von Imperien als auch in multiethnischen postkolonialen Ländern stattgefunden haben. Was die Imperien betrifft: Obwohl Nationalismus und Antiimperialismus alternative politische Visionen zunichtemachten, waren die leninistische Lösung der nationalen Frage und das Beispiel der Sowjetunion unter den kommunistischen Intellektuellen und Akteuren des Französischen Empire zwischen 1945 und 1956 weit verbreitet. Aimé Césaire zum Beispiel, Autor einer eindringlichen Analyse des Kolonialismus, vertrat die Ansicht, dass das Französische Empire nicht aufgelöst, sondern nach dem Vorbild der Sowjetunion verändert werden sollte. Solche Positionen verweisen auf die Existenz kommunistischer Alternativen zum Nationalismus, die im Zusammenhang mit den von Frederick Cooper ausgelösten Debatten über Föderalismus und Konföderalismus in einer Französischen Union betrachtet werden sollten. Auch wenn die Beispiele der UdSSR und Jugoslawiens für Césaire wichtig waren, so war die intellektuelle Grundlage dieser alternativen kommunistischen Vision natürlich die leninistische Lösung der nationalen Frage. Zwischen Antiimperialismus und der Vision einer sozialistischen Föderation gab es keinen Widerspruch.

Danach jedoch, im Kontext des Antiapartheidkampfes in Südafrika und der antikolonialen Kämpfe in den portugiesischen Kolonien, war dieser Strang des Leninismus für die Akteure nicht von Bedeutung, weshalb auch kein Kulturtransfer stattfand. Zweifellos blieb der Leninismus die wichtigste Referenz für das Denken über Antiimperialismus und Internationalismus, aber nationale Befreiung und nation building erforderten andere theoretische Modelle und praktische Beispiele, so Kuba, das sozialistischen Antiimperialismus und nation building miteinander verband. Dennoch blieb die leninistische Lösung der nationalen Frage in Ländern, die von Spannungen zwischen nationalen und religiösen Gruppen und Bürgerkriegen gezeichnet waren und eine Lösung ihrer Nationalitätenfrage anstrebten, sinnvoll. In diesem Kontext zeigen Sudan und Äthiopien, dass nicht die herrschenden Eliten Träger des Kulturtransfers waren, sondern Oppositionsbewegungen, Intellektuelle und nationale Minderheiten.

Nach 1991 zahlte der Leninismus den hohen Preis des wirtschaftlichen und politischen Bankrotts und der darauffolgenden Auflösung der UdSSR und Jugoslawiens und hörte auf, eine Referenz für die Lösung der nationalen Frage zu sein. Es gab jedoch bemerkenswerte Ausnahmen. Eine solche Ausnahme ist die von den Kurden geführte Demokratische Föderation Nordsyriens, in der Kurden, Araber und andere Minderheiten, Frauen und Männer zusammen kämpfen und sich bemühen, unter extremen Bedingungen eine demokratische Regierung zu errichten. Dieses radikaldemokratische Experiment trägt Lenins Gepräge und erneuert sein Erbe.

 


[1] Frederick Barghoorn: The Soviet Cultural Offensive: The Role of Cultural Diplomacy in Soviet Foreign Policy, Westport 1960, S. 188–225; Zbigniew Brzezinski (Hg.): Africa and the Communist World, Stanford 1963; Karen Dawisha: Soviet Cultural Relations with Iraq, Syria and Egypt 1955–1970, in: Soviet Studies 28 (1975), H. 3, S. 418–442.

[2] Steven G. Marks: How Russia Shaped the Modern World, Princeton 2003, S. 324–326.

[3] Paul Nugent: Africa Since Independence: A Comparative History, Basingstoke 2004, S. 246; Jean-Loup Amselle: Le Mali socialiste (1960–1968) [Das sozialistische Mali], in: Cahiers d’études africaines 72 (1978), H. 18, S. 631–634.

[4] Chris Allen: ›Goodbye to all that‹. The Short and Sad Story of Socialism in Benin, in: Arnold Hughes (Hg.): Marxism’s Retreat from Africa, London 1992, S. 63–81.

[5] Odd Arne Westad/Melvyn Leffler (Hg.): The Cambridge History of the Cold War, Bd. 1–3, Cambridge 2010.

[6] Elizabeth Schmidt: Cold War in Guinea: The Rassemblement démocratique Africain and the Struggle over Communism, 1950–1958, in: Journal of African History 45 (2007), S. 95–121; Klaas van Walraven: The Yearning for Relief: A History of the Sawaba Movement in Niger, Leiden 2013; Françoise Blum: Révolutions africaines. Congo, Sénégal, Madagascar (années 1960–1970) [Afrikanische Revolutionen. Kongo, Senegal, Madagaskar (1960–1970)], Paris 2014; ders. u. a. (Hg.): Étudiants africains en mouvements. Contribution à une histoire des »années 68« [Afrikanische Studentenbewegungen. Beitrag zu einer Geschichte der »68er«], Paris 2016; Jocelyn Alexander/JoAnn McGregor: African Soldiers in the USSR: Oral Histories of ZAPU Intelligence Cadres’ Soviet Training 1964–1979, in: Journal of Southern African Studies 43 (2017), H. 1, S. 49–66.

[7] Über die sowjetische Nationalitätenpolitik siehe Terry Martin: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca 2001.

[8] Matthias Middell: Kulturtransfer und Historische Komparatistik. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), H. 1, S. 7–41; Michel Espagne: La notion de transfert culturel [Der Begriff des Kulturtransfers], in: Revue Sciences/Lettres 1 (2013), in: journals.openedition.org/rsl/219, ges. am 26. März 2018.

[9] Hakim Adi: Pan-Africanism and Communism: The Communist International, Africa and the Diaspora, 1919–1939, Trenton 2013.

[10] George Padmore (mit Dorothy Pizer): How Russia Transformed Her Colonial Empire. A Challenge to the Imperialist Powers, London 1946.

[11] Kweku Bankole Awoonor-Renner: The West African Soviet Union, London 1946.

[12] Über diese Zukunftsentwürfe siehe Frederick Cooper: Citizenship between Empire and Nation. Remaking France and French Africa, Princeton 2014.

[13] Siehe das Vorwort von Samir Amin in Amady Aly Dieng: Les premiers pas de la Fédération des Etudiants d’Afrique Noire en France (FEANF), 1950–1955. De l’Union Française à Bandoung [Die ersten Schritte der Fédération des Etudiants dʼAfrique Noire en France (FEANF), 1950–1955. Von der Französischen Union nach Bandung], Paris 2003, S. 23. Siehe auch Guy Pervillé : Anticommunisme et décolonisation [Antikommunismus und Dekolonisierung], in: Communisme (2000), Nr. 62/63, S. 115–135. Zur »mediation« der PCF in Afrika siehe die Überlegungen von Jean-Pierre Dozon: Frères et sujets. La France et l’Afrique en perspective [Brüder und Untertanen. Frankreich und Afrika in der Perspektive], Paris 2003, S. 333 f.

[14] Gedicht und Text wurden im folgenden Band publiziert: Kateb Yacine: Minuit passé de douze heures. Écrits journalistiques, 1947–1989 [Zwölf Stunden nach Mitternacht. Journalistische Schriften, 1947–1989], Paris 1999, S. 102–104.

[15] Allison Drew: We are no longer in France: Communists in Colonial Algeria, Manchester 2014.

[16] David Alliot: »Le communisme est à l’ordre du jour«. Aimé Césaire et le PCF, de l’engagement à la culture (1935–1957) [»Der Kommunismus steht auf der Tagesordnung.« Aimé Césaire und die PCF, vom Engagement für die Kultur (1935–1957)], Paris 2013.

[17] Aimé Césaire: Über den Kolonialismus und andere Texte, kommentiert und aus dem Französischen übersetzt von Heribert Becker, Berlin 2017.

[18] Aimé Césaire: Lettre à Maurice Thorez [Offener Brief an Maurice Thorez], Paris 1956. 

[19] Constantin Katsakioris: The Soviet-South Encounter: Tensions in the Friendship with the Afro-Asian Partners, 1945–1965, in: Patryk Babiracki/Kenyon Zimmer (Hg.): Cold War Crossings: International Travel and Exchange across the Soviet Bloc, 1940s–1960s, Arlington 2014, S. 134–165. Mouloud Mammeri starb 1989 bei einem Verkehrsunfall. Viele Algerier glauben jedoch, dass es in Wirklichkeit ein Attentat der algerischen Geheimdienste war. Durch die Teilnahme von 200.000 Menschen wurde Mammeris Beerdigung zu einer eindrucksvollen Demonstration gegen die Regierung.

[20] Tarek Y. Ismael: The Sudanese Communist Party. Ideology and Party Politics, London 2012, S. 63–68.

[21] Alain Gresh: The Free Officers and the Comrades: The Sudanese Communist Party and Nimeiri Face-To-Face, 1969–1971, in: International Journal of Middle East Studies 21 (1989), H. 3, S. 393–409.

[22] Rogaia Mustafa Abusharaf (Hg.): What’s Left of the Left? The View from Sudan, in: South Atlantic Quarterly 109 (2010), H. 1.

[23] Maxim Matusevich: No Easy Row for a Russian Hoe. Ideology and Pragmatism in Nigerian-Soviet Relations, 1960–1991, Trenton 2003, S. 105–133.

[24] Toyin Falola/Matthew Heaton: A History of Nigeria, Cambridge 2008, S. 181–208.

[25] Adam Mayer: Naija Marxists. Revolutionary Thought in Nigeria, London 2016.

[26] Omotoso Eluyemi: Lenin’s Thoughts on the National Question. Reflections on Nigeria, Ibadan 1985. Zu Eluyemi siehe auch Anna Siim-Moskovitina/Nikolay Dobronravin: Des élites africaines entre deux mondes. Impact de la formation en URSS ou poids du milieu social d’origine? [Afrikanische Eliten zwischen zwei Welten. Auswirkungen der Ausbildung in der UdSSR oder die Last der sozialen Herkunft?], in: Monique de Saint Martin/Grazia Scarfò Ghellab/Kamal Mellakh (Hg.): Étudier à l’Est. Trajectoires d’étudiants africains et arabes en URSS et dans les pays d’Europe de l’Est [Studieren im Osten. Entwicklungsverläufe von afrikanischen und arabischen Studenten in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern], Paris 2015, S. 275–287.

[27] Wallelign Mekonnen: On the question of nationalities in Ethiopia, in: www.marxists.org/history/erol/ethiopia/nationalities.pdf, ges. am 23. Februar 2018.

[28] Eine gründliche Analyse dieser Debatten findet sich bei Bahru Zewde: The Quest for Socialist Utopia. The Ethiopian Student Movement c. 1960–1974, Oxford 2014.

[29] »Derg« war die Kurzform für »Koordinationskomitee der Streitkräfte, Polizei und Territorialarmee«. Vorsitzender des Derg war Mengistu Haile Mariam.

[30] Sarah Vaughan: Ethnicity and Power in Ethiopia, PhD, University of Edinburg, 2003, S. 127–153.

[31] Christopher Clapham: The Socialist Experiment in Ethiopia and its Demise, in: Hughes: Marxism’s Retreat (Anm. 4), S. 105–125; Jon Abbink: Ethnic-based federalism and ethnicity in Ethiopia. Reassessing the experiment after 20 years, in: Journal of Eastern African Studies 5 (2011), H. 4, S. 596–618.

[32] Alex La Guma: A Soviet Journey. A Critical Annotated Edition, hg. v. Christopher Lee, Lanham 2017.

[33] Zu dieser Debatte siehe die hier abgedruckten Dokumente: »What to do about Bantustans«, in: Aquino de Bragança/Immanuel Wallerstein: The African Liberation Reader. The Strategy of Liberation, H. 3, London 1982, S. 95–114; Gerhard Maré: The National Question Confronts the Ethnic Question, in: Edward Webster/Karin Pampallis (Hg.): The Unresolved National Question. Left Thought under Apartheid and Beyond, Johannesburg 2017, S. 163–180.

[34] Michel Cahen: Check on Socialism in Mozambique. What Check? What Socialism?, in: Review of African Political Economy 57 (1993), S. 46–59.

[35] Christine Hatzky: Cubans in Angola. South-South Cooperation and Transfer of Knowledge, 1976–1991, Madison 2015, dies.: Kubaner in Angola. Süd-Süd-Kooperation und Bildungstransfer 1976–1991, München 2012.

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