x

Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2017

»Lenin und die Folgen. Ein wissenschaftliches Gespräch zum 100. Geburtstag des russischen Revolutionärs«

Dokumentation einer Diskussion von 1970 zwischen Eugen Kogon, René Ahlberg, Iring Fetscher, Ernest Mandel, Oskar Negt, Henryk Skrzypczak und Hermann Weber

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 233-271 | Metropol Verlag

Autor/in: Mit einer Einführung von Nikolas Dörr

»Lenin und die Folgen. Ein wissenschaftliches Gespräch zum 100. Geburtstag des russischen Revolutionärs«. Dokumentation einer Diskussion von 1970 zwischen Eugen Kogon (Moderator), René Ahlberg, Iring Fetscher, Ernest Mandel, Oskar Negt, Henryk Skrzypczak und Hermann Weber. [1]

 

Mit einer Einführung von Nikolas Dörr

Am 22. April 1970 wäre Lenin 100 Jahre alt geworden. Der spätere Anführer der Bolschewiki wurde unter dem bürgerlichen Namen Wladimir Iljitsch Uljanow nach dem seinerzeit in Russland gültigen julianischen Kalender am 10. April 1870 in Simbirsk geboren. 1924 wurde die Geburtsstadt zu seinen Ehren in Uljanowsk umbenannt.

Lenins 100. Geburtstag wurde in den Staaten des sozialistischen Lagers umfassend zelebriert. Die Regierung der DDR ließ beispielsweise zu Ehren des sowjetischen Staatsgründers 1970 am Leninplatz in Ost-Berlin, dem heutigen Platz der Vereinten Nationen, ein neues Wohnquartier bauen. Am 19. April 1970 wurde hier ein neues Lenin-Denkmal enthüllt. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR stiftete unter anderem eine Medaille »Zum Gedenken an den 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins«, die im November 1969 erstmals verliehen wurde. Zahlreiche Festakte, Veranstaltungen und Publikationen an anderen Orten ergänzten die kommunistischen Würdigungen Lenins.

Während die Feierlichkeiten in den sozialistischen Staaten auch retrospektiv wenig überraschend scheinen, sind die Bemühungen der westlichen Staaten, sich mit Lenin anlässlich seines 100. Geburtstages auseinanderzusetzen, bemerkenswert.

Kein Geringerer als der damalige amtierende Generalsekretär der Vereinten Nationen Sithu U Thant lobte den russischen Revolutionär anlässlich des Jahrestages ausgiebig: »Lenin was a man with a mind of great clarity and incisiveness, and his ideas have had a profound influence on the course of contemporary history. In his political activity, he achieved a harmonious combination of the depth and breadth of a theoretical thinker and political practitioner. […] Leninʼs important contribution to the advancement of human rights and fundamental freedoms has been widely recognised.«[2] Auf sowjetischen Druck hin hielt die UNESCO als eine der wichtigsten Sonderorganisationen der Vereinten Nationen vom 6. bis 10. April 1970 im finnischen Tampere sogar ein internationales Symposium zum Thema »Wladimir Iljitsch Lenin und die Probleme der Entwicklung der Wissenschaft, Kultur und Erziehung« ab.[3] Die offizielle Zeitschrift der UN-Organisation The UNESCO Courier widmete ihre Ausgabe vom Juli 1970 dem Thema »1870–1970 – Lenin and Education, Science, Culture«. Sie enthielt auch einen Bericht zum Lenin-Symposium.[4]

Ebenso setzte man sich in der Bundesrepublik mit Lenin auseinander. Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) nahm den 100. Geburtstag Lenins zum Anlass, um am 24. April 1970 eine knapp zweistündige Diskussionsrunde unter dem Titel »Lenin und die Folgen – ein wissenschaftliches Gespräch zum 100. Geburtstag des russischen Revolutionärs« auszustrahlen. Die Sendung reihte sich in eine Serie von Dokumentationen und Fachgesprächen im bundesdeutschen Fernsehen anlässlich des Jahrestages ein. Mit dem Historiker Henryk Skrzypczak, dem Politikwissenschaftler Iring Fetscher, dem Soziologen Oskar Negt, dem Wirtschaftstheoretiker Ernest Mandel, dem Historiker und Politologen Hermann Weber sowie dem Soziologen René Ahlberg versammelte der WDR anerkannte Spezialisten der Sowjet- und Kommunismusforschung. Auffällig ist die politische Zusammensetzung der Diskussionsrunde. Von den sechs Diskutanten waren fünf Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) oder standen ihr zumindest nahe. Der Moderator Eugen Kogon kann ebenso zu dieser Gruppe gezählt werden. Lediglich der in Frankfurt am Main geborene belgische Theoretiker des Marxismus Ernest Mandel wich als überzeugter und aktiver Trotzkist davon ab. Aus dem konservativen und liberalen politischen Lager nahmen keine Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler teil.[5]

Die beiden Pole der Diskussion stellten zum einen Ernest Mandel als Trotzkist und zum anderen der im Antikommunismus der West-Berliner SPD verwurzelte Henryk Skrzypczak dar. Die anderen Diskussionsteilnehmer tendierten mehrheitlich zu Skrzypczaks Position, artikulierten ihre theoretische und politische Abneigung gegenüber Lenin jedoch nicht so prononciert wie der Berliner Sozialdemokrat. Als Verteidiger Lenins trat insbesondere Mandel auf, der wiederholt betonte, dass zum einen Stalin die Schuld an den Verfehlungen in der Sowjetunion trage und zum anderen die Probleme der kapitalistischen Staaten nicht minder groß seien. Die Diskussion behandelte hauptsächlich abstrakte theoretische Fragen des Marxismus. Während Marx als Theoretiker kaum kritisiert wurde, nahm die Frage, ob Lenin die Ideen Marxʼ korrekt weitergeführt habe oder ob er ihn fehlerhaft interpretierte, einen breiten Raum ein. Auch die Mitverantwortlichkeit Lenins für die Stalinʼsche Politik wurde ausgiebig diskutiert. Eine direkte Linie von Lenin zu Stalin wurde, mit Ausnahme von Skrzypczak und im Gegensatz zur heutigen Forschung, weitgehend verneint. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Opfer der sowjetischen und weiterer kommunistischer Diktaturen in der Diskussion kaum erwähnt werden. Lediglich Skrzypczak verwies häufiger auf die negativen Folgen für die Menschen in der DDR im Zuge des Mauerbaus oder auf die Opfer der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968: »Das Kriterium ist ja tatsächlich doch wohl nicht der abstrakte Erfolg, sondern ist die allumfassende Praxis. Und da stehe ich nun heute vor der Tatsache als Marxist, der andere für den Marxismus gewinnen will, dass da eine Mauer in Berlin vorhanden ist, dass sich ein Vorgang wie in der Tschechoslowakei ereignet hat, und vieles andere mehr. […] Ich wende mich dagegen, dass man alle Fehlentwicklungen nun etwa bloß dem Despoten Stalin in die Schuhe schiebt.«

Im Gegensatz zur aktuellen Forschung, die größtenteils eine kritischere Sicht auf Lenin vertritt, wurde er in der Diskussion auch von den der Sozialdemokratie nahestehenden Wissenschaftlern verteidigt, teilweise sogar gewürdigt. Dem Zeitgeist entsprechend versuchten alle Teilnehmer eine generelle Diskreditierung des Sozialismus zu verhindern, was häufig eine abstrakte, theoretische Diskussion in Gang setzte, um die konkreten Folgen, insbesondere die zahlreichen Opfer, nicht benennen zu müssen. Der hier abgedruckte Text ist somit nicht nur ein Beitrag zur Lenin-Forschung und der Geschichte des Kommunismus. »Lenin und die Folgen« stellt darüber hinaus eine Quelle des politischen Zeitgeists des Jahres 1970 dar.

 

Diskussion:[6]

Eugen Kogon (Moderator): Meine Damen und Herren, die Sowjetunion feiert, wie jedermann weiß, in diesem Jahr den 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins. Aber nicht nur die Sowjetunion, sogar die Organisation der Vereinten Nationen hat empfohlen, dieses Gedenktages überall zu gedenken; die Bedeutung Lenins nicht nur für damals, als die Sowjetunion gegründet wurde, sondern für heute in das allgemeine Bewusstsein zu heben. Die Sowjetunion tut es in einer gewissen – ich möchte sagen – heiligen Beschreibung. Es ist eine Art Kultdienst geworden, den sie da leistet. Wir hier haben, wie mir scheint, eine andere Aufgabe. Wir wollen heute Abend an diesem Tisch und in dieser Runde soweit es geht mit wissenschaftlicher Genauigkeit feststellen, welche Bedeutung diesem Mann und seiner Leistung in der Geschichte sowohl für die Sowjetunion als auch für uns alle zukommt, also bis hinein in die Gegenwart.

Die Runde besteht aus folgenden Wissenschaftlern: Herr Prof. Iring Fetscher, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt; Herr Ernest Mandel, Brüssel, marxistischer Wirtschaftstheoretiker; Herr Henryk Skrzypczak, Historiker in West-Berlin, Herausgeber der Internationalen wissenschaftlichen Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung; Herr Oskar Negt, Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Frankfurt und einer der Hauptvertreter der Frankfurter Kritischen Theorie; Herr René Ahlberg, Soziologe an der Freien Universität in Berlin mit dem Schwerpunkt Soziologie der sozialistischen Gesellschaften; Herr Hermann Weber, Privatdozent an der Universität Mannheim für die Politik und Geschichte des Kommunismus, des Sozialismus und der Arbeiterbewegung.

Sie sehen, meine Damen und Herren: Sachverständige. Ich bitte Sie am Tisch hier, mir während unserer Erörterung, die zeitlich an sich nicht beschränkt ist, zu erlauben, immer wieder für das Publikum vielleicht weiterführende Fragen zu stellen, die einen neuen Aspekt der vielfältigen Bedeutungen Lenins in der Geschichte herausarbeiten [können]. Diese Aspekte sind sehr zahlreich. Jeder sollte, wie mir scheint, von uns am gemessenen Platz berücksichtigt werden. Da ist Lenin als Revolutionär, Lenin als Staatengründer und Begründer, Lenins Verhältnis zur Partei, als Parteigründer sogar, Lenins Verhältnis zu den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, insbesondere zu den Nationalitäten. Sein Verhältnis zu den Nationalitäten hat bestimmt eine entscheidende Rolle gespielt für die Begründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. [Lenins] Verhältnis zu den Intellektuellen, zu den Arbeitern, zu den Bauern, zu den Beamten. All das ist ein reiches Feld. Ich denke aber, jeder einzelne Aspekt sollte zurückgeführt werden, soweit es uns möglich ist, auf die Frage des Marxismus. Inwieweit war Lenin und in welcher Weise war Lenin Marxist und Fortführer des Marxismus, sodass man im Osten mit Recht sagen kann: Marxismus-Leninismus sei das System, um das es sich in der Gegenwart handelt.

Ich darf Sie nun bitten, in die Debatte dieses riesigen Komplexes von Fragen einzusteigen.

Henryk Skrzypczak: Sie haben unmittelbar herangeführt an das Problem, das aufgeworfen wird durch die Behauptung, der Leninismus sei der Marxismus unserer Epoche. Da glaube ich, im Interesse des Marxʼschen Erbes, allerdings Bedenken anmelden zu müssen. Nicht so, als ob Lenin niemals Marxist gewesen sei. Es gibt, wenn man will, eine durchaus orthodoxe marxistische Epoche bei Lenin. Aber das andere Problem, das ich als ganz entscheidend betrachte, ist doch die Tatsache, dass Lenin durch die von ihm implizierten Folgen ein ganz wesentliches Hindernis für die Marx-Rezeption im Westen geworden ist. In Diskussionen stoße ich immer wieder auf Einwände der Art, dass uns in Lenin und seinem System eine antidemokratische Ideologie entgegentritt. Es wird, wenn man Marx sagt, verwiesen auf die Mauer in Berlin, auf das Fehlen der Freizügigkeit der arbeitenden Schichten, auf Ereignisse wie die Besetzung der ČSSR,[7] und da ist es dann sehr schwierig, über diese Klischees hinweg, zu dem wahren Marx-Bild vorzustoßen. Und ich glaube tatsächlich, dass man Lenin von der Verantwortung für diese Entwicklung nicht wird freisprechen können.

Eugen Kogon: Gehen Sie so weit, dass Sie sagen würden, Lenin habe die Weiterentwicklung des Marxismus blockiert? Im demokratischen Sinne zum Beispiel blockiert?

Skrzypczak: Ich würde sagen: in der Theorie, die bei ihm ja zur Ideologie wird und zur Philosophie. Lenin hat aus historisch bekannten Umständen nie die deutsche Ideologie von Marx und Engels kennengelernt. Bereits in der Theorie oder Ideologie ist eine Abweichung vom Marxismus zu konstatieren und aus der von ihm angewandten Praxis hat sich, für den Marxisten vollauf verständlich, dann eine Denaturierung des gesamten Systems ergeben, wobei ich System, im Hinblick auf Marx, in Anführungsstriche setzen würde.

Kogon: Da meldet sich Widerspruch: des gesamten Systems, sagten Sie jetzt.

Skrzypczak: Und System in Anführungsstrichen. Ich gehe davon aus: Marx hat kein System geliefert.

Iring Fetscher: Ich würde das etwas einschränken. Einmal so: Sicher ist der Leninismus nicht der Marxismus unserer Epoche, sondern ein Marxismus unserer Epoche. Und ein Marxismus, der angewandt auf die spezifischen Verhältnisse des vorrevolutionären Russlands in dem damaligen Kontext des internationalen Kapitalismus bestimmte Konsequenzen gezogen hat, die sich aus der flexiblen Taktik eines Revolutionärs ergeben haben. Dass diese sich aus den spezifischen Bedingungen der damaligen historischen Situation und Russlands ergebenden Konsequenzen zu einem System verfestigt haben, dafür gab es Ansätze bei Lenin, aber ich glaube nicht, dass es eine absolute Notwendigkeit gab.

Es gibt auf der anderen Seite doch genügend Beispiele, gerade in den großen politischen Entscheidungen, die Lenin vollzogen hat, die beweisen, dass er kein Dogmatiker war, dass er fähig war, konkreten Umständen in dem Ausmaß Rechnung zu tragen, wie es notwendig war. In drei Fällen. Der Friedensschluss mit den reaktionären Mächten Deutschland und Österreich-Ungarn[8] gegen die theoretische Konzeption, dass man den Krieg jetzt als revolutionären Krieg weiterführen müsste aus der Erkenntnis, dass Russland kriegsmüde und kriegsunfähig war. Der zweite Fall: Die Verteilung des Landes an die Bauern gegen die sozialistische Konzeption der genossenschaftlichen oder staatlichen Ordnung des Eigentums im Agrarsektor. Und im dritten Punkt dann bei der Neuen Ökonomischen Politik: Wiederzulassung von Konzessionen für kapitalistische Formen des Handels und des Austausches zwischen Stadt und Land, vor allen Dingen aus der Erkenntnis, dass bei dem gegenwärtigen Zustand der Bevölkerung auf andere Weise eine rasche Erholung der Wirtschaft nicht möglich war. Das alles unbeschadet der festgehaltenen sozialistischen Zielsetzung. Ich würde darin die entscheidende Leistung Lenins sehen und nicht so sehr in der Tatsache, dass er im Materialismus und Empiriokritizismus in der Tat also eine Grundlage gelegt hat, auf der Stalin dann den dialektischen Materialismus zur obligatorischen Ideologie machen konnte.

Kogon: Sie sehen also in der theoretischen Leistung von Lenin den geringeren Teil?

Fetscher: Ich würde sagen, in der Leistung als Philosoph. Lenin selber hat sich da ganz viel niedriger eingeschätzt als die Leninisten. Lenin hat in den Briefen an Gorki geschrieben: »Ich bin kein Philosoph, ich hab mich jetzt mit diesen Dingen beschäftigt, Empiriokritizismus usw., ich find das scheußlich, aber ich bin ja doch nicht der Papst.« Er hat sich selber nicht zum philosophischen Papst gemacht. Er hat schließlich dann Lunatscharski[9] als Kultusminister gehabt. Einen Mann also, der genau die Richtung vertreten hat, die er theoretisch kritisiert hat, aber eben in dem Wissen, dass das nicht seine Hauptfunktion ist.

Kogon: Herr Skrzypczak, was ist dann der Kern Ihres Einwandes?

Skrzypczak: Ich würde zunächst die Beispiele, die Herr Fetscher undoktrinäres Verhalten genannt hat, revolutionären Opportunismus nennen. Das zunächst einmal. Zum andern aber, meine Grundsatzüberzeugung, dass man die Diskussion recht bald von der Philosophie und Ideologie auf die Ökonomie und diesen ganzen Sektor überleiten sollte, denn da liegt meiner Ansicht nach der Kern des Problems begraben. Gehen wir aus von der Einschätzung Lenins, dass der Kapitalismus in ein Fäulnisstadium eingetreten sei, das unmittelbar an die sozialistische Revolution heranführe. Inzwischen sind wir nun einige Jahrzehnte weiter und haben festgestellt, dass der Kapitalismus weit davon entfernt ist, ökonomisch zu verfaulen, und immer noch expandiert und dass er vor allem neue Produktivkräfte aus sich selbst entfesselt hat. Und als Marxist muss ich mich dann einfach berufen, nicht im Sinne einer dogmatischen Berufung, sondern im Sinne des Hinweises auf die richtige Erkenntnis von Marx, dass eine solche Gesellschaftsordnung tatsächlich noch nicht das Ende ihrer Entwicklung erreicht hat. Und da kommen wir, würde ich meinen, mitten in den Kern der Problematik: Die Macht in einer Situation zu ergreifen, in der die objektiven Faktoren – das sehen wir heute ganz deutlich, nachdem Atomenergie, Kybernetik, Automation sich entwickelt haben –, in der die Situation ökonomisch tatsächlich nicht ausgereift gewesen ist. Ich glaube, da liegt mehr der Kern als in philosophischen Fragen.

Kogon: Würde das also heißen, dass Ihrer Meinung nach Lenin die Gelegenheit in Russland 1917 nicht hätte benutzen sollen, um die Revolution in Gang zu setzen?

Skrzypczak: Welche Revolution in Gang zu setzen? Die Revolution, zunächst als bürgerliche Revolution, war vor ihm in Gang gesetzt.[10] Da gibt es an sich ja historische Analogien, die darf man nicht verabsolutieren, aber im Grunde haben sich Marx und Engels auch schon in einer Situation befunden, in der sie feststellen mussten, dass eine bürgerliche Revolution im Gange ist, dass das Proletariat im Grunde eine ganz kleine Minderheit darstellt. Und in diesem Falle sind Marx und Engels zu dem Ergebnis gekommen, dann auf den äußersten linken Flügel der Bourgeoisie zu marschieren. Lenin versucht, die ganze Sache zu kippen. Man könnte darüber diskutieren. Auch bei Marx wird ja ein Bündnis mit der Bauernschaft erwogen, aber das sieht etwas anders aus. Bloß im Grundsatz würde ich sagen, ist die von ihm eingeschlagene Taktik – und das ist nicht eine späte Erkenntnis, das haben die Menschewiki ihm ja vorhergesagt, und zum Teil nicht nur die Menschewiki – doch im Kern höchst problematisch, wenn man sie auf einen marxistischen Nenner bringen will.

Kogon: Sowohl Herr Ahlberg wie Herr Mandel würden dazu gerne Stellung nehmen.

Ernest Mandel: Ich glaube, dass die Fragestellung von Herrn Skrzypczak richtig ist, nur würde ich auf diese Frage die umgekehrte Antwort geben, die er gegeben hat. Das zentrale Problem ist die Frage, ob es für die unterentwickelten Länder der Welt nach Anfang der imperialistischen Epoche noch eine Möglichkeit gab, die Geschichte etwa Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens zu wiederholen. Und es ist ausgehend von der Analyse des Imperialismus, nämlich ausgehend von der Feststellung, dass eine solche Wiederholung nicht mehr möglich war, sagen wir nach dem letzten Fall Japan, dass Trotzki[11] erst 1906 und Lenin nachher im Jahre 1917 die These aufgestellt hatten, die Revolution in Permanenz zu erklären, das heißt die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution mit den Aufgaben der sozialistischen Revolution zu verbinden. Da würde ich an erster Stelle eine historische Bilanz machen und würde Herrn Skrzypczak fragen: Zeigen Sie mir ein anderes Land in der Welt seit 1917, dem es gelungen ist, sich gründlich zu industrialisieren ohne eine sozialistische Revolution. Zeigen Sie mir ein anderes zurückgebliebenes Land, etwa die Türkei oder Brasilien oder Indien. Sie können kein einziges Beispiel zeigen. Das ist der marxistische Ausgangspunkt Lenins, dass man also nicht jedes Land getrennt betrachten darf, sondern dass man die Gesamtheit der Weltwirtschaft betrachten muss und dass man feststellen muss, ob es möglich ist, in der Konkurrenz mit der gewaltig entfesselten imperialistischen, monopolkapitalistischen Industrie des Westens ohne den Schutz des Staatsmonopols des Außenhandels und ohne eine zwanghafte Abtrennung von diesem Weltmarkt einen intensiven Industrialisierungsprozess durchzuführen.

Ich möchte eine zweite, allgemeine methodologische Bemerkung hinzufügen. Ich glaube nicht, dass Lenins Bemerkung, das monopolkapitalistische Zeitalter sei das Fäulnisstadium des Kapitalismus, so interpretiert werden soll, als bedeute das ein Ende der Entwicklung der Produktivkräfte. Wenn Sie genau die Stelle, wo das Wort Fäulnis vorkommt, wieder lesen möchten, dann werden Sie sehen, dass er im nächsten Satz sagt: Das bedeutet nicht, dass das Wachstum aufhört. Im Gegenteil, Wachstum geschieht noch schneller als vorher. Aber das ist ganz spezifisches Wachstum, es ist Wachstum, das nicht mehr dieselben weltweit progressiven Folgen hat, wie es das Wachstum des Kapitalismus im 19. Jahrhundert gehabt hat. Es ist Wachstum, das gleichzeitig von unerhörter Vergeudung, von unerhörtem Elend und unerhörter Not in solchen Ländern begleitet ist; wo diese Entwicklung, diese Not, dieses Elend und diese Vergeudung nicht mehr [beendet werden können]. Ich würde diese historische Analogie bis zum Ende durchsetzen oder sagen, wenn Sie die mechanische Interpretation des Marxismus geben, wonach ein System nicht verschwinden könnte, bevor die letzten Produktivkräfte sich entfaltet hätten, wie erklären Sie dann die Französische Revolution? Gab es in den zwanzig Jahren vor der Französischen Revolution etwa wirtschaftliche Stagnation in Frankreich? Oder gab es [eine] bedeutende Entfaltung der Produktivkräfte? Die Marxʼsche Gesellschaftslehre sagt, dass es der Konflikt zwischen dieser Entfaltung der Produktivkräfte und den bestehenden Produktionsverhältnissen ist, der soziale Revolutionen verursacht, und nicht die absolute Stagnation der Produktivkräfte. In dem Sinne würde ich sagen, dass in einem ganzen Teil der Welt seit 1917 deutlich dieser grundlegende Konflikt zwischen den Produktivkräften und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zum Ausdruck kommt, nicht nur in den unterentwickelten Ländern der Welt, sondern auch in den westlichen Ländern, und ich möchte mich hier ganz konkret auf die Mai-Ereignisse 1968 in Frankreich[12] beziehen.

Kogon: Herr Mandel, das führt, wenn ich es recht sehe, bereits in die Thematik hinein: objektive Gesetzlichkeit des geschichtlichen Prozesses. Und auf der anderen Seite das, was Herr Skrzypczak den revolutionären Opportunismus genannt hat, was man aber auch die Bereitschaft nennen könnte, in einer gegebenen Situation auf das gemeine Ziel hin zu handeln.

Bevor Sie gründlicher antworten, Herr Skrzypczak, würde ich gerne die möglichen Ergänzungen von Herrn Ahlberg hören.

René Ahlberg: Wir sind etwas vorschnell vorgegangen und haben einige Konsequenzen erörtert, ohne uns eigentlich der Frage nach Lenins Verhältnis zum Marxismus zu stellen. Ich glaube, dass müsste an diesem Ort wenigstens in kurzen Umrissen geklärt werden.

Kogon: Ich dachte, dass tun wir zurzeit.

Skrzypczak: Ich würde gerne einige Unterstellungen, wenn ich das in Anführungsstrichen sagen darf, vom Tisch bringen. Nämlich Herr Mandel ist so nett gewesen, mir eine mechanische oder eine mechanistische Betrachtungsweise zu unterstellen, und das möchte ich zunächst einmal dementieren.

Kogon: Wir haben gemerkt, dass Sie zusammenzuckten. So etwas tut natürlich weh. Aber wir wollen uns das nicht übel nehmen.

Skrzypczak: Ich glaube vor allem, das ist bisher in der Diskussion gar nicht so existent geworden: Mechanismus oder Dialektik. Darüber müsste man vielleicht später konzentrierter sprechen. Aber dann eine andere Behauptung: Dass Lenin also die Dinge im Weltzusammenhang betrachtet hat, dem steht natürlich einmal die Tatsache – zumindest muss man sie beachten – entgegen, dass er ja nun auch den Marxismus schon revidiert hat im Hinblick auf Sozialismus in einem Land. Das Engels-Wort galt natürlich für die Zeit vor dem Imperialismus, aber mit dem Imperialismus …

Mandel: Lenin hat nie die These des Sozialismus in einem Land aufgestellt. Er hat gesagt, er siegt in einem Land …

Kogon: Herr Mandel und Herr Fetscher, das führt hier so weit, dass es gar nicht vom Tisch gefegt wird, was Herr Skrzypczak wollte, sondern es entsteht ein neuer Zankapfel. Wir haben ja noch Zeit genug, auf das Grundverhältnis Lenin – Marxismus zu kommen. Jetzt wollen wir Herrn Ahlberg sprechen lassen.

Ahlberg: Ich glaube, Lenin ist [kein] Dogmatiker und das Wort Opportunismus kann man in einer revolutionären Situation als sehr kluge und notwendige Strategie interpretieren. Hier würde ich ihm wohl keinen so scharfen Vorwurf machen, wie das Herr Skrzypczak getan hat. Aber wenn man Lenins politische Konzeption verstehen will, muss man sich doch einen Augenblick die historische Situation vergegenwärtigen, in der sich sein Denken formiert hat. Es sind wohl die Achtziger- und Neunzigerjahre des [19.] Jahrhunderts. Und die vorherrschende revolutionäre Strömung im damaligen Russland waren die Volkstümler.[13] Lenin hat einmal selbst bekannt, und das ist, glaube ich, auch Gegenstand eines Beschlusses des Politbüros, dass sich der Marxismus in Russland in einer nahezu existenziellen Auseinandersetzung mit der Sozialphilosophie der Volkstümler oder der sogenannten Populisten formiert hat. Es ist nicht verwunderlich, dass in Lenins, sagen wir einmal, sozialphilosophischem Denken die Spuren dieser subjektiven Geschichtsphilosophie der Populisten zurückgeblieben sind. Die subjektiven Geschichtsphilosophen gingen von der Überzeugung aus, dass Geschichte durch charismatische Persönlichkeiten manipuliert werden könnte. Und Lenins Kritik an diesen Volkstümlern bestand im Grunde genommen nicht im Bestreiten der Tatsache, dass Personen Geschichte machen können, sondern eigentlich nur darin, dass man die rechten Theorien und die rechten gesamtgesellschaftlichen Analysen einem sozialen Handeln voranschicken oder voranstellen müsse. Sie sehen aber an dieser Interpretation eine gewisse innere Verwandtschaft zwischen der Grundeinstellung Lenins zur Geschichte und sagen wir einmal den sozialphilosophischen Vorstellungen Michailowskis. Die Auffassung aber, dass Geschichte auch über ihre ökonomisch sinnvollen Grenzen – das ist wohl die Grenze des Marxismus – hinausgetrieben werden kann, das scheint mir ein Abteil der subjektiven Geschichtsphilosophie der Volkstümler in Lenins politischer Konzeption zu sein. In diesem Zusammenhang [werden] meiner Meinung nach erst seine Revolutionstheorie und auch seine Parteikonzeption recht verständlich.

Kogon: Also eine außermarxistische Wurzel seines Handelns und Denkens?

Ahlberg: Es wäre eine außermarxistische Wurzel, wenn auch eine Denkströmung, die sich fast nahtlos mit einer dialektischen Auffassung von Geschichte verbinden kann. Das ist das Eigenartige, dass subjektive Geschichtsphilosophie mit der marxistischen Dialektik sehr enge Berührungspunkte hat und dennoch nicht mit Marxismus identisch ist. Das Fremde und Differenzierte in Lenins Denken stammt aus diesem Erbe. Und damit löst sich im Grunde genommen auch der Streit zwischen Herrn Mandel und Herrn Skrzypczak. Denn sie haben im echten Leninʼschen Geiste argumentiert und ihr Kriterium für die Beurteilung Lenins war sein Erfolg.

Mandel: Nein.

Ahlberg: Ja. Sie haben gefragt: Welches Land habe so erfolgreich sozialisieren und industrialisieren können, und die Antwort blieb natürlich aus. Aber das ist ein Erfolgskriterium, mit dem Sie Lenins Strategie …

Mandel: Nein, Herr Ahlberg. Es ist nicht das Erfolgskriterium, das hier als Beweis angebracht wird. Es ist das Erfolgskriterium, das als Beweis angebracht wird für die Richtigkeit der theoretischen Ausgangsposition. Ich versuchte darzulegen, dass in der Leninʼschen Konzeption der Revolution in Russland ein Bruch, ein Sprung entstanden ist, nicht aus russischen, sondern aus internationalen Gründen. Dass Lenin von der klassischen marxistischen Theorie, dass in Russland eine bürgerlich-demokratische Revolution auf der Tagesordnung stand, übergegangen ist zur Theorie – sagen wir – der permanenten Revolution, des ununterbrochenen Herüberwachsens der bürgerlichen in eine sozialistische Revolution, ausgehend von einer Analyse der Entwicklung des Weltkapitalismus. Mit anderen Worten: Wenn ich dieses Erfolgsmoment in die Diskussion hineingebracht habe, dann war es nicht, um zu sagen, der Beweis liegt im Erfolg, sondern was die Geschichte seit sechzig Jahren bewiesen hat, ist die Richtigkeit der Leninʼschen Imperialismus-Theorie. Die Richtigkeit der Unmöglichkeit, den Kapitalismus im nachimperialistischen Zeitalter mit ausschließlich denselben Kategorien zu beschreiben [wie] den Kapitalismus des vorimperialistischen Zeitalters.

Kogon: Diese theoretische Rechtfertigung erst im Laufe der Revolution.

Mandel: Nein, das würde ich nicht sagen. Trotzki hatte das schon 1906 erkannt und die Leninʼsche Änderung der Einstellung zur Weltsituation, das heißt das Übertragen der Aktualität der Revolution aus dem rein russischen in [ein] weltweites Ausmaß, kommt unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit dem 4. August 1914 eröffnete sich für Lenin ein neues Zeitalter der Weltgeschichte, in dem die sozialistische Weltrevolution auf der Tagesordnung steht. Und das Hinüberwachsen der russischen bürgerlich-demokratischen in eine sozialistische Revolution hatte für ihn nur Sinn im Rahmen dieser neuen Auffassung der Weltlage. In diesem Sinne bestreite ich absolut, was Herr Skrzypczak gesagt hat, dass Lenin die Oktoberrevolution konzipiert hatte als Mittel, um den Sozialismus in einem Lande aufzubauen. Für ihn war die Russische Revolution nur Auftakt eines welthistorischen, weltrevolutionären Prozesses, der für ihn möglich war – ökonomisch möglich und notwendig war – durch die Änderung der weltökonomischen Lage, das heißt durch die Änderung der Situation des Kapitalismus.

Kogon: Er wartete auf die Revolution in den hochindustrialisierten Ländern.

Mandel: Er wartete auf die Revolution in Deutschland im weiteren Sinne und das ist orthodoxer Marxismus.

Ahlberg: Ich wage zu bestreiten, dass man die Reaktion, die theoretischen Konsequenzen Lenins angesichts der Oktoberrevolution oder vor der Oktoberrevolution einzig aus seiner objektiven Analyse der Weltsituation ableiten kann. Ich glaube, damit überschätzen Sie die theoretischen Möglichkeiten, die man hat. Man muss sich natürlich fragen, welche sozialphilosophischen Konzeptionen schon vorgegeben waren, die eine Analyse der Weltsituation, eine ganz bestimmte Lösung und Antwort erst möglich machten. Und da würde ich sagen, ist die Überzeugung Lenins, dass Geschichte durch Persönlichkeiten und mithilfe einer disziplinierten Parteiorganisation gemacht werden kann. Dass Geschichte manipuliert werden kann, ist der sozialphilosophische Hintergrund, auf dem die Analyse der Weltsituation, von der Sie sprachen, des imperialistischen und nachimperialistischen Stadiums, eine ganz bestimmte Antwort, nämlich die Leninʼsche Antwort, sehr konsequent und bruchlos [nahelegt].

Kogon: Herr Weber, Sie wollten etwas ergänzen.

Hermann Weber: Ich wollte nicht ergänzen, sondern ich wollte eigentlich diesem Letzten widersprechen. Mir scheint, dass man es sich zu einfach macht, wenn man in Lenin die nahtlose Persönlichkeit, den ungebrochenen Bezug zu dieser Revolution, von der vorhin gesprochen wurde, sieht. Mir scheint das, was Herr Ahlberg anführte, gilt doch nur für eine ganz bestimmte Periode Lenins, und zwar vor allem für die Periode bis zum 4. August 1914, die hier schon angesprochen wurde. Wenn man sich vor Augen hält, dass Lenin sich sehr dagegen gewandt hat, dass seine frühen Schriften später wieder aufgelegt wurden, hat Lenin selbst wohl auch sehr genau erkannt, dass [er] in dieser frühen Phase bestimmte, aus der russischen Geschichte erklärbare Entwicklungstendenzen in seine Theorie aufnahm, [die er] später doch eigentlich widerrufen hat. Wenn Sie beispielsweise ein Werk wie Staat und Revolution[14] nehmen, das man als die theoretische Begründung der Revolution auffassen könnte, dann merkt man ja doch von dieser Vorstellung sehr wenig und ich glaube, dass das einfach klar macht, dass hier verschiedene Perioden Lenins, die man sogar zeitlich sehen kann, einen unterschiedlichen Leninismus auch ergeben. Das würde ja auch, wenn wir uns die Gegenwart betrachten, erklärbar machen, warum so viele verschiedene und gegensätzliche Gruppen sich mit einem gewissen Recht doch alle auf Lenin berufen können. Weil eben diese Einheitlichkeit, von der man oftmals spricht, vielleicht gar nicht existiert.

Kogon: Zu diesem Punkt. Das ist aber die Dialektik, von der Herr Ahlberg sprach.

Weber: Ob man das als Dialektik bezeichnen soll oder ob man es historisch gewachsen sieht, das wäre ja, glaube ich, ein gewisser Unterschied. Ich glaube also nicht, dass es aus einer Sozialphilosophie erklärbar ist, sondern dass Lenin jeweils eben doch der Realpolitiker gewesen ist, der sich und seiner Bewegung ganz bestimmte Aufgaben gestellt hat. Und natürlich entsprechend der Situation, die in Russland sehr unterschiedlich war, etwa im Jahre 1902/03 und im Jahre 1917, und dass er aus diesem Unterschied heraus natürlich auch verschiedene Konsequenzen für die Politik zog. Das Problem ist, ist es Marxismus und, wie Herr Mandel sagt, orthodoxer Marxismus oder ist es überhaupt kein Marxismus? Das scheint mir ein bisschen zu dogmatisch einfach gefasst zu sein, wenn man die Frage so stellt. Man kann wohl ohne Weiteres doch darauf hinweisen, dass Lenin in seiner Grundkonzeption jedenfalls vom Marxismus ausging, nicht nur daher kam, sondern in seiner Grundkonzeption davon ausging. Man kann also durchaus davon sprechen, dass er den Marxismus, wenn man so will, modernisiert hat, dass er die russischen Erfahrungen vor allem aufnahm und hineinbrachte, dass er darüber hinaus einen gewissen Voluntarismus, auf den Sie ja hinwiesen, hineinbrachte. Das ändert doch nichts daran, dass die Grundkonzeption, nämlich sowohl die Zielsetzung wie auch die Methode, wie die Tatsache, auf welche Klasse er sich zu stützen versucht, wenn man es genau nimmt, eine marxistische gewesen ist. Insofern scheint mir dieser Begriff Marxismus-Leninismus, wenn man nicht das darunter versteht, was heute vielfach verstanden wird, durchaus eine gewisse Rechtfertigung zu haben.

Kogon: Also die voluntaristische Note, die er dem Marxismus hinzugefügt hat, die war ja nicht nur eine gewisse, die war ja enorm.

Mandel: Aber das lag bei Marx auch drin. Meine Meinung, sagte Marx, meine Doktrin oder meine Theorie ist eine Anleitung zum Handeln. Das kommt nicht von Lenin. Das kommt schon von Marx.

Weber: Das würde ich aber weniger zurückführen auf die Grundeinstellung, sondern vor allem auf die Situation. Marx lebte und handelte in einer anderen Situation, die diesen Voluntarismus eigentlich nicht so stark machen musste, wie das bei Lenin der Fall gewesen ist.

Oskar Negt: Vielleicht an Herrn Ahlberg und Herrn Skrzypczak: Ich meine, es gibt sicherlich sehr viele Auffassungen darüber, was Marxismus sein kann. Aber eines, glaube ich, kann man von einer marxistischen Theorie nicht eliminieren, ohne den Marxismus aufzugeben, nämlich die revolutionstheoretischen Aspekte des Marxismus. Ein Marxismus ohne Revolutionstheorie ist kein Marxismus, d. h., die Substanz dieses Marxismus ist verschwunden. Es könnte eine akademische Theorie sein, es könnte alles sein, aber es ist eigentlich keine marxistische Theorie mehr. Das heißt, ich möchte eigentlich fragen, ob nicht die Richtung ihrer objektivistischen Argumente, d.h. gegen Blanquismus,[15] gegen Volkstümlertum, also gewissermaßen gegen die Aufwertung des subjektiven Faktors ist.

Ahlberg: Blanquismus ist etwas anderes als die subjektive Philosophie der Volkstümler.

Negt: Ich weiß es, Herr Ahlberg. Lassen wir das. Nur im Hinblick auf das Argument, die Situation sei einfach so gewesen, dass der Marxismus als solcher nicht anwendbar war. Man hätte alle anderen Revolutionen machen können: eine bürgerliche Revolution, auch meinetwegen eine Art sozialrevolutionäre, aber jedenfalls keine proletarische Revolution. Ich meine, dass eine solche Argumentationsweise insofern nicht richtig ist, als man ja sehen muss, dass in der Tat die Marx´sche Theorie die Substanz einer Revolutionstheorie hat, aber gewissermaßen keine entfaltete Revolutionstheorie. Oder einen Revolutionsbegriff eigentlich konkret nur vor Augen haben könnte, ja, der in vielen Fällen einfach in der bürgerlichen Revolution jedenfalls als Bezugssystem gebildet ist. In Auseinandersetzung mit bestimmten bürgerlich-revolutionären Strömungen, ja selbst die Kommune,[16] selbst in der Kommune …

Mandel: Das Vorwort zum 18. Brumaire[17]

Negt: Ja aber, Ernest, woher sollte er von einer proletarischen Revolution jene auch empirische Grundlage für die Analyse einer revolutionären Bewegung haben, die notwendig ist, um historisch-materialistisch auch weitragend eine solche Revolution konkret analysieren zu können?

Mandel: Du meinst, dass er diese nötige Erfahrung nicht hatte? Da [stimmen wir überein].

Kogon: Es war ja interessant, wie Lenin sie weitergeführt hat.

Negt: Ja, darauf will ich hinaus. Dass hier Lenin in der Tat orthodoxer Marxist im Sinne der Marxʼschen Intention ist. Wenn er jetzt unter anderen Bedingungen, also in der Periode des Imperialismus, versucht, nicht nur die revolutionstheoretischen Aspekte der Marxʼschen Theorie herauszuarbeiten – unter gegebenen Bedingungen herauszuarbeiten – [führt das dazu], dass er eine Art revolutionäre Realpolitik initiieren muss, um jetzt nicht wirklich im schlechten Sinne orthodoxer Marxist zu sein. Orthodoxe Marxisten wären diejenigen gewesen, die wie Kautskyaner[18] und andere eben im Grunde den revolutionären Prozess als einen objektiven, ja sogar noch naturgeschichtlichen Prozess, betrachtet haben und deshalb im Grunde die tatsächlichen revolutionären Bewegungen nicht weitertreiben, nicht korrigieren konnten.

Kogon: Und Gelegenheiten versäumt hatten.

Negt: Ja, Gelegenheiten versäumt. Das heißt eigentlich, die objektive Analyse, von der Ernest Mandel spricht, nicht geliefert haben. Ich glaube schon, dass Lenin der Einzige gewesen ist oder sagen wir, zu den wenigen gehört hat, die damals eine wie immer auch bruchstückhafte objektive Analyse der Weltsituation gegeben haben. Lenin selber hat sich darauf noch einmal berufen in seinen Aufzeichnungen Über unsere Revolution aus Anlass der Aufzeichnung Suchanows,[19] wo er sagt: Ja, was sollten wir denn machen in der und der Situation? Die Reaktion eines Marxisten ist, den revolutionären Prozess dort weiterzutreiben, wo er sich objektiv anbietet. Das ist das eine. Es ist in gewisser Weise auch ein subjektives Moment drin. Und zweitens ist es die Organisationstheorie. Auch Marx hat keine Parteitheorie in dem Sinne gehabt. Und die Auseinandersetzungen mit der Sozialdemokratischen Partei sind mehr als kontrovers gewesen. Sein ganzes Leben lang, von der Kritik des Gothaer Programms[20] bis zum Schluss. Auch Engels. Das heißt, auch hier hat Lenin eigentlich in Fortführung der Marxʼschen Intentionen etwas Neues formuliert für unsere Epoche, jedenfalls für die Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg, wo ein neues Element in die marxistische Diskussion gekommen ist, das ja genau die Tatsache im Zentrum hat, dass der Marxismus wesentlich darin besteht, Revolutionen erfolgreich machen zu können und zu stabilisieren – das System, in dem Revolutionen zustande kommen, auch zu stabilisieren.

Kogon: Herr Negt, hier nähern Sie sich dem Punkt, wo Herr Skrzypczak wieder aufstehen kann. Denn die Organisationstheorie und Praxis der Kommunistischen Partei unter Lenin, die hat von dem originären Marxismus doch einiges verändert.

Negt: Er ist nicht so weit gegangen. Aber er könnte sicherlich, wenn ich mal versuche, Ihre [Skrzypczaks] Argumente vorauszusehen. Dann würde ich sagen, die Organisationstheorie oder die Parteitheorie von Lenin ist eigentlich nicht nur in nuce, sondern ist in der stalinistischen angelegt.

Skrzypczak: Bevor ich in Ihre Richtung weitergehe – nicht um mich ihr zu nähern, sondern um sie zu überwinden – möchte ich noch einige Worte zu Herrn Ahlbergs Interpretation anführen. Ich habe größte Bedenken, das Problem nur rein auf sozialphilosophische Kategorien zurückzuführen. Zumal ja Lenin in bestimmten Epochen und bei manchen Motiven sich durchlaufend ganz korrekt marxistisch ausdrückt, sogar mit vielen Zitaten rückversichert. Er kämpft gegen die Volksfreunde, er ist im Grunde Marxist, im Kampf gegen die Revisionisten, gegen die Ökonomisten, gegen den Terrorismus, er lehnt es ab, Blanquist zu sein. Dieser Vorwurf, der ja früh gegen ihn erhoben wird, der wird von ihm zurückgewiesen. Man kann aus Lenin – und Herr Fischer,[21] wenn er hier wäre, würde das bestimmt gerne tun – mit vielen Zitaten nachweisen, inwieweit er mit Marx übereinstimmt. Man kann aber auch das Gegenteil tun. Aber bevor ich das an einem Punkt, den Sie erwähnt haben …

[Mandel/Negt?]: Aber das Thema wirkt sich nicht auf die Zitate aus.

Skrzypczak: Nicht auf die Zitate, sondern auf den lebendigen Geist.

Kogon: Die Realität wollte auch Herr Ahlberg erklären, das mit dem geschichtlichen Hinweis.

Skrzypczak: Es ist schon wieder mit einer Unterstellung operiert worden, nämlich mit dem Begriff Objektivismus. Ich weiß nicht, womit ich den bisher verdient habe, ich stelle ihn also einmal ganz generell infrage. Ich muss aber weiter bemängeln, was Sie erwähnt haben, dass die Revolutionstheorie bei Marx nicht voll entfaltet gewesen sei, dass eben solch eine Situation nicht vorgesehen sei. Ich weise einmal hin auf die Situation Achtundvierziger Revolution …

[Negt/Mandel?]: Das waren bürgerliche Revolutionen.

Negt: Der Begriff der permanenten Revolution kommt auch aus diesem Übergang.

Skrzypczak: Wenn Sie auch die späten Äußerungen von Engels zugrunde legen, der ganz klar später eingestanden hat, dass [er] sich in der Einschätzung der Situation ʼ48 getäuscht hat, dass dann erst die große Entfaltung des Kapitalismus eintrat. Wenn wir heute feststellen, und das wäre an Sie zu richten, dass der Kapitalismus nicht etwa verfault ist, nicht im Sinne einer Stagnation, sondern dass mit der Kybernetik, mit der Automation ein qualitativ höheres Element reingekommen ist – wenn wir das feststellen, dann müssen wir auch im Grunde sagen, dass Lenin vor einer Situation stand, die eine proletarische Revolution im Marxʼschen Sinne einfach nicht erlaubte.

Kogon: Er hat sie aber gemacht.

Skrzypczak: Das ist ja eben das, worüber wir streiten. Wenn Sie sich darauf berufen, dass eben das tatsächlich im Grunde [die] Weiterentwicklung des Marxismus ist, dann kann ich nur sagen, dass Revolution, proletarische, sozialistische Revolution bei Marx eben Mehrheitsrevolution ist, und wenn man versucht, wenn man einmal sieht, mit welchen jetzt nicht …

Mandel: Die Mehrheit der Bevölkerung oder die Mehrheit der Arbeiterklasse?

Skrzypczak: Er geht bei seiner Konzeption davon aus, dass im Wesentlichen bereits die Umwandlung der verschiedenen Klassen in das Proletariat, dieser Polarisierungsprozess, weitgehend fortgeschritten ist.

Mandel: Wie stand er zur Pariser Kommune und war damals die französische Arbeiterklasse die Mehrheit der französischen Bevölkerung?

Skrzypczak: Für diesen Fall hatte er ein ehrliches Bündnis mit der Bauernschaft vorgesehen. Dieses Wort – ehrliches Bündnis – gebraucht ja Lenin auch, nur wie hat es dann in der Praxis ausgesehen? Und da würde ich sagen, ja ein solches ehrliches Bündnis vorausgesehen ...

Mandel: Hat die bolschewistische Regierung den Bauern nicht den Boden gegeben, den ihnen alle vorherigen Regierungen abgenommen hatten?

Skrzypczak: Die gewählten Repräsentanten der Bauern waren nun leider einmal die Sozialrevolutionäre und die hatten auch die große Mehrheit. Und wenn man sieht, wie Lenin mit diesem Problem, etwa mit der Verjagung der Konstituante, fertiggeworden ist, da kann man sagen: Hier schlägt Dialektik in Rabulistik um, in reine Sophistik. Das ist also schon ein theoretischer Verfall des Marxismus.

Kogon: Mit dem Auseinanderjagen der Duma sind Sie bereits bei dem zweiten Punkt, den Herr Negt angeführt hat, nämlich welche Rolle diese Minderheitspartei spielt. Da kommt ja die Stelle, wo Sie sagen können, dies ist also nicht mehr im originären Sinne Marxismus. Das ist schon sehr spezifischer Leninismus.

Skrzypczak: Es wurde der Punkt angesprochen: Organisationstheorie. Haben denn Marx und Engels nicht oft genug betont, dass sie gegen eine Eliteorganisation sind? Haben sie nicht betont, dass es in der Partei keine Diktatur geben dürfte? Haben Marx und Engels etwa das Prinzip von oben nach unten vertreten? Keineswegs.

Mandel: Hat Lenin das vertreten?

Skrzypczak: Aber natürlich, zeitweise ja. Da hat er gesagt: von oben und unten. Das geht ja bei ihm leider, ganz nach der Situation, durcheinander. Das ist das, was ich revolutionären Opportunismus nenne.

Fetscher: Ich glaube, es sind jetzt zu viele Probleme auf einmal hier auf dem Tisch. Vielleicht sollten wir anfangen mit einem Punkt: Parteitheorie / subjektiver Faktor. Gewiss, man kann die russische Geistesgeschichte bemühen, aber ich finde das nicht sehr interessant. Ich finde es interessanter, sich zu fragen, ob diese Partei neuen Typs, die Lenin konzipiert hat und die er nach 1905 ja demokratisch strukturiert haben wollte, wobei sich das in der Praxis ja nicht durchgesetzt hat. Immerhin ist demokratischer Zentralismus bei Lenin ja nicht die Karikatur, die später daraus geworden ist. Aber das mal ausgeklammert, ist ja die Funktion, die er der Partei zuschreibt, die auch Trotzki der Partei zuschreibt, die sich doch substituiert, das, was bei Marx die Klasse tun sollte. Das ist gar kein Zweifel. Trotzki spricht in der Auseinandersetzung mit der Arbeiterorganisation davon: Die Partei darf ihre Diktatur nicht infrage stellen. Er merkt sozusagen gar nicht, dass er jetzt die Diktatur des Proletariats wirklich identifiziert mit der Parteidiktatur. Aber warum? Doch offensichtlich deshalb, weil es ein weitgehend homogenes, zum Klassenbewusstsein herangereiftes Industrieproletariat nicht gibt. Wohl aber, und das ist meines Erachtens die Rechtfertigung der Revolution, wohl aber besitzlose Massen, die in heterogenen sozialen Gruppen aufgespalten sind und aus eigener Kraft nun wirklich zu einem politischen Bewusstsein nicht heranwachsen. Eine analphabetische Masse kann nicht anders politisch bewegt werden als in irgendeiner Weise durch eine Führungsinstitution, die eben diese Partei wurde. Mir scheint sich hier zumindest die geistesgeschichtliche Wurzel des Leninismus zu legitimieren durch die Funktion, die seine Partei in einem rückständigen Land mit heterogener Gesellschaft einfach bekommen muss.

Kogon: Übrigens, Herr Fetscher, auch durch spezifische Bedingungen während der Revolution. Diese wenigen Proletarier im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Gesamtrusslands hatten derartige Funktionen zu übernehmen. Sie waren durch den Bürgerkrieg auch noch so dezimiert, dass also wirklich die Kader zusammenschmolzen. Sodass es erst recht zentralistisch wurde, dass die die Macht und Kontrolle mittlerweile ausübten.

Fetscher: In gewisser Weise fatal. Lenins ganzer Kampf in den letzten Lebensjahren besteht ja eigentlich in nichts anderem, als zu versuchen, diesen fatalen Prozess der Bürokratisierung der Führung wieder zu korrigieren. Er kämpfte wirklich ohnmächtig gegen eine Tendenz, die in der Situation selbst bis zu einem gewissen Grade angelegt war.

Mandel: Ich möchte vielleicht etwas Methodologisches dazu sagen. Wenn wir uns mit einer Theorie beschäftigen, dann ist es doch vom Standpunkt der Methode nicht völlig angebracht, politische Ereignisse, die auf die Anwendung dieser Theorie folgten, als deren unvermeidliche Folgen anzusehen. Ich möchte dafür nochmals eine historische Analogie zeigen. So gegen Ende des 18. Jahrhunderts war man sich in Großbritannien unter Politologen völlig darüber einig, dass allgemeines Stimmrecht ein Unding war. Das führte automatisch zum Terror und zur Alleinherrschaft, wie das Beispiel der Französischen Revolution und der Verfassung vom Jahre 2 [?] gezeigt hatten. Heute wird niemand mehr behaupten, dass Terror und Alleinherrschaft unvermeidliche Folge des allgemeinen Stimmrechts sind. Also wir sollten ein klein wenig aufpassen. Alles, was in Russland nach 1921 oder sogar nach 1917 passiert ist, als unvermeidliche Folge der Leninʼschen Staatstheorie oder Organisationstheorie anzusehen. Wir müssen, wenn wir uns mit einer Theorie auseinandersetzen wollen, diese schon ernst nehmen und ihre theoretische Wurzel untersuchen. Und dann versuchen aufzuzeigen, wo diese theoretischen Wurzeln falsch sind, und nicht einfach auf Folgen zeigen, die sich ja aus völlig anderen Ursachen hervorgetan haben.

Ich möchte vom Standpunkt der Theorie jetzt wieder einmal von den russischen Verhältnissen – ich bin jetzt hier in diese etwas paradoxe Rolle hineingekommen, aber ich fühle mich nicht völlig unwohl darin – völlig abstrahieren und die allgemeine Frage stellen: Es wurde hier behauptet, bei Marx findet sich eine schroffe Absage gegen den Gedanken der Elite-Partei. Okay, ich kann das annehmen. Ich würde genauso gut dasselbe von Lenin sagen. Sie können das Wort Elite-Partei bei Lenin genauso wenig finden wie bei Marx. Was Sie bei Lenin finden, ist eine Theorie über die Differenzierung, die differenzierte Appropriation des Klassenbewusstseins bei der Arbeiterklasse. Und da dürfte ich behaupten, und ich kann dafür viele Belege finden, dass das genauso bei Marx der Fall war. Das kommt nicht von Lenin, das kommt von Marx über Kautsky. In einem wenig bekannten Brief – ich glaube vom 1. Januar 1870 – spricht Marx über die Funktion des Generalrats der I. Internationale in der englischen Arbeiterbewegung. Und er sagt, die wichtigsten Zeitungen Englands werfen uns zu Recht vor, dass wir von außen den revolutionären Sozialismus in die englischen Gewerkschaften hineintragen. Das ist also buchstäblich dieselbe Formel, die Lenin immer so stark vorgeworfen wird in Was tun?. Und die, wie bekannt, in Wirklichkeit von Kautsky und vom Hainfelder Programm der österreichischen Sozialdemokratie kommt. Da gibt es ohne Zweifel eine Kontinuität. Die Basis der Leninʼschen Organisationstheorie ist die Feststellung, dass Klassenbewusstsein sich nicht allmählich, graduell und nicht allgemein, generell in der Arbeiterklasse entfalten kann, sondern nur sprungweise unter dem Druck von Ereignissen und Erfahrungen bei einem Teil, durch individuelles Studium und durch individuelle Erkenntnis bei einem anderen Teil. Das Einzige, was er sagt, ist, dass der Teil, den er die Vorhut nennt – das Wort wird auch von Engels und Marx gebraucht – diese individuelle Erkenntnis früher hat, als die Masse es durch Erfahrung gewonnen hat, sich organisieren muss, um diese Erkenntnis zu verallgemeinern und weiterzutragen.

Kogon: Herr Mandel, Sie leugnen natürlich nicht die Heranbildung von disziplinierten Berufsrevolutionären in dieser Zeit.

Weber: Mir scheint, dass man das nicht so einfach sehen kann, sondern dass hier doch – Sie erwähnten gerade die Berufsrevolutionäre – neue Momente hinzukommen. Aber ist das wirklich das Hauptproblem, um das es uns hier geht? Man muss doch auch den Stellenwert der jeweiligen theoretischen Aussagen Lenins sehen. Welchen Stellenwert hat also beispielsweise diese Parteitheorie? Wenn man dann wieder den Sprung zur Praxis macht, der ja doch auch für Lenin der Beweis einer Theorie war, dann merkt man, dass im Jahre 1917 – und da darf ich wieder auf Staat und Revolution verweisen, wo ja die Partei so gut wie gar nicht mehr auftaucht. Wenn also bei der Vorbereitung der Revolution Lenin doch offenbar diese Vorstellungen von Was tun? keineswegs mehr verwirklicht wissen wollte. Das führt mich eben doch wieder darauf zurück, dass man hier beim Versuch, den Stellenwert der jeweiligen Theorien Lenins zu finden, einfach sagen muss, dass das, was man eben als diese Elite-Theorie bezeichnen könnte oder wie auch immer – Vorhut-Vorstellungen, Berufsrevolutionäre –, dass das eben doch nur in einer ganz bestimmten Phase eine sehr große Rolle spielt, und zwar bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Als Lenin glaubte und wohl auch glauben musste, dass es in Russland gar keine andere Möglichkeit gab, den Zarismus zu stürzen, als eben eine genauso schlagkräftige Partei gegen diesen sehr starken zaristischen Apparat zu haben. Als es sich aber nun während des Krieges – hinzu kommt hier ja natürlich die Perspektive der Weltrevolution – und vor allem nach Ausbruch der Februarrevolution zeigte, dass eine ganz neue Situation da ist, da, scheint mir, ist doch bei Lenin ein ganz anderer Zug dominierend, nämlich der – der fast ins Anarchistische ging –, wo er direkt an die Massen appelliert, wo er plötzlich sehr viel weiter links als seine eigene Partei steht. Ich glaube, dass man hier sagen kann, dass der Stellenwert der Parteitheorie für die Revolution dann keineswegs mehr so groß ist, dass man ihn hier überbetonen könnte.

Und das Zweite, was vielleicht hier doch anzumerken wäre, ist die Tatsache, dass Lenin 1917 bei der Vorbereitung dieser Oktober- oder Novemberrevolution doch im Wesentlichen Vorstellungen – soweit es theoretische Vorstellungen sind – übernommen hat, die er 1905 noch keineswegs hatte, die 1905/06 eben Trotzki gehabt hat. Aber andererseits, soweit es nun nicht um theoretische Vorstellungen geht, sondern um das, was man die Strategie und Taktik zur Vorbereitung der Revolution nennen könnte, dass er sich da ganz einfach als der Mensch zeigt, der am besten erkennt, welche Massenstimmung – nun nicht die Riesenmasse der Bauern, sondern vor allem eben der Masse der Arbeiter, der Armee usw. – vorhanden ist, und daran direkt anknüpft. Ich möchte behaupten, dass diese Leninʼsche Partei-Theorie einfach überschätzt wird, wenn man sie in Bezug setzt zur Revolution, sondern dass während der Revolution eben der geniale Stratege und Taktiker Lenin eine viel größere Bedeutung hat als der Parteiführer. Die Kehrseite ist dabei natürlich, das ist mir durchaus bewusst, dass er ohne diese Partei, die er dann auf seine Seite ziehen konnte, wahrscheinlich diese Macht nicht hätte halten können.

Kogon: Und zweitens, Herr Weber, dass das, was er in die Geschichte gebracht hat, in der Tat dann Bestand hatte. Die Kommunistische Partei, die kommunistischen Parteien.

Weber: Sind es am Ende noch die gleichen kommunistischen Parteien gewesen? Kommt da nicht etwas ganz anderes heraus?

Kogon: Ich meinte es jetzt als Kaderparteien mit Berufsrevolutionären.

Mandel: Aber Lenin fügt hinzu, man kann nichts tun, ohne verwurzelt zu sein in der Arbeitermasse, ohne die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiter zu haben.

Weber: Was nach 1917 kommt, ist doch einfach so, dass dann eigentlich die Praxis ihn viel mehr zwingt, bestimmte Dinge zu tun als theoretisch vorhersehbar sind. Und das kam dann in der Selbstkritik von 1922/23 sehr deutlich zu Tage, wo er merkt, da ist etwas entstanden, was man ja eigentlich gar nicht wollte.

Kogon: Alle diese Bemerkungen begründen ja die Meinung von Auslegern der kommunistischen Entwicklung, es wäre alles anders verlaufen, wenn Lenin gelebt hätte. Es wäre nicht stalinistisch geworden.

Ahlberg: Das, was eben über Lenins Einstellung zur Avantgarde und Intelligenz gesagt worden ist, stimmt doch wohl nicht ganz überein mit dem, was er in seiner Schrift Was tun? gesagt hat. In dieser Schrift kommt fast ein Zug von Verachtung des Proletariats zum Ausdruck, indem er erklärt, dass das Proletariat aus eigener Kraft niemals zu einem sozialistischen Bewusstsein gelangen kann und dass dieses Bewusstsein, schon immer und unabhängig von der Entwicklung der Arbeiterklasse, von der sozialistischen Intelligenz in die Arbeiterklasse hineingetragen werden müsse. Das ist ein eindeutiger Führungsanspruch, den er der sozialistischen Intelligenz zuspielt. Und in einem Organisationskonzept kann diese Voraussetzung sich natürlich nur so auswirken, dass innerhalb einer solchen Partei diese Intelligenz, die wir durchaus als eine Elite – das ist nur ein anderes Wort für das, was Lenin meint – dass diese Elite den Auftrag hat, das Proletariat zu jenen Zielen zu führen, die es selber nicht kennt, sondern die durch die sozialistische Intelligenz bestimmt sind. Ich glaube, dass noch einige andere Fragen in unserer Diskussion unerledigt geblieben sind. Und möchte das noch zu Ende führen und dann kann das Ganze diskutiert werden.

Sie sagten, Herr Negt, dass Marx seinen Revolutionsbegriff an der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt habe und damit historisch limitiert sei. Es gibt viele Ebenen der Revolutionstheorie. Man kann natürlich sagen, dass er historisch diesen Begriff an der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat, aber nicht darum geht es. Es geht um die Methode und die setzt immer eine gesamtgesellschaftliche Bedingungsanalyse voraus, ehe man bestimmen kann, welche ökonomisch sinnvollen Grenzen eine Revolution erreichen kann. Und da kam von Ihnen wieder das Argument des Erfolges hinein. Es sei eine revolutionäre Theorie. Das ist unbestritten. Und sie sei auch auf Erfolg zugeschnitten – das ist auch unbestritten –, aber nicht um des Erfolges willen, sondern um der Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung [willen]. Die gesamtgesellschaftliche Bedingungsanalyse spielt in diesem Kontext die Voraussetzung dafür, dass der Vollzug der Revolution nicht nur erfolgreich ist, sondern auch die über den augenblicklichen Erfolg letztlich angezielten sozialen Qualitäten zum Zuge und zum Durchbruch bringt. Das ist eine Theorie, die nicht mehr auf die bürgerliche Gesellschaft oder auf die Epoche zugeschnitten ist, sondern die für einen Marxisten bei der Bestimmung einer revolutionären oder evolutionären Situation und bei der Bestimmung seiner Strategie und Taktik immer noch bindend sein müsste.

Mandel: Das trifft doch genauso auf Lenin zu wie auf Marx.

Ahlberg: Es trifft auf Lenin nicht zu. Ich will nur ein Zitat bringen. Lenin spricht zwar von der historischen Notwendigkeit. Wenn Sie aber diese historische Notwendigkeit einmal aufdröseln und ihren logischen Sinn im Kontext des Leninʼschen Werkes oder Textes untersuchen, dann werden Sie wortwörtlich Sätze finden, dass es die Klassen sind, die die Wirtschaft regieren. Bei Marx ist es genau umgekehrt. Die ökonomischen Verhältnisse sind es, die Klassen hervorbringen, die ihre Position im Klassenkampf bestimmen, ja sogar ihre Erfolgschancen präjudizieren, während Sie bei Lenin die eindeutige Feststellung finden, dass es die Klassen sind, die bei ihm nahezu als welthistorische Subjekte sich gegenüberstehen, die nur entsprechend organisiert zu werden brauchen, um dann eine soziale Entwicklung einzuleiten.

Mandel: Unter bestimmten Bedingungen.

Ahlberg: Ja, unter bestimmten Bedingungen. Allerdings mehr unter dem auch von Ihnen betonten Erfolgskriterium und nicht unter Ansetzung jenes qualitativen Zieles, von dem ich gesprochen habe. Sie haben ja sogar gesagt, man dürfe die Theorie eigentlich nicht an ihren wirklichen Folgen messen. Warum sind wir dann heute zusammengekommen?

Mandel: Ich habe gesagt, an den folgenden Ereignissen. Ist Napoleon Bonaparte die Folge von Rousseau?[22]

Ahlberg: Diese historischen Parallelen sind leer, weil die Geschichte sich in dieser Form niemals wiederholt. Eine Theorie, die durchaus mit einer modernen ähnlich sein kann, hat historisch gesehen einen anderen Sinn, einen anderen Inhalt und andere Folgen. Mit den von Ihnen herangezogenen Beispielen kann man nicht operieren.

Mandel: Aber in dieser Zeit haben die Leute dieselbe Reaktion gehabt wie Sie. Sie haben gesagt, Napoleon Bonaparte und der Terror [sind] die Folge von Rousseau, [sind] die Folge vom allgemeinen Wahlrecht, [sind] die Folge von der blödsinnigen Utopie, dass alle Menschen gleich sind. Das wurde in tausenden und tausenden Exemplaren in England veröffentlicht.

Ahlberg: Das ist ebenso richtig wie falsch.

Mandel: Es ist falsch, glaube ich.

Ahlberg: Es ist ebenso richtig wie falsch. Sie wissen, in jedem Argument – wenn Sie dialektisch denken – in jedem falschen Argument steckt auch etwas Richtiges. Und in jedem richtigen Argument natürlich etwas Unzulängliches. Es gibt keine Schwarz-Weiß-Malerei in der Geschichte, die Sie jetzt zu unternehmen versuchen.

Kogon: Herr Ahlberg und Herr Mandel, ich kann im Moment trotz aller Heftigkeit der Argumentation den wahren Gegensatz nicht sehen. Ich finde, beides stimmt. Der methodische Einwand ist also berechtigt, wie mir scheint, dass man nicht eine Theorie für Realitäten verantwortlich machen kann, die nicht aus ihr stammen. Das muss man konkret untersuchen, inwieweit sie zusammenhängen. Jetzt komme ich zu Ihnen [Herr Ahlberg]. Wenn sie zusammenhängen, dann muss man den Zusammenhang beweisen. Und dann kann man Ableitungen daraus bilden. Dass es einen Zusammenhang zwischen Theorie und Realität gibt und dass die Theorie und ihre Wirksamkeit, wenn sie auf Wirksamkeit angelegt ist und nicht nur auf Analyse, gemessen werden muss am praktischen Erfolg, das wird doch von Ihnen [Herr Mandel] nicht bestritten.

Ahlberg: Darf ich diesen Unterschied noch einmal deutlich machen. Sowohl Herr Mandel als auch Herr Negt haben in etwas abgestuften Formulierungen mit dem Begriff der Revolution den Erfolg verbunden. Der Erfolg, das ist etwas technisch Praktisches, was ich nicht bestreite. Das gehört zur marxistischen Theorie.

Kogon: Die Herren haben das Ziel nicht ausgeschlossen, sondern nur in ihren Sätzen im Moment nicht davon gesprochen. Aber sowohl Herr Mandel wie auch Herr Negt sagen natürlich, dass dieser Erfolg gerichtet ist auf das originäre Ziel.

Mandel: Das ist doch bei Lenin in Staat und Revolution wahrscheinlich stärker zum Ausdruck gekommen, als in irgendeiner Schrift von Marx.

Weber: Ich möchte nochmals auf das zurückkommen, was Herr Ahlberg am Anfang sagte. Er führt Was tun? als Beweis dafür an, dass hier bei Lenin diese Elite-Theorie sehr stark von Marx abweicht. Selbst wenn man das zugibt, und ich bin geneigt, es weitgehend zuzugeben, dann muss man doch die Frage stellen, wie steht das erwähnte Werk Staat und Revolution in dieser Konzeption da? Obwohl ich damit nun schon zum dritten Mal komme, möchte ich doch wieder behaupten, dass es ein Unding einfach ist, hier Lenin als eine Ganzheit fassen zu wollen. Wenn man umgekehrt vorgeht, kann man sich beispielsweise fragen, wie kommt es, dass gerade Stalin Was tun? – eines seiner Hauptwerke – als Rechtfertigung heranziehen konnte, während ein Werk wie Staat und Revolution in erster Linie heute von Mao oder von Fidel Castro zur Rechtfertigung herangezogen wird. Ich glaube, das zeigt doch schon, dass hier Lenin eben nicht diese Einheitlichkeit besitzt, dass man sagen könnte, das ist der Leninismus und dieser Leninismus führt dann eben folgerichtig zu dieser Revolution. Dann kann man sagen: entweder folgerichtig auch zu dem, was 50 Jahre später dort ist, oder es ist eben eine Abweichung, eine Abkehr von dem. Das scheint mir etwas zu einfach zu sein. Ich glaube doch, dass man sagen muss, dass auch der heutige Sowjetkommunismus, soweit er sich von Lenin auch inzwischen entfernt hat, natürlich auf bestimmte Vorstellungen und Teile Lenins und des Leninismus sich mit Recht berufen kann, wie umgekehrt natürlich die gegensätzlichen Kommunisten in China oder seien es andere Gruppen – Trotzkisten usw. – mit einer sehr großen Berechtigung ebenfalls bestimmte Seiten dieses Leninismus herausholen können. Da wäre wieder die Frage des Stellenwertes, wenn man sehen will, wo ist denn nun das Entscheidende? Da scheint mir eben, dass, von Lenin selbst her gesehen, natürlich der Stellenwert der Revolution, der Stellenwert der Zielsetzung – dieser klassenlosen Gesellschaft – sehr viel größer ist als etwa nun die Industrialisierung Russlands. Insofern scheint mir, ist klar, dass also die heutige Berufung der Sowjetkommunisten auf Lenin gewissermaßen weit weniger gewichtig ist als die derjenigen, die sagen, die Hauptzielsetzung lag aber woanders, und das wurde doch in der Form jedenfalls nicht erreicht.

Kogon: Das führt ja nun wirklich in unserer Debatte, wie ich finde, weiter. Und wir werden sicherlich zu unterscheiden haben zwischen den Rechtfertigungsbemühungen der verschiedenen Revolutionsrichtungen, die sich alle auf Kirchenväter beziehen und auf den Hauptkirchenvater Lenin, der auch seine Hagiographie hat, und andererseits Anwendungskonsequenzen. Ob man also in Lenins Schriften heute realisierbare Rezepte finden kann. Damit, Herr Skrzypczak, kommen wir aber weg von der ursprünglichen Provokation, die Sie ausgesprochen haben: dass Lenin also praktisch entweder kein Marxist war oder den Marxismus sogar blockiert habe. Was uns ja zu einer Fülle von Einsichten verholfen hat, im historischen und ideengeschichtlichen Zusammenhang. Aber ich denke, wir sollten tatsächlich jetzt zu der Frage kommen, die Sie angeführt haben, Herr Weber.

Skrypscazk: Ich bemerke mit Vergnügen, dass sich die Diskussion immer so in Überbauelementen bewegt, und möchte weiter provozieren, indem ich einfach sage, das Kriterium ist ja tatsächlich doch wohl nicht der abstrakte Erfolg, sondern ist die allumfassende Praxis. Und da stehe ich nun heute vor der Tatsache als Marxist, der andere für den Marxismus gewinnen will, dass da eine Mauer in Berlin vorhanden ist, dass sich ein Vorgang wie in der Tschechoslowakei[23] ereignet hat und vieles andere mehr. Da frage ich dann einfach, ist das denn alles nur böser Wille, ist das ideologische Beschränktheit der heutigen leninistischen Führer? Und da muss ich als Marxist sagen: Das ist keineswegs der Fall, sondern sie stehen im Bann einer objektiven Situation, die ich allerdings in dieser vorzeitigen Revolution begründet sehe. Es ist ja doch nicht so, dass Marx und Engels sich keine Gedanken über die Situation einer solchen vorzeitigen Machtergreifung gemacht haben. Sie haben ganz klar gesagt, dass Revolutionäre, die vor der ausgereiften Situation an die Macht gelangen, nur die Politik durchführen können, die der gegebenen historischen Situation, und zwar auch der ökonomischen Situation entspricht. Und was ist denn nun in Russland dabei herausgekommen? Es ist kein Übergang zum Sozialismus gewesen, sondern ganz eindeutig zum Staatskapitalismus, der sich sozialistisch drapiert hat, der also im Grunde genommen über den Staatskapitalismus dann zur sozialistischen Gesellschaft hin wollte. Die nächste Folge ist aber tatsächlich gewesen, dass sich nun auch eine neue Klasse der Bürokratie, der Parteifunktionäre herausgebildet hat und dass eben nicht das eintrat, was Marx und Engels wollten, dass nämlich die Massen, die natürlich hofiert wurden, das nicht selbst gemacht haben, sondern dass sie gegängelt worden sind. Und die weitere Konsequenz ist schließlich gewesen, dass der Beginn dieser Minderheitsdiktatur im Namen der Massen eine weitere zunehmende Einengung des Freiheitsspielraums gebracht hat. Erst waren es die Gutsbesitzer und die Kapitalisten, dann ihr objektiver Anhang die Sozialrevolutionäre, die Menschewisten, dann ging das weiter. In derselben Situation, in dem sich das Land natürlich in einer gewaltigen Krisenlage befand, musste der Freiheitsspielraum weiter eingeengt werden, selbst die freie Diskussion wurde problematisch, denn die Gesellschaft ist nun mal ein Ganzes. Man kann nicht einen Sektor ausnehmen aus der allgemeinen Diktatur. Dann ist das ganz konsequent weiter geschrumpft bis hin zum Ein-Mann-Despotismus Stalins. Und wir sehen heute einen gewissen Prozess in Gang kommen, der das nun von der Despotie wegführt. Ich würde sagen, zu einer Phase des aufgeklärten Absolutismus. Und da sind Prozesse im Gang, aber ich wende mich dagegen, dass man nun alle Fehlentwicklungen nun etwa bloß dem Despoten Stalin in die Schuhe schiebt und sagt …

Fetscher: Und auch nicht dem Lenin.

Skrzypczak: Verzeihen Sie, so zu differenzieren, dass Sie es nachher als vollendetes historisches Werk ausstellen könnten, diese Zeit habe ich hier natürlich nicht. Das könnte man gegen jeden unserer Diskussionsbeiträge anführen. Aber ich weise darauf hin, dass diese ganzen Entwicklungsmöglichkeiten von Marx und Engels vorhergesagt worden sind, nicht als abstrakte Prophezeiung kluger Leute, sondern entwickelt worden sind aus einer sehr breit und langfristig angelegten historischen Analyse. Da wir uns schon nach 10 [22] Uhr befinden, darf ich hier das Wort in den Mund nehmen, dass Marx an einer Stelle, die ich im Augenblick nicht zitieren kann, für solchen Fall vorhergesagt hat, nämlich dass sich, wenn die Machtergreifung vor der Situation der ökonomischen Ausgereiftheit stattfindet, dass sich dann zwangsläufig – Verzeihung – die alte Scheiße erneuert. Und diese wunderbare Erneuerung, die haben wir hier in der Praxis gesehen.

Kogon: Aber müssen wir nicht auch feststellen, Herr Skrzypczak, dass es eine Reihe von tatsächlichen ökonomisch-sozialen Entwicklungen in der Sowjetunion gegeben hat in diesen 50 Jahren, die einen ungeheuren Fortschritt bedeuten, wenn wir nicht nur die rein politische Sphäre nehmen, die Sie mit Recht hier angeführt haben.

Skrzypczak: Ja, aber wissen wir, was gekommen wäre, wenn Russland den bürgerlichen Weg gegangen wäre?

Mandel: Sehen Sie Brasilien an. Sehen Sie Indien, sehen Sie Portugal an.

Skrzypczak: Das kann man nicht mechanisch vergleichen. Denn vergessen wir doch bitte nicht – weil wir gerade von der Konstituante gesprochen haben –, dass die Mehrheit sozialistisch auch ohne die Bolschewiki gewesen ist, wenn auch in anderen Formen des Sozialismus. Es war doch eine breite Basis des Sozialismus vorhanden. Bloß dann kam der kleine Leninʼsche Dreh und dann änderten sich die Dinge.

Fetscher: Die Konstituante ist ja nur ein kleiner Punkt, aber das wird oft erwähnt und es ist zweifellos ein Akt, der ja auch die Rosa Luxemburg empört hat, die Auseinanderjagung der Konstituante. Aber wenn man es jetzt etwas überspitzt formuliert, dann ging es darum, die Bauern davor zu bewahren, dass die falschen Vertreter für sie sprechen. Denn sie hatten die linken Sozialrevolutionäre gewählt, weil die mit Lenin zusammen im Block waren. Die Leute, die aber Kandidaten waren – das ist übrigens ähnlich, wie bei der letzten Bundestagswahl die FDP-Abgeordneten –, das waren die reaktionären Sozialrevolutionäre. Die saßen in der Konstituante. In gewisser Weise sind sie in der Tat daran gehindert worden, dass die falschen Vertreter, die zweifellos nicht bereit waren, die progressive Politik fortzusetzen, die der Block der linken Sozialrevolutionäre und der Bolschewiki eingeleitet hatte. Das ist ein minderer Punkt. Mich würde mehr interessieren, die Schrift Was tun?, die sicher mit Recht hier kritisiert worden ist und die unter Stalin aus dem Zusammenhang herausgerissen dogmatisiert und eine der Rechtfertigungsschriften wurde für die bürokratische Diktatur, doch auch zu verstehen als ein durchaus begreifliches und zwar keineswegs aus der Verachtung des Proletariats, wie Herr Ahlberg es gesagt hat, erwachsenes Buch, das davon ausgeht, dass hier eine analphabetische Masse von Menschen, die an einer Sonntagsschule bei der Krupskaja[24] lesen und schreiben, am Abend dann noch das Kapital lesen lernen, dass die überhaupt erst zum Bewusstsein ihrer Lage gebracht werden muss. Die gleiche Situation, in der sich heute die revolutionären Priester in Lateinamerika[25] befinden, nämlich den Leuten zugleich mit dem Bewusstsein ihrer Lage das Lesen und Schreiben beizubringen, damit sie überhaupt aus der Apathie des Hinnehmens ihrer Verhältnisse als naturwüchsig herauskommen. Das scheint mir nichts mit Verächtlichkeit gegenüber dem Proletariat zu tun zu haben, sondern mit einem revolutionären Impuls, der aus dem Mitleid hervorgeht, aus dem Veränderungswillen.

Ahlberg: Eine kurze Bemerkung. Sie sagten Verächtlichkeit. Ich würde sagen Missachtung. Wenn Sie auf die konkrete russische Situation eingehen und auch auf das Bildungsniveau des russischen Proletariats, dann mögen Sie recht haben. Nur ist diese Argumentation, von der ich sprach und wie sie sicherlich wissen, in eine internationale Argumentation eingebettet. Die Unfähigkeit des Proletariats, sich aus eigener intellektueller Kraft und aus eigener Einsicht in seine sozialen Interessen zu einem sozialistischen Bewusstsein hochzuarbeiten, gilt nach Lenin nicht nur für die Sowjetunion, sondern wird ja gerade am englischen Beispiel entwickelt und am Beispiel aller anderen Arbeiterklassen. Insofern darf ich schon sagen, dass hier eine Einstellung zum Proletariat zum Ausdruck kommt bei Lenin, die international gesehen, sich von der Marxʼschen unterscheidet, der ja letztlich den Satz geprägt hat, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse ihr eigenes Werk sein müsse ohne Priester.

Mandel: Er hat aber gleichzeitig den Satz geprägt, dass die herrschende Ideologie jeder Gesellschaft die Ideologie der herrschenden Klasse ist. Und die Synthese zwischen diesen beiden, das ist die Leninʼsche Organisationstheorie.

Skrzypczak: Aber doch nicht im Prozess der Revolutionierung. Da wird ja gerade diese herrschende Ideologie unterlaufen.

Mandel: Aber wie? Mit welchen Mitteln? Nur durch Erfahrung?

Skrzypczak: Das greift doch ineinander über: ökonomischer Kampf, politischer Kampf, theoretischer Kampf.

Mandel: Ist das in England übergegriffen? 50 bis 60 Jahre lang? Marx am Ende seines Lebens sagt: Die englische Arbeiterklasse ist eine bürgerliche Arbeiterklasse. Das sagt er am Ende seines Lebens, als er es 50 Jahre lang erlebt hat.

Skrzypczak: Und das führte er ja dann zurück auf die Monopolstellung Englands und das geht ja dann auch wieder in die Leninʼsche Argumentation ein. Und ich sage, das ist eine typische Zwecktheorie, der leider auch Marx aufgesessen ist.

Ahlberg: Herr Mandel, Sie beklagen die Wirklichkeit. Indem Sie den objektiven historischen Prozess darstellen, beklagen Sie, dass es nicht zu einer Revolution gekommen ist.

Mandel: Ich sage nur, dass es in England konkret 50 Jahre lang Millionen englische Arbeiter gegeben hat, die eine bürgerliche Ideologie hatten. Es hat tausende – das ist die Vorhut – englische Arbeiter gegeben, die Sozialisten waren.

Ahlberg: Dann nehmen Sie eben den Leninʼschen Standpunkt ein, dass es einer sozialistischen Elite bedarf, die diesen dumpfen Haufen, wie sich Lenin ausdrückt, …

Skrzypczak: Herr Mandel, stellen Sie doch bitte nicht Russland und England gegenüber, sondern sagen Sie doch einmal Russland und das wilhelminische Deutschland, denn da sehen wir doch die proletarische Massenbewegung, die sich langsam, wenn auch …

Mandel: Ja, und von wo kam das Bewusstsein? War Karl Marx vielleicht ein Prolet? Das ist doch ein historischer Prozess, der hier aufgezeigt wird. Lenin sagt doch nicht: Alle Arbeiter sind ewig unfähig, sich sozialistisches Bewusstsein zu erringen.

Skrzypczak: Bei Weitling[26] ist doch die Handwerker-Vergangenheit drin. Aber da sehen wir doch keimhaft schon sozialistisches Bewusstsein auch in den Arbeiterschichten entstehen. Dass das natürlich nicht eine entwickelte, auf das gesamte Wissensgut der Zeit gestützte Theorie sein kann, ist völlig klar. Da gibt es ja auch Möglichkeiten. Aber das so krass gegenüberzustellen, ist einfach bei Marx nicht drin.

Kogon: Würden Sie bitte die Liebenswürdigkeit haben, von diesen künstlichen Gegensätzen herunterzukommen. Ein ungarischer Humorist hat einmal gesagt, dass die natürlichen Hühneraugen schon wehtun, aber künstliche haben wir nicht auch noch notwendig. Ich finde, dass Sie das unnötig aufziehen.

Skrzypczak: Nur an künstlichen Gegensätzen hat man sehr viele Menschewiki liquidiert.

Negt: Ich meine, vielleicht sind doch wenigstens ein, zwei Begriffsklärungen notwendig. Was Sie als Elite bezeichnen. Wenn man nicht wirklich ganz verschwommene Vorstellungen haben will, über das, was Elite ist, unterscheidet sie sich strukturell von Avantgarde. Auch begrifflich, würde ich sagen. Eliten begründen sich aus irgendwelchen Herrschaftsverhältnissen, aus organologischen Verhältnissen, aus biologischen Verhältnissen. Eliten sind nicht konzipiert im Hinblick auf ihre Selbstaufhebbarkeit. Die Avantgarde, so wie sie Marx …

Ahlberg: Eliten sind nicht konzipiert, sondern historische Erscheinungen im Wandel.

Negt: Nein, das sind doch ideologische Konzepte.

Kogon: Meine Herren, wenn Sie jetzt die Debatte auch mit dem Streit über Definitionen fortsetzen wollen, dann kommen wir zu der Hauptsache nicht weiter.

Negt: Ich will nur sagen: Die Funktion der Avantgarde besteht doch darin – und darauf hat Marx wirklich größtes Gewicht gelegt – die Klasse, die proletarische Klasse ist bewusstseinsmäßig in sich differenziert. Das heißt, es ist überhaupt gar keine Frage, dass es fortgeschrittene Gruppen gibt und die Masse, die proletarische Masse, die objektiv demselben Ausbeutungsmechanismus unterliegt wie die anderen, aber diesen Ausbeutungsmechanismus im Grunde nur durch syndikalistische Bewusstseinsformen bestenfalls entgegentreten kann. Das heißt, dass hier fortgeschrittene Gruppen, auch Intellektuelle – das wäre die weitere Stufe –, also innerhalb des Proletariats fortgeschrittene Gruppen, die ein fortgeschrittenes Klassenbewusstsein haben, und es gibt Intellektuelle, die gewissermaßen auch langfristig eine Theorie entwickeln. Der Marx hat ja nun wirklich das Kapital auch nicht in ständiger Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Formen des Klassenbewusstseins schreiben können. Das heißt, wenn Sie anerkennen, dass es diese Differenzierung innerhalb des Proletariats gibt, dann müssen Sie eigentlich auch anerkennen, dass es Gruppen gibt, avantgardistische Gruppen oder wie immer wir sie nennen, die als Minderheit ein höheres Bewusstsein repräsentieren, auch historisches Bewusstsein. Historisches Bewusstsein von der Mission des Proletariats, aber auch der objektiven Analyse, die, wenn sie handlungsfähig sein soll, aber angewiesen ist auf die materielle Gewalt, die nach wie vor in der Masse des Proletariats repräsentiert ist. Das heißt, sie müssen dieses Proletariat im Hinblick auf dieses Ziel auch erziehen.

Ahlberg: Eine Differenzierung des Proletariats habe ich nicht bestritten. Und dass sie auch einer intellektuellen Führung bedarf, ist eine Selbstverständlichkeit. Ich habe mich gegen ganz bestimmte Wendungen der Leninʼschen Theorie gewandt oder auf sie aufmerksam gemacht, die davon sprechen, dass diese sozialistische Intelligenz sich außerhalb der konkreten Bewegung der Arbeiterklasse entwickelt.

Wenn wir das Buch hier hätten. Es steht in Was tun?. Da können Sie es wörtlich nachlesen. Lenin erwähnt eben in diesem Zusammenhang namentlich Marx und Engels und zählt noch einige andere auf. Er spricht von einer sozialistischen Intelligenz. Das ist allerdings eine Position, die das differenzierte Gefüge der Arbeiterklasse …

Kogon: Ich möchte gerne wissen, welchen Stellenwert – um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, Herr Weber – welchen Stellenwert in unserer Diskussion das Beharren auf diesem Punkte hat. Herr Ahlberg, was wollen Sie jetzt beweisen?

Ahlberg: Ich will damit beweisen, dass diese Parteikonzeption doch wohl eine größere Bedeutung hat, als ihr Herr Weber zugesprochen hat. Ich würde sogar sagen, dass nach der Revolution in Ermangelung eines anderen Organisationssystems die Prinzipien dieser Parteiorganisation zu Prinzipien der Organisation einer ganzen Gesellschaft gemacht worden sind. Und aus diesem Grunde beharre ich auf diesem Punkt seiner Parteikonzeption, weil sie eine Bedeutung [hat], die bis zur heutigen Stunde in der Organisationsstruktur der sowjetischen Gesellschaft weiterlebt.

Kogon: Jetzt die kritische Frage, Herr Ahlberg. Sind Sie der Meinung oder würden Sie zugeben, dass Lenin in seinen letzten Jahren versucht hat, in der Praxis das, was Sie hier darstellen, zu korrigieren?

Ahlberg: Er hatte dafür weder Zeit noch war die Situation dazu angetan, sich komplizierte Probleme der sozialen Organisation zu überlegen. Er hatte praktische Probleme des Überlebens zu lösen.

Kogon: Bei der Gründung der Union zum Beispiel der Streit um die transkaukasische Föderation.

Ahlberg: Das ist ein anderes Problem.

Kogon: Am Schluss stand die enorme Erweiterung des Zentralkomitees, weil er solche Vorherrschaftstendenzen …

Mandel: Von Arbeitern, sagt er, die noch im Produktionsprozess stehen und die nicht einmal Mitglieder des Partei- und Staatsapparates sind, das fordert er als letzte Maßnahme. Mehrere hundert Arbeiter, die im Produktionsprozess stehen, sollen im Zentralkomitee aufgenommen werden.

Ahlberg: Das ist natürlich eine utopische Forderung.

Kogon: Herr Ahlberg, ich sage das nicht, damit irgendjemand hier recht behält, sondern damit wir Konsequenzen daraus ziehen können für die anderen kommunistischen revolutionären Kräfte in der Welt und für unser Urteil über sie heute bis hin zu den Maoisten.

Weber: Obwohl ich den Stellenwert im Gegensatz zu Ihnen etwas anders sehe, glaube ich, ist es nicht ganz ungerechtfertigt, diesen demokratischen Zentralismus, denn darum geht es ja letztendlich, noch einmal hineinzubringen. Nach Ihren Ausführungen könnte man doch meinen, dass allein die Tatsache, dass Lenin diesen demokratischen Zentralismus prägte, die ganze folgende Entwicklung – bei Ihnen ist das ja noch überspitzter hervorgekommen – eigentlich durch diese ideologische Seite geprägt wurde. Und das scheint mir doch eine etwas sehr – um es mit Lenin zu sagen – idealistische Auffassung von Geschichtsentwicklung zu sein. Erst einmal müsste man sagen, ist im demokratischen Zentralismus keineswegs diese spätere Perversion zu sehen, das heißt im demokratischen Zentralismus …

Kogon: Was verstehen Sie unter Perversion?

Weber: Dass eben nur der Zentralismus übrig geblieben ist. Dass die demokratische Seite verschwunden ist.

Ahlberg: Es wird immer noch gewählt und nach der Wahl wird erwartet, dass diejenigen, die gewählt haben, sich unterordnen. Das ist ein System, das so bis zum heutigen Tage durchaus wirkt. Konkret hat es sich natürlich gewandelt.

Kogon: Sie wollen doch damit sagen, dass dieses demokratische Wählen ein formales Element war, indem Sie das jetzt hervorholen. Das ist ja ein verdrehtes Karussell im Moment. Es sieht so aus, als ob Sie den Stalinismus verteidigen würden. Was ja nicht gemeint ist.

Weber: Ich wollte damit nur darauf hinweisen, dass hier in dieser Fragestellung man einfach unterscheiden muss, was an russischer Realität einfach gegeben war und die zu bestimmten Maßnahmen gezwungen hat, auch Lenin, der das dann sah und durchaus kritisierte. 1922/23 kann man eine ganze Reihe Schriften sehen, wo er das merkte, wo er versucht zu bremsen. Dass also hier diese russische Realität eben die Praxis des Leninismus schon anfing mehr zu prägen, als die Theorien von Lenin überhaupt in der Lage waren. Das, was daraus natürlich folgt, ist, dass ich also nicht glaube, dass man einfach sagen kann, dass hier Lenin, oder um es genauer zu sagen, die Leninʼsche Theorie verantwortlich gemacht werden kann, für alles, was dann später im Stalinismus sich entwickelt hat oder was heute im Neostalinismus sich abzeichnet. Wenn man so vorgeht, dann müsste man genauso formal sagen, Lenin hat eine überragende Bedeutung. Die KPdSU kann beispielsweise darauf hinweisen, dass aus der Kommunistischen Internationale heute eine Weltbewegung von hundert Parteien entstanden ist mit Millionen und Abermillionen Mitgliedern, dass es ein sozialistisches Weltsystem gibt, dass ein Drittel herausgebrochen wurde aus dem Kapitalismus. Das heißt also, wenn man es so formalistisch sieht, da ist der Erfolg Lenins mindestens genauso groß wie der Misserfolg. Das scheint mir aber insgesamt eine zu formalistische Sicht der Dinge [zu sein], die eigentlich am Kern des Ganzen vorbeigeht, und der Kern scheint mir doch der zu sein, welche Bedeutung hat Lenin überhaupt. Und dass er eine große Bedeutung hat, sehen wir daran, dass wir hier sitzen.

Kogon: Das kann man nicht zur Rechtfertigung, die wir nicht brauchen hier an diesem Tisch, machen, sondern was kann man in der Tat aus ihm für die heutigen Verhältnisse analytisch lernen?

Mandel: Ich glaube, dass es erst einmal eine Frage der historischen Gerechtigkeit ist, hier zu korrigieren, als hätte der Leninʼsche demokratische Zentralismus dieselben Grundprinzipien wie der bürokratische [?] Zentralismus von Stalin. Herr Ahlberg sagte, Grundprinzip ist die Wählbarkeit. Die Wählbarkeit ist keineswegs das einzige Grundprinzip des demokratischen Zentralismus. Im demokratischen Zentralismus ist das Recht von Minderheiten mit eingebaut, ihre Meinung innerhalb der Organisation zu behalten. In Lenins Zeiten hat es keinen Kongress gegeben, Sie können mir kein Beispiel dafür geben, wo es nicht scharfe Differenzen, scharfe Auseinandersetzungen gegeben hat, und Sie können mir kein Beispiel geben, wo man nach einem Leninʼschen Kongress einen Kommunisten, einen Bolschewisten gezwungen hätte, seine Auffassungen für falsch zu erklären, weder innerhalb der Partei noch außerhalb. Das Einzige, was man von ihm forderte, war Disziplin in der Aktion, aber nicht Abschwören von Meinungen, nicht Änderung von Meinungen. Das ist [auf dem] XV. Parteitag 1927 zum ersten Mal eingeführt [worden] und das hat es in Lenins Zeiten nie gegeben, wie es in Lenins Zeiten nie monolithische Kongresse, monolithische Parteien und monolithische Ansichten gegeben hat.

Kogon: Einen ganz kleinen Einwand. Von Lenin stammt doch das Verbot der Fraktionsbildung.

Mandel: Ja, der Fraktionsbildung, nicht gemeinsamer Plattformen. Während desselben Kongresses, [auf dem] Lenin über das Verbot von Fraktionen [gesprochen hat], hat ein übereifriger Anhänger von ihm – wenn ich mich nicht irre, war das der erst seit kurzer Zeit zum Bolschewismus übergegangene Rjasanow[27] – ihn unterbrochen und gesagt: Ja, dann muss es also jetzt zu Ende sein mit gemeinsamen Plattformen vor Parteitagen. Und da hat Lenin ihn unterbrochen und gesagt, das ist unmöglich. In einer lebendigen Partei wird es immer Minderheiten und wird es immer Plattformen geben. Und seitdem es diese nicht mehr gibt, gibt es eben keine lebendige Partei mehr. Ich möchte auch Herrn Ahlberg noch in einer anderen Frage antworten. In Was tun? wird eine konkrete Partei beschrieben, Herr Ahlberg.

Ahlberg: Ja, sicherlich. Die Kommunistische.

Mandel: Nein. Ich meine die konkrete Sozialdemokratische Russische Arbeiterpartei in ihrer bolschewistischen Konzeption.

Ahlberg: In ihrem internationalen Geltungsanspruch.

Mandel: Darum [geht] es mir gar nicht. Ich möchte nur festhalten, dass wir heute über ganz genaue soziologische Untersuchungen verfügen. Es gibt ein Buch eines englischen Universitätsprofessors, David Lane, das vor ein paar Jahren erschienen ist: Die bolschewistische Partei, die bolschewistische Fraktion bestand aus einer viel größeren Anzahl von Arbeitern, Industriearbeitern, Großstadtarbeitern und Großindustriearbeitern als die menschewistische Fraktion, und die Mehrheit der revolutionären Intelligenz befand sich nicht bei den Bolschewiki, sondern befand sich bei den Menschewiki. Das heißt, Lenins Auffassung war die Auffassung einer Arbeitervorhut, worin einzelne Intellektuelle, Studenten usw. wohl politisches Wissen hineinfügen könnten. Aber wenn Sie Lenins Standpunkt zur revolutionären Intelligenz im Lichte von Was tun? studieren wollen, dann müssen Sie zur umgekehrten Folgerung kommen, als die, zu der Sie kommen. Dieses Buch ist voll mit Misstrauen gegenüber der Intelligenz. Einer der Gründe der Leninʼschen Organisationsstruktur ist ja gerade der, dass er sagt, es sind die Intellektuellen, es sind Akademiker, die drohen, den Opportunismus in die Arbeiterbewegung einzuführen. Das heißt, es gibt den Begriff der Vorhut, aber wie Herr Negt es gesagt hat, ist es der Begriff der Arbeitervorhut. Und dieses Moment, auf das Sie so stark den Nachdruck legen, des Hineintragens des sozialistischen Bewusstseins, das ist für Lenin nicht Beschreibung dessen, was jeden Tag, jede Stunde oder jedes Jahr vor sich geht, sondern einfach Feststellung eines historischen Prozesses, nämlich der Tatsache, dass es ohne Zweifel zwei revolutionäre Intellektuelle gewesen sind – Marx und Engels –, die den modernen wissenschaftlichen Sozialismus begründet haben, und dass dieser Prozess sich im Großen und Ganzen in jedem Land wiederholt, das heißt, dass die Begründer der sozialistischen Parteien, der sozialistischen Theorie in jedem Land im Großen und Ganzen Intellektuelle sind. Aber er meint damit nicht, dass diese Intellektuellen dadurch einen Führungsanspruch [gegen]über den Arbeitern haben. Der Führungsanspruch geht den fortgeschrittenen Arbeitern zu.

Ahlberg: Da ich hier angesprochen worden bin, darf ich etwas zur Korrektur sagen. Diese Interpretation kenne ich, dass es eigentlich nur die Begründer sind, die dieses Bewusstsein hineintragen. Sie weisen darauf hin, dass es eigentlich ein Prozess ist. Nein, ich glaube, man kann es nicht so auffassen. Sicherlich ist das Buch Was tun? von einem sehr deutlichen Misstrauen gegen die Intelligenz, auch gegen die revolutionäre Intelligenz durchwaltet. Dieses Misstrauen versucht Lenin dadurch auszuschalten, dass er die Intelligenz in eine bestimmte Parteiorganisation integriert. Intelligenz außerhalb der Partei bleibt ihm selbstverständlich – auch die sozialistische – suspekt. Erst innerhalb der Partei neuen Typus kann sie jene Rolle der permanenten Erziehung im Prozess – wie Sie gesagt haben – ad infinitum ausüben. Es ist also nicht einmaliger Akt, sondern es ist ein ständiger, permanenter Akt der Führung und Erziehung im Rahmen dieser Partei neuen Typus.

Mandel: Unter der Kontrolle der Mehrheit der fortgeschrittenen Arbeiter. Sie finden diese Formel dutzende Male in Schriften von Lenin.

Kogon: Das ist doch aber kein diametraler Gegensatz.

Negt: Nein, aber die Folgerungen sind anders. Die stalinistische Bürokratisierung wird begründet.

Ahlberg: Darüber haben wir doch gar nicht gesprochen. Noch etwas und dann bin ich auch gleich am Ende. Sie haben im Grunde genommen mir historische Beispiele entgegengehalten, die eigentlich darauf hinweisen, dass Lenin tatsächlich eine welthistorische Persönlichkeit ist und dass unter seiner Ägide jene Exzesse nicht passierten, die wir später beobachten konnten. Als ich von der Übertragung des Parteimodells auf die Gesellschaft sprach, habe ich nicht an konkrete historische Ereignisse gedacht. Die sind vielfältig und die können wir uns wechselseitig vorhalten. Ich habe an die Struktur der Gesellschaft gedacht. Eine bestimmte Parteistruktur ist auf die Gesellschaftsstruktur übertragen worden. Die Struktur der Partei neuen Typus, und sie beschränkt sich ja nicht nur auf den Grundsatz des demokratischen Zentralismus, sondern sie enthält erstens, dass es die Partei ist, die einen Führungsanspruch auszuüben hat …

Mandel: Zeigen Sie mir einen Satz bei Lenin über die führende Rolle der Partei beim Aufbau des Sozialismus. Einen einzigen Satz.

Ahlberg: Selbstverständlich geht das aus dem Sinn seiner Schrift hervor, indem ja nun einfach gesagt ist, dass diese Arbeitermasse hinter der Entwicklung und hinter den Zielen, die die Partei zu setzen hat, hinterherhinkt. Sie muss erzogen werden. Es geht ja um die Entwicklung nach der Revolution. Ich denke, unsere Diskussion ist ja nun schon weiter fortgeschritten. Sie bringen einige Argumente, die dagegen sprechen: unter der Kontrolle der Arbeiterbewegung. Aber diese Sätze sind natürlich ineffektiv, wenn Sie die abgeschlossene Struktur dieser Leninʼschen Parteikonzeption einmal erwägen. Das Beharren auf diesem Gedanken ist durchaus keine idealistische Interpretation der Geschichte, denn dieses Konzept ist ja zu einer historisch existierenden Partei geworden, die nicht außerhalb der Geschichte, sondern innerhalb der russischen Geschichte wirksam geworden ist. Es ist ja ein tatsächlich empirisch nachweisbares Element, die Parteikonzeption und ihre Aktion in der russischen Geschichte, die sich dann ausgeweitet hat.

Kogon: Aber welche Konsequenz wird daraus gezogen, würde ich gerne wissen. Aber Herr Fetscher will den Versuch einer Versöhnung machen.

Fetscher: Ich will klarmachen, worum der Streit geht. Der Streit geht, glaube ich, nicht darum, ob der Stalinismus gerechtfertigt werden kann, sondern er geht darum, ob der Stalinismus ein genuines und sogar notwendiges Produkt der Leninʼschen Ansätze ist oder nicht. Das bestreitet sowohl Herr Negt wie auch Herr Mandel und auch ich. Ich meine, es ist überhaupt nicht zu leugnen, dass Stalin Leninʼsche Theorien aus dem Kontext herausgerissen und benützt hat, um seine Staatskonzeption zu legitimieren, und zwar eine metaphysische, eine konservative Staatskonzeption zu entwickeln. Dafür hat er auch noch andere Quellen benützt. Aber er hat unter anderem auch Lenin benützt. Das ist gar kein Zweifel. Sie [Herr Ahlberg] in Ihrer Kritik bestätigen sozusagen Stalin die Legitimität dieser Ableitungen. Wir bestreiten sie. Das ist der Streitpunkt. Ich meine, es ist keine Versöhnung, aber vielleicht eine Möglichkeit, damit man weiß, wovon wir sprechen.

Kogon: Nur spricht Herr Ahlberg mehr von der Realität, die sich entwickelt hat im Zusammenhang mit theoretischen Ansätzen.

Negt: Das ist die Frage, Herr Ahlberg, ich meine, für die Entwicklung des stalinistischen Parteityps, und ich glaube, dass die Herauslösung der Partei aus dem Gesamtkonzept einer revolutionären Theorie wirklich stalinistischen Ursprungs ist. Das heißt, die Verselbständigung der Revolutionstheorie zu einer reinen Parteitheorie ist ein wesentliches Element der stalinistischen Ideologie.

Ahlberg: Ist das nicht aus der Situation gegeben?

Negt: Ja, zweitens würde ich sagen. Ich meine, für die Entstehung des Stalinismus, und da stimmen Sie sicherlich mit mir überein, gibt es eben wirklich eine Reihe von objektiven Prozessen, die überhaupt erst möglich machten, dass so etwas wie Marxismus als Legitimationswissenschaft entstehen konnte. Das heißt, Bürokratisierung nur auf die Verengung bestimmter Parteikonzeptionen zu reduzieren, ist ja wirklich ein völlig unsoziologisches Verfahren und es widerspricht auch völlig der Realität. Das heißt, wenn wir über die Beziehung des Stalinismus zum Leninismus sprechen, dann müssten wir auch die russische Wirklichkeit beginnend mit der Kollektivierung bis hin zu den Moskauer Prozessen jetzt unter den spezifischen Weltkonstellationen, spezifischen Bedingungen der Industrialisierung in dieser Periode sehen. Das wollen wir nicht.

Kogon: Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen vielmehr die Frage – und wie mir scheint, mit Recht – untersuchen, ob es heute Situationen in der Welt gibt und wo, wo sich Leninʼsche Auffassungen, welcher Art auch immer und wie immer sie auch zu qualifizieren seien und historische einzuordnen sind, anwenden lassen bzw. angewendet werden.

Skrzypczak: Ich glaube, es sind auch noch einige Probleme offen. Zunächst einmal Kampf gegen Versöhnlertum ist so einer der Momente, der Marxisten und Leninisten noch miteinander verbindet.

Fetscher: Ich habe nicht versöhnt, ich habe geklärt.

Skrzypczak: Sie sprachen von Versöhnung. Und ich glaube einfach, Herr Negt und Herr Mandel haben es sich in einem Punkte zu leicht gemacht. Diese Parteitheorie ist nun mal eine ganz zentrale Frage, weil es da tatsächlich um das Problem Elite und Massen geht. Herr Negt begeht einfach den methodischen Fehler, dass er Anfänge einer Bewegung und einer relativ entwickelten Bewegung vergleicht. Das ist natürlich klar, solange also der Sozialismus im ersten Entwicklungsstadium ist, ist das eine kleine – wenn Sie so wollen – Funktionselite. Da hat ein ganz kleiner Trupp ein höheres Bewusstsein. Aber die Tendenz bei Marx und Engels ist ja gerade die, diese kleine Gruppe, die fast noch eine Sekte ist, auszuweiten zur Massenbewegung. In Was tun? betont Lenin, dass diese Gruppe von Berufsrevolutionären so klein wie möglich gehalten werden soll.

Mandel: Unter den spezifischen Bedingungen der Konspiration in Russland gegenüber einer Diktatur.

Skrzypczak: Ja, warum aber dann 1920 …?

Mandel: Da hat er es doch nicht mehr behauptet.

Skrzypczak: Warum fängt dann aber dafür die Parteisäuberung an? Weil man also unzuverlässige Elemente abstoßen will.

Negt: Ich meine Leute, die zum Menschewismus neigten. Da hat Lenin ganz klar gesagt: Wir können es uns nicht leisten, hier so ex cathedra eine Schlichtung der verschiedenen Auffassungen herbeizuführen. Wir müssen sie tolerieren, sofern sie als revolutionäre zu betrachten sind.

Skrzypczak: Hat bereits unter Lenin die Parteisäuberung begonnen?

Mandel: In der deutschen Sozialdemokratie hat es auch Parteisäuberungen gegeben.

Skrzypczak: Anderer Punkt. Herr Mandel, Sie sagten, wo gibt es eine Stelle, wo der Führungsanspruch der Partei unterstrichen worden sei. Ich werde einmal nachschlagen, aber im Zweifelsfalle heißt das bei Lenin natürlich Führungsanspruch des revolutionären Proletariats, und was revolutionär ist, das bestimmt eben Lenin bzw. das Zentralkomitee. Das ist die Praxis. Aber, um auf den Kern zurückzuführen, ich würde mit Herrn Weber meinen, dass man selbstverständlich nicht die Frage stellen kann: Ist nun die ganze Fehlentwicklung zurückzuführen auf eine etwa falsche Leninʼsche Theorie? Es auf eine Theorie zurückführen zu wollen, wäre reinster Idealismus. Aber einmal hat Lenin bzw. die von Lenin geführte Partei grundlegende politische Fakten geschaffen, die dann nachher bis in unsere Zeit weiterwirkten immer wieder durch den ideologischen Rückgriff auf Lenins Zitate und eine lebendige Interpretation – so sagt man wohl – Lenins gerechtfertigt werden.

Mandel: Das ist ihre Rückbeziehung auf Marx, auf Marx-Zitate.

Skrzypczak: Für mich ist ein ganz entscheidendes Kriterium die freie Debatte heute in der Kommunistischen Partei. Da hat es vor wenigen Jahren ein Beispiel gegeben, wo man diese freie Debatte in der Partei geführt hat, und das wird konterkariert etwa in Ost-Berlin und mit dem Argument »Schwatzbude« oder »Diskutierklub« abgetan. Aber ich frage mich, woran liegt es, ist es denn bloß der böse Wille, ist das Ignoranz oder Festhalten?

Weber: Darf ich vielleicht ein Zitat vorlesen? Ein ganz kurzes Zitat, und dann würde es mich interessieren, wer das wohl war, der sagte: »Der Sozialismus ist im zweifachen Sinne ohne die Demokratie unmöglich. Erstens, das Proletariat wird die sozialistische Revolution nicht durchführen können, wenn es sich nicht durch den Kampf für die Demokratie auf die Revolution vorbereitet. Zweitens, ohne restlose Verwirklichung der Demokratie kann der siegreiche Sozialismus seinen Sieg nicht behaupten und das Absterben des Staates für die Menschheit nicht Wirklichkeit werden lassen.« Sie haben gemerkt, dass das von Lenin stammt. Ich will damit nur sagen, weil Sie sagen: Zitat. Wenn ich mit Zitaten komme, dann würde ich also einen demokratischen Sozialismus hier aufzeigen können anhand von Lenin-Zitaten.

Kogon: Man kann wirklich aus denen nahezu alles entnehmen.

Weber: Das ist ja meine These und ich will damit noch unterstreichen, dass es zu nichts führt, wenn wir immer wieder Was tun? anführen.

Kogon: Weil er von bestimmten Prinzipien und Maximen aus den historischen Situationen jeweils adäquat zu handeln versucht hat.

Weber: Das ist doch die Größe von Lenin, die wir heute alle anerkennen.

Kogon: Herr Skrzypczak hört das ungern.

Skrzypczak: In dem Sinne ist Bismarck auch groß, jeder Realpolitiker. Bloß Marx war nun mal gegen die Realpolitik.

Kogon: Mit der Größe ist das Stichwort gegeben. Sie zuckten zusammen bei dieser Größe und sagten: Bismarck auch. Wir wollen das also ruhig in dem Zusammenhang sehen mit den Zielen, die die Betreffenden in der Geschichte hatten. Können wir also sagen, dass Lenin, in Anerkennung all der Qualitäten, die hier herausgekommen sind, auf die Verbesserung der Bedingungen der Existenz in allem hingearbeitet hat?

Skrzypczak: Das ist nicht das Kriterium. Das wollte Bakunin auch, das wollten die Anarchisten, das wollen viele.

Negt: … die objektiven Bedingungen der sozialistischen Veränderungen auch in diesem System mit geschaffen hat. Industrialisierung ist eine objektive Bedingung für Sozialismus. Das Bildungssystem ist eine Bedingung.

Skrzypczak: Aber das machen doch die Kapitalisten auch. Da ist die Industrialisierung noch weiter fortgeschritten.

Mandel: Nicht in unterentwickelten Ländern. Da sind sie nicht mehr fähig, es zu tun.

Skrzypczak: Aber wir müssen doch das als Gesamtprozess der jeweiligen ökonomischen Form nehmen. Sie können doch jetzt nicht einfach einen Spezialmarxismus für unterentwickelte Länder machen.

Mandel: Im Zeitalter des Imperialismus haben Sie diesen Zustand. Das ist die Haupterkenntnis von Lenin.

Weber: Dass man die Größe einer historischen Persönlichkeit wohl daran zu messen hat, was eben auch 30 oder jetzt 50 Jahre nach dem Tode dabei herausgekommen ist. Würde die Welt ohne Lenin so aussehen, wie sie jetzt aussieht? Das ist doch, glaube ich, kein Streitpunkt.

Kogon: Sie meinen das im positiven Sinn.

Weber: Ja, natürlich im positiven Sinn.

Kogon: Ja, wenn ich alles mit einbezöge, die Partei und die Staatsorganisation nach dem Parteiprinzip. Und das alles, was Sie, Herr Skrzypczak, vom politischen Leben im Sowjetbereich gesagt haben, dann wäre das ja enorm negativ nur. Das wäre nicht positiv.

Ahlberg: Die Frage ist, ob denn nur der Leninismus der Gegenwart eine Theorie und Praxis ausschließlich der Industrialisierung ist, auf der Sie immer wieder in der heutigen Diskussion beharrt haben. Ich glaube, es ist doch mehr als Industrialisierung und man kann den einfachen Tatbestand der Industrialisierung nicht immer wieder gegen den klassischen Marxismus kehren. Ich glaube, der klassische Marxismus hat in vielen Aspekten, in seinen methodischen Aspekten und in seinen Grundgedanken auch heute noch eine größere Aktualität als die Theorien Lenins, die einen mehr praktischen, organisatorischen und technischen Bezug zur Wirklichkeit eröffnen.

Mandel: Ich glaube, jetzt kommen wir zu der anderen Seite des Themas, aber leider ist die Zeit fast um. Wir haben in Wirklichkeit hier zwei völlig verschiedene und beinahe sich nicht berührende Ansichten gehört. Einmal, wo man hauptsächlich von der Leninʼschen Organisationstheorie ausgegangen ist, ein anderes Mal, wo man sich beinahe ausschließlich auf die objektiven Bedingungen Russlands in Jahre 1917 bezogen hat, das heißt auf die Tragik, wie es Marx und Engels gesagt haben, einer revolutionären Partei, die zur Macht kommt, bevor die Bedingungen reif sind. Und ich möchte versuchen, beide Gesichtspunkte miteinander zu verbinden nochmals vom Ausgangspunkt dessen, was ich als die wichtigste Leninʼsche Erweiterung des Marxismus ansehe, das heißt die spezifischen Bedingungen der heutigen kapitalistischen Welt. Wenn Herr Ahlberg sagt, dass der klassische Marxismus weiterhin anwendbar ist auf die heutige Wirklichkeit, bin ich mit ihm völlig einverstanden, nur muss man diese Anwendung genau präzisieren. Ich glaube, dass sich Leninisten und die meisten klassischen Marxisten – ich kenne sehr wenige, die sich Marxisten nennen, die das nicht tun – muss man ausgehen von der Bestimmung der historischen Lage, in der sich der Kapitalismus befindet. Befinden wir uns in einer Epoche der Ausdehnung des Kapitalismus, befinden wir uns in einer Epoche der Krise des Kapitalismus, nicht nur der ökonomischen Überproduktionskrise, sondern der historischen Krise, derjenigen Krise, die Marx im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie kennzeichnet als eine Epoche sozialer Revolutionen. Und die ganze Aktualität Lenins heute in der Welt hängt natürlich von der Antwort ab, die man auf diese Frage gibt. Wenn man bestreitet, dass wir uns heute in einer Epoche sozialer Revolutionen befinden, nämlich seit 50 Jahren, seit der russischen Oktoberrevolution, dass die russische Oktoberrevolution nur der Auftakt eines welthistorischen Prozesses war, der sich weiter fortsetzt, der sich in China, in Kuba, in Vietnam mit Erfolg weiter fortgesetzt hat, der sich in Deutschland mit Misserfolg weiter fortgesetzt hat, der wahrscheinlich heute in Frankreich und Italien dabei ist, [sich] auch in industrialisierten Ländern wieder auszudehnen, dann ist die Frage über die Aktualität Lenins ziemlich eindeutig zu beantworten. Dann muss man sagen, dass Lenin heute der aktuellste Revolutionär und der aktuellste Marxist des 20. Jahrhunderts ist, weil im Großen und Ganzen die Fragen, die er vor allem in Staat und Revolution, die er vor allem in der Frage des Rätecharakters, der höheren Form der Demokratie in der Räteherrschaft ausgearbeitet hat, von unerhörter Aktualität sind. Ich würde sagen, wenn man einen gemeinsamen Nenner finden will für das, was man in soziologischen Kreisen die Kontestation nennt, dann ist es dieser Begriff der Selbstverwaltung, der verallgemeinerten und geplanten Selbstverwaltung der Gesellschaft, der bisher seinen am schärfsten umrissenen Ausdruck in Staat und Revolution von Lenin gefunden hat.

Kogon: Aber wir dürfen dabei nicht von den Mitteln absehen, die er empfohlen und praktiziert hat. Das ist ja die Frage, ob wir diese anwenden können.

Mandel: Welches sind denn die Mittel? Ich will jetzt nicht wieder mit den Zitaten anfangen, aber ich könnte viele Zitate von Lenin bringen, worin Lenin unterstreicht und wiederholt, dass ohne die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Lohnabhängigen, das heißt der Arbeiterklasse eine sozialistische Revolution nicht möglich ist. Und das bedeutet heute in allen industrialisierten Ländern ohne Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung, denn die Lohnabhängigen bilden in den meisten industrialisierten Ländern zwischen 70 und 80 Prozent der aktiven Bevölkerung.

Kogon: Wodurch sich natürlich die Revolutionslehre ändern würde.

Mandel: Ich weiß nicht, ob das ein Teil der Revolutionslehre ist, ob das eine Minderheit ist, die den ersten Akt macht, oder die Masse, die den ersten Akt macht. Was wichtig dabei ist, um nochmals auf die französischen Maiereignisse ʼ68 zurückzukommen und vielleicht mit einem historischen Wort zu enden, ist, dass dieselben Arbeiter, die während einiger Wochen Fabriken besetzten und dadurch zeigen, dass sie für mehr kämpfen als nur für Lohnerhöhungen, dass dieselben Arbeiter ein paar Wochen später durchaus für reformistische Parteien stimmen können. Da ist kein Widerspruch zwischen diesen beiden Aspekten der Verhaltensweise, da kommt die Revolutionstheorie zum Ausdruck.

Kogon: Ja, das scheint mir nun aber schon wichtig zu sein, diese Differenzierungen wenigstens anzudeuten. Denn Sie wissen, dass im breitesten Publikum in dieser Bundesrepublik zum Beispiel ein ganz anderes Bild von der Revolution verbreitet ist. Das ist sehr facettenreich.

Mandel: Gestatten Sie mir meinen letzten Satz noch. In dem Sinne möchte ich, um auch zu provozieren und obwohl nicht mehr viel Zeit da ist, sagen, dass der Stalinismus und das, was wir in Russland seit den 20er-Jahren als historisches Produkt des Menschewismus und der Sozialdemokratie erlebt haben, genauso gut als historisches Produkt des Bolschewismus angesehen werden [kann]. Denn hätte die deutsche Sozialdemokratie im November/Dezember 1918 eine andere historische Haltung angenommen, hätte sie die damaligen Möglichkeiten, die es ohne Zweifel zum Durchbruch, zur Sozialisierung in Deutschland gegeben hatte, wahrgenommen, dann hätten wir nie die Entwicklung in Russland gehabt, die später gekommen ist und die nicht nur Folge der objektiven Bedingungen in Russland ist, sondern auch der Isolierung der Russischen Revolution.

Kogon: Der letzte und lange Satz war es. Herr Skrzypczak, ich möchte Sie sehr bitten, diese letzte Brandfackel nicht aufzunehmen.

Skrzypczak: Dann sage ich bloß, sie richtet sich von selbst.

Fetscher: Ich möchte auch versuchen, zu einer abschließenden Würdigung zu kommen, und zwar in zwei Richtungen. Einerseits ist es zweifellos doch so, dass die Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion und China – um die beiden größten Beispiele zu nehmen – und wie auch in seinem letzten Buch von Garaudy[28] betont wird, unter der Doppelaufgabe des Aufbaus des Sozialismus und der Überwindung der Unterentwicklung stand und dass aus dieser Doppelaufgabe eine extreme Zentralisation unter Bürokratisierung und Militarisierung der Gesellschaft resultierte, die zwar gerechtfertigt wurde im Falle des Stalinismus durch einen Rückgriff auf einen dogmatisierten Leninismus, die aber doch im Wesentlichen aus bestimmten historischen Situationen sich ergeben hat und nicht aus einem ideologischen Irrtum. Zwangsläufig oder nicht zwangsläufig, das will ich mal dahingestellt sein lassen. Nun aber hat sich heute, und das ist, glaube ich, was man als die Tragik oder die Krise des Leninismus außerhalb dieser siegreichen sozialistischen Parteien ansehen kann, eine Situation ergeben, in der die Übertragung des dort entwickelten, stagnierenden und dogmatisierenden Modells auf die westlichen Industrieländer Frankreich und Italien zum Beispiel zu in höchstem Maße unerwünschten Folgen geführt hat, nicht nur zur Niederwerfung eines, dem westlichen System und den westlichen Traditionen angemesseneren Modell in der Tschechoslowakei, sondern auch zum Zwang gegen die kommunistischen Parteien Spaniens, Griechenlands, Finnlands und anderer durch die Sowjetunion. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass in dem letzten Buch von Roger Garaudy Toute la vérité unter Bezugnahme auf Luigi Longo[29] erklärt wird, dass man am Beispiel Jugoslawiens sehen könnte und am Beispiel auch der KPI,[30] dass es vorstellbar ist und angestrebt werden soll, in den entwickelten Ländern einen Sozialismus, in dem nicht die Arbeiterklasse als historisches Subjekt durch die Partei, die Partei durch den Apparat, der Apparat durch die leitenden Personen substituiert wird, und dass hier also eine Gefahr in der fehlenden Bereitschaft der Sowjetunion besteht, Revolutionen, die nicht ihrem eigenen Modell – das unter bestimmten Umständen eben in dieser deformierten Form entstanden ist – entsprechen, zu unterstützen, sondern sie zu unterdrücken. Da würde ich sagen, hat Garaudy zweifellos Recht, wenn er Lenin jetzt als Autorität für die differenzierten Kampfformen in den verschiedenen Ländern der Welt in Anspruch nimmt und sich dagegen wehrt, dass eine unter marginalen Bedingungen entwickelte Kampfform nun verallgemeinert wird.

Kogon: Herr Fetscher, wenn das, was der hier aus der Kommunistischen Partei Frankreichs ausgeschlossene Garaudy sagt, angewandt werden könnte, dann ergäbe sich für Sie daraus die Konsequenz der Möglichkeit der Zusammenarbeit mit allen auf Reformen, welcher auch immer, gerichteten Kräfte der Gesellschaft.

Fetscher: Jedenfalls in den industriell entwickelten Ländern.

Kogon: Also der Rückbezug auf Lenin wäre dann zwar auch wieder eine Rechtfertigung, aber wir haben ja schon gesagt, dass das auch für diesen Teil möglich wäre.

Fetscher: Nicht auf den Buchstaben, sondern den Geist des Leninismus. Auf den Geist Lenins. Ich würde überhaupt den Terminus Leninismus vermeiden.

Weber: Ich möchte das noch etwas erweitern. Zunächst umgekehrt. Ich bin nicht ganz so optimistisch wie Herr Mandel, was die Bedeutung der Leninʼschen Revolutionstheorie generell für die heutige Zeit angeht, weil mir scheint, dass bei Lenin vielleicht doch eine zu starke Sicht der Russischen Revolution bei seinem Weltrevolutionsmodell eine Rolle spielte. Dass er zwar wusste, dass es vom Feudalismus zum Kapitalismus die verschiedensten Formen angenommen hatte. Die Französische Revolution war eigentlich nur der kleine Ausnahmefall, wenn auch der radikalste Schnitt. Warum sollte nun ausgerechnet ein Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in sehr viel ähnlicheren Formen eben dieser geplanten Revolution sich vollziehen. Also da wäre ich doch etwas pessimistisch. Aber eine andere Bedeutung Lenins, die mir sehr viel wichtiger erscheint, ist die einfach in den sozialistischen Staaten selbst. Ich glaube, wenn man davon ausgeht, dass doch dort etwas in Bewegung geraten ist seit dem Tode Stalins, dann kann man doch gar nicht die ideologische Rolle überschätzen, die Lenin dabei spielt. Natürlich weiß ich, wissen wir alle, dass das nicht der Grund dieser Änderungen ist, aber dass das als Transformation dieser Veränderungen, dass eben solche Vorstellungen eines demokratischen Kommunismus, die hier heraussprechen, gerade bei dem Versuch, Demokratie hier hineinzubringen in diese sozialistischen Länder, dass das eine Bedeutung Lenins zeigt, die wir eigentlich gar nicht überschätzen können. Und da, glaube ich, ist vielleicht sogar für die nächsten 10 oder 20 Jahre die wichtigste Bedeutung Lenins zu sehen, denn dort ist er bekannt. Dort kennt jeder Schuljunge Lenin, und irgendwann wird er auch Staat und Revolution lesen und wird sehen, dass seine Wirklichkeit so ganz anders geartet ist. Dann ist die Frage: Wie kann man das ändern? Und heute sieht eine Änderung anders aus als im damaligen rückständigen Russland von 1919 oder 1920.

Kogon: Sie haben noch das Bedürfnis, ein abschließendes Wort zu sprechen?

Ahlberg: Ich möchte eigentlich nur noch eine kleine Korrektur anbringen zu dem, was Herr Mandel zur Apologie des Leninismus gesagt hat unter Bezugnahme auf das Buch Staat und Revolution. Sie sprachen gewissermaßen, dass als ein Ergebnis dieses Buches der Gedanke der freien Selbstverwaltung herausgekommen sei. Ich glaube, dieser Gedanke ist ein genuin marxistischer Gedanke. Er findet sich sowohl bei Friedrich Engels als auch bei Marx.

Mandel: Aber die haben kein Buch darüber geschrieben.

Ahlberg: Das ist nun keine besondere Qualität, die Lenin in den Marxismus eingeführt hat, sondern dieses Buch ist ja eigentlich nur dazu geschrieben worden, ganz bestimmte Ideen des Marxismus zu restaurieren. Das ist nun nicht das Besondere an ihm, sondern das ist eigentlich nur die Tradierung einer Idee, die seit dem Kommunistischen Manifest in der kommunistischen Bewegung lebendig war.

Kogon: Aber für alle, die die Freiheit wollen, auch gerade die politische Freiheit, ökonomisch begründet, ist das natürlich ein wertvoller Ansatz. Darin sind Sie doch einig. Das wäre immerhin ein Punkt, den ich registrieren darf. Es ist doch sehr schön, dass Sie doch in einem Punkt einig sind.

Meine Damen und Herren, wir haben also versucht, in einer sehr ausgiebigen und qualifizierten Debatte, die in viele Bereiche geleuchtet hat, ein Bild von der Bedeutung dieser gewaltigen Figur – nun sage ich dieses Wort – der neueren Geschichte zu geben. Ein eindeutiges Bild konnten wir nicht erarbeiten, aber vielleicht haben wir das auch untereinander gar nicht erwartet. Ich hoffe nur, dass wir beitragen konnten zur Ihrer eigenen Urteilsbildung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 


[1] Erstsendedatum, Westdeutscher Rundfunk, 24. April 1970.

[2] Sithu U Thant: Greeting to the international symposium »V.I. Lenin and the problems of development of science, culture and education«, 6. April 1970, S. 1 f., Operational Files of the Secretary-General: U Thant: Speeches, Messages, Statements, and Addresses – not issued as press releases, United Nations Archives, S-0885-0006.

[3] Siehe Christopher Osakwe: The Participation of the Soviet Union in Universal International Organizations. A Political and Legal Analysis of Soviet strategies and Aspirations inside ILO, UNESCO and WHO, Leiden 1972, S. 150 f.

[4] Marie-Pierre Herzog: Lenin and Education, Science, Culture, in: The UNESCO Courier, 23 (July 1970), S. 4 f.

[5] Die Hintergründe für die Zusammensetzung der Diskussionsrunde sind unklar. Das Archiv des WDR hat auf Anfrage mitgeteilt, dass keine Unterlagen zur Sendung und auch keine Zuschauerreaktionen vorhanden sind.

[6] Im Folgenden wird der Wortlaut der Diskussion wiedergegeben. Fehler in der Transkription können aufgrund der teilweise schwierigen Tonverhältnisse und Kameraführung leider nicht ausgeschlossen werden.

[7] Die Aussage bezieht sich auf die Niederschlagung des »Prager Frühlings« am 21. August 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts unter sowjetischer Führung.

[8] Gemeint ist der Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen Russland und den Mittelmächten am 3. März 1918.

[9] Anatoli W. Lunatscharski (1875–1933), 1917 bis 1929 Volkskommissar für das Bildungswesen in der Regierung der Bolschewiki.

[10] Die Aussage bezieht sich auf die Februarrevolution, die am 23. Februar 1917 (nach dem julianischen Kalender) bzw. 8. März (nach dem gregorianischen Kalender) in Russland ausbrach. In der Folge der Februarrevolution wurde die Zarenherrschaft in Russland beseitigt.

[11] Trotzki, mit bürgerlichem Namen Lew Dawidowitsch Bronstein (1879–1940), zentraler Theoretiker des Marxismus, Begründer des Trotzkismus, eine der Führungsfiguren der Bolschewiki in der Oktoberrevolution, u.a. Volkskommissar des Auswärtigen und für das Kriegswesen. Nach der Niederlage im Machtkampf mit Stalin war er seit 1929 im Exil. 1940 wurde Trotzki auf Stalins Befehl im mexikanischen Exil von sowjetischen Geheimagenten ermordet.

[12] Die Aussage bezieht sich auf die Proteste von linken Studenten in Paris, die im Mai 1968 ihren Höhepunkt erreichten. Ausgehend von der Universität Sorbonne breiteten sich die Proteste, die schließlich in einem Generalstreik gipfelten, auf das ganze Land aus.

[13] Die Volkstümler (russisch: Narodniki) waren eine Bewegung vornehmlich sozialrevolutionär gesinnter Intellektueller, die aufs Land zogen, um die Bauernschaft mit den Ideen des Sozialismus vertraut zu machen.

[14] In dem von Lenin im August und September 1917, also kurz vor der Oktoberrevolution, verfassten Werk beschreibt er die Rolle des Staates im Kapitalismus und wie dieser durch die sozialistische Revolution abgeschafft wird.

[15] Der Blanquismus geht auf die Ideen von Louis-Auguste Blanqui (1805–1881) zurück. Blanqui ging davon aus, dass eine sozialistische Revolution keine Massenbasis braucht, sondern von einer kleinen, konspirativ agierenden Gruppe ausgelöst werden könne.

[16] Bezieht sich auf die Pariser Kommune, in der nach der Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71 ein sozialistisch geprägter Stadtrat vom 18. März bis 28. Mai 1871 die Macht ausübte.

[17] Hiermit ist die 1852 veröffentlichte Schrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« von Karl Marx gemeint. Marx analysiert darin den Staatsstreichs Louis Napoleons (Napoleon III.) ein Jahr zuvor.

[18] Bezieht sich auf die Theorie Karl Kautskys (1854–1938), der sich in der Revisionismusdebatte gegen Eduard Bernstein positioniert hatte.

[19] Wladimir Iljitsch Lenin: Über unsere Revolution, 16. und 17. Januar 1923 (geschrieben aus Anlass der Aufzeichnung N. Suchanows), in: Lenin-Werke, Bd. 33, Berlin (Ost) 1977, S. 462–465.

[20] Hiermit ist das Parteiprogramm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD, ab 1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, SPD) aus dem Jahr 1875 gemeint. Auf dem Parteitag in Gotha vereinigten sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) zur SAPD.

[21] Hier ist der US-amerikanische Journalist Louis Fischer (1896–1970) gemeint, der 1964 seine Lenin-Biografie »The Life of Lenin« veröffentlichte (dt. Ausgabe: Das Leben Lenins, Köln/Berlin (West) 1965).

[22] Gemeint ist hier der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778).

[23] Gemeint ist die Niederschlagung des »Prager Frühlings« am 21. August 1968 durch Warschauer-Pakt-Truppen unter sowjetischer Führung.

[24] Gemeint ist Nadeschda (genannt »Nadya«) Konstantinowna Krupskaja (1869–1939), ab 1898 Lenins Ehefrau. Nach der Oktoberrevolution gehörte sie zu den Führungsfiguren des bolschewistischen Erziehungs- und Schulsystems. Von 1929 bis zu ihrem Tod 1939 war sie stellvertretende Volksbildungskommissarin.

[25] Die Aussage bezieht sich auf die links eingestellten Befreiungstheologen, die insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren in Süd- und Mittelamerika Popularität bei der armen Bevölkerung genossen.

[26] Gemeint ist Wilhelm Weitling (1808–1871). Weitling wurde als Schneidergeselle Frühsozialist und später einer der ersten deutschen Theoretiker des Kommunismus. Sein Verhältnis zu Marx war von Konkurrenz geprägt.

[27] Gemeint ist hier Dawid B. Rjasanow (1870–1938). Von 1920 bis 1930 war er Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau.

[28] Gemeint ist Roger Garaudy (1913–2012). Der französische Philosoph wurde nach anhaltender Kritik an der prosowjetischen Linie 1970 aus der Kommunistischen Partei Frankreichs ausgeschlossen.

[29] Luigi Longo (1900–1980) war seinerzeit Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens.

[30] Kommunistische Partei Italiens. Die Partei begann im Zuge der Niederschlagung des »Prager Frühlings« 1968 einen Reformkurs, der in den späteren Eurokommunismus mündete.

Inhalt – JHK 2017

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.