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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2021

Die paradoxen Spiele der Computerspielkulturen in Ost und West

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 297-304 | Metropol Verlag

Autor/in: Sebastian Möring

Die paradoxen Spiele der Computerspielkulturen in Ost und West

Die Game Studies – die Wissenschaft der Computerspiele – sind ein weites interdisziplinäres Feld, das über einen gemeinsamen Forschungsgegenstand verfügt: Computerspiele.[1] Zur Untersuchung von Computerspielen kommen Methoden und Begriffe aus so unterschiedlichen Disziplinen wie den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Psychologie, der Rechtswissenschaft, der Geschichte, dem Design, der Mensch-Maschine-Interaktion, der Informatik und anderen zum Einsatz. In den geistes- und kulturwissenschaftlichen Game Studies kann man drei allgemeine Perspektiven auf Computerspiele unterscheiden: das Spielobjekt, das Spieldesign und die Spielkultur. Der Blick auf das Spielobjekt begünstigt z. B. ontologische, philologische, hermeneutische, ästhetische und poetologische Untersuchungen (Rezeption). Das Spieldesign rückt in den Fokus, wenn es um die Gestaltung bestimmter ästhetischer Erfahrungen oder Kommunikationsakte mithilfe von Computerspielen oder schlicht um die Produktion von Computerspielen geht (Produktion). Der Filter der Spielkultur ermöglicht den Blick auf das Handeln der Spielenden in Computerspielen, aber auch ihre Praktiken, Deutungs- und Handlungsmuster im Umgang mit Computerspielen (Praxis).

            Wenn man die Entwicklung von Computer- und Computerspielkulturen im Ostblock und Cracker-Kulturen im Westen untersucht, so wie es Jaroslav Švelch, Gleb Albert und Patryk Wasiak in dieser Ausgabe getan haben, dann nimmt man primär die dritte Perspektive ein.[2] Der Fokus liegt dann vor allem auf den Menschen, die mit diesen Spielen zu tun haben, und auf dem, was sie mit diesen Spielen tun. Die anderen beiden Perspektiven werden dieser untergeordnet.

            Die Phase, in der von Computerspielkulturen des Ostblocks gesprochen werden kann, umfasst nicht mehr als einen Teil der 1980er-Jahre und ist geprägt von den kulturellen, sozialen, politischen, ökonomischen und technologischen Bedingungen dieser Zeit. Ihr Entstehungszeitraum ist damit deckungsgleich mit den Endstadien der staatssozialistischen Phasen der DDR, der Tschechoslowakei und anderer Länder, die zum Ostblock zählten. Auch die westliche Cracker-Kultur hat nicht wesentlich länger existiert. Obwohl mit leichtem Vorsprung – die Einführung von sogenannten Heimcomputern wird auf das Ende der 1970er-Jahre datiert[3] –, waren auch die Computer- und Computerspielkulturen des Westens im gleichen Zeitraum noch im Entstehen begriffen. Aus historischer Perspektive kann hier eine Geschichte des technologischen Aufbruchs vor dem Hintergrund eines politischen Untergangs – sowohl des Ostblocks als auch des alten Westens – erzählt werden. Denn durch die neue Weltordnung in den 1990er-Jahren nach dem Kalten Krieg verschwanden sowohl der ehemalige Ostblock als auch der alte Westen, die ihre Identität vor allem in Abgrenzung voneinander definiert hatten. Die Geschichte der Computerspielkulturen der Ostblockstaaten ist daher auch vor dem Hintergrund der westlichen Computerspielkulturen und umgekehrt zu lesen. Deshalb stellen Gleb Albert und Jaroslav Švelch in ihren Artikeln auch regelmäßig Bezüge und Vergleiche zwischen den Systemen her. Der Wert der beiden Beiträge besteht vor allem darin, einen Teil der Kulturgeschichte von Computern und Computerspielen zu beleuchten, die normalerweise auf Japan und die USA konzentriert ist, und dieses Desiderat höchst gewinnbringend zu füllen.

            Welchen Blick ermöglichen die Game Studies auf die historische Analyse zweier solcher Kulturen? Man kann, und das ist die These dieses Artikels, die beiden Untersuchungen Švelchs und Alberts aus der Perspektive klassischer anthropologischer Spieltheorien lesen und aufzeigen, dass es in den beiden betrachteten Kulturen nicht primär um Computerspiele geht, die gespielt werden.[4] Es geht vielmehr um (Gesellschafts-)Spiele, die mittels dieser Computerspiele gespielt werden und mit deren Hilfe sich die Computerspielkulturen konstituieren und ihr Selbstverständnis aushandeln.  

            Um diese These zu verorten, muss vorab kurz der Unterschied zwischen klassischen Spielen und Computerspielen erläutert werden – ein aufgrund der Kürze kühnes aber notwendiges Unterfangen. In den geistes- und kulturwissenschaftlichen Game Studies gibt es neben den soeben gezeigten Perspektiven eine grundlegende Unterscheidung, was die Bedeutung der Begriffe Spiele und Computerspiele betrifft. Computerspiele und analoge Spiele sind demnach nicht gleichzusetzen, nur weil sie das Wort »Spiel« im Namen tragen. Einige Autorinnen und Autoren würden sagen, dass Computerspiele in erster Linie virtuelle Umgebungen sind, in denen auch Spiele gespielt werden können.[5] Aber nicht alle Computerspiele sind deshalb automatisch Spiele in dem Sinne, wie sie etwa die klassischen Spieltheorien à la Johan Huizinga, Roger Caillois usw. beschreiben.[6] Das Spielen von Computerspielen, insbesondere von Ein-Personen-Spielen, hat oft mehr gemein mit dem Operieren von Maschinen, die schnelles Handeln (Actionspiele), geschickte Konfiguration (Strategiespiele), günstige Entscheidungen (Adventurespiele) oder eine Kombination hieraus erfordern.[7] Für den Spieleforscher Stewart Woods sind Ein-Personen-Spiele dieser Art sogenannte Herausforderungsspiele (»challenge games«). Sie unterscheiden sich von klassischen Gesellschaftsspielen, die Woods soziale Spiele (»social games«) nennt, darin, dass sie keine Regeln haben. Das klingt kontraintuitiv. Doch wenn man davon ausgeht, dass Regeln dadurch definiert sind, dass sie gebrochen werden können, dann ist dies in Ein-Personen-Computerspielen nicht möglich. Dort sind die Regeln fest in den Code der Spiele eingeschrieben. Man spricht deshalb auch eher von Spielmechaniken als von Spielregeln. Zudem gibt es bei solchen Spielen keine weitere Instanz (z. B. menschliche Mitspielende oder Gegnerinnen/Gegner), die durch einen Regelbruch einen Nachteil erfährt, wie das bei menschlichen Mitspielenden der Fall wäre. In sozialen Spielen hingegen braucht es Regeln, damit die menschlichen Spielerinnen und Spieler sich z. B. über das Spielziel und die zu seinem Erreichen erlaubten Mittel verständigen können und die Einhaltung dieser Regeln überwachen. Dies trifft auf Formen analoger Spiele wie Gesellschaftsspiele, Live-Action-Rollenspiele, Spielsportarten usw. zu. Es kann aber auch auf Computerspiele zutreffen, wenn es sich um Spiele mit mehreren Spielenden handelt, unter denen wieder bestimmte regelartige Verabredungen getroffen werden können.

            Die Kulturwissenschaften verfügen über einen noch breiteren Spielbegriff, der nicht nur klar abgegrenzte, klassische, mitunter kulturspezifische Spielformen (z. B. Gesellschaftsspiele) beschreibt. Diesem Spielbegriff zufolge vollzieht sich Kultur selbst in Form von Spielen (z.B. Initiationsriten, Festen und Feiertagen).[8] Im Folgenden geht es deshalb nicht nur um Spiele zwischen Menschen, sondern es wird zu zeigen sein, dass sich die betrachteten Computerspielkulturen in Form eines paradoxen Spiels herausgebildet haben.

            Der neuseeländische Spieltheoretiker und Pädagoge Brian Sutton-Smith analysierte in seiner vielbeachteten Monografie The Ambiguity of Play von 1997 eine Vielzahl von Spieltheorien und kam zu der Einsicht, Spiele seien immer mehrdeutig bzw. uneindeutig.[9] Darunter finden sich auch die einige Jahrzehnte früher, 1955, veröffentlichten Überlegungen eines der Begründer der Kybernetik bzw. der kybernetischen Theorie, Gregory Bateson, die den Schluss zulassen, Spiele seien durch zentrale Paradoxa, durch zentrale Widersprüche gekennzeichnet.[10] Deshalb benötigen sie laut Bateson immer eine Form von Metakommunikation, die, etwa wie beim Spielen von Menschenaffen im Zoo, deutlich macht, dass eine spielerische Handlung zwar von außen betrachtet so aussehen kann, als sei sie ein echter Biss, die aber gleichzeitig markiert, dass diese Handlung spielerisch gemeint ist. Im Original heißt es bei Bateson: »This playful nip denotes the bite, but it does not denote what would be denoted by the bite.«[11] Man kann diese Situation auch umkehren und sagen, dass sich immer dort, wo Uneindeutigkeit herrscht, ein Spielraum auftut bzw. ein Raum für Spiel ist.

            Jaroslav Švelch und Gleb Albert schlagen in ihren Beiträgen jeweils die Lesart vor, dass der Computerklubkultur im späten Kommunismus und der Cracker-Szene im Westen selbst etwas Spielhaftes zu eigen war, sie also selbst Spiele sind bzw. sich in der Form von Spielen vollzogen. Švelch unterstreicht die spielerischen Subversionen des Kollektivs Sybilasoft in ihren Spielen »Fuksoft« und »Šatochin« und Albert argumentiert, dass der Kalte Krieg nicht nur in Computerspielen spielbar ist, sondern sich auch »im Rahmen eines subkulturellen ›Spiels‹, das sich um die Modifikation und Zirkulation von Computerspielen drehte«, vollzog.[12]

Computerspielkulturen entstehen und vollziehen sich in Formen von Spielen

Dies erinnert an den vielleicht bekanntesten Spieltheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, den Kulturhistoriker Johan Huizinga.[13] Er vertrat die These, dass Kultur immer in der Form des Spiels entsteht und sich als Spiel vollzieht. Insofern können die Beiträge als Versuche gelesen werden, Huizingas These zu verfeinern. Die Beiträge von Švelch und Albert behaupten nicht nur, dass die Computerspielkultur sich in Form von Spielen vollzieht, sondern beide Beiträge beschreiben diese Spiele jeweils genauer. Sowohl Švelch als auch Albert geht es dabei nicht darum, dass Menschen Computerspiele spielen, sondern dass sie mit Computerspielen spielen. Nicht die Spielmechaniken oder Regeln dieser Spiele waren das Material der in den Beiträgen beschriebenen Spiele, sondern ihre Zeichenebenen. Mithin geht es nicht zentral um Computerspiele, sondern um Gesellschaftsspiele im wörtlichen Sinn, in denen Computerspiele die Spielsteine sind, ein Mittel zum Zweck.

            Die Spielmechaniken in den Beiträgen entsprechen den Strukturen, die die jeweils beschriebenen Computerspielkulturen ermöglichen (Švelch und Albert) bzw. bestimmen (Patryk Wasiak). In Švelchs Beitrag eröffnet der paradoxe Zwischenraum von staatlicher Kontrolle und privater Freiheit einen Spielraum, den sich die Computerklubkultur zunutze macht. Švelch spricht dieses Paradox sogar direkt an. Es erinnert an die Weisen des menschlichen Spielens, die der Soziologe Roger Caillois zwischen zwei Polen verortet hat: Ludus und Paidia.[14] Ludus beschreibt das stark regelgeleitete Spielen und Paidia das ungeregelte Spielen. Ludisches Spielen erfordert Disziplin, Ordnung und die Einhaltung von Regeln. Das paidische Spielen hat meist keine Regeln, ist improvisiert und zuweilen wild und subversiv. Das Ludische steht demzufolge für den kommunistischen Staat und das Paidische für die Freiheit, die die Computerklubs ihren Mitgliedern zugestanden.

            Vor diesem Hintergrund kann man auch Wasiaks Beitrag lesen. Hier geht es anders als bei Švelch nicht um ein Spiel, in dem spezielle Computerspiele die Spielsteine sind. Es geht vor allem um ein dialektisches Spiel, das sich um die Deutung der Rolle von Computern für das Modernisierungsprojekt des staatssozialistischen Polen drehte. Dessen Ziel war es, »neue Technologien (…), die einen positiven wirtschaftlichen und sozialen Wandel ermöglichen, in die visionäre Zukunft [Polens, S. M.] zu integrieren.«[15] Dieser Deutungsprozess war durch einen essentiellen Widerspruch gekennzeichnet, der sich in der Frage »U oder E?« ausdrücken lässt: Sollten Computer zum Zweck der »Unterhaltung oder Erziehung« eingesetzt werden?[16] Dieses Spiel wurde von verschiedenen sozialen Akteurinnen und Akteuren (wie Computerzeitschriften, Computerclubs, Redakteurinnen und Redakteuren, Ausbilderinnen und Ausbildern usw.) der polnischen Computerisierungsbewegung ausgetragen. Ihre Vorstellungen vom nützlichsten Einsatz von Computern im staatssozialistischen Polen waren kontrovers. Computer wurden entweder als Lernmittel gelobt und ihr Unterhaltungswert wurde in Kauf genommen, oder sie wurden als Spielzeug und Zeitverschwendung verachtet. Die Befürworterinnen und Befürworter der Computerkultur wollten Computer nutzen, um neue sozialistische Subjekte zu bilden, die einen modernen Sozialismus ermöglichen würden, der mit dem Westen wettbewerbsfähig wäre. Gegnerinnen und Gegner verwiesen darauf, dass Computer sowohl in staatlich geförderten Computerklubs als auch daheim häufig schlicht zum Spielen verwendet würden – ihr Nutzen zur Unterstützung des Sozialismus wurde ihnen abgesprochen. Mit anderen Worten ging es um die »Verwendung von Computern für das Spielen anstelle einer ›zweckdienlichen‹ Praxis, die für Bildungs- oder berufliche Aktivitäten relevant ist«.[17] Zwischen diesen diametralen Positionen entwickelte sich ein Wettbewerb. Gegenläufige Bewegungen, wie sie hier beschrieben werden, sind charakteristisch für Spiele. Deshalb zeigt Wasiaks Analyse, dass in diesem Fall die Aushandlung der Bedeutung von Computerkulturen im Spiel war und dass ihre Gestaltung sprichwörtlich auf dem Spiel stand. Besonders hervorzuheben an Wasiaks Beitrag ist, dass sich hier nicht nur die Vermittlung von Widersprüchen als Spiel beschreiben lässt, sondern auch die integrierende Kraft von Spielen sichtbar wird. Denn eine Möglichkeit, den Widerspruch zwischen der Computernutzung zur Unterhaltung und zur Erziehung zu vermitteln, war der Vorschlag, Lernspiele zu erzeugen: Spiele, die heute unter dem Begriff »Edutainment« firmieren und den Spaß am Spielen mit dem Ernst des Lernens für das Leben verbinden sollten. Von der Computerisierungsbewegung wurde die Entwicklung von Lernspielen gefördert und aufgrund eines Mangels an Lernspielen wurden »polnische Jugendliche (…) ermutig[t], ihre eigenen Programme zu schreiben, und nicht einfach nur Software zu verwenden«.[18] Dies, so argumentiert Wasiak, führte ironischerweise dazu, dass die Notwendigkeit, Lernspiele zu produzieren, auch den ernsten Zweck der Computernutzung erfüllte: der Programmierausbildung.

Spielerischer Humor und Inszenierung

In den Spielen, die Švelch in seinem Beitrag analysiert, entsteht eine Subversion der staatlichen Kontrolle durch den Einsatz von Humor auf deren Zeichenebene. Humoristische Genres sind insofern selbst spielerisch, als sie aus Widersprüchen Komik produzieren.[19] Švelch zeigt hier beispielhaft die Subversionen des Programmierers Stanislav Hrda, der die Spiele »Šatochin« und »Fuksoft« programmierte. Im Falle von »Šatochin« sind dies etwa die Referenzen auf den prototypischen US-amerikanischen Actionfilm Rambo und dessen sowjetischen Gegenpart Im Alleingang.[20] Das Spiel ermöglicht die unmögliche Situation, dass zwei Helden aus gegensätzlichen politischen Systemen und fiktionalen Welten im gleichen Spiel auftauchen und ihre Gegensätzlichkeit in Form von Duellen austragen. Oberflächlich mag das Spiel als regimetreu erscheinen, aber die mehrfachen ironischen Brechungen, die es enthält, verweisen auf die von Sutton-Smith hervorgehobene charakteristische Uneindeutigkeit von Spielen, die hier ihren humoristischen Effekt entfalten.

            Neben den beiden Polen, Ludus und Paidia, kennt Caillois auch vier zentrale Spielarten: Agon (Wettbewerb), Alea (Glücksspiel), Ilinx (Rausch) und Mimikry (Verstellung). Letzteres zeigt sich sowohl im »So-tun-als-ob« als auch in der Weise, wie man sich inszeniert. Hier kann man auch Alberts Beobachtungen zur Selbstinszenierung der Cracker-Szene einordnen.

            Gleb Albert zeigt anhand der antikommunistischen Inszenierung der Cracker-Szene das Paradoxon auf, das sich zwischen der politischen Inszenierung dieser Szene und den tatsächlichen politischen Einstellungen ihrer Mitglieder auftut. Wie eingangs bemerkt, kann ein Paradoxon immer auch auf das Vorhandensein eines Spielraums und die Möglichkeit einer Spielbewegung, wie sie Hans-Georg Gadamer beschreibt, hinweisen.[21]

            Im Cracker-Magazin-Artikel von 1989 wird über die antikommunistische Inszenierung der Cracker-Szene gesagt: »They don’t really mean it.«[22] Wenn die Szene es mit ihrer Selbstinszenierung wirklich nicht so ernst gemeint hat, dann handelt es sich hier um ein darstellendes Spielen, das nur so tut als ob. An anderer Stelle heißt es bei Albert, dass »Antikommunismus zum Teil einer Szene-Persona« wurde, was den (Selbst-)Inszenierungsaspekt dieser Kultur nochmals unterstreicht.[23]

Wettbewerb

Wettbewerbe sind in der Spiel- und Kulturtheorie Huizingas eine der wesentlichen Spielformen, in denen sich die Genese von Kultur vollzieht. So gelesen, befand sich die Cracker-Szene aber auch in einem agonalen Spiel, nämlich dem Wettkampf um Bekanntheit, der mit der Tausch- und Aufmerksamkeitsökonomie der Softwarezirkulation einherging. Demzufolge kann das Paradoxon der antikommunistischen, also politischen Inszenierung bei gleichzeitiger Abwesenheit von politischer Verortung im wahren Leben so verstanden werden, dass es sich hier um einen Wettbewerb um die beste Darstellung handelt, wie Huizinga es beschreibt.[24] Oder sogar um einen Wettbewerb um die größte Aufmerksamkeit.

            Bei Švelch wäre es im Vergleich interessant zu erfahren, ob die tschechoslowakischen Computerklubs ebenfalls in einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit standen, wenn es schon keine finanziellen Anreize für ihr Treiben gab. Interessant ist in jedem Fall, dass diese Wettkämpfe Frühformen von Influencern hervorbrachten, die in ihrer jeweiligen subkulturellen Blase den Ton angaben. Dazu gehörten Frantisek Fuka, das Kollektiv Sybilasoft und Stanislav Hrda auf der Seite der tschechoslowakischen Computerklubkultur oder Strider, der Anführer des schwedischen Cracker-Kollektivs Fairlight, auf der westlichen Seite.

            In Wasiaks Beitrag werden Wettbewerbe zur Gestaltung von Lernspielen angesprochen, um diese noch wenig verbreitete Form der Computernutzung zu popularisieren. Ob auch die Aushandlungen zur Deutung des Computers im staatssozialistischen Polen als Wettbewerb beschrieben werden können, ist denkbar, aber nicht durch Wasiaks Ausführungen belegt. In seinem Beitrag wird zudem deutlich, wie stark die sozialistischen Staaten ihr Selbstverständnis sowohl aus der Abgrenzung vom als auch als Wettbewerb mit dem Westen definierten. Zum inneren Wettbewerb tritt hier ein äußerer hinzu.

Abschließend soll noch einmal auf die Frage nach den politischen Computerkids eingegangen werden. Mir scheint, Gleb Albert unterstellt bei der Frage, ob die Cracker-Szene unpolitisch sei oder ob sie sich im Rahmen der politischen Inszenierungen politisiert, eine allgemeine Trennung zwischen einer politischen Überzeugung im realen Leben und der politischen Überzeugung in einer subkulturellen Inszenierung. Dieser Widerspruch zeigt nur einmal mehr, dass es sich hierbei um ein Spiel (oder einen Spielraum) handelt, das es schafft, diesen Widerspruch auszugleichen. Dabei muss hervorgehoben werden, dass Spiel hier nicht als die Unterscheidung von Ernst und Spaß verstanden wird. Sondern Spiel bedeutet in diesem Fall ein Wechselspiel zwischen verschiedenen politischen Einstellungen, die sich gegenseitig beeinflussen können, aber nicht müssen. Albert merkt selbst an, dass die politische Frage zwischen Antikommunismus/Kommunismus für »›unpolitische‹ Cracker« virulent wurde. In diesen Beobachtungen scheint die Annahme zu stecken, dass das Politische Eingang in ein zuvor unpolitisches Spiel findet. Mit Huizinga aber kann man annehmen, dass das Politische immer schon in Form des Spiels operiert, es also immer auch spielerische Züge hat. Diese zeigen sich an den von Gleb Albert gewählten Beispielen in besonderer Form. Die Frage wäre dann also nicht, ob das Spiel durchlässig wird für das Politische, sondern auf welche Weise sich das Politische im Spiel bzw. in spezifischen Spielen zeigt.

            Diese Frage ist aktueller denn je. Schließlich leben wir in Zeiten, wo sich ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und kulturell einflussreiche Institutionen, wie z. B. die FIFA oder das Internationale Olympische Komitee, aber auch große Veranstalter von sogenannten E-Sport-Wettbewerben ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zugunsten des Profits entziehen, indem sie immer wieder behaupten, Spiele seien unpolitisch.[25]

            Dass Spiele sehr wohl politisch sind, zeigt sich an Alberts paradoxer Beobachtung, dass die Mitglieder der Cracker-Szenen aus dem Ostblock in den 1990er-Jahren leicht Anschluss fanden an die vermeintlichen Antikommunisten der westlichen Cracker-Szenen. Vielleicht war es nicht der Antikommunismus, der diese Integration bewirkte, wie Albert schreibt. Vielleicht entfaltete das Spiel der Zeichen und Symbole diese integrative Kraft. Denn Spiele ermöglichen die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, Widersprüchen und Paradoxa.


[1] Espen Aarseth: Computer Game Studies, Year One, in: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research 1 (2001), H. 1, in: www.gamestudies.org/0101/editorial.html (ges. am 15. Oktober 2020); Frans Mäyrä: An Introduction to Game Studies: Games in Culture, Los Angeles 2008; GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels zur Einführung (= Zur Einführung, Bd. 391), Hamburg 2012; Jonas Heide Smith/Simon Egenfeldt-Nielsen/Susana Pajares Tosca: Understanding Video Games: The Essential Introduction, 2. Aufl. New York 2013; Gundolf S. Freyermuth: Games, Game Design, Game Studies: Eine Einführung (= Edition Medienwissenschaft), Bielefeld 2015.

[2] Siehe die Beiträge von Jaroslav Švelch, Gleb J. Albert und Patryk Wasiak in diesem Band. Darüber hinaus ist im Band mit Angela Schwarz eine Kollegin vertreten, die an der zugrunde liegenden Konferenz nicht teilnehmen konnte, weshalb der hier abgedruckte Kommentar ihren Beitrag leider nicht berücksichtigt.

[3] Sophie Ehrmanntraut: Wie Computer heimisch wurden: zur Diskursgeschichte des Personal Computers, Bielefeld 2019.

[4] Wenn im Folgenden von Spieltheorien und Spieltheoretikern die Rede ist, dann bezieht sich dies auf die klassischen anthropologischen Spieltheorien und nicht auf die unter diesem Namen populär gewordene mathematische Spieltheorie.

[5] Espen Aarseth: Playing Research: Methodological Approaches to Game Analysis, in: Digital Arts and Culture Conference, Melbourne 2003, S. 1–7, in: courses.ischool.utexas.edu/Winget_Megan/MeganCollection2/files/1472/Aarseth.pdf (ges. am 15. Oktober 2020); Espen Aarseth/Solveig Marie Smedstad/Lise Sunnanå: A Multidimensional Typology of Games, in: Level Up Conference Proceedings, Utrecht 2003, in: www.digra.org/dl/display_html=http://www.digra.org/dl/db/05163.52481 (ges. am 15. Oktober 2020).

[6] Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, 19. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2004; Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, München 1958.

[7] Claus Pias: Computer Spiel Welten, Diss., Weimar 2000, in: e-pub.uni-weimar.de/volltexte/2004/37/ (ges. am 15. Oktober 2020).

[8] Siehe Victor W. Turner: Liminal to Liminoid, in Play, Flow, and Ritual: An Essay in Comparative Symbology, in: The Rice University Studies 60 (1974), H. 3, S. 53–92; Clifford Geertz: Deep play: Notes on the Balinese cockfight, in: Daedalus 134 (2005), H. 4, S. 56–86.

[9] Brian Sutton-Smith: The Ambiguity of Play, Cambridge 1997.

[10] Gregory Bateson: A Theory of Play and Fantasy, in: ders.: Steps to an Ecology of Mind, Chicago 2000, S. 177–193.

[11] Ebd., S. 180.

[12] Siehe den Beitrag von Gleb J. Albert in diesem Band.

[13] Huizinga: Homo Ludens (Anm. 6).

[14] Caillois: Die Spiele und die Menschen (Anm. 6).

[15] Siehe den Beitrag von Patryk Wasiak in diesem Band.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] Siehe Arthur Koestler: The Act of Creation, London 1989 [1964].

[20] Michail Tumanischwili: Odinochnoye plavanie (dt. Titel: Im Alleingang), Sowjetunion 1985.

[21] Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1999 [1960], S. 107–113.

[22] Siehe den Beitrag von Gleb J. Albert in diesem Band.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] E-Sport bezeichnet »das wettbewerbsmäßige Spielen von Computer- oder Videospielen im Einzel- oder Mehrspielermodus« (Jörg Müller-Lietzkow zit. n. Markus Breuer/Daniel Görlich: E-Sport, in: Olaf Zimmermann/Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games, Berlin 2020, S. 165–170).

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Kurzbiografie

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