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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2023

Kern und Peripherie. Zur Struktur politischer Tabus in der DDR

Das Suizidtabu als Beispiel

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 239-256 | Metropol Verlag

Autor/in: Udo Grashoff

Tabus sind universell. Diktaturen sollten jedoch gesondert betrachtet werden – allein schon deshalb, weil ideokratische Regime (wie das der DDR) besonders oft politische Tabus erzeugen und bewahren, um die dominante Doktrin zu etablieren und aufrechtzuerhalten.[1] Das Abstecken der Grenzen des Sagbaren und die Herausbildung einer Tabukommunikation kann als Teil der Normalisierung kommunistischer Parteiherrschaft angesehen werden. Durch Tabus werden stabile Bezugsgrößen geschaffen, wodurch Skandale vermieden und eine gewisse »Verregelung« des Diskurses erfolgen kann. Allerdings schwinden Unsicherheit und Angst damit keineswegs, sondern treten nach der Abkehr von offeneren Formen der stalinistischen Repression lediglich in anderer Form in Erscheinung.

Das gilt in besonderem Maße für die DDR, denn das Sprechen über Tabuthemen ging hier mit einer Reihe von Unwägbarkeiten einher. So waren die Regeln der Tabukommunikation nicht exakt festgelegt, sondern mussten von den Akteuren erahnt und ausgetestet werden. Die Teilhabe am Privileg des Tabubruchs war ungleich verteilt. Zudem unterlag das, was gesagt werden durfte und was nicht, historischen Veränderungen. Generell wurde die Sprache im Sozialismus daher von vielen Ostdeutschen nicht nur als ungeeignet für das Ansprechen sozialer Probleme, sondern auch als Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit empfunden.[2]

Diskurse im Gravitationsfeld politischer Tabus bieten somit eine geeignete Sonde, um Sozialkontrolle und Handlungsspielräume in poststalinistischen Staaten genauer zu analysieren. Dafür, so argumentiert dieser Essay, ist allerdings ein verfeinerter Tabubegriff notwendig.

Die folgenden Ausführungen erläutern exemplarisch, wie genau der Tabubegriff erweitert und dabei zugleich seine Konturen geschärft werden sollten. Am Beispiel des politischen Suizidtabus in der DDR wird ein neues Konzept für die Untersuchung kommunikativer Tabus entwickelt. Dieses Konzept unterscheidet Kernbereich und Peripherie von politischen Tabus und versteht das Verschwiegene im Kern eines Tabus, und die gleichzeitig zu beobachtende Vielfalt der sprachlichen Techniken, mit denen Tabuthemen kommuniziert werden, als Einheit. Durch eine solche holistische, auch subjektive Dimensionen wie Wahrnehmung und Grenzüberschreitung einbeziehende Herangehensweise kann das Verständnis diskursiver Regime in Diktaturen, in denen eine dominante Ideologie in den meisten Aspekten der Gesellschaft tief verwurzelt ist, sowohl differenziert als auch vertieft werden.

I. Zensur und Tabu

Der Rückgriff auf den vagen Begriff des Tabus mag unzeitgemäß erscheinen, aber die relative Unschärfe ist für das Thema der politischen Tabus in der DDR eher ein Vorteil. Der britische Entdecker James Cook, dessen Tagebuch den Begriff »Tabu« aus Polynesien nach Europa brachte, stellte bereits fest, dass es sich um ein Wort von sehr umfassender Bedeutung handelt, das jedoch im Allgemeinen »verboten« bedeutet.[3] Im Gegensatz zu gesetzlich kodifizierten Verboten ist das Tabu selten eindeutig formuliert. Es muss in der Regel durch soziale Interaktion erkannt werden.

In jüngerer Zeit kam der Begriff »Tabu« in der Wissenschaft etwas aus der Mode. Aber er wird in der historischen Forschung immer noch verwendet, insbesondere in Studien zur Zensur in repressiven Regimen, wenngleich diese selten das Potenzial des Tabubegriffs ausschöpfen.[4] Simone Barck hat wie auch andere Literaturwissenschaftler den »modernen« Charakter von Institutionen und Praktiken der Zensur in der DDR hervorgehoben.[5] In der SED-Diktatur war Zensur weniger eine direkte Top-down-Intervention der Behörden als vielmehr eine alltägliche Praxis der sozialen Kontrolle. Publikations- und Sprechverbote waren das Ergebnis eines »verborgenen Kräftespiels«.[6] Zu den Mechanismen, welche die Deutungsmacht der SED langfristig absicherten, gehörte ein komplexes System ständiger Kontrollen, das »tief in den sozialen Strukturen verankert« war.[7] Dieser interessante Sachverhalt hat den Blick der Wissenschaftler, die das Phänomen der Zensur in der DDR studiert haben, vorwiegend auf Institutionen sowie die Akteure, die an bürokratischen Prozessen beteiligt sind, gelenkt.[8] In einer solchen Perspektive erscheint der zensierte Inhalt oft als Randerscheinung, die keiner vertieften Diskussion bedarf. Tabus werden nur anekdotisch erwähnt.[9] Die meisten Studien zu Zensurpraktiken setzen Tabus als gegeben voraus, ohne sie eingehend zu analysieren.[10] So gibt es eine Vielzahl von Arbeiten zur Literaturzensur in der DDR, die Tabuthemen berühren, in deren prozessorientierter Perspektive Tabus aber nicht selten willkürlich bzw. lächerlich erscheinen. Beispielsweise spricht Siegfried Lokatis von »absurden, jeder erinnerten Erfahrung widersprechenden Tabus für den Umgang mit der unmittelbaren Vorgeschichte der DDR«.[11]

Studien, die sich auf politische Tabus konzentrieren, greifen zudem häufig auf ein rigides Verständnis von Tabu als »totale kulturelle Unterdrückung« zurück.[12] Damit bleibt das Verständnis von Zensurprozessen bisweilen etwas zu abstrakt, denn Tabus sind Dreh- und Angelpunkt von Zensur: Sie sind sowohl die Grundlage von Zensurprozessen als auch ihr Ergebnis. Tabus sind der sprichwörtliche »Elefant im Raum« – das offensichtliche Problem, das zwar im Raum steht, aber von den Anwesenden nicht angesprochen wird.

Ergänzend zum bisher vorherrschenden Fokus auf bürokratische Prozesse (wer, wann und wie) lenkt die folgende Diskussion den Blick auf die Inhalte. Dabei zielt der hier entwickelte Ansatz auf ein ganzheitliches Verständnis von politischen Tabus, das als notwendig erachtet wird, um die Konturen des Nichtsagbaren und des Sagbaren genauer zu lokalisieren, und die Wirkungen von Tabus besser verstehen zu können.

II. Das politische Suizidtabu in der DDR

Im Folgenden werde ich, als empirische Fallstudie, den Umgang mit dem Thema Suizid in der DDR analysieren.[13] Konkrete Beispiele aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Journalismus, Belletristik und medizinischer Fachliteratur sollen verdeutlichen, wie omnipräsent das Tabu in der SED-Diktatur war. Suizid ist in der modernen Zivilisation im Allgemeinen ein Tabu, aber in der DDR bestand zusätzlich zum anthropologischen Meidungsgebot ein politisches Suizidtabu.[14] Trotz ständiger Propaganda-Behauptungen, der Sozialismus würde soziale Integration, Fürsorge und Solidarität fördern, hatte die DDR eine der höchsten Selbsttötungsraten der Welt. Die hohe Zahl der Suizide war eine ernsthafte Herausforderung für die kommunistische Ideologie.

Unmittelbar nach dem Ende der DDR erschienen mehrere Publikationen, die das Suizidtabu in der DDR beschrieben.[15] Im Jahr 1993 erhoben jedoch die Medizinhistoriker Susanne Hahn und Tilo Nimetschek kritische Einwände gegen die Existenz eines solchen Tabus. Ihr Hauptargument lautete, dass das Thema keineswegs immer totgeschwiegen worden sei und sowohl im medizinischen Diskurs als auch in der Belletristik angesprochen werden konnte. Das ist zutreffend: Suizid wurde nur teilweise verschwiegen. Mitunter war das heikle Thema im offiziellen Diskurs aber auch präsent. Aber heißt das im Umkehrschluss, dass es kein Tabu gab? Oder vielleicht, wie Hahn und Nimetschek vorgeschlagen haben, dass es nur ein »durchbrochenes Tabu« gab?[16] Wie passt das dann aber zur Wahrnehmung der Dresdner Suizidexperten Ehrig Lange und Werner Felber, die von einer ausgeprägten politischen Tabuisierung ausgehen?[17] Die Lösung für dieses Dilemma könnte das im Folgenden entwickelte erweiterte Tabukonzept bieten, das über die Gleichsetzung von Tabu und Verschweigen hinausgeht.

III. Kern und Peripherie politischer Tabus

Tabu bedeutet im engeren Sinne, dass Wörter, Begriffe und Ideen, die als gefährlich gelten, aus dem öffentlichen Diskurs entfernt werden. In Bezug auf das politisch heikle Thema Suizid hielt die SED die Statistiken streng geheim und verhinderte eine öffentliche Diskussion über die Suizidrate, insbesondere nach dem 1961 erfolgten Bau der Berliner Mauer. Die medizinische Forschung unterlag danach strengen Vorschriften. Psychiater und Sozialwissenschaftler, die das Auftreten und die Häufigkeit von Suizid in der DDR untersuchen wollten, konnten ihre Studien nicht veröffentlichen, wenn sie Zahlen enthielten. Eine offene Debatte über das Suizidproblem war somit fast unmöglich. Neben der Verschleierung statistischer Daten wurden durch politische Konflikte motivierte Selbsttötungen vertuscht. Zum Beispiel legte die SED angesichts des Todes von Funktionären wie Willi Kreikemeyer (1950), Vincenz Müller (1961), Max Sens (1962), Anton Ackermann (1973) und Siegfried Böhm (1980) die wahre Todesursache nicht offen, um provokative Fragen und kritische Diskussionen zu vermeiden (obwohl die letzten drei dieser Selbsttötungen hauptsächlich durch private Konflikte motiviert waren).

Ebenso wie Journalisten waren auch Schriftsteller oft strengen Einschränkungen ausgesetzt. Ein typisches Beispiel ist Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand (1974). Die veröffentlichte Version des Romans hinterlässt den Eindruck, die Autorin habe das Suizidthema nur vorsichtig angesprochen. Das Originalmanuskript enthielt jedoch viel eindeutigere, direkte Passagen, in denen auch die Suizidrate der DDR erwähnt wurde. Diese sind, wie wir heute wissen, während des Zensurprozesses aus dem Text entfernt worden.[18] Andere literarische Texte, die Selbsttötungen in Verbindung mit politischen Faktoren diskutieren wollten, konnten in der DDR nicht publiziert werden. Kurzgeschichten wie Thomas Braschs Geschichte von einem Studenten, der nach seiner Relegierung von der Universität aufgrund eines gescheiterten Fluchtversuchs Suizid begangen hatte, oder Jürgen Fuchsʼ Kurztext über Reaktionen auf den Suizid eines Soldaten wurden verboten. Der Student Siegfried Reiprich, der Fuchsʼ Text an der Universität Jena verteidigte, wurde 1975 aus der Freien Deutschen Jugend ausgeschlossen und musste sein Studium abbrechen.[19]

Das Verschweigen der Suizidrate und von Suiziden mit politischen Auswirkungen war jedoch nie vollständig. Anders als die angeführten Beispiele wurden einige Selbsttötungen hochrangiger Politiker in offiziellen Zeitungsberichten erwähnt. Auch in Theater und Literatur war die Selbsttötung in den 1970er-Jahren ein häufiges Thema. Ebenso war im fachmedizinischen Diskurs zeitweise viel von Suizidalität die Rede. 1968 plante das DDR-Gesundheitsministerium sogar die Einrichtung von »Suizidpräventionszentren«, für deren erfolgreiches Wirken ein gewisses Maß an Publizität erforderlich war.

Das Verschweigen war somit auf einen von der SED definierten Kern beschränkt. In der Peripherie dieses Kerns gab es zugleich eine Vielzahl von möglichen Sprechhandlungen. Man mag sich fragen, warum die SED das Thema nicht komplett zum Schweigen gebracht hat. Der Hauptgrund scheint gewesen zu sein, dass das Thema unvermeidlich war. Mit bis zu 6000 Selbsttötungen pro Jahr war das Problem einfach zu massiv, um völlig vertuscht zu werden. Und in manchen Fällen konnte bzw. wollte die SED-Führung Suizide von Politikern auch nicht geheim halten.

Tabuthemen konnten aber nur verzerrt, eingeschränkt und kontrolliert angesprochen werden. Verschiedene sprachliche Effekte zeugen davon.[20] Im Folgenden werden sechs konkrete Elemente der Tabusprache näher betrachtet. Allen diesen Kommunikationsstrategien war gemeinsam, dass die Rede über ein gefährliches Thema neutralisiert werden sollte.

Eine Strategie war die De-Kontextualisierung. Diese kam insbesondere dann zum Einsatz, wenn Selbsttötungen durch politische Konflikte verursacht wurden. Anstatt die wahren Gründe anzusprechen, die (soweit bekannt) zu einem Suizid führten, präsentierte die SED diese Todesfälle als Folge einer Krankheit. Als sich der Sekretär des ZK Gerhart Ziller 1957 nach offenen Vorwürfen, sich an einer Intrige gegen Parteichef Walter Ulbricht beteiligt zu haben, das Leben nahm, erklärte die SED den Suizid als Folge einer Depression. Als sich der Leiter der staatlichen Planungskommission, Erich Apel, im Jahr 1965 als Reaktion auf Konflikte innerhalb der Partei erschoss, behauptete die SED irreführend, Apel sei krank gewesen. Mit dieser Pathologisierung sollten politische Konflikte vertuscht werden.[21]

Eine weitere gängige Strategie der SED im Umgang mit Suizid war die Verwendung von Euphemismen. Für einige Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer lag die Suizidrate der DDR um rund zehn Prozent höher als zuvor. Ein Faktor, der dazu beitrug, waren Konflikte, die durch die plötzliche Trennung von Familien und Freunden verursacht wurden. In der offiziellen Statistik tauchten diese Suizide unter Rubriken wie »Einsamkeit«, »Familienprobleme« oder »Liebeskummer« auf, womit die tragischen Todesfälle als privat und unpolitisch dargestellt wurden.[22]

Drittens wurden indirekte Anspielungen verwendet, um Tabuthemen zu kommunizieren. Offizielle Nachrufe verheimlichten häufig den Suizid und enthielten nur indirekte Umschreibungen wie »plötzlich und unerwartet verstorben« (oder wiederum Euphemismen wie »Unfall«).[23] Obwohl Suizid in den 1970er-Jahren ein häufiges Thema in der DDR-Literatur wurde, verwendeten Schriftsteller vage Andeutungen, insbesondere wenn politische Faktoren eine Rolle spielten. Ein prominentes Beispiel ist die Schriftstellerin Christa Wolf, die sehr vorsichtig historische Ereignisse wie den Aufstand vom Juni 1953 und den Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 mit Suizidtendenzen in Verbindung brachte.[24]

Die Verwendung von Synekdochen, also die Substitution des Ganzen durch einen Teil, war eine weitere Strategie, um Selbsttötungen zu entpolitisieren.[25] Das Erzählen von Halbwahrheiten (Darstellung eines Aspekts und Verschweigen eines problematischen Aspekts) kann beispielsweise bei der Erinnerung an die Selbsttötungswelle Ende des Zweiten Weltkriegs beobachtet werden. Die im Jahr 1945 insbesondere während des Vormarsches der Roten Armee begangenen Massensuizide wurden in der DDR nur in reduzierter Form erwähnt. Der Dokumentarfilmer Karl Gass beispielsweise zeigte Bilder von toten Frauen auf Parkbänken, präsentierte diese Selbsttötungen jedoch als verzweifelte Taten fanatischer Nazianhänger.[26] In Wirklichkeit begingen Tausende ostdeutscher Frauen Suizid, nachdem sie von sowjetischen Soldaten vergewaltigt und gefoltert worden waren, oder aus Angst vor solchen Gewalttaten.[27] Aufgrund der vorgeschriebenen »Freundschaft« zur Sowjetunion war es aber unmöglich, die Vergewaltigungen und ihre Folgen zu erwähnen.

Während der erzwungenen Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft im Frühjahr 1960 tendierten offizielle Berichte gleichermaßen dazu, die Suizidursache auf private Konflikte und Krankheiten zu reduzieren. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt gab es zum Beispiel mehrere Selbsttötungen, die mehr oder weniger direkt durch die Kollektivierungskampagne verursacht worden waren, insbesondere durch Kriminalisierung und gegen Privatbauern ausgeübten Psychoterror. In einem Fall beschuldigte der offizielle Bericht die Frau eines Bauern, am Suizid ihres Mannes schuldig zu sein, weil sie sich gegen den Beitritt zur LPG ausgesprochen hatte. Das deswegen geführte Streitgespräch mit seiner Frau war aber höchstens der Auslöser für den Entschluss, sich das Leben zu nehmen, gewesen.[28]

Die Strategie der Externalisierung ging noch einen Schritt weiter und unterstellte, dass Selbsttötungen durch externe Faktoren verursacht wurden. Während des Kalten Krieges spielte diese Strategie höchstwahrscheinlich eine Rolle bei den Entscheidungen der SED, ob ein Suizid in der Öffentlichkeit diskutiert werden konnte oder nicht. Ein prominenter Fall war die Selbsttötung des ostdeutschen Historikers Willy Flach, der sich nach seiner Flucht nach Westdeutschland im Jahr 1958 das Leben genommen hatte. Die SED veranstaltete eine Propagandakampagne mit Zeitungsartikeln und riesigen Plakaten, auf denen fälschlicherweise westdeutsche Agenten beschuldigt wurden, für den Tod des Historikers verantwortlich zu sein.[29]

Eine andere Strategie, manchmal in Kombination mit Externalisierung, ist die Substitution. Ein Beispiel ist ein denunzierender Artikel, der im SED-Zentralorgan Neues Deutschland nach der politisch motivierten Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz im August 1976 veröffentlicht wurde.[30] Der Artikel versuchte nicht nur, den Pfarrer als geistig gestörten Mann darzustellen. Der Journalist beschuldigte sogar die Bundesrepublik (wo Brüsewitzʼ politische Protestaktion in den Medien viel Beachtung fand), eine der höchsten Suizidraten der Welt zu haben.[31] Die Behauptung konnte kaum unzutreffender sein: Die Suizidrate der DDR lag permanent 50 Prozent über jener der BRD.

Das hier angedeutete, keineswegs vollständig ausgelotete Spektrum verschiedener Spracheffekte bei der Tabukommunikation verdeutlicht, dass heikle Themen in der DDR, wenn überhaupt, nur indirekt angesprochen werden konnten.[32] Die diskursive Sphäre in der Peripherie, die durch »verbogene« Sprache gekennzeichnet war, und die Stille im Kern bildeten die komplementären Elemente des Tabus.

Abb. 1: Modell des politischen Tabus mit Kern und Peripherie

Das typische Erscheinungsbild kommunikativer Tabus in Diktaturen ähnelt also einer Struktur, die aus einem Kernbereich des Unsagbaren und einem davon ausgehenden weiteren Kraftfeld mit mehr oder weniger großen Diskurs-Schalen besteht. Das Tabu entspricht einem schwarzen Loch. Bilder von schwarzen Löchern zeigen durch Gravitationseffekte erzeugte Wirbel und Lichthöfe um den Kern. In ähnlicher Weise kann um den Kern des Tabus herum ein vielfältiger Diskurs über das heikle Thema beobachtet werden.

Diese Konzeptualisierung des Tabus als diskursive Sphäre, die aus Kern und Peripherie besteht, ähnelt dem Vorgehen der zeitgenössischen Forschung zu kommunikativen Tabus.[33] So unterscheidet Hartmut Schröder drei Arten von Tabus: »Nicht-Themen« (Themen, die nicht angesprochen werden dürfen), »zu vermeidende sprachliche Ausdrücke« (Wörter, die nicht verwendet werden dürfen) und »etikettierte Themen« (Themen, die nur auf eine bestimmte Weise kommuniziert werden können).[34] Die ersten beiden korrespondieren mit dem Kern, der letztgenannte Aspekt entspricht der Peripherie des Tabus.

IV. Diktatur-spezifische Tabukommunikation?

Fragt man nach diktaturspezifischen Merkmalen der Tabukommunikation, ist es aufschlussreich, zwischen linguistischen Modifikationen (Veränderungen der sprachlichen Form) und semantischen Verschiebungen (Veränderungen der Bedeutung) zu unterscheiden.[35] Schaut man sich die beobachteten Verzerrungen in der Peripherie noch einmal unter diesem Gesichtspunkt an, fällt auf, dass beim Sprechen über das Thema Suizid in der DDR solche Effekte, die hauptsächlich die Form betrafen, wie Strategien der höflichen Sprache (einschließlich Euphemismus und Umformulierung), von untergeordneter Bedeutung waren. Stattdessen handelte es sich bei den meisten hier beobachteten Effekten um semantische Veränderungen. Das heißt, die sprachliche Wirkung von Tabus betraf selten den Wortlaut, sondern verfälschte zumeist die Bedeutung.

Im Kern des Tabus standen also bestimmte politische »Tatsachen«, die von der regierenden SED als Angriffe auf die herrschende Ideologie angesehen wurden (analog, und zugleich im Kontrast zu den Verstößen gegen Moral und Anstand, die bisher oft im Mittelpunkt der Tabuforschung standen).[36] Hauptziel des Verschweigens dieser politischen Sachverhalte war es, das Dogma zu stärken (man könnte in Analogie zur anthropologischen Forschung sagen, um das »Mana«, d. h. die übernatürliche Kraft des ideologischen Dogmas, zu erhöhen), was dem Regime Legitimität verleihen sollte.[37] Die verzerrte Sprache in der Peripherie diente zumeist der Abschirmung dieser Realitätsverleugnungen.

Politische Tabus waren wirksame Mittel zur Prävention von Opposition und Widerstand. Aufgrund der entscheidenden Rolle von Ideologie für die Stabilität des Regimes war die SED darauf bedacht, Tabuverletzungen schon im Vorfeld zu verhindern. Tatsächlich waren Skandale in der DDR selten, Angst und Vermeidung öffentlicher Auseinandersetzungen um heikle Themen herrschten vor.[38]

Die Durchsetzung von Redeverboten war ein Rückkopplungsmechanismus, der auf der Wahrnehmung von Tabus beruhte. Es gab eine weit verbreitete Selbstzensur, die eine »Geiselmentalität« hervorrief, die zu Ausweichmanövern und Unbestimmtheit führte.[39] Die Grenzen von Tabus erschienen, anders als eindeutige Ge- und Verbote, diffus und vage und mussten durch Intuition, Verdacht, Anspielung und (selten) Versuch und Irrtum identifiziert werden.[40]

Das wahrgenommene Tabu war dabei, das ist wichtig, nicht nur für Autoren und Leser eine Realität. Auch für Bürokraten, die an der Zensur von Büchern, Filmen, Musik und Theater beteiligt waren, war dies von entscheidender Bedeutung. Literaturzensoren waren keineswegs die Schöpfer von Tabus. In der Regel mussten sie genauso wie die Autoren antizipieren, was in der jeweiligen historischen Situation akzeptabel war und was nicht. Eine ostdeutsche Zensorin des Kulturministeriums, Christine Horn, erinnert sich daran, wie sie gelernt hatte, bestimmte »Allergien« der Mitglieder des Zentralkomitees zu identifizieren.[41] In Anbetracht des Fehlens schriftlicher Richtlinien erkannte sie nach und nach, wo die sensiblen Themen lagen. Walter Cikan, Leiter der Abteilung Jugendmusik des DDR-Rundfunks, der in den 1980er-Jahren für die Zensur von Texten ostdeutscher Rock- und Popbands zuständig war, berichtet ebenfalls davon, dass das Tabu indirekt erspürt werden musste.[42]

Diese empirischen Befunde erinnern an Judith Butlers Konzept der impliziten Zensur. Demnach ermöglicht Zensur Handeln und setzt zugleich die notwendigen Grenzen. So folgt das Handeln aller Beteiligten (inklusive Zensoren) einer konstituierenden Norm, die das Sagbare vom Nichtsagbaren unterscheidet (Butler benutzt den Begriff »foreclosure«).[43]

Diese Norm war in der DDR nicht eindeutig definiert. Anders als in anderen kommunistischen Regimen gab es keine verbindliche Liste von Elementen, die DDR-Schriftsteller meiden bzw. tilgen mussten (eine solche Liste gab es nur für Journalisten). Je nach politischer Situation und Prestige des Autors existierten Handlungsspielräume. Personen, die an Zensurpraktiken beteiligt waren, zeigten »einen intuitiven und disziplinierten Respekt für die von der SED ausgeübte hermeneutische Macht« und verhandelten gleichzeitig die Konturen von Tabus neu.[44] Im Allgemeinen waren die Grenzen des realisierten Tabus ziemlich eng. Versuche, die Grenzen zu testen, kratzten im Großen und Ganzen nur an der Oberfläche des Kerns. Fast alle diese Versuche bestätigten zudem weitgehend die herrschende Ideologie. Aber manchmal erwiesen sich die Grenzen des Kerns auch als dehnbar, insbesondere im Bereich der Belletristik. Viele Schriftsteller, darunter Ulrich Plenzdorf, Günter Görlich und Sibylle Muthesius, konnten populäre Bücher über Suizid veröffentlichen, und einige prominente Autoren wie Christa Wolf, Volker Braun und Christoph Hein konnten selbst politische Implikationen ansprechen. Ein extremes Beispiel ist die Veröffentlichung von Werner Heiduczeks pessimistischem und selbstzerstörerischem Roman Tod am Meer (1977). Das Buch provozierte eine vernichtende Kritik des führenden SED-Literaturexperten Hans Koch, der warnte, dass hier die sozialistische Gesellschaft infrage gestellt werde. Nachdem auch die sowjetische Botschaft Protest eingelegt hatte, wurde die zweite Auflage verboten.[45]

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Literatur und Kunst in der DDR als »Ersatzöffentlichkeit« fungierten.[46] In Romanen, Gedichten und Dramen konnten Autoren Probleme ansprechen, die in streng kontrollierten Medien wie Zeitungen oder Lehrbüchern nicht diskutiert werden durften. Während Journalisten in der DDR lange, detaillierte Listen von Tabuthemen erhielten, hatten Künstler mehr Handlungsspielraum, was die Literatur zu einem Ort von Transgressionen machte.[47] Darüber hinaus gab es Inkonsistenzen bei den Zensurverfahren. Daher war es keineswegs außergewöhnlich, dass sich Romane und andere fiktive Texte, Filme und Theaterstücke mit Tabus befassten. Dies war die »Nische«, die die SED für weniger konformistische und manchmal sogar provokante Ideen offenließ.[48] Übertretungen im Bereich der Literatur sind daher immer auch als Resultat dieser »Arbeitsteilung« im Kulturregime der DDR zu verstehen.

Sigmund Freud hat einmal zur Mehrdeutigkeit des Tabus bemerkt, dass ein Tabu sowohl für Verbot als auch für Verlangen stehe. Das Anreißen von tabuisierten Themen könne Literatur daher besonders attraktiv machen.[49] Romane wie Christoph Heins Horns Ende oder Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. sind Beispiele dafür. Diese Bücher bezogen einen Teil ihrer Popularität aus der Tatsache, dass Suizid ein Tabu war. Sie erregten auch deshalb Aufmerksamkeit, weil sie ein Thema ansprachen, das als heikel und riskant galt. Gleichzeitig hat die Thematisierung von Suizid in der Belletristik das Tabu keineswegs überwunden. Der vom Ministerium für Volksbildung propagierte Roman von Günter Görlich Eine Anzeige in der Zeitung, der sogar Teil des schulischen Lehrplans wurde, bestätigte durch die Art und Weise, wie das Thema dargestellt wird, vielmehr die Existenz des Tabus.

Parallel zu den zahlreichen literarischen Veröffentlichungen zum Thema Selbsttötung gab es auch einen medizinischen Fachdiskurs, der die Möglichkeit gelegentlicher Übertretungen bot. So konnte etwa Karl Seidel, Professor für Psychiatrie und Sekretär für Gesundheit beim Zentralkomitee der SED, auf internationalen Konferenzen die hohe Suizidrate von Rentnern in der DDR, die er in seiner Habilitation untersucht hatte, erwähnen.[50]

Abgesehen von Transgressionen durch prominente Künstler und privilegierte Experten, die innerhalb der Grenzen des Regimes blieben, spielten Tabubrüche natürlich auch bei Protest und Kritik eine Rolle. Dissidenten wie Robert Havemann und Hermann von Berg ebenso wie kritische Künstler wie Bettina Wegner erwähnten nicht nur die hohe Suizidrate der DDR, sie bekundeten auch ihre Überzeugung, dass soziale und politische Faktoren die Ursache waren.[51]

Aber auch solche Verstöße gegen das Verbot waren nicht gleichbedeutend mit der Zerstörung des Tabus. Trotz eines umfangreichen medizinischen Diskurses, trotz einer Reihe veröffentlichter Romane und trotz aller Gerüchte und gelegentlicher provokativer Kommentare von Dissidenten blieb der politische Suizid während der gesamten Existenz der DDR ein Tabu.

V. Historischer Wandel

Tabuisieren lässt die problematischen Fakten nicht verschwinden. In sich ändernden historischen Kontexten können verbotene Ideen und Ausdrücke wieder auftauchen.[52] Selbst die relativ kurzlebige DDR war kein statisches Regime. Tabus entstanden nicht über Nacht. Oft dauerte es Jahre, bis sie voll ausgebildet waren, und ihre Reichweite änderte sich im Laufe der Zeit. Das Suizidtabu ist ein typisches Beispiel. Es durchlief mehrere Phasen von Lockerung und Verschärfung.[53] Zwar blieb das politisch auferlegte Tabu während der gesamten Existenz der DDR (oder zumindest nach dem Bau der Mauer im Jahr 1961) intakt, die Konturen des Kerns änderten sich jedoch mehrfach.

Dabei kann zwischen fünf Phasen unterschieden werden. In den ersten sechs Jahren ihres Bestehens veröffentlichte die DDR keine Suizidstatistiken. Dies änderte sich 1956, als das Statistische Jahrbuch begann, die (sehr hohen) Suizidzahlen des Landes offenzulegen. In den folgenden Jahren gab es in medizinischen Fachzeitschriften eine Debatte über die Ursachen der hohen Suizidrate in Ostdeutschland.[54] Nach dem Bau der Mauer beendete die SED die Entspannungsphase. Ab 1963 wurde die Suizidstatistik geheim gehalten, und die Forschung zu diesem Thema wurde erheblich behindert.

Der nächste Wendepunkt war um 1968. In diesem Jahr kündigte das DDR-Gesundheitsministerium ein Suizidpräventionsprogramm an. Zwei Suizidpräventionszentren nahmen 1968 und 1970 in Dresden und Brandenburg ihre Tätigkeit auf. Die DDR meldete der Weltgesundheitsorganisation sogar zwei Jahre lang die Suizidraten. In den folgenden Jahren bis 1977 gab es einen beispiellosen Boom wissenschaftlicher Aktivitäten. Es fanden mehrere Konferenzen statt. Intensivierte Forschung führte zu vielen Veröffentlichungen. Gleichzeitig wurde Suizid ein häufiges Thema in der DDR-Literatur.

Während sich der letztgenannte Trend nach 1977 fortsetzte, verschärfte das Politbüro in diesem Jahr die Beschränkungen in Bezug auf Statistiken (die nun selbst für interne Forschungszwecke nicht mehr verwendet werden konnten) und leitete eine Phase restriktiver Veröffentlichungspolitik ein, die zu einem starken Rückgang der Publikationen in medizinischen Fachzeitschriften führte.

Mitte der 1980er-Jahre kam es erneut zu einer Phase vorsichtiger Entspannung. Während die Zahl der in Fachzeitschriften veröffentlichten Artikel nur geringfügig zunahm, wurden immer mehr einschlägige Doktorarbeiten verfasst. Gleichzeitig unternahmen Psychiater und Psychologen neue Anstrengungen, um das Suizidproblem zu lösen. So wurden in mehreren Städten »Telefone des Vertrauens« zur Suizidprävention eingerichtet; teilweise in Konkurrenz zu etwa gleichzeitig geschaffenen kirchlichen Telefonseelsorgen. Schließlich und nicht überraschend führten der Zusammenbruch der DDR 1989/90 und das damit verbundene Ende der staatlichen Zensur zu einem Allzeithoch bei der Zahl der Veröffentlichungen.

Das oszillierende, politisch motivierte Suizidtabu in der DDR korrelierte mit der Entwicklung des Hauptelements des Tabukerns, der Suizidstatistik. Die DDR hat die Zahlen jährlich sehr akribisch zusammengestellt, aber geheim gehalten. Obwohl nur einer sehr kleinen Gruppe privilegierter Funktionäre zugänglich, korrespondierten Höhen und Tiefen der Suizidrate mit Verschärfungen und Lockerungen des Diskurses. Welche Mechanismen diese Koinzidenz konkret bewirkten, ist aufgrund des Mangels an aussagekräftigen Quellen nicht nachweisbar. Evident ist jedoch, dass es eine solche zeitliche Korrespondenz gab. So begann die Veröffentlichung der jährlichen ostdeutschen Suizidrate im Jahr 1956 nach einem Rückgang der Suizidrate um 25 Prozent seit 1946. Umgekehrt fiel die Entscheidung, die Daten ab 1963 geheim zu halten, mit einem Anstieg der Suizidrate um zehn Prozent zusammen. In ähnlicher Weise korrelierten auch die anderen oben genannten Wendepunkte mit den jeweiligen Trends bei den Suizidraten.

Abb. 2: Medizinische Fachliteratur zum Thema Suizid in der DDR bzw. den neuen Bundesländern (1949 bis 1993)[55]

Das Beispiel des Umgangs mit dem Thema Selbsttötungen deutet darauf hin, dass eine eher unsichtbare Veränderung innerhalb des Tabukerns (Veränderung der Suizidraten) einen signifikanten Einfluss auf den Diskurs in der Peripherie hatte. Diese Beobachtung fügt dem Konzept eine weitere Facette hinzu und bestätigt die Annahme, dass das Verschweigen im Kern und der Diskurs in der Peripherie eng miteinander verflochten sind und sich als Teile des kommunikativen Tabus gegenseitig bedingen.

VI. Tabuwahrnehmung

Ein vollständiges Verschweigen gelang trotz aller Bemühungen der SED nicht, das Tabu war vielmehr omnipräsent. Es war zu spüren, wenn etwas nur indirekt erwähnt oder angedeutet wurde, wenn Menschen ein Thema mieden und Selbstzensur praktizierten oder unverhältnismäßig reagierten. Wenn beispielsweise ein führender Gesundheitsexperte der DDR, der Rektor der Akademie für Ärztliche Fortbildung und langjährige Professor für Sozialhygiene an der Humboldt-Universität zu Berlin, Kurt Winter, im Jahr 1976 einen Aufsatz über Psychotherapie im Sozialismus veröffentlichte, in dem er auch auf die Suizidproblematik einging, und seinen Text gleich eingangs als »Wagnis« deklarierte, so war das in einer Gesellschaft, die es gewohnt war, zwischen den Zeilen zu lesen, bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass hier ein Meidungsbereich tangiert wurde.[56] Der Kommunist Winter, der 1937 im Spanienkrieg als Arzt bei den Internationalen Brigaden tätig gewesen war, konnte sich dem Tabu von einer privilegierten Position nähern. Zugleich stellte er sicher, dass der Kern unangetastet blieb.

Die konkrete Wirklichkeit des Tabus (das realisierte Tabu) war jedoch oft komplex und verwirrend. Nicht selten lösten schon winzige Hinweise auf Vorstöße in den politischen Kernbereich bei der Staatsicherheit Alarm aus. Im Jahr 1983 erwähnte ein Pfarrer bei einer »Bluesmesse« in Berlin eine steigende Zahl von Suiziden, ohne Einzelheiten zu erwähnen. Trotzdem war das provokativ genug, um in den Akten der Geheimpolizei vermerkt zu werden.[57] In anderen Fällen waren die Folgen schwerwiegender. Im Frühjahr 1978 nahm sich ein junger Mann in Halle-Neustadt das Leben. Nach einer unglücklichen Liebesbeziehung sprang er aus einem Hochhaus in den Tod. Seine Freunde trafen sich an der Stelle, an der er ums Leben gekommen war, um gemeinsam zu trauern. Sie brachten Kerzen und Blumen, und jemand legte schwarzen Stoff um die Kerzen. Dafür zerriss er eine DDR-Flagge, weil er gerade nichts anderes zu Hand hatte. Dies war keine politische Protesthandlung, aber das MfS reagierte mit Verhaftungen und Verhören und beobachtete den Ort mehrere Tage. Zufällig hatte die völlig unpolitische Verzweiflungstat einige Tage vor den Feierlichkeiten zum 1. Mai stattgefunden, was die Ängste der Stasi zusätzlich schürte.[58]

Die subjektive Wahrnehmung mag, wie im geschilderten Fall, übertrieben oder verzerrt gewesen sein, aber diese Übertreibung muss ernst genommen werden als eine weitere wesentliche Facette des Tabus, eine weitere Auswirkung seines »Gravitationsfeldes«. Die oft bei Herrschern und Beherrschten gleichermaßen mit Gefühlen wie Angst und Panik verknüpfte Art und Weise, wie ein Tabu erfahren und wahrgenommen wurde, ist bedeutsam.

Die emotionale Komponente von Tabukommunikation, über die schon James Cook berichtete, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt, der durch das hier entwickelte erweiterte Tabukonzept erfasst wird. Statt Gefühle und überzogene Ängste lediglich als falsches Bewusstsein abzutun, muss die Wahrnehmung von Tabus als empirische Tatsache, als Effekt in der Peripherie, anerkannt und als wichtiges Indiz für die Alltagswirkung eines politisch repressiven Regimes in die Untersuchung von Tabus einbezogen werden.

VII. Fazit

Mittels einer Fallstudie zum politischen Suizidtabu in der DDR hat dieser Aufsatz ein neues Konzept für die Untersuchung kommunikativer Tabus entwickelt. Dieses Konzept umfasst die Analyse der Topografie des Tabus (Kern, Peripherie), die Untersuchung des realisierten Tabus (Wahrnehmung, Übertretungen) und die Herausarbeitung der zeitlichen Veränderungen des Tabus. Das Modell eines Tabus als Einheit von Kern und Peripherie ermöglicht ein umfassendes und differenziertes Verständnis der sozialen Bedeutung und Wirkung von Tabus. Es konzentriert sich nicht nur auf das Verschwiegene im Kern, sondern unterstreicht auch die Vielfalt der Kommunikationspraktiken, mit denen Tabuthemen angesprochen werden. Die Analyse verzerrter Sprache in der Peripherie des Tabukerns zeigt, dass Verbote und Einschränkungen selbst in Diktaturen mit strenger ideologischer Kontrolle produktive Auswirkungen auf die Sprache haben können.[59] Die vielfältigen Formen von Tabukommunikation zeugen von großen Anstrengungen, Tabuthemen zu zähmen und präsentabel zu machen, und zeigen das komplexe Gefüge des offiziellen Diskurses selbst in kommunistischen Diktaturen auf.

Ein tabuzentrierter Ansatz ergänzt den institutionalistischen Ansatz, der versucht, die Organisationsprinzipien der Zensur aufzudecken, um den Fokus auf den verbotenen Inhalt. Eine inhaltszentrierte Perspektive geht auch insofern über die bloße Analyse der Verwaltung von Tabus hinaus, indem sie auch deren Fernwirkungen in der Sprache und die Art und Weise, wie Tabus wahrgenommen und erlebt werden, untersucht.

Es gibt eine Reihe von Erkenntnissen, die sich aus einer so konzipierten Untersuchung der Topografie von Tabus ergeben. Die Analyse der Vielfalt der Kommunikationsaktivitäten, die in der Umgebung verbotener Themen beobachtet werden können, und des Grads der uneigentlichen, verzerrten Sprache ermöglicht es, die Konturen des Tabukerns zu erkennen. Durch die Herausarbeitung jener Elemente, die (auch auf indirekte Weise) angesprochen werden können, und deren Unterscheidung von solchen, die verschwiegen werden, kann präzise bestimmt werden, wo sich die Grenze der verbotenen Zone befindet. Für die Fallstudie zum Suizidtabu zeigt sich damit auch der tiefere Sinn des vor allem die Statistiken betreffenden Verbots: Im Kern des politisch motivierten Suizidtabus liegt ein impliziter Mordvorwurf gegen die kommunistische Diktatur.

Abgesehen von solchen allgemeinen Einsichten (die das Verständnis moderner Anthropologen bestätigen, dass Tabus keineswegs eine Besonderheit primitiver Kulturen sind), gibt es Aspekte des Tabus, die mit der in der DDR propagierten kommunistischen Ideologie und ihrer zentralen optimistischen Botschaft zusammenhängen. Die Tatsache, dass sich jedes Jahr bis zu 6000 Einwohner das Leben nahmen, untergrub das Selbstverständnis der DDR als bessere sozialistische Gesellschaft. Dies war ein Grund, warum die SED das Thema nicht ansprechen wollte, obwohl Experten wiederholt nachgewiesen hatten, dass die hohe Suizidrate nur eine historische Erblast war und nicht durch das derzeitige Regime verursacht wurde.

Über den spezifischen sozialen Kontext der DDR hinaus sind die Inhalte kommunikativer Tabus nicht immer kulturell übertragbar. Das hier vorgeschlagene theoretische Konzept für das Studium von Tabus ist dagegen umfassender und allgemeiner. Es empfiehlt sich als Grundlage für zukünftige Studien des historischen Wandels von Tabus in anderen Diktaturen, und auch darüber hinaus. Eine genaue Vorstellung vom allgemeinen Erscheinungsbild kommunikativer Tabus, einschließlich der Unterscheidung von Kern und Peripherie, einer umfassenden Analyse der Bandbreite sprachlicher und semantischer Verzerrungen, der Untersuchung privilegierter Sprecher, die Tabus überschreiten können, und der Beachtung des wahrgenommenen Tabus könnte ein Ausgangspunkt für das historische Studium von Tabus, einschließlich der Modifikationen und Transformationen, in verschiedenen politischen Systemen sein.

Damit könnte auch der Unterschied der sozialen Wirkungsweise politischer Tabus in pluralistischen Gesellschaften einerseits und modernen ideokratischen Regimen andererseits genauer bestimmt werden.[60] Es scheint, dass in westlichen Demokratien die Tabusprache hauptsächlich auf sprachliche Ver- und Gebote hinausläuft.[61] Tabuthemen können hier kommuniziert werden, und die größte Herausforderung besteht darin, einen angemessenen, sozial verträglichen Ausdruck zu finden. Schimpfwörter und politisch beleidigende Äußerungen sind Gegenstand von Kontroversen. Darüber hinaus wird die Erinnerung an traumatische Erlebnisse häufig vermieden. Aber es gibt kaum verbotene Tatsachen. In Diktaturen hingegen verursachen Tabus neben sprachlichen Effekten in erheblichem Maße semantische Verzerrungen und Tilgungen.[62] Viele etablierte Fakten können überhaupt nicht kommuniziert werden und werden sogar geleugnet.[63] Das Beispiel der hohen Suizidrate der DDR illustriert dies. Obwohl es um 1960 eine wissenschaftliche Debatte darüber gab, mit der wichtigsten Erkenntnis, dass die hohe Suizidrate eine langfristige Besonderheit Ostdeutschlands seit dem 19. Jahrhundert war, und also nicht der kommunistischen Diktatur angelastet werden konnte, geriet das Ergebnis der Debatte ost- und westdeutscher Experten bald in Vergessenheit. Infolgedessen musste die Debatte drei Jahrzehnte später, im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, von vorn beginnen.

 


[1] Allgemein zu Ideokratien siehe Jaroslaw Piekalkiewicz/Alfred Wayne Penn: The Politics of Ideocracy, Albany 1995; Uwe Backes/Steffen Kailitz (Hg.): Ideocracies in Comparison, London 2015. Dass politische Führer Tabus bewusst erzeugen, ist im Übrigen keine Besonderheit moderner Gesellschaften. Bereits James Cook stellte fest, dass zum Tabu auf den polynesischen Inseln nicht nur magische Sanktionen, sondern auch scheinbar willkürliche Erlasse von Häuptlingen und Priestern gehörten. Franz Baermann Steiner: Taboo, London 1956, S. 143.

[2] Siehe Ulla Fix: Was hindert die Bürger am freien Sprechen? Die Ordnung des Diskurses in der DDR, in: dies.: Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2014, S. 61–81, hier S. 66.

[3] Siehe Steiner: Taboo (Anm. 1), S. 143.

[4] Siehe Kate Burridge: Taboo Words, The Oxford Handbook of the Word, Oxford 2015, S. 270–283; Keith Allan: Taboo Words and Language: An Overview, in: Keith Allan (Hg.): The Oxford Handbook of Taboo Words and Language, Oxford 2018, S. 1–29.

[5] Siehe Simone Barck/Christoph Classen/Thomas Heimann: The Fettered Media: Controlling Public Debate, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 213–239.

[6] Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR, Stuttgart 2019, S. 19.

[7] Sylvia Klötzer/Siegfried Lokatis: Criticism and Censorship: Negotiating Cabaret Performance and Book Production, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 241–263, hier S. 260.

[8] Siehe Dominic Boyer: Censorship as a Vocation: The Institutions, Practices, and Cultural Logic of Media Control in the German Democratic Republic, in: Comparative Studies in Society and History 45 (2003), H. 3, S. 511–545.

[9] Das trifft für die meisten Publikationen von Siegfried Lokatis zu, die eher auf Verfahren als auf Inhalte fokussieren. Zum Teil gilt es auch für Robert Darnton: Die Zensoren. Wie Staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat. Vom vorrevolutionären Frankreich bis zur DDR, München 2016. Ironischerweise war Zensur nicht nur eine Praxis, sondern auch selbst ein Tabuthema in der DDR. Die Verleugnung der Existenz von Zensur (der Kern) war umgeben von einer Reihe von Euphemismen (Peripherie) und wurde, wie Laura Bradley treffend festgestellt hat, durch die Rede von der Verantwortung ergänzt, die wiederum Selbstzensur gefördert und sogar vorgeschrieben hat. Siehe Laura Bradley: Cooperation and Conflict. GDR Theatre Censorship, 1961–1989, Oxford 2010, S. 14.

[10] Eher eine Ausnahme bietet Ann-Kathrin Reichardt, die zwar den Inhalt der Zensur ausführlich diskutiert, sich jedoch eher auf die ideologische Norm (das Äquivalent von »Mana«) als auf das Tabu konzentriert. Siehe Ann-Kathrin Reichardt: Die Zensur belletristischer Literatur in der DDR, in: Ivo Bock (Hg.): Scharf überwachte Kommunikation. Zensursysteme in Ost(mittel)europa (1960er–1980er-Jahre), Münster 2011, S. 363–446.

[11] Siegfried Lokatis: Entdeckungsreisen ins Leseland, in: Siegfried Lokatis/Theresia Rost/Grit Steuer (Hg.): Vom Autor zur Zensurakte. Abenteuer im Leseland DDR, Halle 2014, S. 11–16, hier S. 13.

[12] Bill Niven: On a Supposed Taboo: Flight and Refugees from the East in GDR Film and Television, in: German Life and Letters 65 (2012), H. 2, S. 216–236, hier S. 223.

[13] Nachfolgend wird vor allem der Begriff »Suizid« verwendet. Zu den anderen möglichen Bezeichnungen für Selbsttötungen siehe Udo Grashoff: »In einem Anfall von Depression …«. Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006, S. 15–26.

[14] Siehe Werner Felber: Das Suizidtabu in der ehemaligen DDR – Notizen, Erscheinungsformen, Auswirkungen, Gründe, in: Paul Götze/Michael Mohr (Hg.): Psychiatrie und Gesellschaft im Wandel, Regensburg 1992, S. 147–163.

[15] Ebd. sowie z. B. Waltraud Casper: Moralität. Ein Tabu ist gebrochen, in: humanitas 3 (1990), H. 8, S. 11; Matthias Matussek: Das Selbstmord-Tabu. Von der Seelenlosigkeit des SED-Staats, Reinbek b. Hamburg 1992.

[16] Susanne Hahn/Tilo Nimetschek: Suizidalität. Durchbrochenes Tabu, in: Suizidprophylaxe 20 (1993), S. 181–201.

[17] Siehe Werner Felber/Ehrig Lange: Der restriktive Umgang mit dem Suizidphänomen im totalitären System, in: Medizinische Akademie Dresden, der Rektor (Hg.): »Pro et contra tempora praeterita« (= Schriftenreihe der Medizinischen Akademie Dresden, Bd. 27), Dresden 1993, S. 140–145.

[18] Siehe Withold Bonner: Franziska Linkerhand: Vom Typoskript zur Druckfassung, in: Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand, 2. Aufl. Berlin 2001, S. 605–637.

[19] Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 337 f.

[20] In Studien zu zeitgenössischen kommunikativen Tabus werden zahlreiche rhetorische Mittel benannt, mit denen Tabus in westlichen Gesellschaften kommuniziert werden und die nicht ohne Weiteres auf einen diktatorischen Kontext übertragbar sind. Die rhetorischen Strategien umfassen Verschweigen, Ellipse, Abkürzung, Euphemismus, Klischee, Unbestimmtheit, Unterstellung, Umschreibung, Metapher, Verkehrung und Remodelling.

[21] Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 111–114.

[22] Ebd., S. 123–125. Es gab auch Fälle, die in Motivstatistiken unter »Krankheit« oder »Depression« verzeichnet wurden.

[23] Ein Beispiel hierfür ist der Nachruf auf Karl Griewank im Jahr 1953. Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 196.

[24] Siehe Christa Wolfs Romane »Der geteilte Himmel« und »Nachdenken über Christa T.«.

[25] Siehe Kate Burridge: Euphemism and Language Change: The Sixth and Seventh Ages, in: Lexis 7 (2012), H. 7, S. 65–92, hier S. 73.

[26] Siehe Karl Gass: Das Jahr 1945, DEFA-Dokumentarfilm 1985.

[27] Siehe Gerhard Schmidt: Über den Selbstmord als Katastrophenreaktion, in: Bibliotheca psychiatrica neurologica (1968), H. 137, S. 84–90; siehe auch Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 182–187.

[28] Ebd., S. 361–363.

[29] Ebd., S. 204 f.

[30] »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden«, in: Neues Deutschland vom 31. August 1976.

[31] Siehe Udo Grashoff: Wie ein Blitzschlag in der »hochelektrisch geladenen Atmosphäre eines totalitären Systems«? Zum 30. Jahrestag der Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz in Zeitz, in: Deutschland Archiv 39 (2006), H. 4, S. 619–628.

[32] Dies ähnelt der von Bunn konstatierten Rolle der Zensoren bei der Weiterentwicklung eines neuartigen Vokabulars zur Kontrolle der Gefahren, die von der Sprache ausgehen. Siehe Matthew Bunn: Reimagining Repression. New Censorship Theory and After, in: History and Theory 54 (2015), H. 1, S. 25–44, hier S. 42.

[33] Aus struktureller Sicht ähnelt der Dualismus von Kern und Peripherie auch Althussers Unterscheidung von repressiven und ideologischen Staatsapparaten. Übermäßig repressive Zensur (die nur als letztes Mittel durchgeführt wird) ist das Äquivalent des Kerns, und »unbewusst gewöhnte Formen der Konditionierung« (was er »Ideologie« nennt) entsprechen der Peripherie. Siehe ebd., S. 35.

[34] Hartmut Schröder: Zur Kulturspezifik von Tabus. Tabus und Euphemismen in interkulturellen Kontaktsituationen, in: Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr (Hg.): TABU. Interkulturalität und Gender, München 2008, S. 51–70, hier S. 58.

[35] Siehe zu Sprache und Tabukommunikation Keith Allan/Kate Burridge: Forbidden Words. Taboo and the Censoring of Language, Cambridge/New York 2006, Kap. 1.

[36] Auch im Unterschied zu Tabus, die in der klassischen anthropologischen Forschung untersucht wurden und sich auf Obszönitäten wie Sex und Ausscheidung, Blasphemie und Tiermissbrauch konzentriert haben. Siehe Schröder: Zur Kulturspezifik von Tabus (Anm. 34), S. 55.

[37] Siehe Hartmut Kraft: Die Lust am Tabubruch, Göttingen 2015, S. 39.

[38] Siehe Matthias Aumüller: Skandalisierung und Autorschaft in der DDR, in: Andrea Bartl/Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung, Würzburg 2014, S. 9–27.

[39] Siehe Matei Calinescu, in: Lidia Vianu (Hg.): Censorship in Romania, Budapest 1998, S. 63–68. Die Folge war eine gewisse Vagheit, ein Hang zum Ausweichen der Autoren in ihrem Schreiben (ebd., S. 64).

[40] Die klar formulierten Tabuthemen, die Journalisten in der DDR vorgelegt wurden, bildeten eine Ausnahme, und selbst hier gab es Spielraum, da einige Chefredakteure sie lediglich als Richtlinien betrachteten. Siehe Boyer: Censorship (Anm. 8), S. 527–529.

[41] Siehe Robert Darnton: Censorship. A Comparative View: France, 1789 – East Germany, 1989, in: Representations 49 (1995), Special Issue: Identifying Histories: Eastern Europe Before and After 1989, S. 40–60, hier S. 54. Eine retrospektiv erstellte Liste heikler Themen findet sich hier: Christine Horn: Staatliche Literaturaufsicht, Themenplan und Druckgenehmigungsverfahren, in: Lokatis/Rost/Steuer (Hg.): Vom Autor zur Zensurakte (Anm. 11), S. 17–32, hier S. 29.

[42] »Es gab zwar keinen Katalog von Themen, die tabu waren, aber wir meinten alle zu wissen, woran besser nicht gerührt wurde, und haben dann eben entsprechend entschieden.« Interview in: Peter Wicke/Lothar Müller (Hg.): Rockmusik und Politik – Analysen, Interviews und Dokumente, Berlin 1996, S. 81–88, hier S. 82.

[43] Judith Butler: Ruled Out: Vocabularies of the Censor, in: Robert Post (Hg.): Censorship and Silencing: Practices of Cultural Regulation, Los Angeles 1998, S. 247–259.

[44] Boyer: Censorship (Anm. 8), S. 530. Siehe auch Barck/Classen/Heimann (Hg.): The Fettered Media (Anm. 5), S. 214: »These individuals became in the process both rulers and the ruled, integrated as they were within the apparatus of power and simultaneously faced with the representations of social reality they encountered on a daily basis.«

[45] Siehe Hans Koch: Tod am Meer, abgedruckt in: Werner Heiduczek: Schatten meiner Toten. Eine Autobiographie, Leipzig 2015, S. 287.

[46] Patricia A. Herminghouse: Literature as »Ersatzöffentlichkeit«? Censorship and the Displacement of Public Discourse in the GDR, in: German Studies Review 17 (Herbst 1994, Totalitäre Herrschaft – totalitäres Erbe), S. 85–99.

[47] Siehe Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur, Bonn 1997.

[48] Siehe Günter Gaus: Wo Deutschland liegt, Hamburg 1983.

[49] Siehe Sigmund Freud: Totem and Taboo, Leipzig/Wien 1913.

[50] Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 392.

[51] Ebd., S. 297 f.

[52] Siehe Alois Hahn: Kanonisierungsstile, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 28–37, hier S. 29: »Grundsätzlich erwächst daraus [dass in sich ändernden historischen Kontexten verbotene Ideen und Ausdrücke wieder auftauchen können] auch stets die Chance, auf bereits Verurteiltes in neuen Situationen wieder zurückzukommen.« Der Schwerpunkt liegt in Hahns Aufsatz allerdings nicht auf Tabuisierung, sondern, wie auch der Titel besagt, auf Kanonisierung.

[53] Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), Kap. 6.

[54] Siehe Roderich von Ungern-Sternberg: Die Selbstmordhäufigkeit in Vergangenheit und Gegenwart, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 171 (1959), S. 187–207; W. F. Winkler: Über den Wandel in Häufigkeit, Bedingungen und Beurteilung des Suicides in der Nachkriegszeit, in: Der öffentliche Gesundheitsdienst 22 (1960), H. 4, S. 135–145; A[lexander] Lengwinat: Vergleichende Untersuchungen über die Selbstmordhäufigkeit in beiden deutschen Staaten, in: Das deutsche Gesundheitswesen 16 (1961), H. 19, S. 873–878; R[einhard] Cordes: Die Selbstmorde in der DDR im gesamtdeutschen und internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 58 (1964), S. 985–992; Rainer Oehm: Sozialhygienische Analyse der unterschiedlichen Selbstmordverhältnisse unter besonderer Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland, der »DDR« und West-Berlin, hrsg. von Hans Harmsen, Hamburg 1966.

[55] Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 330.

[56] Kurt Winter: Psychotherapie aus soziologischer Sicht, in: Kurt Höck/Karl Seidel (Hg.): Psychotherapie und Gesellschaft, Berlin 1976, S. 44–55, hier S. 44.

[57] Siehe Grashoff: In einem Anfall (Anm. 13), S. 337.

[58] Siehe BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX, Sachakten Nr. 76, Bl. 1–5.

[59] Gleiches gilt für die Zensur. Selbst in autoritären Regimen ist Zensur nicht immer und nicht überwiegend ein Unterdrückungsverfahren, sondern hat auch eine kreative, produktive Seite. Siehe Bunn: Reimagining Repression (Anm. 32), S. 26: »The central insight of New Censorship Theory has been to recast censorship from a negative, repressive force, concerned only with prohibiting, silencing, and erasing, to a productive force that creates new forms of discourse, new forms of communication, and new genres of speech.«

[60] Siehe Hahn: Kanonisierungsstile (Anm. 52), S. 30 f., der kognitive, ästhetische und moralische Zensur unterscheidet.

[61] Im Gegensatz zu Sprache (language = Kommunikationsregeln über Wörter, Gesten, Töne) verwenden Anthropologen den Begriff der Rede (speech), um »Sprache in Aktion« zu bezeichnen. Daher wäre es genauer, den Begriff Tabu-Rede zu verwenden. Siehe Stanley H. Brandes: An Anthropological Approach to Taboo Words and Language, in: Keith Allan (Hg.): The Oxford Handbook of Taboo Words and Language, Oxford 2018, S. 373–390, hier S. 375.

[62] Man denke nur an Havels berühmtes Diktum vom »Leben in der Lüge«. Siehe John Keane (Hg.): Vaclav Havel: The Power of the Powerless, London 1985.

[63] Eine extreme Konsequenz ist, dass Tabus bestimmte Gedanken auf lange Sicht fast undenkbar machen. Siehe Bunn: Reimagining Repression (Anm. 32), S. 36.

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Kurzbiografie

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