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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2013

Die vielen Gesichter des Helden

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 263-272 | Aufbau Verlag

Autor/in: Felix Münch

»Aljoscha«-Denkmäler in Tallinn, Wien, Plovdiv und dem postsowjetischen Raum

Denkmäler repräsentieren kollektive Erinnerungen, sind Medien zur Visualisierung und Vergegenwärtigung des Vergangenen und kommunizieren immer auch politische Deutungen für historische Ereignisse. Dabei erzählen sie als öffentliche Inszenierungen von Geschichte aus Stein und Metall oft mehr über gegenwärtige Gesellschaftszustände und politische Herrschaftskulturen als über jene Vergangenheiten, auf die sie mit Ewigkeitsanspruch verweisen. Die Diskussionen um Planung, Errichtung, Wirkgeschichte und – als Ultima Ratio – Verlegung oder Ikonoklasmus von Denkmälern, Mahn- oder Ehrenmalen können als Spiegelbilder politischer Verhältnisse interpretiert werden und sind deshalb von besonderem Interesse. Damit sind Denkmäler Objekte geschichtspolitischer Initiativen par excellence: Sie dienen der Instrumentalisierung von Vergangenheit für politische Zwecke, wobei diese Vergangenheit parteiisch interpretiert wird mit dem Ziel, eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen und diese durch das postulierte Geschichtsbild zu vereinnahmen. Werte und Leitbilder werden nicht diskursiv erzeugt, sondern sind bereits durch die interpretative Ausführung des Denkmals vorgegeben.

Zumeist als Denkmal für die »Befreier vom deutschen Faschismus« oder für den »unbekannten Soldaten« wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 im gesamten Einflussgebiet der Sowjetunion Statuen von sowjetischen Soldaten errichtet, die fortan an die Heldentaten der Rotarmisten im »Großen Vaterländischen Krieg« erinnern sollten. Teilweise in Großserien gefertigt und derselben Gussform entstammend, standen die Denkmäler bald praktisch in jeder größeren Siedlung östlich des Eisernen Vorhangs. Einige dieser Relikte sowjetischer Ikonografie haben noch heute ihren Platz in den Städten im Einflussbereich der ehemaligen UdSSR. Sie werden überraschend häufig von der lokalen, oft russophonen Bevölkerung liebevoll »Aljoscha« genannt. »Aljoscha« ist im Russischen das Diminutivum, also die Koseform des Namens Aleksej. Nach dem Niedergang der Sowjetunion kam es im gesamten postsowjetischen Raum zur Verlegung oder zum Sturz vieler Denkmäler als emanzipatorischer Akt der neuen Machthaber. Der Fall von Ikonen des überkommenen Ancien Régime ist dabei immer ein sinnbildlicher Neuanfang; ein vom wütenden Mob, der überlegenen Siegermacht oder spätestens der dann zumeist demokratisch legitimierten Regierung begangener symbolischer Mord an den alten Tyrannen und deren Herrschaftssystemen.

Viele der »Aljoscha«-Denkmäler mussten nach dem Fall der Sowjetunion aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse auch in Mittel- und Osteuropa weichen. Neben dem bekanntesten und konfliktträchtigsten Fall in der estnischen Hauptstadt Tallinn gibt es solche Denkmäler aber beispielsweise noch in Rēzekne (Lettland), in den russischen Städten Murmansk, Severomorsk, Krasnojarsk, Nižnevartovsk und Kosaja Gora, in Charkiv (Ukraine), in den bulgarischen Städten Sofia, Plovdiv, Russe und Burgas, aber auch in der österreichischen Hauptstadt Wien.

Dieser Artikel beschäftigt sich insbesondere mit den »Aljoscha«-Denkmälern in Tallinn, Wien und Plovdiv, deren Existenz, historische Aussage und politische Interpretation immer wieder für gesellschaftliche Kontroversen in Estland, Österreich bzw. Bulgarien sorgen. Der Fokus liegt hierbei auf der Wirkungsgeschichte der Denkmäler und dem geschichtspolitischen Umgang der jeweiligen nationalen Regierungen mit ihrem sowjetischen Erbe.

»Aljoscha« in Tallinn – als Besatzer oder Befreier?

Seit der Unabhängigkeit Estlands von der Sowjetunion 1991 hat die Anwesenheit des »Bronzenen Soldaten« in der Innenstadt Tallinns Politik und Öffentlichkeit in Estland beschäftigt und polarisiert. Die etwa zwei Meter hohe Statue zeigt einen Soldaten in der Uniform der Roten Armee, der zum Gedenken seiner gefallenen Kameraden demütig den Kopf senkt. Für viele Angehörige der russischsprachigen Minderheit im Land – dazu zählen heute noch knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung – ist das 1947 aufgestellte »Denkmal für die Befreier«, so die offizielle Namensgebung der damaligen sowjetischen Administration, ein wichtiger Erinnerungsort und Symbol für den verlustreichen Sieg der Sowjetunion bzw. deren Rechtsnachfolgerin, der Russländischen Föderation, über das faschistische Deutschland im »Großen Vaterländischen Krieg«. Ein Großteil der estnischen Mehrheitsbevölkerung nimmt das Monument allerdings als Sinnbild der schmerzhaften sowjetischen Okkupation des Landes von 1940 bis 1991 und die damit verbundenen Deportationen und Repressionen wahr, welche durch die deutsche Besatzung von 1941 bis 1944 unterbrochen war. So orientiert sich die Spaltung der estnischen Gesellschaft in Verteidiger und Gegner des Denkmals meist an deren ethnischer Zugehörigkeit und dem entsprechenden Geschichtsbild mit antagonistischer Interpretation des »Bronzenen Soldaten« als Befreier oder als Besatzer.

Insbesondere die Feierlichkeiten am »Tag des Sieges« über Hitlerdeutschland am 9. Mai – begangen an dem kontroversen Denkmal in der Innenstadt und überwiegend frequentiert von Angehörigen der russophonen Minderheiten, Vertretern der russischen Botschaft und pro-russischer Organisationen sowie von Veteranen der Roten Armee – erschienen vielen Estinnen und Esten als Hohn angesichts des erlittenen Unrechts. Nach mehreren Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der rivalisierenden Erinnerungsgemeinschaften formierte sich 2006 eine Nachtwache aus zumeist russischstämmigen Unterstützern, um gewaltlos die Sicherheit des von ihnen »Aljoscha« genannten Soldatendenkmals zu garantieren. Im Gegenzug bekräftigten insbesondere rechtsnationale estnische Kräfte im Land ihre Forderung nach einer Verlegung, Demontage oder gar Sprengung des verhassten Relikts der überkommenen sowjetischen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung. Zu Beginn des Parlamentswahlkampfs im Sommer 2006 erklärte auch der estnische Premierminister Andrus Ansip überraschend, das Denkmal müsse verlegt werden, denn es habe sich von einem Monument für Kriegsopfer zu einem Symbol der sowjetischen Okkupation gewandelt, welches sich gegen die unabhängige Republik Estland richte.

Der estnische Premier – bis dahin ein Befürworter des Denkmals an seinem angestammten Platz – und seine liberal-konservative Reformpartei gewannen daraufhin die Wahl im März 2007 und koalierten fortan mit der neu formierten rechtskonservativen Partei Pro Patria und Res Publica Union (Isamaa ja Res Publica Liit, IRL). Am 26. April 2007 begann die neu gewählte estnische Regierung, die ihre Wahl auch als Mandat für die gesetzlich nicht abgesicherte Verlegung des Denkmals interpretierte, mit der Exhumierung von um das Denkmal herum begrabenen sowjetischen Soldaten. Nach einer darauf folgenden ersten Krawallnacht in der Innenstadt Tallinns entschied sich die Staatsführung, die ursprünglich später angedachte Verlegung des sowjetischen Denkmals auf einen nahen Militärfriedhof nun doch sofort durchzuführen. Daraufhin kam es am 27. April erneut zu blutigen Zusammenstößen zwischen überwiegend russischstämmigen Unruhestiftern und der estnischen Polizei. In diesen Nächten randalierten und plünderten Hunderte Gewaltbereite in der Innenstadt Tallinns, fast 1200 Menschen wurden festgenommen, über 150 Verletzte sowie ein Toter waren zu beklagen – und das in der Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes aufgrund der Verlegung eines Denkmals.1

Die Parlamentswahlen 2011 bestätigten das rechtskonservative Zweierbündnis und festigten die Vorherrschaft der betont nationalen Kräfte, die sich insbesondere durch ihren privilegierten Zugang zur Interpretation der Vergangenheit als klassische Gralshüter der Nation profilieren konnten. So wird in dem baltischen Staat seit Jahren der Schaffung eines Geschichtsbildes Vorschub geleistet, bei der die Herausbildung einer exklusiven estnischen Erinnerung als einheitsstiftende Memoria auf der Basis von Helden-, Opfer- und Märtyrertum angestrebt wird. Das nicht-estnische Bevölkerungsdrittel mit überwiegend russischen Wurzeln bleibt von dieser Aushandlung und Etablierung nationaler Geschichtsschreibung allerdings ausgeschlossen, die Gesellschaft damit gespalten. Im Rahmen der geschichtspolitischen Offensive der estnischen Regierung hat die Verlegung des »Aljoscha« von Tallinn im Jahr 2007 eine Schlüsselrolle gespielt.

Sowjetische Bestätigung des Opfermythos – »Aljoscha« in Wien

Deutlich weniger kontrovers und gewaltvoll ist die Geschichte des »Aljoscha«-Monuments in der österreichischen Hauptstadt Wien – einer zwölf Meter großen bronzenen Soldatenstatue, die auf einer 20 Meter hohen Säule thront. Der offenbar Ehrenwache haltende Soldat in kompletter Kampfausrüstung hat eine Fahne in der rechten und einen vergoldeten Schild mit dem Wappen der Sowjetunion in der linken Hand, vor seiner Brust hängt ein Gewehr. Umrahmt ist das Standbild von einer halbkreisförmigen Kolonnade mit 26 Säulen. Analog zum »Befreiungsdenkmal« in Tallinn waren auch in Wien gefallene Rotarmisten um das Denkmal herum begraben worden, die allerdings bereits 1955 exhumiert und auf den Wiener Zentralfriedhof umgebettet worden waren.

Schon im August 1945 war das erste sowjetische Großdenkmal zum Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« eingeweiht worden, wobei dies zumindest in den offiziellen Verlautbarungen von österreichischen Politikern aller Parteien begrüßt worden war. Tatsächlich kam das Wiener »Befreiungsdenkmal« dem damals begründeten und weit verbreiteten Narrativ von Österreich als »erstem Opfer des Nationalsozialismus« zugute, da es diese Opferrolle bestätigte, weiterschrieb und die oft gefühlte Niederlage von 1945 positiv umdeutete. Anders als beispielsweise im Baltikum war die partielle sowjetische Besetzung Österreichs ungleich humaner verlaufen und hatte lediglich bis zum Staatsvertrag 1955 gewährt, weshalb die »Befreier«-Rhetorik der Sowjets in Wien besonders retrospektiv nicht zynisch und provokant, sondern verheißungsvoll und entlastend klang. Diese Geschichtsdeutung spiegelt insbesondere die Rede des späteren christlich-konservativen Bundeskanzlers Leopold Figl zur Eröffnung des Denkmals wider: »Sieben Jahre […] schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerbarbarismus […], brutaler Terror und Gewalt zwangen die Menschen zu blindem Untertanentum«.2 Das Denkmal selbst verweist ebenfalls auf die Opferrolle Österreichs sowie die damit verbundene scharfe Abgrenzung zu Deutschland; so ist auf der Kolonnade in goldenen russischen Lettern »Ewiger Ruhm den Helden der Roten Armee, die gefallen sind im Kampf gegen die deutsch-faschistischen Okkupanten – für die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Europas« zu lesen.

Zweimal, 1947 und 1962, konnten Sprengstoffanschläge durch neofaschistische Gruppen auf das Denkmal verhindert werden. Darüber hinaus wurde die Anwesenheit des sowjetischen Soldaten – vom Bevölkerungsanteil aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa oft »Aljoscha«, von der Wiener Urbevölkerung despektierlich »Russendenkmal« genannt – in Wien kaum infrage gestellt; zu gering waren Anteilnahme und Betroffenheit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion allerdings kamen in den Neunzigerjahren denkmalstürzerische Anregungen auf, insbesondere aus den Reihen der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei (FPÖ) um Jörg Haider. Diese wollte das Siegeszeichen der ehemaligen Besatzungsmacht loswerden, was oft mit dem Verweis auf das Denkmal als Reminiszenz der »Besetzung Österreichs von 1938–1955« und damit durch die relativierende Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus in der Geschichte Österreichs begründet wurde. Im Staatsvertrag zwischen Österreich und den vier Siegermächten von 1955 war allerdings in Artikel 19 festgelegt worden, Denkmäler der Armeen zu achten, zu schützen und zu erhalten, die auf österreichischem Staatsgebiet gegen Hitler-Deutschland gekämpft haben. Aufgrund dieser und anderer Verpflichtungen Österreichs gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ernsthafte Bestrebungen, insbesondere konservativer österreichischer Politiker, die Russländische Föderation nicht als Rechtsnachfolgerin der UdSSR anzuerkennen, um die staatsvertraglichen Verpflichtungen gegenüber Moskau beenden zu können. Erst mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahr 1995 und der damit verbundenen Übernahme des gemeinsamen außenpolitischen Besitzstandes der EU wurde Wien die Anerkennung der sowjetisch-russischen Staatennachfolge oktroyiert. Die dadurch bestätigte Kontinuität des Staatsvertrags gegenüber Russland ließ auch die Auseinandersetzungen um das Wiener »Russendenkmal« wieder abklingen. Mittlerweile sind die Diskussionen um das Denkmal am Wiener Schwarzenbergplatz (von 1946 bis 1956 Stalinplatz) größtenteils verstummt; »Aljoscha« scheint in Wien als monumentale Reminiszenz der sowjetischen Teilbesatzung der Stadt und des Landes weitgehend akzeptiert worden zu sein.

Der »Ur-Aljoscha« in Plovdiv – Sieg und Freundschaft in Granit und Gesang

Das erste Soldatendenkmal im Einflussbereich der Sowjetunion, welches »Aljoscha« genannt wurde und damit diesen bislang nicht näher bestimmten Sammelbegriff begründet hat, ist das »Denkmal für die Soldaten-Befreier« in der bulgarischen Stadt Plovdiv. In den Jahren 1954 bis 1957 wurde das Denkmal auf einer Aussichtsplattform erbaut und thront seitdem mit Blick nach Osten über der Stadt. Die gut zehn Meter hohe Statue aus Granit zeigt einen sowjetischen Soldaten in Uniform, mit Umhang und Pilotka-Feldmütze, der ein sowjetisches Maschinengewehr in der Hand hält. Neben der Inschrift »Ehre der unbesiegbaren sowjetischen Befreiungs-Armee« zieren zwei Basreliefs mit Kriegsszenen den etwa fünf Meter hohen Sockel des Denkmals.

Bereits vor seiner Einweihung, am Vorabend des Jahrestages der Oktoberrevolution am 
7. November 1957 wurde das Denkmal durch kommunistische Presse und Rundfunk in ganz Bulgarien bekannt. Zu sowjetunionweiter Popularität gelangte es wenig später, denn im Jahr 1962 besuchte der russische Komponist Eduard Kolmanovskij die Stadt und zeigte sich begeistert von dem Denkmal und seiner Vorgeschichte. Angeblich, so wurde es auch dem Komponisten überliefert, war die Statue nach einem Foto des einfachen russischen Soldaten Aleksej Skurlatov gefertigt worden, der 1944 an der Befreiung Bulgariens von deutschen Truppen beteiligt gewesen war und als Namenspatron des Denkmals fungierte. Dies inspirierte Kolmanovskij einige Jahre später dazu, zusammen mit dem Dichter Konstantin Vanšenkin das Lied »Aljoscha« über das Denkmal in Plovdiv zu verfassen.3

Aljoscha

1.Es schneit auf den Höhn des Witoschka,
   umtosen,es grünt in den Tälern die Saat,
  und weit in das Land blickt Aljoscha,
  ein russischer Freund, ein Soldat.

2.Er kämpfte, er ging durch das Grauen des Krieges,
  und steht so allein?
  Aus Stein ist die Bluse gehauen,
  die Stiefel sind kalt und aus Stein.

3.So mancher Soldat ist gefallen,
  beweint von der Mutter, der Braut;
  Aljoscha, der Russe, ist allen
  Bulgaren bekannt und vertraut.

4.Der Wind mag die Berge umtosen,
  Aljoscha steht stummen Gesichts.
  Es bringen die Mädchen ihm Rosen,
  doch er schenkt den Freundlichen nichts.

5.Vom Mond bleibt ein bläßlicher Schimmer,
  ein strahlender Morgen erblaut:
  Aljoscha, als wär es schon immer, steht schweigend,
  gewohnt und vertraut.

6.Es schneit auf den Höhn des Witoschka,
  es grünt in den Tälern die Saat,
  und weit in das Land blickt Aljoscha,
  ein russischer Freund, ein Soldat. 4

Im Verlauf der Planungs- und Bauphase war das Monument bereits mit den Narrativen des aufopferungsvollen sowjetischen Freiheitskampfes für das bulgarische Volk im »Großen Vaterländischen Krieg« sowie der dadurch begründeten bulgarisch-sowjetischen Freundschaft propagandistisch aufgeladen worden. Nun wurde die politische Instrumentalisierung durch das Zusammenspiel des Denkmals und seiner vertonten Geschichte komplettiert. 1966 wurde das Lied »Aljoscha« in der sowjetischen Armeezeitschrift Staršina-Seržant, einem offiziellen Organ des Verteidigungsministeriums der UdSSR, veröffentlicht und 1968 im Rahmen der IX. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Sofia dargeboten, was dem Stück zum Durchbruch verhalf. In den Siebzigerjahren brachte es das Musikstück über die Heldentaten des tapferen russischen Soldaten in Bulgarien im gesamten Einflussbereich der UdSSR zu großer Popularität. Es gehörte zum Lehrstoff in bulgarischen Grundschulen, wurde auf Massenveranstaltungen der Kommunistischen Partei Bulgariens gespielt sowie zur offiziellen Hymne der Stadt Plovdiv ernannt.5 Durch diese Popularisierung begannen unabhängig voneinander viele Menschen im gesamten Einflussbereich der Sowjetunion, ihre lokalen Soldatendenkmäler nach dem Vorbild des Liedes über das Monument in Plovdiv »Aljoscha« zu nennen, was bis heute so geblieben ist. Auch weiterhin ist das Lied im gesamten postsowjetischen Raum verbreitet sowie kontinuierlicher Bestandteil des russischen Bildungskanons, wo es beispielsweise in Lehrwerken über den »Großen Vaterländischen Krieg« abgedruckt ist.6

Von Wien bis Wladiwostok kennt man den »unbekannten Soldaten«

Auch durch die immer wieder aufflammenden politischen Kontroversen um die »Aljoscha«-Denkmäler bleiben diese selbst über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiter im kollektiven Gedächtnis der zwischen Wien und Wladiwostok ansässigen Menschen verhaftet. Dabei verstehen es sowohl Befürworter als auch Gegner des sowjetischen Erbes immer wieder, die Denkmäler für ihre jeweilige politische Agenda zu instrumentalisieren.

So gab es im ukrainischen Charkiv vor einigen Jahren ebenfalls Initiativen, das 1981 aufgestellte Soldatendenkmal abzubauen, da angeblich bei der Errichtung eine gültige Baugenehmigung der sowjetischen Administration gefehlt hatte. 2009 wurde es allerdings durch Unterstützung der russlandfreundlichen Partei der Regionen restauriert und erfreut sich insbesondere bei dem hohen Bevölkerungsanteil ethnischer Russinnen und Russen in der Stadt großer Beliebtheit. Auch in Charkiv nennen viele Menschen das Denkmal »Aljoscha«; andere wiederum bemühen sich um mehr Lokalkolorit und bezeichnen den Soldaten als »Pavluscha« in Analogie zu dem Namen des Stadtteils, Pavlove Pole, in dem das Denkmal steht.

Eine gänzlich andere Geschichte weist das »Aljoscha« genannte Denkmal im sibirischen Nižnevartovsk auf: Im Jahr 1978 wurde hier die zwölf Meter hohe Bronzefigur eines Arbeiters in Bergbaumontur errichtet, ausgerüstet mit einem schweren Hammer und einer Schale mit Fackel in den Händen, der Inschrift nach der »Eroberer von Samotlor«. Samotlor ist das größte Ölfeld Russlands sowie der ehemaligen Sowjetunion. Damit konnte, mehr als 3000 Kilometer östlich des früheren Kriegsgeschehens, den Errungenschaften der »proletarischen Arbeitermassen« unter dem Aljoscha-Label und somit dem Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« in einer zivilen Abwandlung für Werktätige kommemoriert werden.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es auch in Plovdiv mehrere politische und gesellschaftliche Initiativen, um das Denkmal demontieren zu lassen. Insbesondere die Rolle der Roten Armee als »Befreierin« Bulgariens stand zur Debatte, da das Land während des Zweiten Weltkriegs weder von deutschen Truppen besetzt war, noch im Sinne einer Vichy- oder Quislingregierung kollaborierte oder eine deutsche Marionette darstellte. Im Zuge einer der zahlreichen Diskussionen um den »Ur-Aljoscha« zum 50-jährigen Jubiläum des Denkmals im Jahr 2007 wurde, ähnlich wie in Tallinn, eine ganztägige Bewachung des Denkmals organisiert, und Veteranen der Roten Armee in Bulgarien drohten mit Selbstverbrennung, sollte das Denkmal abgebaut werden. Schließlich entschied der Oberste Gerichtshof Bulgariens gegen eine Verlegung des Monuments, und der damalige sozialistische Premierminister Sergej Stanišev versicherte bei seinem Besuch in Moskau nach den Unruhen von Estland, dass sich in Bulgarien niemand erdreisten werde, das Denkmal auch nur zu berühren. Somit ist die Diskussion um »Aljoscha« in Bulgarien und damit über Befreiung vs. Besatzung sowie die Thematisierung der Kollaboration mit Hitler-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs ein Hybrid der Kontroversen in Estland und Österreich.7

»Aljoscha« als Personifizierung des Sieges der Sowjetunion im »Großen Vaterländischen Krieg« ist – zumindest in Mittel- und Osteuropa – weiterhin ein sowjetischer Mythos, der auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus noch eingelöst wird. Außerhalb der Russländischen Föderation wird dieser insbesondere durch Auslandsrussen, Veteranen der Roten Armee, sozialistische Politiker und Parteigänger sowie Sowjet-Nostalgiker am Leben gehalten. Die wachsende Popularität solch affirmativer Geschichtsmythen wird nicht zuletzt durch das großrussische Sendungsbewusstsein der Putin’schen Vergangenheits- und Geschichtspolitik und ihrer systemimmanenten Übersetzung historischer kommunistischer Ordnungssysteme in die russische bzw. postsowjetische Realität des 21. Jahrhunderts katalysiert.

Lied und Denkmal für den russischen Kriegshelden »Aljoscha« stehen stellvertretend für alle sowjetischen Soldaten, insbesondere für die im Krieg gefallenen. Heute ist allerdings nicht nur die Erinnerung an den Helden weiter lebendig, sondern auch die Muse, Aleksej Skurlatov, erfreut sich bester Gesundheit und lebt im russischen Altai. Im Jahr 2010 wurde der Veteran mit der »Medaille 65 Jahre Sieg über den Faschismus des bulgarischen Präsidenten« ausgezeichnet. Damit verleiht Aljoscha den sowjetischen Denkmälern für die »Befreier« und »unbekannten Soldaten« weiterhin ein menschliches Antlitz und verankert den Mythos auch im heutigen Alltagsleben der Menschen im postsowjetischen Raum.


1 Siehe hierzu ausführlicher Felix Münch: Diskriminierung durch Geschichte? Der Deutungsstreit um den »Bronzenen Soldaten« im postsowjetischen Estland, Marburg 2008.

2 Hannes Leidinger/Verena Moritz: 1945. Planung, Bau und Einweihung des Russendenkmals, in: Matthias Marschik/Georg Spitaler (Hg.): Das Wiener Russendenkmal. Architektur, Geschichte, Konflikte, Wien 2005, S. 15–20, hier S. 19.

3 Siehe Michail P’janych: Vanšenkin Konstantin Jakovlevič, in: Russkaja Literatura XX Veka. Prozaiki, Poėty, Dramaturgi [Russische Literatur des 20. Jahrhunderts. Schriftsteller, Dichter, Dramatiker], Sankt Petersburg 2005, Bd. 1, S. 332.

4 Diese deutsche Version des Liedes, mehr Übertragung als Übersetzung, findet sich in: Verhangen war mit Tränenrauch. Gedichte gegen Faschismus und Krieg, (Ost-) Berlin 1981, S. 174.

5 Siehe Bolgarskij Aleša živet na Altae [Der bulgarische Aljoscha wohnt im Altai], in: www.izvestia.ru/news/323849, ges. am 17. April 2012.

6 Siehe Igor‘ Damaskin/Petr Košel‘/Jurij Nikiforov: Velikaja Otečestvennaja Vojna 1941–1945. Ėnciklopedija dlja Škol’nikov [Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945. Enzyklopädie für Schüler], Moskau 2005, S. 404.

7 Zu den bulgarischen Geschichtsdebatten über Faschismus und Zweiter Weltkrieg siehe Roumen Daskalov: Debating the Past. Modern Bulgarian History. From Stambolov to Zhivkov, Budapest 2011, S. 145–211.

Inhalt – JHK 2013

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