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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2009

Geteilte Erinnerung in einem vereinten Europa. Diktaturaufarbeitung zwischen Vergangenheitskonkurrenz und Erinnerungspolitik

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 371-376 | Aufbau Verlag

Autor/in: Marek Prawda

Das vereinte Europa kann endlich mit seiner ganzen Lunge atmen. In Polen erinnert man sich nicht gern an die Zeit mit einem »amputierten Lungenflügel«. Mit der fortschreitenden europäischen Integration sollten allmählich auch unsere Erinnerungen zusammenwachsen, das erscheint mir nicht nur für das Gemeinschaftsgefühl, sondern auch für die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln wichtig. Oft wird sogar hervorgehoben, dass sich eine Vertiefung der Integration in der EU ohne die Arbeit an einem gemeinsamen Bild von der europäischen Geschichte nicht erreichen lässt. Die neuen EU-Mitglieder betonen, dass auch ihre Erfahrung von Diktaturen und Fremdbestimmung einen Teil der europäischen Geschichte darstellt. Wir sind uns aber darin einig, dass ein verbindendes europäisches Geschichtsbild erst noch wachsen muss. Die Völker haben zu viele unterschiedliche Erfahrungen gemacht, um sie bereits in einem gemeinsamen Narrativ zusammenzufassen.

In diesem Text stelle ich mir zum einen die Frage, wie man diese Erfahrungen »europäisieren« kann, und zum anderen, welche psychologischen Blockaden uns möglicherweise daran hindern, die Geschichtsbilder der Nachbarn zu erkennen und zu verstehen. In beiden Fällen werde ich mich auf Beispiele aus polnischen und deutschen politischen Debatten beziehen.

Europäische Erinnerung – Perspektivenwechsel

Die Kriegserfahrungen lassen sich sicherlich europäisieren, indem man sie als ständige Warnung betrachtet und daraus den Mut schöpft, sich möglichen Katastrophen entgegenzustellen. Und indem man zur Aufarbeitung aller Schattenseiten der eigenen Geschichte bereit ist. Dazu bedarf es nicht zuletzt der Förderung eines antitotalitären Konsenses – zwei Totalitarismen und der Völkermord sind für uns die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Das bedeutet, dass man tragische Ereignisse und Prozesse wie kriegsbedingte Fluchtbewegungen, Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen in einer unmissverständlichen Relation dazu betrachten sollte. Sie stehen am Ende einer langen Kette von Verbrechen und sind nur ein Teil der humanitären Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der seinem Wesen nach ein Vernichtungs- und Unterwerfungskrieg war. Das heißt auch, dass die gemeinsame Erinnerungskultur kein aus dieser Kette herausgerissener Prozess sein kann, sondern vielmehr auf der Grundlage der gesamten totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts erarbeitet werden sollte.

Problematisch ist auch der Anspruch einer »Europäisierung der Vertreibungen«, der Erfahrungen verschiedener Völker zu unterschiedlicher Zeit und in unterschiedlichen historischen Kontexten vergleichbar zu machen versucht. Das Vergleichen von Unvergleichbarem führt zu einer falschen Universalisierung, die viel mehr mit innenpolitischen Zielen als mit einer »internationalen Empathie« zu tun haben kann. Wie der Historiker Jerzy Holzer betont, ist nur diejenige Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wirklich universell, die die Opfer und nicht die Kriegshandlungen in den Vordergrund stellt. Die Debatte um die Holocaust-Opfer hat beispielsweise wesentlich dazu beigetragen, dass die herkömmliche, zur Heroisierung neigende nationale Sicht des Kriegsgeschehens immer häufiger infrage gestellt wird.

Auf dem Wege zur europäischen Erinnerungskultur müssen wir uns der Frage stellen, wie wir mit scheinbar unlösbaren Erinnerungskonflikten umgehen können. Historiker können uns auf der Ebene der Tatsachen helfen, aber nicht mehr auf der der Emotionen und Identitäten. Der Philosoph und Historiker Krzysztof Pomian fügt deshalb eine hermeneutische Sicht hinzu, die es erlaubt, den Konflikt als Tragödie aufzufassen, die von Künstlern oder Schriftstellern anhand von individuellen Schicksalen differenziert geschildert werden kann. Dies hat zur Folge, dass der zugrunde liegende Konflikt nicht manichäisch als Kampf von Gut und Böse dargestellt werden kann, in dem es auf unserer Seite ausschließlich Opfer und auf der anderen ausschließlich Täter gab. Es geht mir selbstverständlich nicht darum, die ethischen Grenzen zu verwischen, sondern darum, uns für die Leiden der Opfer auf allen Seiten zu sensibilisieren. So werden wir auch fähig, zu vergeben. Das ist allerdings nicht mehr Sache der Schriftsteller oder Künstler, sondern der moralischen Autoritäten.

Die polnischen Bischöfe hatten 1965 den Mut, ein allgemein bekanntes Versöhnungs­angebot an die Deutschen zu richten: »Wir vergeben und bitten um Vergebung.« Es gibt kein anderes Ereignis in der Nachkriegsgeschichte Polens, das so viel Nachdenken über das Verhältnis zu unseren Nachbarn ausgelöst hat. Trotz unermüdlicher Diffamierungskampagnen der Kommunisten wurde die selbstkritische, offene Sprache der Bischöfe zum moralischen Standard und zur Medizin gegen Nationalismus und Intoleranz. Sich »im Geiste der Botschaft der Bischöfe« zu äußern hieß: sich anständig zu verhalten, sich selbst mit den Augen der Nachbarn zu betrachten. Und es waren katholische Publizisten, die in den Siebzigerjahren eine Debatte über einen einsamen, tragischen Helden, den evangelischen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, und seinen Widerstand im Dritten Reich initiierten. Die Begegnung mit den Schriften und mit der Biografie Bonhoeffers wurde auch zu einer Beschäftigung mit dem persönlichen Schicksal eines Deutschen. Dies war nicht ganz unbedeutend für das damals sehr belastete deutsch-polnische Verhältnis.

Vor diesem Hintergrund interessierte man sich in Polen für die christlichen Kreise, die in Deutschland den Dialog suchten und praktizierten, wie Pax Christi, die Aktion Sühnezeichen oder das Maximilian-Kolbe-Werk (eine von privaten Spenden getragene Organisation, die KZ- und Holocaust-Überlebenden, unter anderem in Polen, materiell und ideell Hilfe leistet). Es gibt etwas, das die Begegnungen im Rahmen dieser Aktivitäten mit der polnischen Begegnung mit Bonhoeffer verbindet: Sie alle sind deutsch-polnische Treffen auf der ethischen Ebene. Und sie beweisen, dass Polen und Deutsche durchaus über eine Sprache der empathischen Kommunikation verfügen. Diese Sprache muss nicht erst erfunden oder ausgehandelt werden. Sie ist da und gehört zu den ermutigenden gemeinsamen Versuchen, Elemente einer europäischen Erinnerungskultur gerade dort zu suchen, wo es am schwierigsten erscheint.

Europäische Erinnerung – geteilt oder nur ungleichzeitig?

Nach dem Systemwechsel 1989 stand Deutschland im Mittelpunkt der Vergangenheitsaufarbeitung und der Selbstfindungsprozesse in Polen. Wir sprachen darüber, wie man im Kommunismus antideutsche Ressentiments instrumentalisiert hatte. Eine rücksichtslose Abrechnung mit dieser Zeit und schließlich ihre Überwindung sollten zum Erkennungszeichen eines freien und geistig souveränen Polen werden. Deutschland war aber nicht nur ein Bezugspunkt unserer Debatten, sondern avancierte zu Polens Anwalt und Alliiertem. Mit diesem Wandel ging eine veränderte Wahrnehmung des Nachbarn einher. All das verlieh den deutsch-polnischen Beziehungen einen ganz besonderen Stellenwert – und erhöhte die Erwartungen.

Diese Erwartungen konnten nicht erfüllt werden, denn eine vergleichbare Debatte über die Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen hat in Deutschland nach 1989 nicht stattgefunden. Unsere Nachbarn sahen keinen Grund dazu, zumal die historischen Debatten bei ihnen längst geführt worden waren. Man übersah allerdings, dass in diesen Nachkriegsdebatten in der Regel der Holocaust im Mittelpunkt gestanden hatte. Polen, damals ein Teil des feindlichen kommunistischen Lagers, war schlicht nicht präsent und an den damaligen Deutungsprozessen nicht beteiligt.

Präsent war Polen allerdings auf eine andere Art und Weise. Wenn es in Deutschland jemals möglich war, ein Opfersyndrom zu kultivieren, dann geschah es in der Nachkriegszeit und mit einem klaren Polen-Bezug. Polen erschien beinahe als Nutznießer des Krieges, an ihm ließen sich am einfachsten die Kriegsfrustrationen abreagieren. Verstärkt wurde dies zum einen durch die sensible Natur der Grenzfrage und zum anderen durch die kommunistische Geschichtspolitik. Dabei spielte es keine Rolle, dass das propagandistische Bild der deutsch-polnischen Vergangenheit Teil der verlogenen kommunistischen Politik war.

Und heute, nachdem die Opfer-Debatte in Deutschland aktualisiert wurde, vernimmt man in Polen Signale, die wie Zitate aus der Rhetorik der Nachkriegszeit wirken und in denen auch damalige Emotionen mitzuklingen scheinen. Manchmal weisen sie auf nicht verarbeitete Vorurteile aus dem 19. Jahrhundert hin – eine Tradition, die in Deutschland ihre Fortsetzung in der kritischen Haltung zur Wiedergeburt Polens 1918 und zur Bildung des polnischen Staates in den Grenzen von 1945 fand. Sie ist der eigentliche Grund für die polnischen Bedenken oder sensiblen Reaktionen auf manche deutschen Debatten der letzten Jahre. Diese Reaktionen zeugen natürlich nicht – wie oft behauptet – von fehlendem Verständnis für die Phase der individualisierten Erinnerung im Deutschland der Neunzigerjahre, als die Generation der Opfer von Flucht und Zwangsaussiedlungen der Nachkriegszeit – naturgemäß – in den Mittelpunkt rückte. In Deutschland versteht man jedoch überhaupt nicht, worum es den »notorisch übersensiblen« Polen noch gehen mag.

Für mich stellen diese Missverständnisse Beispiele für die Ungleichzeitigkeit der historischen Debatten dar. Hätten wir Anfang der Neunzigerjahre unsere Vergangenheitsdebatte zu Ende geführt und wirklich auf beiden Seiten ernst genommen, so hätten wir uns später vielleicht manchen Streit und manches Kopfschütteln erspart. Doch noch in den Neunzigerjahren fiel uns immer wieder auf, dass der Warschauer Aufstand von 1944, immerhin die größte Erhebung des Zweiten Weltkriegs, in Deutschland ein eher wenig bekanntes Ereignis war und meistens mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselt wurde. Und wenn wir das richtigstellen wollten, wurden wir häufig einer obsessiv rückwärtsgewandten Haltung bezichtigt. Die Ungleichzeitigkeit historischer Aufarbeitungsprozesse in Deutschland und Polen wurde darüber hinaus in der Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen deutlich. Dieses Projekt traf uns in einer Phase selbstkritischer Debatten über die Schattenseiten unserer eigenen Nachkriegsgeschichte. Umso weniger verstanden wir, dass man uns gerade zu jenem Zeitpunkt so kategorisch dazu aufrief, »endlich Abschied von unseren Tabus zu nehmen«. In unseren Augen waren wir seit einigen Jahren dabei, genau das zu tun – so intensiv wie nie zuvor.

Aus der Sicht der Deutschen blieben die »übersensiblen« Polen ihrem Mythos der unschuldigen Opfer verhaftet und waren nicht in der Lage zu akzeptieren, dass auch andere ihrer Opfer gedenken. Wir Polen fühlten uns missverstanden, da wir aus einem ganz anderen Grund so empfindlich reagierten. Wir hatten gerade eine schwierige öffentliche Debatte hinter uns – eine Debatte über unsere eigenen Verdrängungsvarianten und über die Notwendigkeit, uns den Sichtweisen und Sensibilitäten der Nachbarn zu öffnen. Eine Debatte über die schwierigsten Ereignisse in unserem Verhältnis zu Juden, Deutschen oder Ukrainern. Selbst über die Zwangsaussiedlungen der Deutschen erschien damals eine Fülle von Publikationen. Und wir wollten das Erreichte erhalten. Die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen hat uns jedoch von diesem Ziel entfernt.

Mein letztes Beispiel bezieht sich auf die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Anfang der Neunzigerjahre kam eine polnische Delegation nach Berlin, um mit Oppositionellen aus der ehemaligen DDR zu sprechen. Diese überreichten uns Stasiakten, die die Aktivitäten gegen die Solidarność-Bewegung in Polen belegen sollten. Für unsere Nachbarn war das nicht nur eine wichtige Geste, sondern auch Bestandteil der damals vorgenommenen, notwendigen Abrechnung mit dem früheren System und seinen Anhängern. Auf der polnischen Seite reagierte man distanziert auf diesen revolutionären oder sogar »jakobinischen« Eifer der Deutschen. In Polen dominierte damals eine eher konziliante Linie im Verhältnis zu den Anhängern des alten, ohnehin kompromittierten Systems, man wollte sich lieber mit der Wirtschaftsreform beschäftigen. Nicht ohne Bedeutung war auch das ungebrochene Selbstwertgefühl der politischen Elite eines Landes, in dem die antikommunistische Opposition traditionell stark war und nun die volle Verantwortung übernehmen musste. Keine Zeit für symbolische Abrechnungsrituale.

Die Kollegen aus dem sich gerade vereinigenden Deutschland hatten wenig Verständnis für diese Haltung. Sie teilten auch nicht die Ansicht, dass eine junge Demokratie zunächst gefestigt werden sollte, bevor sie sich eine solche Debatte leistet. Und sie blieben ebenfalls skeptisch, als wir die Vorzüge eines »soziologischen« Ansatzes (Wie ist es dazu gekommen, dass das kommunistische System eine breite Unterstützung fand? Wir sollten seine Mechanismen aufdecken!) gegenüber einem »politischen« (Wer hat uns so zugerichtet? Wir müssen alle Agenten finden und bestrafen!) priesen. Als Antwort hörten wir, dass vor allem die vom kommunistischen Unrecht betroffenen Menschen sich sehr wohl auch dafür interessieren müssten, »wer« für ihr Schicksal verantwortlich sei. Das menschliche Gerechtigkeitsempfinden stelle darüber hinaus eine unverzichtbare Legitimationsquelle in einem neuen System dar, das man aufbaue. Erst recht, wenn man der Bevölkerung – wie eben in Polen – eine harte Wirtschaftsreform zuzumuten gedenke.

Nicht um die oben geschilderte Kontroverse aus heutiger Sicht besserwisserisch zu diskutieren, habe ich mir erlaubt, diese Episode in Erinnerung zu rufen. Interessant ist für mich vielmehr die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren im deutsch-polnischen Verhältnis wieder eine ähnliche Debatte erlebten – nur mit vertauschten Rollen. Diesmal hatten die Deutschen gewisse Schwierigkeiten, den polnischen Ansatz der Vergangenheitsbewältigung zu verstehen. Es soll hier aber hinzugefügt werden: Polen war das erste Land in der Region, das 1989 Systemreformen durchzuführen begann. Deshalb übersprang man manche Entwicklungsphasen oder Debatten, die uns nun verstärkt und manchmal überraschend einholen. Ungleichzeitigkeit eben.

Fremdheitsbarrieren überwinden

Die historischen Debatten, die zu unterschiedlicher Zeit oder verspätet stattfinden, sind nicht das einzige Hindernis auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur. Europa braucht ein neues Gemeinschaftsgefühl. Der deutsche Regisseur Volker Schlöndorff hat in seinem Film über die Streiks in der Danziger Werft gezeigt, wo die Wurzeln dieses neuen Gemeinschaftsgefühls auch zu finden sind: in Danzig, Prag, Ostberlin. Die Geschichte interessiert uns nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der Zukunft. Damit wir, die neuen EU-Mitglieder, nicht nur als Quelle von Sorgen, sondern als Quelle positiver politischer Energie angesehen werden. Wenn man uns nämlich in diesem Sinne akzeptiert, wenn man uns einen positiven Beitrag für Europa attestiert, mag es einfacher sein, auch manche Ideen, die von uns kommen, zu akzeptieren und sie nicht von vornherein als Hirngespinste aufgeregter Mitteleuropäer abzutun. Es ist nicht die historische Paranoia, die wir nun in die Gemeinschaft einbringen, sondern es sind zum Beispiel ein Beitrag zur friedlichen Lösung der Krise in der Ukraine oder – wie zuletzt – praktische Projekte für unsere Nachbarn im Rahmen der Ostpartnerschaft der EU. Diese Bemühungen sind nicht Handlangerdienste für die Amerikaner in Europa, sondern ergeben sich aus unserem in der Solidarność-Zeit gewonnenen Verständnis dafür, wie wichtig es ist, die Verankerung in jenen internationalen Strukturen zu suchen, die auf demokratischen Werten basieren.

Im September 1989 wurde die – ganze zwei Wochen alte – erste nichtkommunistische Regierung in Warschau auf eine außenpolitische Probe gestellt: In die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau strömten Flüchtlinge aus der DDR, die auf Umwegen in den anderen deutschen Staat gelangen wollten. Die Warschauer Regierung, damals noch eine Insel in der kommunistischen Umgebung, stellte sich die Frage: Wie erfüllt man eine selbstverständliche humanitäre Pflicht gegenüber den Flüchtlingen, ohne die Nachbarn zu provozieren und zugleich eine historische Chance für sich selbst und für die Region zu verspielen? Die »illegalen Besucher« aus der DDR wurden in Ferienheime der Gewerkschaft Solidarność einquartiert. Die Ostberliner Presse bezichtigte uns unterdessen der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Manche Staatsmänner in der Region machten sich auf den Weg, um uns »brüderliche Hilfe« zur Rettung des Kommunismus zu leisten. Je mehr wir uns in Selbstbeschränkung übten, desto unruhiger wurde die Presse im Westen. Ein britisches Blatt warnte, die als notorische Unruhestifter und unheilbare Rebellen bekannten Polen machten sich zu früh und zu hastig an die Demontage des Kommunismus. Sie würden noch sich selbst und halb Europa in die Luft sprengen. In dieser »idyllischen« Atmosphäre standen wir mit unserem Flüchtlingsproblem und mit der ein wenig komplizierten Freiheit weitgehend allein da. Nach einigen Wochen nahm diese Geschichte aber ein gutes Ende: Die Berliner Mauer fiel.

So kam die polnische »Unruhestifterei« auch den Deutschen zugute. Im Jahre 2009 haben Polen und Deutsche – vielleicht zum ersten Mal – eine gemeinsame positive Geschichte zu erzählen. Vor allem darüber, dass die Mauer nicht von allein gefallen ist, sondern dass dem politischen Umbruch von 1989 eine faszinierende Geschichte der Oppositionsbewegungen in der Region vorausging.

20 Jahre nach dem Systemwechsel freuen wir uns über das Zusammenwachsen beider Teile des Kontinents. Aber ganz besonders freuen wir uns darüber, dass sich nun Ost und West ihre Geschichten erzählen können. Nur so können wir uns einem europäischen Selbstverständnis nähern. Dies ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der andere kein schwer zu fassender, mysteriöser Fremder bleibt. Und darauf kommt es ja schließlich an, dass das Anderssein nicht gleichzeitig Fremdheit bedeutet. Und wenn es uns gelingt, diese Barriere zu überwinden, stärken wir zugleich unsere Immunsysteme für schlechtere Zeiten, sodass wir bei manchen politischen Schwierigkeiten nicht so schnell in die Denkmuster von vorgestern zurückfallen.

Nun stellt sich noch die Frage, ob Polen und Deutsche einen spezifischen Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur leisten können. Ich glaube, es wäre hilfreich, wenn die Polen nicht jede Woche überprüften, ob die Deutschen ein gutes Gedächtnis haben, und wenn die Deutschen ihrerseits die Möglichkeit nicht ausschlössen, dass die Polen außer Traumata auch einfach legitime Interessen haben.

Inhalt – JHK 2009

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