Mit den großen Zwangsumsiedlungen beginnen 1941 für die in der Sowjetunion ansässigen Deutschen die Repressionen – so stellt es nicht nur die Geschichtsschreibung dar, so hält es auch die deutsche Erinnerungskultur fest. Noch im Sommer des Jahres 2011 formulierte die damalige bayerische Sozialministerin, Christine Haderthauer, bei einer Veranstaltung zum Gedenken an »70 Jahre Deportation der Deutschen aus Russland«: »Für die Russlanddeutschen ist der 28. August 1941 ein tragischer Einschnitt in ihrer Geschichte – an diesem Tag begann für viele von ihnen ein schrecklicher Leidensweg. Sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben, nach Sibirien verschleppt und waren schlimmsten Repressionen ausgesetzt.«1 Das ist richtig, dennoch bleibt bei dieser Betrachtung die Vorstufe von Stalins Massendeportationen ausgespart. Diese forderte »nur« etliche Tausend Vertriebene und traf – anders als die späteren Massendeportationen – »nur« diejenigen, deren deutsche Staatsangehörigkeit die Sowjetregierung, trotz aller Bemühungen um staatsbürgerliche Vereinnahmung möglichst vieler Bewohner, anerkennen musste. Auch hat sie für weitaus weniger Menschen den Tod bedeutet. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass die Massendeportationen ein schlimmes Vorspiel hatten, das für die Betroffenen kaum weniger leidvoll war als der Hauptakt der Repressionen durch Stalin.2
Vor einigen Jahren hat Bernd Bonwetsch zusammen mit Larissa und Sergej Belkowez die Ereignisse im Vorfeld der Massendeportationen bereits untersucht und dabei gerade die Vereinnahmungspolitik gegenüber den deutschen Kolonisten deutlich gezeigt;3 ebenso tat dies Ingeborg Fleischhauer.4 Daneben existieren Darstellungen des Erlittenen aus der Feder Betroffener.5 Aber niemand hat bis heute die Berichte der Rückkehrer selbst untersucht, von denen es um die tausend gibt, festgehalten von der Geheimen Staatspolizei. Sie befinden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts.6
Eine erste Annäherung an eine systematische Auswertung dieses Quellenmaterials soll hier unternommen werden. Dabei wird zunächst auf das Zustandekommen und die Grundlagen für diese Quellensammlung eingegangen. Anschließend wird versucht, typische Erfahrungen der Rückkehrer aus verschiedenen Sowjetrepubliken und mit sehr unterschiedlicher Ansiedlungsgeschichte – bisweilen schon seit dem 18. Jahrhundert ansässige Kolonistenfamilien, aber auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nach Russland ausgewanderte Kaufleute, Handwerker und Beamte – und ihre jeweilige Vertreibungsgeschichte darzustellen. Betrachtet wird der russische bzw. sowjetische Teil ihrer Geschichte. Anders als bei den aus der Sowjetunion zurückgekehrten, von dort ausgewiesenen oder zuletzt – seit der Besetzung Polens – ausgelieferten Arbeits- und Politemigranten gibt es hier praktisch keine sich anschließende Gestapo- oder KZ-Geschichte.7
Der Beginn der »Rückwanderung« nach Deutschland
Schon bevor die Parole »Heim ins Reich« nach ihnen rief, gab es eine nicht unerhebliche Zuwanderung Deutscher und Deutschstämmiger, von denen manche, wie schon ihre Vorfahren, lange im Ausland gelebt hatten. 1927 jedoch, bald, nachdem Stalin mit dem XV. Parteitag der Neuen Ökonomischen Politik ein Ende gesetzt, stattdessen die Kollektivierung forciert, den ersten Fünfjahrplan aufgestellt und mit Blick auf die Sowjetisierung nationaler Minderheiten für wachsenden Druck gesorgt hatte, stieg die Zahl der Rückkehrer deutlich.8 Otto Auhagen, damaliger Mitarbeiter der deutschen Botschaft Moskau für Landwirtschaftsfragen, beschrieb die Situation der deutschen Kolonisten später wie folgt: »Fast überall ist die deutsche Bevölkerung von dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit beherrscht, das meist an Verzweiflung grenzt.«9 Die Sowjets hätten sie zu Leibeigenen gemacht, denen Besitz, Familie und Glaube zu nehmen versucht wurde.
Während die Rückwanderer bis zum Ende der Weimarer Republik in Deutschland politisch unbehelligt blieben, waren die Nationalsozialisten gegenüber Remigranten aus aller Welt, vor allem gegenüber denjenigen, die erst vor Kurzem emigriert waren, skeptisch. Sie nahmen sie – oft in Umerziehungslagern – genau in Augenschein, ehe sie sich in das Alltags- und Arbeitsleben in Deutschland eingliedern durften.10
Nachdrücklich beigetragen zum misstrauischen Umgang mit den Rückwanderern aus der Sowjetunion hat auch Fritz Dittloff. Der Kriegsfreiwillige des Ersten Weltkriegs war 1915 zum ersten Mal als Soldat und Kriegsgefangener in Russland und lernte dort auch die russische Sprache. 1917 gelang ihm die Flucht. Nach dem Krieg absolvierte er ein Doppelstudium als Land- und Betriebswirt, promovierte und sammelte Erfahrungen als Gutsinspektor. 1926 hielt ihn das Auswärtige Amt deshalb für geeignet, ein Gutachten über zwei deutsche landwirtschaftliche Konzessionen in der Sowjetunion zu verfassen. Die Vergabe solcher Konzessionen hatte der Rat der Volkskommissare der jungen Sowjetmacht im November 1920 ermöglicht. Anlass war das dringende Bedürfnis, technische Arbeitskräfte und materielle Mittel industriell entwickelter Länder für die Beseitigung der Kriegsschäden und die Wiederherstellung der Bedeutung Russlands als einer der Hauptrohstoffbasen der Weltwirtschaft heranzuziehen.11 Zu diesen im Bergbau und in der Land- und Forstwirtschaft vertraglich eingeräumten Konzessionen gehörte ein von der Deutsch-Russischen Saatbau AG (DRUSAG) im Kuban-Schwarzerde-Gebiet geführter Landwirtschaftsbetrieb mit ungefähr 7000 Hektar Betriebsfläche. Das seit 1923 zunächst mit privatem Kapital betriebene Unternehmen war bereits 1926 insolvent. Gestützt auf eine dringende Empfehlung des deutschen Botschafters in Russland, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau,12 und aufgrund von Dittloffs Gutachten übernahm das Deutsche Reich die Konzession. Dittloff wurde schließlich auch Vorstandsvorsitzender der Aktiengesellschaft und Leiter des Betriebs.
1933 verlangte die Sowjetunion, die – nach Änderung ihrer politökonomischen Linie – längst fühlbaren Widerwillen gegen die auf 30 Jahre eingeräumten Konzessionen entwickelt hatte, jedoch deren vorzeitige Rückgabe.13 Dittloff musste im Dezember desselben Jahres die Sowjetunion verlassen.
Der frühe Anhänger des Nationalsozialismus war schon während seiner Zeit in der Sowjetunion für den NS-Parteiideologen Alfred Rosenberg tätig gewesen.14 Damals war er noch kein Mitglied der Partei, weil das – so seine eigene Begründung – »mit meiner damaligen dortigen Aufgabe schlecht zu verbinden war«.15 In Berlin gründete Dittloff jedoch in Abstimmung mit dem inzwischen zum Reichsleiter ernannten Rosenberg16 ehrenamtlich eine Auffangstelle für die Rückwanderer aus der Sowjetunion und betätigte sich nach eigener Aussage »politisch sofort mit der Überwachung der Russlandrückkehrer«.17
Die Auffangstelle für Rückwanderer hätte auch als Einrichtung der Fürsorge erscheinen können,18 hätte Dittloff nicht sogleich von deren »Überwachung« gesprochen. Mangels weiterer Quellen lässt sich nur mutmaßen, was Dittloff dazu bewog, die politische Überwachung von Russlandrückkehrern für geboten zu halten. Sehr nahe liegen die Motive, die später Reinhard Heydrich, den Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), und dessen Nachfolger veranlassten, vorsorglich jeden Deutschen, der aus der Sowjetunion ins Reich zurückkam, erst einmal für einen gefährlichen Marxisten zu halten und ihn damit der Weltanschauung zuzuordnen, als deren Todfeind die Nationalsozialisten sich sahen.
Dittloff ist bei seiner Arbeit in der UdSSR nicht nur sowjetrussischen, sondern auch deutschen Kommunisten begegnet.19 Er wird von der Rückkehr mancher deutscher Wirtschaftsemigranten mit kommunistischer Orientierung gewusst haben, die zwar von den in der Sowjetunion vorgefundenen Verhältnissen enttäuscht gewesen sein mochten, ohne deshalb aber dem Kommunismus den Rücken gekehrt zu haben. Er lieferte Beispiele emigrierter deutscher Kommunisten, die in deutsch besiedelten Dörfern für die Partei und für ihre Ziele aktiv gewesen seien und mitgewirkt hätten, meist unpolitische deutsche Familien zu drangsalieren und zu repressieren.20
Die Überwachung von »Russlandrückkehrern« durch das NS-Regime – die Vernehmungen der Gestapo
Die Überwachung der Rückkehrer übernahm seit 1935 die – damals noch Preußische – Geheime Staatspolizei.21 Sie gab dazu im Januar einen Erlass über »Maßnahmen gegen zurückkehrende Emigranten« heraus und ging zunächst davon aus, dass es sich bei diesen überwiegend um jüdische Rückwanderer handele. Ein ergänzender Erlass vom März 1935 zeigte, dass als Emigranten (nur) solche Personen angesehen wurden, »die das Reich nach der nationalsozialistischen Erhebung aus politischen Gründen verlassen haben«.22 Russland bzw. die Sowjetunion als Herkunftsland der Remigranten wurden noch nicht erwähnt.
Erst die Erfahrung, dass aus der Sowjetunion besonders viele Menschen ins Deutsche Reich kamen, von denen ursprünglich ein beträchtlicher Anteil aus »politischen oder wirtschaftlichen und beruflichen Gründen« dorthin ausgewandert war, veranlasste die Gestapo, im Juni 1937 einen eigenen Erlass über den Umgang mit Russlandrückkehrern herauszugeben. Der bezog zugleich auch die Zeit vor der »nationalsozialistischen Erhebung« ein. Jeden dieser Rückkehrer betrachtete die Gestapo zunächst als politisch verdächtig und hielt es deshalb für geboten, »ihm besonders sorgfältige Beachtung zu schenken«. Dazu entwarf sie ein spezielles Klassifizierungssystem. Zur Gruppe A rechnete sie diejenigen Rückwanderer, die der NSDAP im Ausland angehört hatten und für sie tätig gewesen waren oder als Nicht-Mitglieder nationalsozialistische, wertvolle Arbeit geleistet hatten. Die Gruppe B umfasste die in »politischer und sonstiger Hinsicht unbelastet« erscheinende große Mehrzahl der Rückkehrer. In die Gruppe C ordnete sie diejenigen ein, »die politisch belastet erscheinen«, weil sie Kommunisten waren oder wurden oder »erkennen ließen, daß sie Feinde der nationalsozialistischen Bewegung« waren.23
Der Erlass wurde später noch vielfach überarbeitet. In einer Neufassung vom
5. August 1939 wurden die »in der Zwischenzeit über Rußlandrückkehrer gesammelten Erfahrungen bezüglich der zu ergreifenden Maßnahmen bei ihrer Einreise ins Reichsgebiet, ihrer späteren Erfassung nebst Vernehmung durch die Staatspolizei(leit)stellen und insbesondere ihrer strafrechtlichen und politischen Überprüfung sowie sozialen Behandlung« berücksichtigt.24
Offenbar galt der Erlass der Gestapo – ohne zeitliche Begrenzung – für Maßnahmen gegen alle Rückwanderer, die nach dem Ersten Weltkrieg in die Sowjetunion gegangen waren. Wirtschaftsemigranten bis hin zu hochqualifizierten Spezialisten aus Industrie und Hochschulen gehörten dazu, darunter nicht wenige Architekten und Naturwissenschaftler; auch Unternehmensrepräsentanten, die nach einigen Jahren der Landeserfahrung von sowjetischen Volkskommissariaten angeworben worden waren. Nicht zuletzt zählten dazu Politemigranten, ganz überwiegend kommunistischer, gelegentlich auch sozialdemokratischer Herkunft, und – aus Österreich kommend – die Gruppe der Schutzbündler, die nach dem Aufstand im Februar 1934 meist über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion geflüchtet waren;25 sie waren durch den »Anschluss« im März 1938 ohne ihr Zutun deutsche Staatsbürger geworden.26
Zwar wurde bei der »strafrechtlichen Behandlung« der Rückkehrer nach Auswanderung vor oder nach der Machtübernahme unterschieden. Aber im Kontext wird deutlich: Stets waren nur das dritte und vierte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im Blick. So zu verfahren, lag nicht fern. Schließlich gab es gleitende Übergänge: Etwa solche Personen, die in Russland geboren waren, aber in Deutschland Wehrdienst geleistet oder auch studiert hatten und dann zur Berufsausübung, bisweilen im Dienst deutscher Unternehmen, wieder nach Russland oder in andere Republiken der Sowjetunion gegangen waren.
Die Vernehmungen der Russlandrückkehrer dienten nach den Vorgaben des Erlasses nicht nur dazu, einen Eindruck von der »nationalen Zuverlässigkeit« der Vernommenen im Sinne der Nationalsozialisten zu gewinnen. Vielmehr sollten auf diese Weise auch nachrichtendienstlich wichtige Erkenntnisse gesammelt werden: über die Rote Armee, die Zivilverteidigung, die sowjetische Rüstungsindustrie, die gesamte Infrastruktur, aber auch über gesellschaftliche Verhältnisse, von der Stellung der Frau bis zu den Preisen für Lebensmittel und Kleidung.27
Außerdem holte die Gestapo mit den Vernehmungen sowohl Informationen über Deutsche ein, die noch in der Sowjetunion lebten, als auch über Personen, die bereits früher ins Deutsche Reich zurückgekehrt waren. So gelang es, selbst schon vor fünf und mehr Jahren aus der Sowjetunion eingereiste Personen ausfindig zu machen und zu vernehmen.
Die Befragungen wurden auch genutzt, um die »Sonderfahndungsliste UdSSR«28 zu ergänzen, in der die Gestapo persönliche Daten in der Sowjetunion lebender Personen – nicht nur Deutscher, sondern auch sowjetischer Partei- und Staatsfunktionäre – zusammenstellte, derer sie zu gegebener Zeit habhaft werden wollte.29
Es versteht sich, dass Vernehmungsniederschriften der Gestapo aufgrund der Vernehmungsmethoden und des Rufes, den diese allmächtig erscheinende Geheimpolizei hatte, kritisch zu betrachten sind.30 Verfälschungen durch Vernehmer oder auch Vernommene sind dennoch bei den Vernehmungen der Russlanddeutschen eher unwahrscheinlich, einerseits, weil der Gestapo klar war, dass sie es bei ihnen eher mit Antikommunisten als mit Kommunisten zu tun hatte; andererseits waren viele der aus abgelegenen Dörfern gekommenen bäuerlichen Rückkehrer intellektuell gar nicht in der Lage, ihr Vorleben und ihre Erlebnisse im Sinne (vermeintlicher) Wünsche und Erwartungen der Gestapo gezielt zu verfälschen.
Nicht wenige Russlanddeutsche waren allerdings auch im öffentlichen Dienst tätig. Eine bemerkenswerte Laufbahn gelang der in Minsk aufgewachsenen Alice Dörwald, geborene Moldenhauer. Die Krankenschwester und alleinerziehende Mutter arbeitete während der Revolution abwechselnd für »Rote« und »Weiße«, je nachdem, in wessen Hände sie eben gefallen war. 1920 holte die Tscheka sie als Pflegerin für Häftlinge, um diese wieder vernehmungsfähig zu machen. Ein Jahr darauf wurde sie ins Vorzimmer von Kliment Efremovič Vorošilov geschickt, ab 1925 Volkskommissar für Armee und Marine. Dort blieb sie in der Umgebung hoher Chargen von Roter Armee und KPdSU bis 1934, obwohl sie den Beitritt zur Partei ablehnte.31 Gegen Ende 1933 begann sie offenbar mit den Planungen, die Sowjetunion zu verlassen. Sie besorgte sich einen Heimatschein und einen Pass. Womöglich erfuhr das NKWD durch die Überwachung der deutschen Botschaft von diesen Bemühungen, denn bevor Alice Dörwald ihre Reisepläne realisieren konnte, forderte Michail Ivanovič Kalinin, Chef des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR, sie Anfang Februar 1934 auf, Sowjetbürgerin zu werden. Sie weigerte sich. Bereits am folgenden Tag wurde sie festgenommen, durfte aber, mit Unterstützung ihrer Tochter, drei Wochen später ausreisen. Obwohl sie sich 1935 beim NSDAP-Ausländeramt meldete, bestellte die Gestapo sie erst 1938 zum Verhör.32
Josefine Burghardt aus Miropol, nicht weit von Charkov gelegen, war Dozentin an der Polytechnischen Hochschule in Kiew in der Sprachabteilung.33 Professorin konnte sie als Deutsche nicht werden. Sie war später der Meinung, dass ihr Plan, 1937 auszureisen, verraten worden sei. Im Sommer 1937 wurde sie verhaftet und ihr Vermögen beschlagnahmt. Im Gefängnis unterzog man sie zahllosen Vernehmungen, begleitet von wüsten Beschimpfungen. Gefoltert wurde sie nicht. Im November 1937 wurde ihr schließlich das Ausweisungsurteil verkündet und im Dezember vollzogen. Als Burghardt im März 1938 von der Staatspolizei in Berlin vernommen wurde, präsentierte sie dort ein Vortragsmanuskript über die »Wandlungen in den Hochschulen der Sowjet-Ukraine«. Darin beschrieb sie das Polytechnische Institut in Kiew als eine der besten technischen Schulen der Vorkriegszeit. Bis 1933 habe es sich auf insgesamt 15 Institute vergrößert; Schwerpunkte seien Maschinenbau, Chemie, Verkehr und Landwirtschaft gewesen. Bis 1937 erlebte Burghardt danach jedoch einen merklichen zahlenmäßigen Abbau und eine fatale Qualitätsminderung bei den Studenten, die nicht mehr aufgrund ihrer Leistungen, sondern nach den Kriterien der Partei an die Hochschule gekommen seien.
Ihr Vortrag bot umfangreiche Informationen, inklusive zahlreicher statistischer Angaben. Über eine Auswertung des Vortrags durch das NS-Regime ist der Vernehmung Josefine Burghardts nichts zu entnehmen. Erschreckend ist allerdings der ausgeprägte Antisemitismus, den sie mit ihrer Darstellung zum Ausdruck bringt. Er scheint gewachsen und nicht nur als vermeintlich gern gehört bei der Gestapo.
Die Schicksale deutscher Kolonisten
Unter den Vernehmungsprotokollen der Gestapo sind Zeugnisse der Repression von Landwirten, Handwerkern, Staatsangestellten, Intellektuellen; Zeugnisse der Verfolgung aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, Zeugnisse von Drangsalierten bis hin zu Gefolterten, Zeugnisse aus Leningrad und Moskau ebenso wie aus ländlichen Gegenden Georgiens und der Ukraine, Zeugnisse von der Vertreibung vielköpfiger Familien und hilfloser, alleinstehender alter Menschen.
Über einem Großteil von ihnen könnte stehen, was der im April 1933 nach Enteignung des Familiengutes in Klembusch in der Ukraine mit Frau und sechs Kindern ausgereiste Gustav Classen, Angehöriger einer in der vierten Generation dort lebenden deutschstämmigen Familie, den Gestapo-Vernehmer niederschreiben ließ: »Ich verließ Rußland, das mir Heimat war, weil ich mich nicht mit den Verhältnissen und Zuständen abfinden konnte und weil mir das Leben dort unerträglich gemacht wurde.«34
Peter Dieck gehörte zu den Vernommenen, die früh nach Deutschland gekommen waren. Als die Gestapo ihn 1938 in Münster/Westfalen ausfindig machte, gab er als Beruf Straßenhändler für Speiseeis an. 1932 war er aus Persien ins Land gekommen. Dorthin war er ein Jahr zuvor gemeinsam mit einem anderen Deutschen über die grüne Grenze gelangt und aufgegriffen worden. Er hatte Grenzpolizisten bestochen, damit sie ihn nicht zurück in die Sowjetunion schickten, und konnte schließlich Verbindung mit der deutschen Botschaft aufnehmen. Deren Mitarbeiter befreiten ihn aus der Abschiebehaft und halfen ihm, nach Deutschland zu gelangen. Vor der Flucht nach Persien hatte sich Dieck ein Jahr illegal in Bessabotowka im Verwaltungsbezirk Charkov aufgehalten. Als er im März 1931 der Gewerkschaft hätte beitreten sollen, drohte seine Illegalität aufzufliegen; ihm blieb nur die Flucht. Nach Bessabotowka war er aus seiner Heimatstadt Halbstadt in der sibirischen Region Altai gekommen, die er 1930 innerhalb von drei Tagen hatte verlassen müssen. Dort war er als Sohn einer im 18. Jahrhundert aus dem Danziger Raum eingewanderten mennonitischen Gutsbesitzerfamilie mit mehreren Brüdern aufgewachsen.35 Dem erst 19-Jährigen hatte der Vater 1913 das Gut übertragen; es blieben noch eine Zementfabrik und ein kleineres Gut für einen weiteren Sohn. Der Dritte arbeitete bei der deutschen Bank in Halbstadt.
Lenins Revolution veranlasste zwei der Brüder Dieck, mit den »Weißen« gegen die Rote Armee zu kämpfen. Der in Halbstadt verbliebene Bruder wurde nach Sibirien verbannt. Von den Kämpfern fiel der Jüngste. Der Gutserbe Peter Dieck kam nach der Niederlage der »Weißen« zurück nach Halbstadt; er war jedoch enteignet. Nach einiger Zeit erhielt er zur Bewährung einige Morgen Land aus seinem aufgeteilten Gut. Sogar in den Dorfrat wurde er wegen seiner Kenntnisse und Fähigkeiten zeitweise gewählt, was – bis zur endgültigen Vertreibung – das »Privileg« bedeutete, in Geiselhaft genommen zu werden, wenn die Abgaben des Dorfes nicht pünktlich oder nicht vollständig geleistet wurden.
Bekannt und beschrieben ist, dass die russische Regierung während des Ersten Weltkriegs deutsche Kolonisten enteignet hat und dass das erste Dekret der jungen Sowjetregierung der Enteignung und Umverteilung von Grund und Boden galt. Dieser Beschluss betraf auch deutsche Landwirte, die in Russland um die zwölf Millionen Hektar Land bewirtschafteten, eine Fläche weit größer als die heutigen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg zusammen.36 Deutsche Landwirte wurden nicht grundsätzlich in das Kollektiv genötigt, verfügten sie jedoch über größeren Besitz, wurden sie enteignet oder durch übermäßige Abgaben an Geld und Produkten in den wirtschaftlichen Ruin getrieben.37
Fast gleichzeitig mit dem erzwungenen Weggang Peter Diecks aus Halbstadt begann der Exodus von Teilen der Allmendinger-Sippe aus Katharinenfeld in Georgien. Der Ort war im frühen 19. Jahrhundert von württembergischen Kolonisten gegründet worden.38
Die Ersten, die dem Druck durch die in Katharinenfeld 1929 einsetzende Kollektivierung nachgaben, waren im April 1930 Eduard und Ella Allmendinger mit ihren drei Kindern. Im Sommer des gleichen Jahres folgte die Familie von Gottlob Allmendinger; zur gleichen Zeit endete auch die Führung der 1908 gegründeten Weinbrennerei der örtlichen Winzergenossenschaft durch Emmanuel und dann Ernst Allmendinger.39 Diejenigen aus der Familie Allmendinger, die trotz allem durchgehalten hatten, mussten schließlich 1937 während der »deutschen Operation« weichen.40 Der 1866 geborene Senior Gottlieb Allmendinger wurde im November mit seiner Ehefrau Anna ausgewiesen. Den Familien der Söhne Ernst, Franz und Imanuel war schon im Oktober 1937 die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung41 verweigert und damit ihre Ausreise erzwungen worden.42
Unter den insgesamt um die 5000 Katharinenfeldern befanden sich 347 deutschstämmige Bewohner, darunter 16 Mitglieder der Allmendinger-Sippe, die bis 1940 »verhaftet und verschickt« wurden, wie der Orts-Chronist Ernst Allmendinger berichtet.43
Bisweilen erscheint die Vertreibung deutscher Landwirte jedoch erstaunlichlicherweise wenig konsequent. So konnte der in Klinkenthal, im Verwaltungsbezirk Donezk in der Ukraine aufgewachsene Eduard Classen dort noch im Jahre 1930 einen eigenen kleinen Landwirtschaftsbetrieb erwerben. Er klagte zwar in seiner Vernehmung über die schlechten Preise, für die er sein Jungvieh abgeben musste, bezeichnete aber insgesamt die Belastung durch Abgaben und Steuern bis 1934 noch als erträglich. Im folgenden Jahr musste er den Betrieb allerdings verkaufen, um seine Steuern bezahlen zu können. Kaum hatte er den Verkauf abgewickelt, erhielt er die Ausweisungsverfügung.
Ein solcher Fall wie der von Eduard Classen ist umso bemerkenswerter, als er exakt die Jahre der großen ukrainischen Hungersnot, des Holodomor, umfasst, die Kurt Krupinski 1942 propagandistisch ausgeschlachtet und Otto Wenzel vor einigen Jahren unter Auswertung zahlreicher Akten des Auswärtigen Amts dargestellt hat. Zwar ist von Hungersnot mit grausamsten Folgen bis hin zum Kannibalismus und zum Verzehr von Leichenfleisch in den Jahren 1932/33 bei einigen Rückkehrern aus der Ukraine die Rede,44 aber nur bei wenigen in der Dramatik, die die tatsächliche Not nahegelegt hätte, und anscheinend ganz überwiegend in Berichten aus zweiter Hand; und fast gar nicht bei Rückkehrern aus anderen Republiken der Sowjetunion.
In keiner Vernehmung findet sich bisher ein Hinweis auf den Reichsausschuss »Brüder in Not«, den Zusammenschluss der großen volksdeutschen und kirchlichen Hilfsorganisationen, und dessen Aktionen zur Unterstützung notleidender Deutscher im Ausland oder auf den Erhalt von im Rahmen dieser Aktion verschickter »Torgsin«-Pakete.45
Zahlreiche Rückkehrer berichten von der Inanspruchnahme des deutschen Generalkonsulats in Charkov für die Beschaffung von Dokumenten und den Transfer von Verkaufserlösen für ihren – legal oder illegal – verkauften Besitz. Aber die vom deutschen Botschafter in Moskau Herbert von Dirksen erwähnten Tausende von Hilferufen hungernder Russlanddeutscher finden im Gegensatz zu den sowjetischen Klagen über antisowjetische Propaganda in den Vernehmungsprotokollen kein Spiegelbild. Zwar beschreibt Wenzel eingehend das Hungerszenario, erwähnt aber nicht die vielen aufgenötigten oder erzwungenen Ausreisen deutscher Kolonisten, die sich allerdings nicht auf die Hungerregionen der Ukraine beschränkten.
So bitter die Schicksale der Familien aus dem Land gedrängter deutscher Landwirte waren, es fällt dennoch auf, dass nicht wenige von ihnen Verhaftung und Freiheitsstrafen entgehen konnten. Einzelne traf es allerdings ähnlich hart wie die Verbannten: Der Vater der Winzerfamilie Bech aus Berdjansk in der Ukraine durfte zwar nach seiner Enteignung noch eine Weile als Weinbergsarbeiter in der Kollektivwirtschaft tätig sein. Doch schließlich wurden er und sein Sohn, der als gelernter Schlosser wegen seiner deutschen Herkunft schon zwei Mal entlassen worden war, im August 1937 im Zuge der »Deutschen Operation« verhaftet. Unter Folter wurden sie zu Geständnissen gezwungen und genötigt, für den NKWD Spionage zu betreiben. Im November erhielten sie und mit ihnen die Ehefrau bzw. Mutter Bech die Ausweisungsverfügung.46
Den deutschstämmigen Arbeitern, Gewerbetreibenden und Kleinunternehmern sowie den Angestellten oder Selbstständigen mit höherer Bildung erging es häufig noch schlechter. Allerdings ist kein Muster zu erkennen. Franz Appenrodt, 1906 in Chortitza in der Ukraine geboren, war Kaufmann und Immobilienbesitzer in der dortigen mennonitischen Kolonie.47 Im Juli 1936, vor dem Großen Terror, wurde er verhaftet, am 24. September 1937 zum Tode verurteilt. Während deutsche Politemigranten nach einem solchen Urteil in der Regel sogleich erschossen wurden,48 gab es für Appenrodt eine Strafumwandlung in zehn Jahre Lager.49 Zwei davon musste er ableisten. Dann wurde er – nach Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts – nach Moskau transportiert, um dort im Dezember 1939 von einer weiteren Umwandlung seiner Strafe zu erfahren: dem Ausweisungsurteil.50
Wie viele Russlanddeutsche kamen ins Reich?
Es ist nicht leicht, die Zahl der Russlanddeutschen zu schätzen, die zwischen 1930 und 1940 in das Deutsche Reich gekommen sind. Von denen, die vor 1935 eintrafen, wurden viele, wie bereits dargestellt, nicht zentral erfasst. Viele dürften von Verwandten oder Freunden in Deutschland aufgenommen worden sein. Sie kamen als Familien, nicht in größeren Gruppen, die nach Auffanglagern oder ähnlichen Einrichtungen verlangt hätten. Zwar sind etliche Rückkehrer noch Jahre nach ihrer Ankunft vernommen worden, aber es findet sich kein Ansatz, den Anteil derer, die vor 1935 kamen, an den insgesamt Eingereisten zuverlässig zu ermitteln.
Auch der Anteil der Russlanddeutschen an den von der Gestapo nach den Vorgaben des RSHA-Erlasses Vernommenen lässt sich derzeit nicht sicher bestimmen.51 Eine Hochrechnung auf der Grundlage der bisher durchgesehenen Vernehmungsprotokolle lässt eine Größenordnung von annähernd 1000 Protokollen annehmen; bisweilen entfallen auf eine Familie drei oder gar vier Vernehmungsprotokolle, manchmal wurde nur der Familienvater vernommen. So kann auch die Zahl der hinter den Vernehmungsprotokollen stehenden Familienangehörigen wiederum nur geschätzt werden. Die Kolonisten kamen oft mit fünf und mehr Kindern; unter den übrigen waren häufig Ehepaare ohne Kinder, auch Alleinstehende.52
Die Mehrheit der zurückgekehrten Russlanddeutschen waren wohl bäuerliche Kolonisten, zahlenmäßig gefolgt von kleinen Gewerbetreibenden und Immobilienbesitzern sowie den in den unterschiedlichsten Bereichen des öffentlichen Dienstes Beschäftigten. Selten findet man angestellte Arbeitnehmer; es sei denn, diese waren nach Enteignung ihrer Betriebe dazu geworden.
Da all diese Rückkehrer wohl ausnahmslos Reichsangehörige waren, lässt sich ihre Zahl zu der Gesamtzahl von Angehörigen des Deutschen Reiches in der Sowjetunion in Relation setzen, die der Botschafter Dirksen 1930 hatte ermitteln lassen: 11 327 Personen, unter ihnen etwa 9500 Altsiedler, also Russlanddeutsche in der hier im Text verwendeten Terminologie.53 Wenn die Schätzung einigermaßen zutreffend ist, würde das bedeuten, dass über 40 Prozent der Russlanddeutschen bis 1940 die Sowjetunion verlassen hatten.54
Der zur Prüfung der Niederlassungssituation der Reichsdeutschen nach Moskau abgeordnete Gesandte Otto Göppert resümierte im April 1934: »Die Tendenz der Sowjetbehörden geht offenbar dahin, die [deutschen] Bauern zu nötigen, entweder das Land zu verlassen oder die Sowjetstaatsangehörigkeit anzunehmen. Ein großer Teil ist schon abgewandert. Es ist zweifelhaft, ob sich die übrigen noch lange werden halten können.«55
Unübersehbar ist, dass der erzwungene Weggang von Russlanddeutschen zwischen 1930 und 1940 für die Sowjetunion einen beträchtlichen Verlust von Intelligenz und Erfahrung bedeutet hat, der schleichend vonstatten gegangen ist, da viele der Ausgewiesenen längst zuvor enteignet oder aus ihren Beschäftigungen entlassen worden waren. Auch mag er in einem Land mit derart großer Bevölkerungszahl, Fläche und vielfältigem Reichtum außerhalb der Landwirtschaft kaum spürbare Auswirkungen gehabt haben. Gewiss aber treten diese hinter dem zurück, was die Massendeportationen seit 1941 an menschlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Werten zerstört haben.
Zur Auswertung der Vernehmungsniederschriften
Von wissenschaftlichen Auswertungen der Vernehmungen unter sozialen, soziografischen oder demografischen Aspekten während der NS-Zeit ist nichts bekannt. Eine quantitative Auswertung der Protokolle, etwa nach sozialen oder politischen Kriterien, hat es offenbar auch nicht gegeben. Bei der Botschaft Moskau und in der Zentrale des Auswärtigen Amts scheinen die Niederschriften überhaupt nur in Ausnahmefällen, wenn etwa die Botschaft oder das Amt mit den betroffenen Personen früher Kontakt gehabt hatte, gelesen worden zu sein. Im Übrigen wurden sie, mit einer Journal-Nummer versehen, archiviert.
Beim Reichspropagandaministerium gab es, wie aus veröffentlichten Schriften bekannt, eine Auswertung unter dem Gesichtspunkt antisowjetischer Propaganda. Die (militärische) Abwehr scheint weniger die Protokolle ausgewertet, als vielmehr die ihr interessant erscheinenden Rückkehrer selbst befragt zu haben. Das geht aus eher beiläufig gemachten Bemerkungen einzelner Rückkehrer hervor. So zu verfahren lag nahe, weil die Angaben im Zweifel bei der Gestapo aus Sicht der Abwehr nicht hinreichend konkret oder spezifisch gewesen sein dürften.
Die intensivste Auswertung betrieb demnach anscheinend die Gestapo selbst, die bei den Befragungen der Rückkehrer auf Auskünfte über emigrierte oder unbemerkt heimgekehrte deutsche Kommunisten hoffte oder auch auf solche über die sowjetischen Untersuchungsorgane und Nachrichtendienste. Ganz offensichtlich waren besonders diejenigen kommunistischen Rückkehrer von Interesse, die vor ihrer Emigration in Deutschland (zum Beispiel der hochrangige AM-Funktionär von der Ruhr Arnold Klein, alias Hans Bloch)56 oder danach in der Sowjetunion (wie die langjährige Komintern-Mitarbeiterin Edith Just aus Berlin)57 wichtige Aufgaben wahrgenommen hatten. Bis heute ist schwer nachvollziehbar, warum die Sowjets Träger solch wichtiger Informationen aus dem Land gelassen oder sogar ausgewiesen haben.
Doch die meisten Vernehmungen der russlanddeutschen Rückkehrer lieferten für die Gestapo keine nennenswerten Ergebnisse. Meist kannten die Rückkehrer überhaupt keine Politemigranten; häufig hatten sie nur zu den örtlichen und untergeordneten Sowjetorganen Kontakt gehabt und waren nicht im Lande herumgekommen; sie waren konservativ, oft national gesinnt.
Somit scheint der hohe Verwaltungsaufwand, der hinter den Vernehmungen steckt, in keinem Verhältnis zum offensichtlich geringen Nutzen zu stehen. Allerdings ging es den Nationalsozialisten wohl auch eher darum, einerseits Systemfeinde ausfindig zu machen und sich ihrer zu bemächtigen und andererseits den Bolschewismus propagandistisch anzugreifen. Der dafür zu treibende Aufwand ließ sich nicht im Sinne von Verwaltungsrationalität messen.
Der historische Wert dieser Vernehmungsprotokolle ist dank ihres Erhalts im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts58 aus heutiger Sicht jedoch nicht zu unterschätzen. Sie können – bei gehöriger Quellenkritik – zahlreiche, sicher sehr kleinteilige, aber in ihrer Vielzahl insgesamt wertvolle Auskünfte über die beiden benachbarten und – bis auf eine kurze Zeit der »Freundschaft« – einander bekämpfenden totalitären Systeme im Europa des 20. Jahrhunderts geben.
Es ist davon auszugehen, dass die weitere systematische Erschließung der Vernehmungsprotokolle eher kleinere als größere Überraschungen birgt.59 Diese Erschließung ist aber als Voraussetzung für systematische Forschungsarbeiten unbedingt erforderlich, da das bisher existierende alphabetische Namensverzeichnis nur rudimentäre Auskünfte (Namen, Vornamen, Geburtsdatum) gibt und obendrein unvollständig und gelegentlich ungenau ist.
1 www.bayern.de/Pressemitteilungen-.1255.10352516/index.htm, ges. am 19. Mai 2014. Russlanddeutsche: Der Begriff wurde nie gesetzlich definiert. In diesem Beitrag wird er durchgehend für Personen, die heute der Art. 116 GG als Deutsche ansieht, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Wohnsitz der Betroffenen in einer der Republiken oder autonomen Gebiete der Sowjetunion, verwendet. Dabei wird nicht versucht zu ermitteln, ob die Voraussetzungen des Art. 116 GG in den angeführten Einzelfällen tatsächlich gegeben wären. Die Satzung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. vom 1./2. April 1989, § 4 Abs. 1 definiert: Russland-Deutscher ist ein Deutscher, der in Russland in den Grenzen der UdSSR von 1937 geboren ist (http://lmdr.de/bundesverband/satzung, ges. am 19. Mai 2014).
2 Fast alle Facetten des Schicksals der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert hat Viktor Krieger in seiner Aufsatzsammlung beschrieben. Siehe Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis, Münster u. a. 2013.
3 Siehe Bernd Bonwetsch (Hg.)/Larissa Belkowez/Sergej Belkowez: Gescheiterte Hoffnungen. Das deutsche Konsulat in Sibirien 1923–1938, Essen 2004, v. a. S. 51–55. Zum Einbürgerungsdruck siehe ebd., Anm. 62. Dazu gehörte auch die Anordnung der Registrierung aller in der Sowjetunion lebenden Deutschen im Jahre 1934; ihr folgte im November desselben Jahres der Beschluss des ZK der KPdSU über den »Kampf gegen das konterrevolutionäre, faschistische Element in den deutschen Kolonien«. Die Abläufe finden sich dargestellt bei Lydia Klötzel: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. Die Geschicke einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses (= Osteuropa Studien, Bd. 3), Diss. München 1997, insbes. S. 107–109.
4 Siehe Ingeborg Fleischhauer: Das Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 46), Stuttgart 1983.
5 Siehe Ernst Allmendinger: Katharinenfeld – ein deutsches Dorf im Kaukasus, Neustadt a.d.W. 1989, Selbstverlag. Aus jüngerer Zeit gibt es eine vergleichbare Darstellung zum Dorf Helenendorf/Kaukasus (heute Göygöl). Diese bezieht sich zwar explizit auf die dort über fünf Generationen ansässige Familie Vohrer, geht aber weit über eine nur familiengeschichtliche Darstellung hinaus. Die Hauptperson dieser Darstellung, Julius Vohrer, wurde im Herbst 1935 nach etwa halbjähriger Haft nach Deutschland ausgewiesen; ein Vernehmungsprotokoll von Vohrer oder einem Mitglied seiner Familie gibt es nicht. Siehe Gebrüder Vohrer. Deutsche Winzer im multikulturellen Umfeld Aserbaidschans. Erinnerungsbericht des Julius Vohrer (1887–1979), herausgegeben und kommentiert von Eva-Maria Auch (= Schriftenreihe des Kultur- und Wissenschaftsvereins EuroKaukAsia e. V., Bd. 1), Berlin [2011]. Seit einigen Jahren gibt es offenbar Bemühungen, die deutsche Vergangenheit von Helenendorf wieder in Erinnerung zu bringen. Siehe dazu Jacqueline Grewlich-Suchet: Wine and Wagons – Helenendorf: Azerbaijan’s First German Settlement, in: Azerbaijan International (2004), S. 70–75, online unter: www.azer.com/aiweb/categories/magazine/ai122_folder/122_articles/122_helenendorf_khanlar.html, ges. am 19. Mai 2014.
6 Der Verfasser plant die vollständige Durchsicht; bisher ist er bis zum Buchstaben »H« gelangt.
7 Die Ansiedlung und Eingewöhnung der Russlanddeutschen in Deutschland zu erkunden, haben sich schon lange andere zur Aufgabe gemacht. Siehe etwa Krieger: Bundesbürger (Anm. 2). Zur Ansiedlungsgeschichte von »Heimkehrern ins Reich« siehe auch Gerhard Wolf: Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012. Zur Auswertung der Rückkehreraussagen siehe Anm. 23.
8 Früh wurde die Bedeutung, die das Jahr 1927 für die Deutschen in der Sowjetunion hatte, auch in Deutschland erkannt. Siehe dazu die Schrift von Otto Auhagen: Die Schicksalswende des russlanddeutschen Bauerntums in den Jahren 1927–1930, Leipzig 1942.
9 Ebd., S. 76, zit. nach Krieger: Bundesbürger (Anm. 2), S. 106.
10 Mit seiner Untersuchung zur Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion machte Hans Schafranek wohl erstmals darauf aufmerksam, dass die Gestapo spätestens seit 1937 dafür gesorgt hatte, alle Remigranten aus der Sowjetunion als »Russlandrückkehrer« schon bald nach ihrer Einreise ins Deutsche Reich nach einem vorgegebenen Schema umfassend zu ihrem bisherigen Leben zu vernehmen. Siehe Hans Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937–1941, Frankfurt/M. 1990.
11 Siehe Sammlung der Gesetze der Sowjetunion, 1920, Nr. 91, Kap. 481. Eine ausführliche Erklärung und Rechtfertigung dieser Konzessionen als Instrument des Klassenkampfes lieferte Lenin in seinem Referat über die Konzessionen, gehalten in der Sitzung der KPR(B)-Fraktion des VIII. Sowjetkongresses am 21. Dezember 1920, siehe Lenin: Werke, Bd. 31, 8. Aufl. Berlin 1983, S. 459–482.
12 Dazu und zur Geschichte der DRUSAG siehe sozialdemokratischer Pressedienst vom 27. Februar 1930, S. 1 f. Mitarbeiter der DRUSAG schilderten als Rückkehrer einerseits die Grausamkeiten der Hungersnot im Umfeld des Betriebes, andererseits den Ärger der Sowjets darüber, dass eine erhebliche Zahl deutschstämmiger Kolonisten, die ihre eigenen Betriebe hatten aufgeben müssen, durch ihre Beschäftigung bei der DRUSAG dem Einfluss der Sowjetorgane entzogen wurden. Siehe dazu Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (im Folgenden: PA AA), Otto Schmitz R 104.562 B, Richard Weimert R 104.564 B, Waldemar Such R 104.562 A.
13 Zur Geschichte der »Deutsche[n] Agrarkonzessionen in der Sowjetunion 1922–1934« hat Marina Schmieder, Universität Vechta, eine vor der Veröffentlichung stehende Dissertation verfasst. Zusammenhänge zwischen der Deutschland eher abgenötigten Rückgabe dieser Konzession und massivem deutschen Druck auf die Deutsche Vertriebsgesellschaft für russische Ölprodukte AG, Berlin (Derop) sind deutlich. Siehe dazu die zahlreichen Dokumente zur Derop, abgedruckt in: Sergej Slutsch/Carola Tischler (Hg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941 – Dokumente aus russischen und deutschen Archiven, Bd. 1: 1933–1934, Teilbände 1 und 2, München 2014.
14 Fritz Dittloff hinterließ keine Beschreibung dieser Arbeit. Dass sie (auch) eine Tätigkeit nachrichtendienstlicher Art einschloss, kann nur vermutet werden. Mindestens aus den USA ist belegt, dass die Nationalsozialisten solche Auslandstätigkeit betrieben. Siehe Cornelia Wilhelm: Bewegung oder Verein? Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den USA, Stuttgart 1998, S. 69. Auch bei den Russlanddeutschen hatten die Nationalsozialisten offenbar frühe Freunde: Der Buchhalter J. B. aus Alexanderfeld/Nikolajew war im Zusammenhang mit den Kollektivierungen wiederholt in Konflikte mit den Organen geraten und in Haft genommen worden. Im Januar 1931 verließ er mit seiner Familie illegal das Land Richtung Rumänien. Dort trat er der eben gegründeten NSDAP-Auslandsorganisation (AO) bei; Anfang 1935 gelangte er nach Deutschland, PA AA, R 104.551 B.
15 PA AA, R 104.552 B, S. 3.
16 Rosenberg, der selbst im zaristischen Russland aufgewachsen war, wurde von Hitler im Juni 1933 zum Reichsleiter ernannt. Seit Anfang 1934 war er »Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP«.
17 PA AA, R 104.552 B, S. 3 f. Dittloff rühmte sich auch seiner Beiträge zur Antikomintern-Propaganda-Publikation von A[lfred] Laubenheimer: Und du siehst die Sowjets richtig, Berichte von deutschen und ausländischen »Spezialisten« aus der Sowjetunion, Berlin/Leipzig 1935. Nach Kriegsende war Dittloff zeitweise Mitglied des Niedersächsischen Landtags für den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Zu seiner Mandatsniederlegung schon 1952 dürfte seine verschwiegene SS-Mitgliedschaft beigetragen haben; siehe Stephan A. Glienke: Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter – Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, durchgesehener Nachdruck der ersten Auflage, Hannover 2012, S. 100 u. 102.
18 Die Nachfolgeeinrichtung dieser Auffangstelle, das Rückwandereramt der NSDAP-AO, wird später im Erlass des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) tatsächlich als Einrichtung zur »fürsorgliche[n] Betreuung der Rückwanderer« bezeichnet.
19 Bei der Botschaft Moskau beklagte er sich 1930 über den DRUSAG-Angestellten Gustav Druff, Reichsdeutscher und WKP-Mitglied, der Unruhe in den Betrieb bringe. Siehe PA AA, R 9215.324, Bl. 105/105 R.
20 So nennt Dittloff einen aus Essen/Ruhr stammenden gelernten Dreher namens Baumgarten, der als Richter in Nowo Iwanowka viele deutsche Kolonisten im Nordkaukasus durch Willkürurteile ins Gefängnis oder vor Erschießungskommandos gebracht habe. Der russlanddeutsche Rückkehrer Peter Dieck, PA AA, R 104.552 B, berichtet von einem 1923 aus Hannover gekommenen Vorsitzenden des kommunistischen Jugendverbands in Halbstadt/Ukraine, der sich aktiv bei Zwangsaussiedlungen und Verbannungen Deutschstämmiger beteiligt habe.
21 Die früheste bisher gefundene Vernehmung im PA AA trägt das Datum vom 14. Januar 1936 (H. Fleischer, R 104.553 B); das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) nahm spätestens im April 1935 Berichte auf, siehe die Vernehmung von Paul Fromholz, PA AA, R 104.554 A. 1935 wurde auch in Österreich eine Meldepflicht für Russlandrückkehrer eingeführt. Die Bundespolizei vernahm die Rückkehrer. Siehe Barry McLoughlin/Josef Vogl: … Ein Paragraf wird sich finden. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945), Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2013, S. 24, mit weiteren Nachweisen.
22 Erlasse vom 28. Januar 1935, II 1 B 2 – 60159/59/35 – Geheim und vom 9. März 1935, II 1 B 2 – 60159/462/35, Bundesarchiv (im Folgenden: BArch) R 58 269, Bl. 167-170 u. 171 f.
23 Siehe Gestapa vom 22. Juni 1937, Nr. 7358/37g – II A 3, BArch R 58 269, Bl. 58. Der Erlass ist abgedruckt in JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (2003), H. III, S. 165–170, als Anhang zu: Wilhelm Mensing: Die Vernehmungsprotokolle der Rußlandrückkehrer – eine unausgeschöpfte Fundgrube im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, S. 154–164.
24 BArch R 58 269, Bl. 119-132.
25 Siehe dazu Otto Naderer: Der bewaffnete Aufstand. Der Republikanische Schutzbund der österreichischen Sozialdemokratie und die militärische Vorbereitung auf den Bürgerkrieg 1923–1934, Graz 2004.
26 Zu diesen Schutzbündlern siehe McLoughlin/Vogl: ... Ein Paragraf wird sich finden (Anm. 21).
27 Dabei herrschte zwischen dem Auswärtigen Amt und der Gestapo Einigkeit darüber, Informationen keinesfalls von noch in der Sowjetunion lebenden Deutschen einzuholen, um diese nicht zu gefährden. So hielt das Generalkonsulat Kiew einen Brief des Rückkehrers Georg Arnhold an seinen noch in der Sowjetunion lebenden Bruder Alexander zurück, mit dem Georg ihn bat, bei seiner Ausreise Stadt- und Fahrpläne mitzubringen, BArch R 58 269 Bl. 54 f.
28 Siehe Werner Röder: Sonderfahndungsliste UdSSR – Dokumente der Zeitgeschichte, Bd. 1, Erlangen 1977, sowie seinen Beitrag »Sonderfahndungsliste UdSSR«, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 8, 1990, S. 92–105. Röder verweist als Entstehungszeit für die Liste auf das Frühjahr 1941, also unmittelbar vor dem Überfall auf die Sowjetunion. Der Vergleich zwischen Nennungen in den Vernehmungsprotokollen und der Liste zeigt aber deutlich, dass (auch) wesentlich früher gewonnene Personeninformationen darin eingingen. Im Übrigen ist belegt, dass die Gestapo schon im Sommer 1937 über eine Zusammenstellung von über 3500 in die Sowjetunion ausgereister Personen verfügte, deren Überprüfung und Ergänzung, auch um Namen sowjetischer Funktionäre, sie von der Botschaft Moskau forderte, siehe dazu Bonwetsch (Hg.)/Belkowez: Gescheiterte Hoffnungen (Anm. 3), S. 102.
29 Eine propagandistische Auswertung von Teilen der Rückkehrervernehmungen präsentierte in seiner »Bücherei des Ostraumes« der aus einer deutschen Kolonie im Raum Odessa stammende Rosenberg-Mitarbeiter und Ostexperte der NSDAP Georg Leibbrandt in dem von Kurt Krupinski zusammengestellten Band »Rückkehrer berichten über die Sowjetunion«, Berlin 1942. Hier wurde allerdings der gesamte im engeren Sinne nachrichtendienstlich verwertbare Stoff (wie Informationen über Rüstungsindustrie, über Militär und Zivilverteidigung, über sowjetische Behörden und deren Mitarbeiter) ausgespart. Krupinski erwähnt ausdrücklich die Ausweisungen »reichsdeutscher Kolonisten« und verwendet deren Aussagen. Leibbrandt war selbst als Besucher bei deutschen Kolonisten in Helenendorf; er galt den Sowjets (später) als Spion, Kontakt mit ihm als Beleg für Spionage; siehe Auch (Hg.): Gebrüder Vohrer. Deutsche Winzer (Anm. 5), S. 175.
30 Darauf hat der Verfasser schon früher in seinem Beitrag »Die Vernehmungsprotokolle der Rußlandrückkehrer im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts« (Anm. 23), S. 164, aufmerksam gemacht.
31 Es gibt nur wenige vergleichbare Fälle solch einer langen Tätigkeit im Staatsdienst ohne Annahme der Sowjetbürgerschaft. Wilhelm Lobkowitz (hochadlige böhmische Familie) machte nach dem Ersten Weltkrieg sogar Karriere bei Militär und Geheimdienst, ehe er endlich im August 1937 Sowjetbürger wurde, um dann alsbald verhaftet und im Februar 1938 erschossen zu werden; siehe McLoughlin/Vogl: … Ein Paragraf wird sich finden (Anm. 21), S. 120 f. u. 353 f.
32 Vernehmungsprotokoll vom 7. Juli 1938, PA AA, R 104.552 B. Passregister der Botschaft Moskau im PA AA. Im Verhör wurden ihr dann kritische Fragen zu ihrer Tätigkeit gestellt, die der Gestapo anscheinend suspekt erschien; sie sagte zu, bei der Abwehrstelle III (ab März 1939 »Fremde Heere Ost«) Auskünfte über ihre militärischen Kenntnisse zu geben.
33 Siehe PA AA, R 104.552 A.
34 PA AA, R 104.552 B. Gustav Classen hatte sich nach der Enteignung noch einige Jahre als Landarbeiter durchgeschlagen. Im Frühjahr 1933 gab er auf und reiste mit Unterstützung des Generalkonsulats Charkov aus. Dort formulierte man schon in einem Bericht an die Botschaft Moskau vom 25. September 1930 in diplomatischer Tonlage so: »Die Abwanderung der seit langem hier ansässigen Reichsdeutschen ist somit […] lediglich auf die wenig entgegenkommende, oft auch unnötig rigorose und unkluge Art und Weise, in der die Sowjetbehörden die kommunistischen Grundsätze praktisch handhaben, zurückzuführen.« PA AA, Botschaft Moskau Bd. 387 (nicht pag.). Ein Rechenschaftsbericht des Auswärtigen Amts für das Jahr 1933 vom 20. Februar 1934 beschrieb »Die Lage der Reichsangehörigen in der Sowjetunion« eingehend mit zahlreichen Belegen ungerechtfertigter Repressionen, z. T. anhand von Fällen, die auch aus Rückkehrerprotokollen bekannt sind; PA AA, R 83.397, Bl. H 046861-046880. Zum Ort Klembusch: Leider finden sich keine Belege für einen Ort mit diesem Namen, auch nicht in der Liste deutscher Bezeichnungen ukrainischer Orte bei Wikipedia. C. liefert in seiner Vernehmung keinen Anhaltspunkt für die Lokalisierung.
35 Das Schicksal der Mennoniten in der Sowjetunion, insbesondere die nach demonstrativen Protesten in Moskau genehmigte Ausreise etlicher Tausend von ihnen 1929 nach Nord- und Südamerika, wird, mit zahlreichen Belegen, im Lexikon der Mennoniten in Paraguay dargestellt: www.menonitica.org/lexikon unter den Stichworten »Brüder in Not« und »Flucht über Moskau«, ges. am 19. Mai 2014.
36 Dekret des II. Allrussländischen Sowjetkongresses über den Grund und Boden vom 26. Oktober/8. November 1917. Siehe dazu etwa Ingeborg Fleischhauer: »Unternehmen Barbarossa« und die Zwangsumsiedlung der Deutschen in der UdSSR, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
30 (1982), S. 299–321, dort insbes. Anm. 5. Fleischhauer konzentriert sich auch in ihrer Arbeit »Das Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion« (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 46), Stuttgart 1983, ganz auf die »Russlanddeutschen«. Auf die Erlasse des RSHA zur Vernehmung der Russlandrückkehrer und deren antikommunistischen Ansatz geht sie nicht ein.
37 Siehe Allmendinger: Katharinenfeld (Anm. 5), S. 110 f.
38 Zur Geschichte der Kolonie siehe den Wikipedia-Artikel »Bolnissi« unter: de.wikipedia.org/wiki/Bolnissi, ges. am 19. Mai 2014. Auch hier wird nichts zur Vertreibung deutscher Familien in den Dreißigerjahren angemerkt.
39 Siehe www.uniondistillery.com/general.php?page=contacts, ges. am 19. Mai 2014. Allerdings gab es mit Rudolf Huttenlocher bis 1941 noch einen offenbar deutschstämmigen Nachfolger.
40 Siehe dazu zuletzt Alexander Vatlin: »Was für ein Teufelspack«. Die Deutsche Operation des NKWD in Moskau und im Moskauer Gebiet 1936 bis 1941, Berlin 2013.
41 Solch eine förmliche Aufenthaltsgenehmigung war erst zusammen mit der Passportisierung durchgehend eingeführt und allmählich auf immer kürzere Zeiträume beschränkt worden.
42 Alle Allmendinger-Vernehmungsprotokolle siehe PA AA, R 104.551 A.
43 Ebd. S. 201. Leider sind Allmendingers Angaben wenig detailliert. In den Opferlisten von Memorial finden sich keine Allmendingers, aber etliche andere Personen aus Katharinenfeld. Einige von den Verhafteten müssen Kinder Ausgereister gewesen sein, wie z. B. Sohn und Tochter von Johannes Allmendinger.
44 So in den Vernehmungen von Ottilie Fischer (hier die eingeschlossene Vernehmung des Neffen Wilhelm Fischer, der ausdrücklich aus zweiter und dritter Hand berichtet), PA AA, R 104.553 B; Maria Lautenbacher (Bericht vom Hörensagen), PA AA, R 104.558 A; Konstantin Roll (Bericht der Ehefrau Marianne R. vom Hörensagen), PA AA, R 104.561 B; Ernst Schandert (anscheinend miterlebter Fall von Nekrophagie), PA AA, R 104.562 B. Siehe außerdem Otto Wenzel: Holodomor. Stalins Genozid in der Ukraine 1932–1933 in Berichten der Deutschen Botschaft Moskau und des Generalkonsulats Charkov, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2010), H. 28, S. 5–24.
45 Siehe die 1933 in Berlin erschienene Broschüre des Ausschusses »Brüder in Not«, zusammengestellt von Adolf Ehrt; dieser war damals Leiter der Informationsabteilung des Evangelischen Presseverbandes für Deutschland, Berlin-Steglitz, und später im Nibelungen Verlag, Berlin, verantwortlich für dessen Anti-Komintern-Schriften. Bei Ehrt wird auch von grausamer Hungersnot unter den Deutschen an der Wolga und im Nordkaukasus berichtet; unerwähnt bleibt die Hungersnot im damals wenig von Deutschen besiedelten Kasachstan und Westsibirien. Außerdem Julia Landau: Wir bauen den großen Kuzbass, Stuttgart 2012, S. 264, Anm. 153. Sie stellt dort fest, dass die Hungersnot in diesen Gebieten bisher unzulänglich erforscht sei. Zum Begriff Torgsin: Torgsin war eine russische Außenhandelskette, bei der »Westwaren« erworben werden konnten, vergleichbar mit den späteren Exquisit- und Delikat-Läden der DDR.
46 Siehe Vernehmungsprotokolle Hermann sen. und jun. und Christine Bech, PA AA, R 104.551 B.
47 Zur Geschichte dieser Kolonie siehe de.wikipedia.org/wiki/Kolonie_Chortitza, ges. am
19. Mai 2014.
48 Siehe im einzelnen Wilhelm Mensing: Von der Ruhr in den GULag. Opfer des Stalinschen Massenterrors aus dem Ruhrgebiet, Essen 2001, und zu den Quellen des Buches ebenso: www.nkwd-und-gestapo.de/quellen-gulag-buch.html, ges. am 19. Mai 2014.
49 Solche Umwandlungen waren nicht ungewöhnlich; sie finden sich mehrfach bei verurteilten »Spezialisten«, siehe z. B. die Fälle Friedrich Bösherz (PA AA, R 104.552 A), Wilhelm Gesthuysen (PA AA, R 104.554 A) und Emil Stickling (PA AA, R 104.563 A).
50 Siehe PA AA, R 104.551 A. Ein ähnliches Schicksal erlitt Gustav Buchholz aus Dunajewoj (wohl identisch mit Dunajiwzi im Verwaltungsbezirk Chmelnyzkyj: de.wikipedia.org/wiki/Dunajiwzi, ges. am 19. Mai 2014), PA AA, R 104.552 A. Nur mit längerer Haft, ohne Verurteilung, kamen die Mitglieder der ukrainisch-deutschen, 1924 nach Solikamsk umgezogenen Arbeiterfamilie Kluge davon. Die meisten von ihnen wurden 1937 verhaftet und 1940 ausgewiesen, PA AA, R 104.557 A, Eduard Kluge.
51 1939 schätzte die Gestapo die Gesamtzahl der bis dahin seit 1930 aus der Sowjetunion nach Deutschland Zurückgekehrten auf etwa 8500; siehe Gestapa B.-Nr. II A 1- 5827/38 g vom 5. August 1939, BArch R 58 269, Bl. 120 f.
52 Dagegen waren unter den von der Gestapo vernommenen Polit- und Wirtschaftsemigranten nur wenige Ehepaare, noch weniger Familien mit Kindern. Bei ihnen stimmt deshalb die Zahl der Vernehmungsprotokolle fast mit der Zahl der Rückkehrer überein.
53 Siehe Dirksen-Bericht vom 18. Dezember 1930, PA AA, Band Moskau 387 (nicht paginiert). Die Zahl der vorübergehend Ansässigen, unter ihnen fast ausschließlich Spezialisten und Facharbeiter, ist nicht exakt angegeben und offenbar auch nicht genau bekannt; sie dürfte zwischen 1500 und 1800 Personen gelegen haben.
54 Angesichts der Konsequenz, mit der selbst alleinlebende alte und kranke Deutsche ausgewiesen wurden, wird man annehmen müssen, dass zu Beginn der Massendeportationen nur noch sehr wenige deutsche Reichsangehörige in der Sowjetunion lebten, wahrscheinlich mehrheitlich Politemigranten, während die Deportierten so gut wie ausnahmslos Sowjetbürger geworden waren.
55 Darstellung »Zum Niederlassungsabkommen«, dem Auswärtigen Amt übersandt mit Bericht der Botschaft vom 23. April 1934, PA AA, Botschaft Moskau, Bd. 387 (nicht pag.).
56 Siehe PA AA, R 104.557 B und BArch ZC 12065, Bde. 1-4.
57 Siehe PA AA, R 104.556 A.
58 Es fehlen hauptsächlich Protokolle aus der Zeit des Beginns der systematischen Vernehmungen und diejenigen aus dem letzten Rückkehrerjahr (Frühjahr 1940 bis Frühsommer 1941). Andernorts – vor allem in den Düsseldorfer Gestapoakten – haben sich bisher nur vereinzelte Protokolle gefunden.
59 Immerhin finden sich immer wieder auch Vernehmungen historisch interessanter Personen, wie die des Physikers und Kernforschers Friedrich Georg Houtermans, des Musikers und Eisler-Freundes Hans Hauska oder des Physikers und Philosophen Gerhard Harig.