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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2009

Gescheiterte Revolution. In den russischen Archiven gehen die Uhren rückwärts

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 377-390 | Aufbau Verlag

Autor/in: Markus Wehner

Anfang 2008 erhielten geschichtswissenschaftliche Institute und Fakultäten in Moskau einen Brief vom russischen Außenministerium. Dessen Planungsstab lud zu einem internen »runden Tisch« am 12. Februar ein. Das Thema: »Der Verfälschung der Geschichte zum Schaden Russlands entgegentreten – eine Aufgabe von gesamtstaatlicher Priorität«. Diskutiert werden solle, ob ein staatlicher Mechanismus geschaffen werden müsse, um gegen die »heutige Spirale der Fälschungen«, gegen eine Umschreibung der Geschichte, mit der Russland geschadet werden solle, vorzugehen. Dafür müsse man »Gegner und Verbündete« im Ausland identifizieren, zudem sollten allerlei Institutionen und Gruppen gewonnen werden, um der notwendigen Kampagne gegen die Geschichtsfälscher Schwung zu geben. Die Aufzählung reicht von »gemeinsamen Historikerkommissionen« über die Kriegsveteranen-Verbände bis hin zu den Russen im Ausland. Auch die Geschichtswissenschaft solle im Kampf gegen die Diskreditierung der russischen Geschichte eine Rolle spielen, nämlich die erwünschte »konterpropagandistische Arbeit« durch Informationen begleiten.1

Wie die Diskussion im russischen Außenministerium endete, ist dem Verfasser dieses Beitrags nicht bekannt. Unstrittig scheint jedoch, dass Geschichte in Russland heute auf neue Weise instrumentalisiert wird. Sie dient dazu, das Selbstbewusstsein einer Großmacht zu demonstrieren, sich in der wieder aufgeflammten Konfrontation mit dem Westen ideologisch zu behaupten, eigene politische und rechtliche Ansprüche zu untermauern oder unerwünschte Ansprüche anderer Staaten abzuwehren. Vor 15 Jahren waren die politischen Prioritäten andere. Russland öffnete sich damals nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes politisch, ökonomisch und kulturell dem Westen. Das Ende der Sowjetherrschaft veränderte auch den Blick der Russen auf die Vergangenheit ihres Landes – sie begannen, zunächst mittels der Publizistik und der Literatur, ihre eigene Geschichte neu kennenzulernen. Im Zuge dieser Neubewertung wurden die zuvor weitgehend verschlossenen russischen Archive geöffnet. Die Staatsführung unter Präsident Boris Jelzin war daran interessiert, die Geschichte der Sowjetdiktatur erforschen zu lassen, um die dadurch gewonnenen Erkenntnisse als Instrument gegen eine drohende politische Revanche einzusetzen. Gerade während des Prozesses gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) vor dem russischen Verfassungsgericht im Jahr 1992 wurden zahlreiche brisante Dokumente aus den Parteiarchiven, den Archiven des KGB, des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums veröffentlicht.

In den Lesesälen einstiger Parteiarchive herrschte Anfang und Mitte der Neunzigerjahre reges Treiben. Auf einmal war die geheime Welt der russischen Archive offen. Russische wie ausländische Historiker gruben in den gerade freigegebenen Akten der kommunistischen Epoche, nicht zuletzt der Stalin-Zeit, nach wissenschaftlichem Gold. Mit der Zeit, hoffte man, würden die vielen Rätsel und Geheimnisse der Sowjetgeschichte gelöst werden. Eine Archivrevolution, so meinten viele, hatte begonnen.2 Tatsächlich konnten liberal gesinnte Archivdirektoren in dieser revolutionären Aufbruchstimmung oft selbst entscheiden, ob ehemals geheime Bestände (und das war die ganz große Mehrheit) zugänglich gemacht werden sollten.

Was ist aus dieser Revolution geworden? Wurde sie zu Ende gebracht, ist sie vertagt worden oder ist gar eine Konterrevolution im Gange? Wie ist die Lage in den russischen Archiven heute? Welche sind für Nutzer offen, welche weiter oder schon wieder geschlossen? Was bedeutet die Situation in den Archiven für die russische Geschichtswissenschaft und für die westliche Russland- und Kommunismusforschung? Haben sich die Kooperationsprojekte des Westens Früchte getragen? Und wie viel Einfluss kann die deutsche, europäische und internationale Wissenschaftskooperation mit Russland heute auf die Situation in den Archiven nehmen?

Im Sommer 2008 hat der Verfasser in Moskau mit Archivdirektoren, Instituts- und Verlagsleitern und nicht zuletzt mit russischen Historikern, die in den Archiven forschen, über diese Fragen gesprochen. Auch deutsche Geschichtswissenschaftler, die in russischen Archiven gearbeitet haben oder dort arbeiten, gaben ihm über ihre Erfahrungen Auskunft. Nicht alle Gesprächspartner wollen hier genannt werden. Der Leiter des staatlichen russischen Archivdiensts »Rosarchiv«, Wladimir Petrowitsch Koslow, hat ein persönlich zugesagtes Interview kurzfristig aus fadenscheinigen Gründen abgesagt. Nachdem er es mehrfach verschoben hatte, war es laut Koslow nicht möglich, in der noch verbleibenden Zeit von zwei Tagen rechtzeitig einen »Passierschein« (propusk) für sein Amtsgebäude auszustellen.

Am Rande des Abgrunds

So sehr diese Absage als eine Ausflucht gewertet werden muss, ist sie doch typisch für das, was russische wie ausländische Nutzer oft als absurde Welt der Archive erleben. Undurchsichtige Regeln, überbordender Bürokratismus, fehlende Informationen, mittler-weile auch eingeschränkte Öffnungszeiten und überhöhte Preise gehören zu den Gründen für die regelmäßigen Klagen darüber, dass es sich in den russischen Archiven so schwer gewinnbringend arbeiten lasse. Die Arbeitsbedingungen haben – zumindest auch – mit dem jeweiligen Zustand und der personellen Ausstattung zu tun. Im Russischen Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv social‘no-politic(v)eskoj istorii, RGASPI) sind die technischen Mitarbeiter im Durchschnitt 68 Jahre alt, fast zwei Drittel der Stellen unbesetzt. Die dort tätigen Wissenschaftler sind im Durchschnitt 60 Jahre alt. Jüngere Leute arbeiten hier nicht mehr, denn von umgerechnet 200–300 Euro im Monat kann man in Moskau schon lange nicht mehr leben – viele Berufsanfänger verdienen heute das Zehnfache. Absolventen des Moskauer Instituts für Geschichte und Archivwesen, die früher den Kernbestand des wissenschaftlichen Personals stellten, fingen deshalb heute nicht mehr in den Archiven an, sagt Larissa Rogowaja, die stellvertretende Direktorin des Staatsarchivs der Russischen Föderation (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii, GARF).

Im GARF, das vor einigen Jahren seinen Lesesaal grundlegend modernisiert hat und als eher nutzerfreundlich und demokratisch gilt, arbeiten noch immer viele Forscher. Andere Archive dämmern mehr vor sich hin, es kommen nur noch wenige Nutzer, darunter immer weniger Ausländer. »Irgendwann wird das Personal fehlen, um das Archivwesen aufrechtzuerhalten«, sagt der Geschichtsprofessor Kyrill Anderson, bis zum Sommer 2008 Direktor des RGASPI (er wurde wegen eines Konflikts mit Rosarchiv-Chef Koslow entlassen). Tatsächlich stehen viele Archive heute aufgrund fehlender Gelder am Rande des Abgrunds. Das gilt auch für manche Museen und Bibliotheken, aber die Lage in den Archiven erscheint noch dramatischer. Die Bürokratie fordert zahlreiche Abgaben, von der Gebühr für die Feuerwehr bis zum Erwerb einer Lizenz zur Aufbewahrung geheimer Dokumente, die der Inlandsgeheimdienst FSB vergibt. Zugleich nimmt die Zahl lukrativer gemeinsamer Projekte mit dem Ausland ab. Um die Einnahmen zu erhöhen, werden die Nutzer zur Kasse gebeten, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes über Gebühr. Ausländische Forscher trifft dies besonders, denn sie zahlen für Kopien mehr als ihre russischen Kollegen – im Moskauer Staatlichen Militärarchiv (Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv, RGVA), zum dem auch das »Sonderarchiv« mit seinen deutschen Beute-Akten gehört, etwa dreimal so viel. Wer seine Kopien schnell braucht, muss noch tiefer in die Tasche greifen. Für jede kopierte Seite eines Dokuments nehmen Moskauer Archive von Ausländern mittlerweile zwischen zwei und vier Euro.

Historiker, die auf Dokumente aus der Zarenzeit angewiesen sind, erleben bereits seit fünf Jahren ein Trauerspiel – sie kommen an die Akten nicht heran, weil das Russische Historische Staatsarchiv (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv, RGIA) in Sankt Petersburg geschlossen ist. Der Grund war zunächst, dass es in ein neues Gebäude umziehen sollte. Nachdem dies nun mit reichlicher Verzögerung geschehen ist, wurde es noch nicht wiedereröffnet, weil angeblich nicht genug Mitarbeiter für einen geregelten Betrieb vorhanden sind.

Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück

Die beschriebenen Schwierigkeiten ermüden die Archivnutzer. Ihnen hilft nur langer Atem, freundliche Beharrlichkeit und – bei Forschern aus dem Westen – die Unterstützung russischer Archiv-Veteranen und erfahrener Wissenschaftler, ohne die sie nur schwer vorankommen werden. Ein noch größeres Hindernis für eine erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit ist allerdings, dass viele ehemals nutzbare Akten mittlerweile wieder als geheim eingestuft worden sind oder aber trotz offizieller Freigabe faktisch unzugänglich bleiben. Oft bekommt man die benötigten Findbücher nicht, oder Dokumente, die darin als zugänglich bezeichnet sind, werden de facto nicht ausgegeben. Manchmal heißt es, sie seien für Monate »zum Scannen«. Oder sie seien noch in einem Zustand, der eine Ausgabe verbietet. Oder sie seien noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Überprüfen lässt sich das in der Regel nicht. Oft wird auch gar keine Begründung gegeben.

Aus dem Komintern-Archiv im RGASPI sind zwar viele Dokumente durch ein Gemein-schaftsprojekt mit westlichen Institutionen im Internet verfügbar gemacht worden.3 Aber gerade die Schlüsseldokumente fehlen in dem Online-Projekt; auch im Archiv selbst sind sie für den gemeinen Nutzer heute wieder unzugänglich. Das gilt etwa für die Akten der Budgetkommission oder der Kaderabteilung (darunter auch die Akten berühmter deutscher Politemigranten wie Walter Ulbricht oder Erich Mielke). Ohne diese Bestände sind aber Fragen zur Lenkung und Finanzierung der ausländischen kommunistischen Parteien durch Moskau und damit ihrer Abhängigkeit von den sowjetischen Staatsfinanzen ebenso wenig zu klären wie zu wichtigen Entscheidungsprozessen in der Komintern-Spitze. Gesperrt bleiben auch die Akten der »Abteilung für internationale Verbindungen« (OMS) oder die chiffrierten Telegramme. »Man hat einfach die Dokumente der Kategorie B freigegeben, und die westlichen Partner haben es versäumt, sich vorher Zusicherungen für die Kategorie A geben zu lassen«, sagt ein Forscher über das Comintern-online-Projekt, an dem sich unter anderen der Europarat, der Europäische Archivrat und das Bundesarchiv beteiligten. Tatsächlich schränkt es den Wert eines solch großen Projekts ein, wenn wichtige Dokumentenbestände nicht darin aufgenommen werden.4 Doch immerhin gewährt die Datenbank nunmehr unkomplizierten Zugang zu 1,3 Millionen Dokumentenseiten aus dem Kominternbestand. Derweil erklärt die Archivleitung des RGASPI die Sperrung ganzer Bestände der Komintern mit dem aberwitzigen Beschluss von oben, alle fremdsprachigen Dokumente müssten zunächst übersetzt werden – andernfalls sei eine Bewertung und Freigabe nicht möglich. Das freilich ist bei Tausenden in Deutsch, Englisch, Französisch und anderen Sprachen verfassten Archivseiten kaum zu leisten. Man habe sich inzwischen zwar auf kurze Inhaltsangaben auf Russisch geeinigt – aber auch das erfordere Personal und Geld, das kaum zur Verfügung stehe, heißt es.

Auch der Archivnachlass Stalins im RGASPI kann nicht in Gänze eingesehen werden, Gleiches gilt für die Originalprotokolle des Politbüros. Die Akten wurden aus dem »Präsidentenarchiv«, dem einstigen Archiv Stalins und des Politbüros, abgegeben und müssten nun eigentlich allen Nutzern offenstehen. Dass dem nicht so ist, wird damit begründet, dass einzelne Seiten für geheim erklärt worden seien – oft nur eine oder zwei in einer 200-seitigen Akte. Für die Anfertigung von Kopien fehle indes das Geld. So bleiben 200 Akten zu. Inwieweit solche offiziellen Begründungen stichhaltig sind, ist für Außenstehende kaum zu überprüfen. Viele russische Archivmitarbeiter und -nutzer bezeichnen sie jedoch als Vorwände, die der jeweiligen Archivleitung ermöglichten, die wichtigsten Akten aus ihren Beständen in eigenen Projekten zu »vergolden«, statt sie der wissenschaftlichen Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Denn wenn alles offen ist, kommt niemand mehr mit Projekten zu den Archivdirektoren. Die aber suchen Sponsoren für ihre Institutionen.

Back in the USSR

Wie die Zustände in den Archiven sind, hängt also in hohem Maße von deren jeweiligen Direktoren ab. Diese sehen sich allerdings heute hohem Druck und weitaus stärkerer Kontrolle ausgesetzt als früher – durch Rosarchiv, den Inlandsgeheimdienst FSB oder die Präsidialverwaltung selbst. Das wird besonders deutlich in der Frage der Freigabe geheimer Dokumente, die das russische Archivwesen seit dem Übergang von der Sowjetunion zur Russischen Föderation begleitet. Seit sieben Jahren treibt in dieser Angelegenheit eine »Interministerielle Kommission zum Schutz des Staatsgeheimnisses« ihr Unwesen, die vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin durch den Erlass Nr. 627 gegründet wurde. Eigentlich wäre es die Aufgabe dieser Kommission, die ihre ineffektiven Vorgängergremien ersetzen sollte, Archivakten aus der Sowjetzeit freizugeben. Doch in der Praxis tut sie eher das Gegenteil. Hatte die Kommission 2005 nur 13 Prozent der begutachteten Akten aus dem RGASPI für »geheim« erklärt, so waren es 2006 schon 40 Prozent. Im vergangenen Jahr beschloss die Kommission, dass 60 Prozent der zur Freigabe vorgesehenen Akten – wohlgemerkt aus der Stalin-Zeit, also bis 1953 – geschlossen bleiben sollten! Noch schwieriger scheint die Lage im Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii, RGANI), das die Parteidokumente von 1953 bis 1991 aufbewahrt. Hier hat die Kommission viele Akten, die freigegeben waren, wieder für geheim erklärt, beispielsweise zum interessanten Thema der Außenpolitik von Nikita Chruschtschow gegenüber den Vereinigten Staaten ab 1959, also zur Kuba-Krise und ihrer Vorgeschichte.

Für die Kommission begutachten ältere Mitarbeiter russischer Ministerien und Behörden die Akten. Sie arbeiten schleppend und umständlich und verfahren immer mehr im Geist der früheren Parteiräson. »Sie werden immer vorsichtiger und ängstlicher«, sagt ein Archivdirektor. »Dafür, dass Akten als geheim eingestuft werden, ist noch niemand bestraft worden. Dafür, dass man sie freigegeben hat, schon«, erklärt ein Forscher die neu belebte Geheimhaltungsmanie. Selbst Akten, die 1992 im Prozess gegen die KPdSU veröffentlicht wurden, sind heute für geheim erklärt. Das gilt auch für Dokumente, die im Ausland längst publiziert sind. So hatte Präsident Jelzin in den Neunzigerjahren bei Auslandsbesuchen, etwa in Deutschland oder der Tschechischen Republik, Dokumentenkopien als Geschenke mitgebracht. Sie sind in Artikeln und Monografien in Übersetzung veröffentlicht worden. Auf die Originale können sich russische Forscher aber nicht beziehen, da sie in den russischen Archiven immer noch als geheim eingestuft sind. »Die Publikation eines Dokuments kann nicht als Grund für die Aufhebung seiner Geheimhaltung dienen«, lautet seit Jahren die lapidare Erklärung der russischen Archivverwaltung, etwa ihres erwähnten Leiters Koslow.

Nachdem Akten von einem Archiv zur Freigabe vorgeschlagen wurden, dauert es oft zwei, drei Jahre oder noch länger, bis eine Entscheidung oder auch nur eine Reaktion der Interministeriellen Kommission folgt. »Die Experten geben oft subjektive und nicht immer begründete Gutachten ab, mitunter auch mit Formulierungen, die von der russischen Gesetzgebung nicht vorgesehen sind«, schrieb schon 2004 Michail Prosumenschtschikow, der stellvertretende Direktor des RGANI.5 Wie abstrus die Arbeit der Kommission abläuft, zeigt ein Beispiel aus dem sogenannten Präsidentenarchiv, dem Archiv des früheren Politbüros. Aus den dort lagernden Akten wollte Alexander Fursenko, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, einen Dokumentenband über die britisch-sowjetischen Beziehungen zusammenstellen und herausgeben. Von 120 ausgewählten Akten gaben die Mitarbeiter der betroffenen Behörden 114 frei. Der letzte »Experte«, der sein Votum abzugeben hatte, war ein betagter Mitarbeiter des Atomministeriums. Er erklärte von den betreffenden Akten 108 für »geheim«, nur sechs hielt er für unbedenklich. Die Begründung: Wegen des Giftmords an dem ehemaligen russischen KGB-Agenten Alexander Litwinenko im britischen Exil seien die russisch-britischen Beziehungen so schlecht geworden, dass eine Freigabe der Dokumente nicht infrage komme. Da die Entscheidungen im Konsens getroffen werden müssen, sperrte der Mann durch sein Votum die Akten. Anschließend verreiste er auf seine Datscha und war monatelang nicht zu erreichen.

Nach Angaben eines Archivdirektors sind die Kriterien für eine Freigabe von Dokumenten völlig willkürlich. Jede Behörde gebe ihrem zuständigen Mitarbeiter eigene Instruktionen. So hätten manche Akten schon zweimal den Freigabeprozess durchlaufen – beim ersten Mal sei ein Teil freigegeben worden, beim zweiten Mal genau der andere Teil, der zuvor als weiterhin geheim eingestuft worden war. Geheimhaltungsmanie und Willkür bei der Freigabe widersprechen freilich den russischen Gesetzen. Zum einen hatte Präsident Boris Jelzin 1992 die Anweisung erteilt, alle Akten, die die Repressionen der Sowjetorgane betreffen, freizugeben. Zum anderen sind nach russischem Gesetz Akten prinzipiell nach 30 Jahren freizugeben, wenn sie keine Staatsgeheimnisse berühren. »Eigentlich müssten 95 Prozent der Akten bis 1978 offen sein, und nur die übrigen fünf Prozent, die einer Geheimhaltung unterliegen könnten, müssten geprüft werden«, sagt Larissa Rogowaja vom GARF. Stattdessen hat man bis auf Weiteres sämtliche sowjetischen Akten für geheim erklärt, selbst wenn sie 60 oder 70 Jahre alt sind. Eine automatische Freigabe nach 30 Jahren findet nicht statt.

Stalins Archiv

Ein Sonderfall ist das Präsidentenarchiv, das von Stalin geschaffen wurde – viele Dokumente tragen noch seine Aufschrift »moj archiv« – »mein Archiv«. Das Archiv wurde von seinen Nachfolgern weitergeführt, bis hin zu Michail Gorbatschow. Allein der Breschnew-Fond macht 1500 bis 1600 Akten aus. Die Anzahl der Dokumente zu einzelnen Feldern der Innen- und Außenpolitik ist sehr unterschiedlich – je nachdem, wie sehr das Politbüro und den jeweiligen Sowjetführer das Thema interessierte. So gibt es beispielsweise viele Akten zur Geschichte der russischen Atombombe oder zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, aber nur wenige zu den Beziehungen zu Großbritannien.

Ausländer haben prinzipiell keinen Zugang zum Präsidentenarchiv. Russische Forscher müssen sich an den Leiter der Präsidialverwaltung wenden, doch auch von ihnen konnten bisher nur wenige dort arbeiten; meist handelt es sich um bekannte Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften – jedenfalls um Personen mit »privilegiertem Zugang«. Anders als oft behauptet, gibt es im Präsidentenarchiv einen Lesesaal – allerdings nur für ein Dutzend Personen. Nachdem Präsident Jelzin 1993 eine entsprechende Anweisung gegeben hatte, wurden Dokumente aus dem Archiv im Magazin Istotschnik (Quelle) publiziert, einer Beilage der historischen Zeitschrift Rodina (Heimat). Da diese eingestellt wurde, wird nun seit 2006 einmal im Jahr zusammen mit dem Deutschen Historischen Institut (DHI) in Moskau der Vestnik archiva presidenta RF (Bote des Präsidentenarchivs der Russischen Föderation) veröffentlicht. Sinnvoll wäre es, entweder die Bestände den historischen Archiven zu übergeben – oder vor Ort ein wissenschaftliches Zentrum samt Archivnutzung einzurichten. Ersteres tut das Präsidentenarchiv zum Teil, Letzteres ist nicht geplant.

Die Partei, die Partei

Besonders interessant könnte für Forscher das RGANI sein. Es war gewissermaßen das laufende Archiv des ZK der KPdSU nach dem Tode Stalins. Hier liegen die Materialien des zentralen Parteiapparats von 1953 bis zum Ende der Sowjetunion 1991 – sofern sie nicht im Präsidentenarchiv geblieben sind. Mittlerweile hat dieses aber vieles übergeben: die Chruschtschow-Akten, die Andropow-Akten und die Originalprotokolle des Politbüros ab 1953. Die Möglichkeiten, im RGANI sinnvoll zu arbeiten, sind allerdings sehr begrenzt – nicht nur, weil hier, wie auch in manchen anderen Archiven das Mitbringen von Laptops untersagt ist, sondern vor allem weil noch immer fast alles der Geheimhaltung unterliegt. Oder vieles schon wieder. Hatte der frühere Archivdirektor Rudolf Pichoja sämtliche Akten bis zum Jahre 1961 öffnen wollen, so hat die erwähnte Interministerielle Kommission viele schon offene Bestände wieder für geheim erklärt. Die Materialien des ZK der KPdSU für die Jahre 1953 bis 1961 sollten 1995 / 1996 freigegeben werden – dreizehn Jahre später ist das aber immer noch nicht der Fall. Historische Themen, die die Zeit nach 1945 betreffen, sind deshalb schwer zu bearbeiten. Wenn selbst die Dokumente über die kulturellen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR in den Fünfzigerjahren wieder geheim sind, was darf man dann erst bei brisanteren Themen erwarten?

Heute kann der Benutzer im RGANI nur sein Thema angeben und hoffen, dass sich im kleinen freigegebenen Teil der Akten etwas Brauchbares dazu findet – und es ihm dann auch gegeben wird. Dabei hätte das Archiv gerade auch zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen viel zu bieten, etwa zahlreiche Akten zu Willy Brandt und zur SPD. Da mittlerweile die gesetzliche Frist von 30 Jahren abgelaufen ist, könnte man solche Materialien freigeben. Das ist aber bisher nicht geschehen.

Das RGASPI, das die Dokumente des zentralen Apparats der Kommunistischen Partei bis 1953 aufbewahrt, hat viel mehr Akten freigegeben. Doch wie bereits erwähnt, sind auch dort einige Bestände gesperrt. Auch die Dokumente des Politbüros sind nur eingeschränkt zugänglich: Man kann zwar die Protokolle des Politbüros einsehen, nicht aber die weit aussagekräftigeren Originalmaterialien dazu, etwa Karteikarten, auf denen alle Mitglieder Anmerkungen zu Beschlüssen gemacht haben. Daran lässt sich auch ablesen, wie das Politbüro durch Dreier-, Fünfer- oder Siebenergruppen seiner Mitglieder ersetzt wurde. Zusammen mit dem Stalin-Fond ließe sich mit diesen Materialien sehr gut die Arbeitsweise des Stalin’schen Politbüros nachvollziehen – wenn nur die Akten zugänglich wären!

Der Stalin-Fond umfasst etwa 16 000 Akten. Tausende davon wurden vom Präsidentenarchiv übergeben, ebenso Akten anderer Sowjetführer wie Molotow, Andrejew, Woroschilow und Suslow. Doch auch hier herrschen die gleichen Probleme.

Verschlossene Türen

Weitgehend verschlossen sind die Archive russischer Ministerien. Sie unterstehen nicht Rosarchiv und können deshalb nach Gutdünken der Ministerialbürokratie über ihre Bestände verfügen. Versuche, die Selbstherrlichkeit dieser Großarchive zu beschneiden, sind bisher gescheitert. Als besonders restriktiv gilt die Praxis der Archive des Außen- und des Verteidigungsministeriums – zweier Institutionen, die für die historische Forschung von großer Wichtigkeit sind.

Über die Zugänglichkeit und Kooperationsbereitschaft des Außenministeriums mag ein Beispiel Auskunft geben. Ein geplanter deutsch-russischer Dokumentenband sollte über die Treffen Stalins mit der SED-Führung bis 1953 informieren. Einige Dokumente dazu befinden sich im RGASPI, die anderen im Archiv des russischen Außenministeriums. Der Leiter des DHI in Moskau, Professor Bernd Bonwetsch, wandte sich wegen des Projekts an dessen Direktor, mit dem er in der deutsch-russischen Historikerkommission sitzt. Er wurde ermuntert, eine entsprechende Anfrage an das Archiv zu richten. Nach einiger Zeit erhielt er eine sechszeilige Nachricht: Nach eingehender Suche müsse man leider mitteilen, dass die entsprechenden Dokumente nicht vorhanden seien. Das allerdings entspricht, wie mehrere Archivare in Moskau versichern, nicht der Wahrheit. Wenn schon auf dieser Ebene kein Zugang zu wichtigen Dokumenten möglich ist, dann ist er für den normalen Nutzer nahezu ausgeschlossen.

Wie das Außen- gilt auch das Verteidigungsministerium als Bastion der Geheimhaltung. Um sein Archiv in Podolsk zu betreten, müssen hohe Hürden überwunden werden. Manche Dokumente werden dort kopiert, zu anderen dürfen nur Notizen angefertigt werden. Wieder andere dürfen nur gelesen und nicht einmal etwas aus ihnen abgeschrieben werden. Ein deutscher Forscher berichtet, dass er sich glücklicherweise bei einem Besuch Notizen auf Russisch gemacht habe. Andernfalls, so sagten ihm die Archivare, hätten sie zunächst übersetzt werden müssen, bevor er sie hätte mitnehmen können. Gerade beim Thema Zweiter Weltkrieg herrschen weiter Tabus: Alles, was Kapitalverbrechen von Soldaten der Roten Armee wie Vergewaltigung und Raub im und nach dem Krieg betrifft, bleibt ebenso verschlossen wie Dokumente über Beutekunst aus Deutschland.

Schwierig ist auch die Arbeit im Archiv des Geheimdiensts FSB. In den Neunzigerjahren war hier manches möglich – inzwischen wird sehr viel weniger kooperiert. Zwar wird das Projekt der »Erschießungslisten« (rasstrelnye spiski), in dem die Opfer des Großen Terrors der Jahre 1937 / 38 aufgelistet werden, weitergeführt. Im Wesentlichen stammen die Angaben aus dem FSB-Archiv, die etwa Historiker der Gesellschaft »Memorial« verwenden konnten, allerdings aus den Neunzigerjahren. Wie in vielen anderen Archiven werden Benutzern keine Findmittel ausgehändigt. Man kann nur in einem Schreiben an die Archivleitung sein Thema angeben und bekommt dann unter Umständen etwas herausgesucht. Das Archiv bestimmt so selbst, wie es genutzt werden kann. Zwar ist es weiter möglich, mit einer Vollmacht von deren nächsten Verwandten die Geheimdienstakten zu Opfern der Stalin’schen Verfolgung einzusehen, doch nicht immer werden diese Dokumente auch ausgehändigt. So erhielt der Verfasser aus einer über 200 Seiten starken Akte nur 20 Seiten Kopien. Der Rest sei gesperrt, da der betreffende deutsche Kommunist, in Stalins Großem Terror 1937 / 38 erschossen, in den Zwanziger- und Dreißigerjahren für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet hatte. Auch die versprochene Übergabe von Dokumenten der sowjetischen Geheimdienste (OGPU, NKWD) an die Staatsarchive findet nicht statt. Allein das Staatsarchiv der Russischen Föderation erhielt 120 000 Akten des Moskauer NKWD-Bezirks – darunter auch Angaben über Hunderte deutscher Opfer. Der Grund für die Übergabe war jedoch nicht die Einsicht, dass die Akten historisch aufgearbeitet werden müssen, sondern fehlender Platz in den Archiven des FSB.

Umwege und Auswege

Lohnt es sich deshalb nicht mehr, in russischen Archiven zu arbeiten? Insgesamt sind viele Archive und ihre Mitarbeiter höchst unzufrieden mit der Situation. Manche, etwa das Staatsarchiv GARF, bemühen sich, so viele Akten wie möglich freizugeben, doch auch hier gehen die Uhren nur sehr langsam. Oft gilt es deshalb für den Nutzer Umwege zu wählen. So sind etwa im Russischen Staatlichen Wirtschaftsarchiv (RGAE) viele Akten freigegeben, die in anderen Archiven gesperrt sind. Das gilt beispielsweise für die Dokumente der Staatlichen Plankommission (Gosplan), die dort bis zum Jahr 1966 zugänglich sind. Da Gosplan mit zahlreichen anderen Stellen in Partei und Staat kommunizierte, lassen sich dort manche Schätze heben. Wichtig ist es nicht zuletzt, Zeit und Geduld mitzubringen.

Berge von Dokumenten …

Nicht zuletzt sind auch viele Dokumente schon veröffentlicht. Die russische historische Schule ist geprägt von Faktenkult und Dokumentengläubigkeit. Nicht Analyse oder Interpretation, sondern die Kenntnis der Fakten gilt als das Entscheidende. Das ist ein Grund dafür, dass es an Dokumentenbänden gerade über die frühe Sowjetzeit nicht mangelt. Darin finden sich Akten über die Kollektivierung, die Geheimdienste, das Politbüro, die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, die Verfolgung der Kirchen und vieles mehr. Dutzende vielbändige Reihen über die Stalin-Zeit sind erschienen, mit einem großen Teil der 200 000 Akten, die Anfang der Neunzigerjahre freigegeben worden waren. »Was veröffentlicht ist, kann man nicht mehr verbieten. Diese Revolution hat stattgefunden«, sagt Nikita Petrow, der sich mit der Geschichte der sowjetischen Geheimdienste befasst und für »Memorial« arbeitet. Die sowjetische Vergangenheit als rundum positiv darzustellen dürfte daher schwierig werden – die Fakten könnten dabei stören.

Tatsächlich sind heute die dunklen Seiten der Sowjetgeschichte bekannt, vom Roten Terror über die Verhältnisse im Gulag bis hin zur Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968. Allerdings sind nicht wenige der in Russland in den letzten fünfzehn Jahren erschienenen Dokumentenbände Schnellschüsse – ohne fundierte Einleitung und detaillierten wissenschaftlichen Apparat.

… aber keine Historiker

Etwas anderes ist noch wichtiger: Der Berg veröffentlichter Dokumente ruht in den Bibliotheken fast als Selbstzweck – weitgehend unausgewertet von der russischen historischen Forschung. Anspruchsvolle Monografien über die sowjetische Geschichte fehlen in Russland. »Wir haben kein gutes Buch über den Großen Terror 1937 und auch keines über den großen Hunger 1932 / 1933«, sagt der Moskauer Stalinismusforscher Oleg Chlewnjuk. »In Amerika sind mehr Monografien über die Sowjetgeschichte veröffentlicht worden als bei uns.« Das liege daran, dass es nur ältere frühere Parteihistoriker gebe und eine Bürokratenkaste – Leute, die mit dem alten System ihre Kompromisse gemacht, die selbst die Geschichte der KPdSU mitverfasst haben. Was fehlt, ist eine Generation jüngerer Historiker um die 40, die neu an die jüngste Geschichte ihres Landes heran­gehen. Zudem fürchten sich viele Wissenschaftler davor, sich festzulegen, einen Standpunkt zu beziehen – denn niemand weiß, woher morgen der Wind weht.

Viele Historiker kennen auch nicht die ausländischen Arbeiten zu ihrem Gebiet. »Wir haben keine Vorstellung davon, wie unsere Geschichte von anderen betrachtet wird«, sagt Andrej Sorokin, der Leiter des Verlags Rosspen, der zahlreiche Dokumentenbände zur Sowjetgeschichte veröffentlicht hat. Er plant nun eine 100 Bücher umfassende Reihe zur Geschichte des Stalinismus, die mindestens zur Hälfte aus Übersetzungen westlicher Standardwerke bestehen soll. Bereits Ende 2008 sind erste Bände in dieser Reihe erschienen. Die Lücke zwischen russischer und westlicher Historiografie über die Sowjetära sei nicht geschlossen, meint auch Chlewnjuk. Er spricht von einer »halbprofessionellen Geschichtsschreibung« in Russland. Es gebe keine Denkschulen, keine Führungspersönlichkeiten, keine Kultur der Rezension und kaum wissenschaftliche Diskussionen. So existiert auch keine wissenschaftliche Gemeinschaft, die politischen Druck ausüben könnte, damit sich die Forschungsmöglichkeiten in den Archiven ändern.

Das Imperium schlägt zurück

Dem politischen Zeitgeist entspricht es, wie anfangs beschrieben, heute wieder, dass die vaterländische Geschichte nicht weiter besudelt werden soll. Autoritäre Machtausübung in der Geschichte wird im Allgemeinen gutgeheißen; die hohe Wertschätzung, die Stalin in Umfragen immer wieder genießt, ist ein beredtes Beispiel dafür. Regelmäßig bewerten mehr als die Hälfte der Befragten den Diktator positiv – und die Zahl derer, die das unter den Jungen so sehen, wächst. Vielleicht sind dies die Langzeitwirkungen, die der Zerfall eines Imperiums mit sich bringt. Russland kann sich, anders als andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, seine nationale Identität nicht dadurch konstruieren, dass es sich als Opfer einer kolonialen Großmacht sieht. Hinzu kommen Ängste, dass sich Russ­land als Rechtsnachfolger der Sowjetunion Entschädigungsforderungen gegenübersehen könnte, wie sie etwa in Polen oder den baltischen Ländern schon erhoben worden sind. Im Fall Katyn, der Ermordung Tausender polnischer Offiziere und Zivilisten auf Befehl des Stalin’schen Politbüros im Jahre 1940, hat die Militärstaatsanwaltschaft das Resümee ihrer Untersuchungen 2004 für geheim erklärt – aus Furcht vor Schadensersatzforderungen Polens. Die Ukraine betrachtet den »Holodomor«, die große Hungersnot 1932 / 33, als Genozid an der ukrainischen Bevölkerung. Obwohl es an dieser Interpretation unter russischen (wie westlichen) Forschern erhebliche Zweifel gibt, fehlt bisher ein russisches Standardwerk über die Hungerjahre. Da viele Dokumente dazu in Russland noch geheim sind, können Historiker ihre Argumentation nicht darauf stützen. Anstatt die Archive zu öffnen und sich an die gemeinsame Aufarbeitung zu machen, scheint sich in der russischen Bürokratie jedoch die Haltung durchzusetzen: Wir haben die Archive geöffnet und haben uns nur Ärger eingehandelt.

Eine kritische historische Sicht fehlt insbesondere für den Zweiten Weltkrieg und seine Vorgeschichte. Der Historiker Alexander Tschubarjan, Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte an der Akademie der Wissenschaften in Moskau, wurde kürzlich dafür angegriffen, dass im Vorwort eines von ihm herausgegebenen Buchs über die sowjetisch-baltischen Beziehungen von der »Okkupation« der baltischen Staaten durch die Sowjetunion in den Vierzigerjahren die Rede ist. Die Öffentlichkeit sei noch nicht bereit, die Vergangenheit nüchtern zu betrachten, sagt Andrej Sorokin. »Man will nur die Siege und die Errungenschaften sehen, aber nicht den Preis, der dafür gezahlt wurde – Dutzende Millionen Menschenleben.«

Hin- und hergerissen zwischen den Ansprüchen, ein zu Unrecht geschrumpftes großes Imperium oder doch ein neuer Nationalstaat zu sein, scheint Russland in seinem Umgang mit der Sowjetzeit unentschlossen. Allein der heldenhafte Sieg im Zweiten Weltkrieg ist in der nationalen Erinnerung unumstößlich, alles andere bleibt umstritten. Eine – sicherlich schwierige – Bewertung der Zeit zwischen 1917 und 1991 steht aus. »Als wir mit der sowjetischen Vergangenheit endgültig hätten brechen können, wurde das von der liberalen Mannschaft im Kreml leichtfertig vertan«, sagt Sorokin. Heute sei die Wirtschaftslage in Russland zu gut, als dass sich die Bevölkerung für die Sowjetgeschichte interessiere. »Die Krise, während der man den Schuldigen im System suchte, ist vorbei«, sagt der Historiker. Nun bleibe nur der lange Weg der Aufklärung.

Kooperation – Chancen und Grenzen

Die Kooperation mit russischen Archiven gilt gemeinhin als Königsweg, um die Öffnung der Archive zu fördern und den Forschungsertrag zu erhöhen. Die westliche Russland-Forschung hat vieles getan, um die Archive und die Geschichtswissenschaft zu unterstützen. Auf die Problematik der Rückgabe von »Beutedokumenten« kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Erwähnt sei nur, dass das Bundesarchiv Anfang der Neunzigerjahre technische Geräte zur Herstellung von Mikrofilmen und Kopien im Wert von 500 000 DM an das Sonderarchiv im RGVA übergeben hat, damit die dort befindlichen Dokumente deutscher Provenienz kopiert und dann die Originale an Deutschland zurückgegeben werden könnten. Dazu kam es nicht, weil die betreffende Gesetzgebung zusehends verschärft wurde und Deutschland nach einem Gesetz der Duma von 1998 als Feindstaat eingestuft wird. Die Geräte wurden dann zur Herstellung anderer Kopien benutzt – die deutschen Dokumente waren teilweise schon verfilmt gewesen. Hoffnung hat das Bundesarchiv heute nur noch auf die Rückgabe des Rathenau-Archivs, da für Opfer – in diesem Fall jüdische Opfer – Ausnahmeregelungen möglich sind. Im Grunde hat sich in den vergangenen zehn Jahren am Verhandlungsstand über die deutschen Akten des Sonderarchivs kaum etwas geändert.

Abgesehen von diesem besonderen Problem ist viel Geld aus dem Westen, auch aus Deutschland, an russische Archive geflossen. Große Forschungsprojekte haben geholfen, Leute in den Archiven zu halten und wichtige Dokumente zu publizieren. Manche Wissenschaftler, darunter Oleg Chlewnjuk, sind der Ansicht, dass die westliche Hilfe den Zusammenbruch des ganzen Forschungsgebiets Sowjetgeschichte verhindert hat. Als Illusion hat sich freilich die Annahme erwiesen, man könne so darauf Einfluss nehmen, wie offen Archive sind, könne ihre Struktur und Arbeitsweise verändern. Und oft hat man nicht das bekommen, was man sich von einer Kooperation versprochen hatte, weil nicht genau genug festgesetzt wurde, was die Gegenleistung sein sollte, oder weil die Regeln während der Zusammenarbeit verändert wurden. Manches interessante Vorhaben, etwa das vom DHI Moskau verfolgte »Europa in den Augen des NKWD«, ist gestorben, ohne dass die Gründe transparent wurden. Andere gemeinsame Projekte wie »Deutsche Generäle in Gefangenschaft« (ebenfalls vom DHI Moskau) sind indes unerwartet möglich geworden. Das Bundesarchiv plant mit dem Staatsarchiv in Kaliningrad (Königsberg) einen Vergleich der Akten über die Vertriebenen aus Ostpreußen mit jenen über die Neuansiedlung von Sowjetbürgern in Kaliningrad.

Was tun?

Kommen wir zu einem Fazit. Seit Mitte der Neunzigerjahre hat sich in den russischen Archiven nicht viel zum Positiven geändert. Im Gegenteil: Der Zugang zu den Archiven ist insgesamt schwieriger geworden. Die alte Geheimhaltungsmentalität ist nicht überwunden, ja sie hat sich durch die innerrussische Entwicklung sogar wieder verstärkt und verfestigt. Bestimmte Themen wie etwa Kapitalverbrechen der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg, Beutekunst oder auch Fragen, die die mögliche Rückgabe von Eigentum betreffen, bleiben tabu – Akten dazu werden deshalb nicht freigegeben. Selbst die Regeln, die heute nach russischer Gesetzeslage für die Freigabe gelten, werden nicht eingehalten. Die hanebüchene Praxis, alle Dokumente der Parteiarchive für geheim zu erklären und den größeren Teil davon durch eine Kommission auch weiter so deklarieren zu lassen, müsste dringend geändert werden. Hinzu kommt der »Archivegoismus«, also der Umstand, dass einzelne Archive ihre »Edelsteine« lieber selbst vermarkten, als sie den Forschern zugänglich zu machen.

Das Engagement westlicher Institutionen und ihre finanzielle Unterstützung hat sich insgesamt nicht dahingehend ausgewirkt, dass die russischen Archive eine transparente Politik betreiben und sich konsequent für die Geschichtsforschung öffnen. Manche Vorstellungen im Westen sind in dieser Frage auch naiv gewesen. Freilich sollte man nicht alle russischen Archive über einen Kamm scheren – einige haben frühzeitig ihre Bestände so weit als möglich geöffnet.

Positiv bleibt festzuhalten: Viele wichtige Dokumenteneditionen und bedeutende Projekte sind nur durch die Kooperation westlicher Institutionen mit russischen Archiven, Historikern und Verlagen zustande gekommen. Das wird auch in Zukunft hoffentlich der Fall bleiben. An einer Fortsetzung der Zusammenarbeit führt kein Weg vorbei. Deutschland und Europa sollten den Austausch weiter pflegen – und Russland sollte nicht auf die westliche wissenschaftliche Expertise und Erfahrung verzichten. Nur dürfen westliche Institutionen sich nicht der Illusion hingeben, sie könnten darüber Einfluss auf die russische Archivpolitik nehmen.

Leider fehlt in Russland eine neue Generation jüngerer Historiker, die den Schatz der bereits veröffentlichten und zugänglichen Archivdokumente für die Forschung zu heben in der Lage ist. Doch auch in Deutschland (und anderen europäischen Ländern) sieht es in dieser Hinsicht nicht rosig aus. Das westliche Interesse an Russland sinkt, die Kontakte zu den Archiven sind schwächer geworden. Manche Zentren und Lehrstühle, die sich in Deutschland der Erforschung der osteuropäischen und russischen Geschichte widmeten, sind geschlossen worden; die Zahl der Studenten, die Russisch lernen, nimmt ab. Auch das ist – neben den hier eingehend beschriebenen Schwierigkeiten – ein Grund dafür, dass immer weniger Forscher aus dem Westen in den russischen Archiven arbeiten – auch wenn dies, allen Problemen zum Trotz, prinzipiell weiter sinnvoll ist.

Natürlich ist die Situation in den Archiven wie auch die Lage der russischen historischen Wissenschaft abhängig von den politischen Vorgaben. Soll Geschichtswissenschaft Informationen für »konterpropagandistische Arbeit« liefern, wie es das russische Außen-ministerium zu glauben scheint? Dass Geschichtspolitik nun wieder in diesem Sinne betrieben werden soll, ist offensichtlich. Zugleich hat die politische Führung auch unter der Präsidentschaft Wladimir Putins und seines Ziehsohns Dmitrij Medwedew noch kein Konzept der russischen Geschichte für verbindlich erklärt. Vielleicht ist das das Beste, was man im Augenblick erwarten kann.


1 Schreiben von Jewgenij A. Schmagin, stellvertretender Leiter der Abteilung für außenpolitische Planung des russischen Außenministeriums.

2 Zu den Erfahrungen des Autors in dieser Zeit siehe: Markus Wehner: Archivreform bei leeren Kassen. Einige Anmerkungen zur politischen und ökonomischen Situation der russischen Archive, in: Osteuropa 44 (1994), S. 105–124.

3 Siehe www.comintern-online.com. Ein kostenloser Zugangscode ist für private Nutzer unter 
www.nationallizenzen.de erhältlich.

4 Zu den Schwierigkeiten mit dem Komintern-Archiv siehe auch Bert Hoppe: In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928–1933. München 2007, S. 20.

5 Michail Prosumenschtschikow: Geschichte der Aufhebung der Geheimhaltung der sowjetischen Parteiarchive, in: www.russland.ru, ges. am 14. 4. 2004.

Inhalt – JHK 2009

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