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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2008

Stand und Perspektiven der historischen Kommunismusforschung. Protokoll eines internationalen Forschungskolloquiums am 17. April 2007 in Berlin

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 373-418 | Aufbau Verlag

Stand und Perspektiven der historischen Kommunismusforschung waren Thema eines Rundtischgesprächs, das auf Initiative der Herausgeber des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 17. April 2007 in der Vertretung des Freistaates Thüringen beim Bund in Berlins Mitte stattfand. Anlass war die Präsentation der Ausgabe 2007 des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung. Bülent Bilmez (Türkei), Stefan Karner (Österreich), Norman LaPorte (Großbritannien), Krisztián Ungváry (Ungarn), Krzysztof Ruchniewicz (Polen), Brigitte Studer (Schweiz), Oldřich Tůma (Tschechien), Alexander Vatlin (Russland) und Thomas Wegener Friis (Dänemark) – allesamt Mitglieder des neu berufenen internationalen wissenschaftlichen Beirats des Jahrbuchs – berichteten über Forschungstendenzen und -kontroversen in ihren Ländern. Moderiert wurde das Gespräch, zu dem namhafte Kolleginnen und Kollegen als Gäste und Mitdiskutanten eingeladen waren, von Ulrich Mählert. Das nachfolgende Protokoll der Diskussion wurde für die Veröffentlichung geringfügig bearbeitet und gekürzt.

Dr. Ulrich Mählert: Ich möchte Sie alle recht herzlich im Namen des Herausgeberkreises und des Beirats des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung wie auch im Namen der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur begrüßen, in deren Auftrag das Jahrbuch seit 2004 erscheint. Wir haben in die Landesvertretung Thüringen zu einem Kolloquium eingeladen, um uns über aktuelle Tendenzen der Kommunismusforschung auszutauschen. Die Teilnehmer sind auf den unterschiedlichsten Feldern der Kommunismusforschung tätig, und wir freuen uns darauf, mit Ihnen diese Diskussion führen zu können. Das Ganze ist als ein informelles Rundtischgespräch geplant, es gibt kein Podium im klassischen Sinne. In der ersten Stunde sollen zunächst einmal die Beiräte des Jahrbuchs zu Wort kommen.

Die Veranstaltung soll auch dazu dienen, das aktuelle Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung vorzustellen, dem wir eine möglichst große Verbreitung wünschen. Bei der Vorbereitung der heutigen Gesprächsrunde wurde mir die Disparität des Begriffs »Kommunismusforschung« wiederum deutlich. Wer vor 15 oder 20 Jahren gefragt worden wäre, was er unter Kommunismusforschung verstehe, hätte wohl zumeist die Erforschung der Geschichte des Kommunismus als Ideologie, als politische Bewegung, als Herrschaftsform oder aber als politische Opposition vor allem für die Zeit vor 1945 genannt – und ich vermute, viele würden heute noch eine ähnliche Antwort geben. Also angefangen vom Frühkommunismus, von der Geschichte des Marxismus, der Abspaltung von der Sozialdemokratie über die Oktoberrevolution, die Sowjetunion – und auch da vermutlich eher bis zum Beginn des Kriegs –, die Geschichte der Komintern, die Geschichte der kommunistischen Parteien und Bewegungen, natürlich auch die Geschichte des kommunistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. All diese Facetten der Kommunismusgeschichte hätte man vermutlich im Wesentlichen mit der traditionellen Kommunismusforschung verbunden. Demgegenüber wäre bis in die neunziger Jahre der Blick auf die real existierende Herrschaft des Kommunismus in Ostmitteleuropa nach 1945 vermutlich nur von einer Minderheit so ohne Weiteres der Kommunismusforschung zugeschrieben worden. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat hier ein Wandlungsprozess eingesetzt. Mit dem JHK wollen wir ganz bewusst diese Perspektiverweiterung befördern. Die Geschichte der kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa nach 1945 muss in die Geschichte der kommunistischen Bewegungen vor dieser Zäsur eingeordnet werden. Sie sind Teile des Ganzen. Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung soll die Plattform einer sich wandelnden Forschungslandschaft sein, die seit den friedlichen Revolutionen 1989 in Ostmitteleuropa und der damit einhergehenden »Archivrevolution« ungemein produktiv war und die am Anfang von Historisierungsprozessen steht, was die Zeit nach 1945 betrifft.

Bei unserer heutigen Diskussionsrunde werden wir das Thema über die durch unsere Beiräte vertretenen Länder bzw. Sprachräume angehen. Mit Brigitte Studer, Nory LaPorte und Thomas Wegener Friis sind die Schweiz, Großbritannien und Dänemark vertreten – Länder, in denen der Kommunismus bzw. die kommunistische Bewegung zwar durchaus auf eine Tradition zurückblicken kann, jedoch nie eine wirklich prägende Kraft entfalten oder gar politische Herrschaft ausüben konnte. Demgegenüber waren die Kommunisten in Frankreich, das hier ebenfalls durch Brigitte Studer repräsentiert werden soll, über einen langen Zeitraum hinweg ein wichtiger politischer Faktor. Mit Deutschland und Österreich sind wiederum heute Länder vertreten, in denen es vor 1933 bzw. 1938 eine starke kommunistische Bewegung und nach 1945 ein sowjetisches Besatzungsregime, wenn auch von höchst unterschiedlicher Dauer und Qualität, gab. Polen, Tschechien und Ungarn, für die Krzysztof Ruchniewicz, Oldřich Tůma und Krisztián Ungváry stehen, sind Länder, in denen Kommunismusgeschichte vor allem mit der Diktaturgeschichte nach 1945 verbunden wird; selbst wenn es dort vor dem Zweiten Weltkrieg bereits – wenn auch unterschiedlich starke – kommunistische Bewegungen gegeben hat.

Die historische Kommunismusforschung wird in den verschiedenen Ländern und Sprachräumen stark vom Erfahrungshintergrund der jeweiligen Gesellschaften geprägt. Natürlich blicken Forscher in postkommunistischen Staaten anders auf den Kommunismus, haben andere Interessen als Forscher in Westeuropa oder Nordamerika. Dort fällt eine historisierende Betrachtung des Kommunismus als einer sozialen Bewegung mit all ihren – zum Teil schrecklichen – Transformationen leichter. Die unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich nicht zuletzt aus den jeweiligen Forscherbiografien – was auch im Wissenschaftlichen Beirat des JHK deutlich wurde. Wir haben die Situation, dass der ungeheure Boom, den die Kommunismusforschung nach 1989 mit der Öffnung der Archive in Ostmitteleuropa erfahren hat, die Ergebnisse von vor 1989 zum Teil überlagert hat. Zeitweilig – und zu Recht – war Kommunismusforschung in den neunziger Jahren die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit den Massenverbrechen im sowjetischen Stalinismus. Hier sei das Schwarzbuch in Erinnerung gerufen, das für große Debatten sorgte. Interessant scheint mir, dass die historische Kommunismusforschung stark von Personen geprägt wurde, die selbst einst Teil dieser Bewegung gewesen waren und mit ihr später gebrochen hatten. Nach 1989 war zumindest zeitweilig eine (selbst)kritische Auseinandersetzung mit den »weißen Flecken« in der Kommunismusgeschichte durch Historiker in Ostmitteleuropa und in der DDR zu verzeichnen, die bis 1989 Geschichtswissenschaft im Dienste der führenden Partei betrieben hatten. Schließlich konnte man in den neunziger Jahren am Beispiel der Kommunismusforschung erleben, wie leicht zeithistorische Diskurse zu tagesaktuellen Kontroversen werden können. Manchmal erschien die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kommunismus wie eine Verlängerung des bis 1989 herrschenden Ost-West-Konflikts über das Jahr 1989 hinaus. Wer sich in den neunziger Jahren mit der DDR-Geschichte beschäftigte, wird sich noch gut (und schaudernd) an die Debatten darüber erinnern, wer überhaupt zu forschen und publizieren berechtigt ist, welche Deutungen und Lesarten akzeptabel sind etc.

Was sind die Fragestellungen, die Perspektiven, die wir heute hier erörtern wollen? Wir wollen fragen: Wie entwickelte sich die Kommunismusforschung und auf welchem Stand ist sie? Wie es Frau Studer in einem Papier zur Vorbereitung umrissen hat: Ist sie noch immer eher die klassische Politikgeschichte, ist sie eher Institutionen- und Parteiengeschichte oder geht sie jetzt stärker in pluralistische geschichtliche Fragestellungen über, die Milieus, Kollektivbiografien und Ähnliches betreffen? Inwieweit ist das Jahr 1945 immer noch die große Wasserscheide, widmet sich die Forschung entweder Entwicklungen, die 1945 vermeintlich oder tatsächlich enden, oder solchen, die danach beginnen? Welche Bedeutung haben sozialgeschichtliche Ansätze? Welche Themen und Fragestellungen befinden sich im Ab-, welche im Aufschwung? Wie sieht die Archivsituation aus? Wer interessiert sich eigentlich für dieses Thema?

Bevor in der ersten Runde die Beiräte zu Worte kommen, möchte ich jetzt Professor Weber bitten, ein paar Stichworte zum Stand und zu den Perspektiven der Kommunismusforschung in Deutschland zu geben.

Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Weber: Ich werde lediglich ein paar Anmerkungen machen. Nicht nur, weil ich eben so höflich darum gebeten wurde, sondern auch, weil ich vor fünf Jahren in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte bereits den Versuch unternommen habe, die Kommunismusforschung speziell in Deutschland darzustellen. Außerdem sollten wir rasch zur Diskussion kommen. Entscheidend ist für mich – Ulrich Mählert hat sie zu Recht genannt – die alte Kommunismusforschung, oder besser gesagt, was wir als Kommunismusforschung verstanden haben: die Analyse der Entwicklung der kommunistischen Bewegung als einer radikal-sozialen Bewegung, ihre Ideologie, ihre Vorstellungswelt, die Art und Weise, wie sie später Herrschaftsmethoden entwickelt hat. Das ist in jüngster Zeit etwas in den Hintergrund getreten, auch in Deutschland, wo die Erforschung der SED-Diktatur sehr breiten Raum einnahm.

Wichtig ist dabei, dass sich ab Mitte der neunziger Jahre (das sage ich auch als Zeitzeuge) der Schwerpunkt der gesamten Kommunismusforschung veränderte. Bereits vor dem Ende der kommunistischen Regime, noch während der »Perestrojka« gab es einen Paradigmenwechsel: Anstelle der Analyse der kommunistischen Bewegung oder der Herrschaftssysteme rückte nun der Terror in den Mittelpunkt der Forschungen. Eine Diskrepanz kam auf zwischen einerseits der Untersuchung des kommunistischen Terrors – ein Riesenfeld, wie sich gezeigt hat – und andererseits klassischen Studien zur traditionellen kommunistischen Bewegung. Während zum Terror beträchtlich publiziert wurde – im bereits genannten Schwarzbuch ist viel nachgewiesen worden, darunter zum Teil so Schreckliches, dass man sich nur schwer damit befassen kann –, ist auf dem Gebiet der eigentlichen, ursprünglichen Kommunismusforschung, also zur Bewegung, zur Ideologie, ein starker Rückgang zu verzeichnen. Die Aspekte Terror und diktatorische Herrschaftssysteme sind seither gut erforscht, doch bleiben die radikale soziale Bewegung und ihre Entwicklung insgesamt unterbelichtet.

Das scheint sich in Deutschland im Moment wieder zu ändern. Erfreulicherweise beschäftigen sich jüngere Forscher auch wieder mit der Bewegung. Aber insgesamt stehen im Mittelpunkt (durch neu in den Archiven entdeckte Fakten) Darstellungen, wie der Terror tatsächlich ausgesehen hat. Diese gehen weit über das hinaus, was Forscher vorher feststellen konnten. Es bleibt dennoch notwendig, kommunistische Bewegungen, ihre Entwicklung als radikal-soziale Strömung, wieder stärker zu untersuchen. Das ist ein Anliegen des Jahrbuchs. Es bedeutet, den Kommunismus nicht auf Terror zu reduzieren, aber diesen Terror natürlich als Teil des Kommunismus zu sehen. Dazu gibt es zwei gegensätzliche Einschätzungen. Die einen tun so, als sei alles halb so schlimm gewesen, und die anderen sagen, es gab nur Terror. Beides ist in dieser Einseitigkeit falsch und muss berichtigt werden. Und da verweise ich auf das Jahrbuch. Es liegen jetzt 13 Bände vor, genau genommen 14, denn 2000 / 01 war ein Doppelband. Wenn man da reinschaut, dann sieht man, dass differenziert gearbeitet wurde. Die meisten, die hier sitzen, waren ja Autoren.

Die Entwicklung hat dazu geführt, dass die Aspekte Terror und diktatorische Kommunismusherrschaft sehr viel breiter in der Literatur zu finden sind als die Geschichte der Bewegung. Ulrich Mählert hat heute Morgen in der Pressekonferenz zu Recht gesagt, dass es eigentlich immer noch keine Geschichte der SED gibt. Aber die SED war es, die die Diktatur in der DDR ausgeübt hat. Die Stasi war ja bekanntlich nur deren »Schild und Schwert«, wie sie sich nannte. Und wenn wir heute noch keine Gesamtgeschichte der SED haben, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, dann zeigt das, dass es selbst in dieser DDR-Forschung immer noch wesentliche Desiderate gibt und die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen ist.

Mir scheint, als Fazit der bisherigen Forschung ist festzuhalten: Die Kommunismusforschung hat in den letzten 15 Jahren inhaltlich gute Fortschritte gemacht. Auch die personelle Neuformierung der Historiographie ist erfolgreich verlaufen. Es gab und gibt eine produktive Entwicklung der historischen Kommunismusforschung. Sie wurde auch vorangetrieben durch den Pluralismus in der Forschung. Wir haben erfreulicherweise nicht den bestimmenden »Mainstream«, sondern eine beeindruckende Vielfalt von Methoden und Bewertungen und daher günstige Voraussetzungen für eine innovative Fortentwicklung. Die Kommunismusforschung ist auch deshalb entwicklungsfähig, weil jetzt Archivmaterial vorhanden ist und man sich nicht, wie es früher der Fall war, mit veröffentlichten Unterlagen oder Zeitzeugenberichten begnügen muss. Ebenso gehört dazu, dass noch ausreichendes Interesse am Thema besteht.

Die Forschung hat etliche Möglichkeiten, weiterzukommen, und sie hat dabei zweierlei zu beachten. Da ist einmal die Diskrepanz, der Unterschied zwischen DDR-Forschung und allgemeiner Kommunismusforschung. Die DDR-Forschung ist in Deutschland gut vorangekommen, es fehlt aber eine gewisse Koordinierung. Sie ist recht gut organisiert, dagegen kaum verknüpft mit den Forschungsanstrengungen zur deutschen kommunistischen Bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg, zum Widerstand gegen Hitler, zur Kommunistischen Internationale. Noch wichtiger ist eine länderübergreifende Vernetzung. Wir versuchen in die Richtung zu steuern, doch die Realität der deutschen Kommunismusforschung ist, dass die Erforschung der Entwicklungsgeschichte der Bewegungen bis hin zur Komintern sehr im Schatten der DDR-Forschung steht. Das ist, glaube ich, nicht nur ein deutsches Problem. Das sieht anderswo ähnlich aus.

Die zweite Voraussetzung dafür, dass diese Forschung Zukunft hat, ist die weitere wissenschaftliche Fundierung. Es sieht zwar heute besser aus, gemessen an dem, was Anfang der Neunziger alles so ins Kraut geschossen war. Aber es fehlt die Verbindung zu den sogenannten Mutterwissenschaften, insbesondere zur Zeitgeschichte. Der derzeit aktuelle Zugang zur Zeitgeschichte, etwa die Erinnerungskultur, kann auch für die Kommunismusforschung fruchtbar gemacht werden. Notwendig sind zudem klarere Differenzierungen, fundiertere Wertungen, die Berücksichtigung verschiedener Zeitperioden, der Rahmenbedingungen und der Motive der Akteure – kurzum, die gültigen Standards der Wissenschaft sind zu beachten. Es sollte nicht allzu schwer sein, diese Voraussetzungen zu erfüllen.

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo absehbar ist, dass eine gewisse Historisierung des Kommunismus denkbar und möglich ist. Pauschal wurde das für die NS-Zeit ja schon relativ früh angesprochen. Damit ist nicht gemeint, die Schreckenszeit zu verharmlosen oder gar vergessen zu machen. Im Gegenteil, Historisierung bedeutet Einbettung in die Geschichte, heißt, Vorurteile, Schwarz-Weiß-Malerei, Emotionen ebenso zu überwinden wie Rechtfertigungen und Verzerrungen. Wahrscheinlich wird es nur so und erst dann möglich sein, die zentrale Frage zu beantworten, wieso die kommunistische Bewegung trotz des sowjetischen Beispiels und trotz des blutigen Terrors immer wieder in aller Welt neue Anhänger gefunden hat. Eine Historisierung hätte meiner Meinung nach zu prüfen, warum es möglich war, dass die kommunistische Bewegung auch in den Zeiten, in denen stalinistische Terrorregimes die schreckliche Realität zeigten, immer noch Massen von Mitgliedern, Massen von Funktionären gewinnen konnte. Das gilt nicht für alle, aber für viele Länder. Ich nenne nur Frankreich und Italien. Es gilt also, den Blick sowohl auf die Diktaturen und den Terror zu richten als auch auf die Frage der Traditionen. Und dann wird man sehr rasch merken: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen.

Einer dieser Gründe ist mit Sicherheit das Gegenmodell, der Kapitalismus. Das kann Folgen für die Zukunft haben. Wenn dieser Kapitalismus sich so entwickeln sollte wie aktuell in Russland, wird er radikale Gegenströmungen auslösen. Dort soll es 400 Milliardäre geben, deren Reichtum genauso groß ist wie derjenige der gesamten übrigen Bevölkerung. Ob das, als der Zar und dann die Kerenski-Regierung gestürzt wurden und die Bolschewiki, die Kommunisten, an die Macht kamen, auch schon so fatal war, ist mir nicht bekannt. Aber es spricht dafür, dass der Kommunismus nicht eine ideologische Raffinesse von Einpeitschern gewesen ist, sondern dass es für sein Aufkommen reale Gründe gab. Als überzeugter Demokrat bin ich der Meinung, nur Demokratie kann eine Gesellschaft voranbringen. Wer soziale Gerechtigkeit will, der muss bei der Kommunismusforschung – da stimme ich Ulrich Mählert voll zu – den eigenen Standpunkt klar zeigen. Aber ich muss natürlich in der Beschreibung, in der Analyse in der Lage sein, objektiv an das Ganze heranzugehen. Das ist die Schwierigkeit, auf die ich hier noch einmal hinweisen will.

Mir ist nicht bange, dass die positiven Forschungsergebnisse in den nächsten Jahren und vielleicht auch den nächsten Jahrzehnten ausgebaut werden. Es sind dabei jedoch einige Voraussetzungen zu erfüllen. Eine Historisierung wäre immer noch die große Chance. Es ist wohl 30 Jahre her, dass Martin Broszat die Historisierungsthese für den Nationalsozialismus aufgestellt hat. Wir haben es zwar immer noch nicht geschafft (das ist meine Meinung), doch wir haben uns sehr stark an die Historisierung der Nazidiktatur angenähert. Wenn es gelingt, in zehn oder zwanzig Jahren auf dem Gebiet der Kommunismusforschung ebenso weit zu sein, dann haben wir vielleicht alle mit unseren Beiträgen als Forscher, und auch ein kleines bisschen mit dem Jahrbuch, dazu beigetragen.

Mählert: Vielen Dank, Hermann Weber. Ich möchte Alexander Vatlin jetzt nicht fragen, ob er einen der 400 Milliardäre kennt, der die Kommunismusforschung in Moskau finanzieren könnte, sondern ihn hier nur ganz kurz vorstellen. Alexander Vatlin feiert in diesem Jahr seinen 45. Geburtstag. Er hat 1987 an der Lomonossow-Universität in Moskau promoviert, hat sich 1998 habilitiert und ist dort heute Professor für Zeitgeschichte. Seine Themen waren immer die Komintern, die Säuberungen im Kommunismus, die Entwicklung der kommunistischen Bewegungen, das Verhältnis zu Deutschland, das Exil in der Sowjetunion. Er zählt zu den Kollegen, die wirklich von Anfang an dabei waren. Von 1988 bis 1991 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Geschichte der Komintern am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU gewesen. Er hat die heißeste Zeit erlebt, was die Öffnung der Archive betrifft: das Tilgen weißer Flecke. Allein darüber kann er mittlerweile als Zeitzeuge erzählen. Was uns interessiert: Welchen Stellenwert hat die historische Kommunismusforschung im heutigen Russland? In der Vorbereitung hat er eine kurze Anekdote zu diesem Thema aufgeschrieben. Bitte fang damit an und erzähl uns, ob es im heutigen Russland im universitären Raum überhaupt noch eine freie Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt.

Prof. Dr. Alexander Vatlin: Danke für diesen Hinweis, aber ich glaube, das wäre schon wieder ein Thema für die nächste Konferenz. Zur Kommunismusforschung in Russland: Ich meine, dieses Thema wäre, besonders für Russland, ein Projekt, dem auch von unserem Staat entsprechendes Interesse entgegengebracht werden sollte. Das Problem beginnt jedoch schon damit, dass wir keine Kommunismusforschung als Schwerpunkt an den Universitäten haben. Weiterhin ist die Situation in Russland ganz anders als für unsere Kollegen in anderen osteuropäischen Ländern, die auch eine kommunistische Phase gehabt haben. Was es jetzt an jeder Universität gibt, ist die Zeitgeschichte, und daneben haben wir die Heimatgeschichte, d. h. Geschichte Russlands. Damit verschwindet die kommunistische Epoche, der entsprechende Lehrstuhl heißt Heimatgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und weil die russische Revolution 17 Jahre nach dem Beginn des Jahrhunderts stattfand, ist die Sache besonders kompliziert.

Was haben wir für strategische Perspektiven? Wir haben den Kommunismus als eine europäische Bewegung im 19. Jahrhundert. Dann teilt sich die Geschichte in eine »falsche« kommunistische Bewegung in Europa und eine »richtige« in Russland. »Falsch« in Eu-ropa, weil dort Erscheinungen wie Revisionismus, Opportunismus und sozialer Faschismus auftraten; »richtig« in Russland, weil hier ein Experiment gewagt wurde. Das war sozusagen der »Russische Weg« ins 20. Jahrhundert. Das war eine ideologische Strömung, die 1917 geboren wurde und auch 1991 in Russland nicht zugrunde ging, weil sie nicht wirklich eliminiert, sondern nur in den Hintergrund gedrängt wurde. Andererseits dient die Kommunismusforschung bei uns der Legitimierung von staatlichen Interessen in der heutigen Situation. Immer häufiger wird zum Beispiel Stalin als der erfolgreichste Politiker Russlands des vorigen Jahrhunderts genannt. Ich würde mir auch eine Historisierung wünschen, aber es gibt, glaube ich, bei uns kaum die Möglichkeit, an Historisierung zu denken, weil die russische Geschichte bis heute in den Dienst aller möglichen Interessen gestellt wird. Ich brauche wohl keine Beispiele dafür zu nennen, es ist zweifelsohne so.

In unserer öffentlichen Meinung wird kommunistische Ideologie nur als schöne Verpackung rezipiert, die es der zentralen Macht ermöglicht hat, das Vielvölkerreich vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Dabei wird die Erweiterung der sowjetischen Einflusszone nach 1945 eher negativ bewertet, als Überdehnung, die den Kollaps nach sich gezogen hat. Durch die Konfrontation mit dem Westen und den Rüstungswettlauf ist demnach der national gefärbte Modernisierungsversuch zugrunde gegangen. Das ist wirklich das große Problem, diese Trennung zwischen staatlichen und nationalen Interessen und Gefühlen einerseits und Kommunismus als internationaler Entwicklung andererseits. Wer studiert bei uns Kommunismus als internationale Entwicklung? Wirklich niemand. Wenn ich nun trotzdem noch weiter über die russische Kommunismusforschung spreche, dann meine ich die Forschung zur Geschichte Sowjetrusslands, der Sowjetunion, als der Kommunismus ein Staatsgebilde war.

Welche Tendenzen lassen sich nennen? Erstens: die Fragmentierung sowie der nicht vorhandene komparative Ansatz. Wir haben wirklich kein gemeinsames Bild von unserer Epoche, der Zeit zwischen 1917 und 1991. Was für die SED zutrifft, betrifft ebenso die KPdSU. Die Forscher sind entweder auf Revolutionsgeschichte spezialisiert oder auf den Stalinismus. Aber den Kommunismus übergreifend darzustellen oder gar mit osteuropäischen Ländern oder China und Kuba zu vergleichen, damit sind wir erst bei den Anfängen. Dabei würde ich mir wünschen, dass wir in zehn Jahren im Jahrbuch auch einen komparativen Ansatz vorweisen können.

Das Interesse der Kommunismus- oder Sowjetunionforschung verteilt sich bei uns sehr ungleichmäßig auf die verschiedenen Probleme und Zeitperioden. Ich habe manchmal das Gefühl, wir sitzen in einer Zeitmaschine und sind gerade in der frühen Nachkriegsgeschichte angekommen. Die hat gerade ganz stark Konjunktur: Die Sowjetunion nach dem Krieg und ihre Einflussnahme auf Osteuropa, die Besatzungszeit in der späteren DDR, aber auch in Österreich – das alles ist jetzt ganz groß, und wir sind, wenn wir uns weiter diese Zeitmaschine denken, gerade im Jahr 1953. Obwohl wir das Jubiläum des XX. Parteitags hinter uns haben, ist es eigentlich zu früh gekommen. Die Geschichte der Entstalinisierung hat nur in einigen Ansätzen Forschungsinteresse hervorgerufen, hier fehlt auch ein Vergleich in Zusammenarbeit mit Kollegen aus ost- und mitteleuropäischen Ländern.Die spätere Zeit – die sogenannte Erstarrungsepoche – ist total unbelichtet. Das liegt vor allem an den Archivquellen, die Deklassifizierung der Breschnew-Dokumente kommt sehr schleppend voran. Genauso schade ist es, dass die dreißiger Jahre, die Terror-Jahre, die schlimmsten Jahre für Russland im 20. Jahrhundert, langsam in Vergessenheit geraten, sowohl in der historischen Forschung wie in der öffentlichen Meinung.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Fragmentierung des Gesamtbilds der kommunistischen Epoche in Russland. Man sieht das, was man sehen will, und das ist einer Historisierung gerade entgegengesetzt. Man erforscht die Mikrogeschichte anhand eines Betriebs, einer Schule oder sonst was, was eigentlich kein schlechter Ansatz ist. Und mit dieser Mikrogeschichte kann man alles Mögliche untermauern. Das führt zu einer Pragmatisierung der Geschichtsforschung. Man kann aus diesen ganz kleinen Bausteinen entweder ein Mausoleum aufbauen oder die Basilius-Kathedrale, ganz nach dem jeweiligen politischen Interesse und dem Hintergrund des jeweiligen Forschers.

Was ich positiv erwähnen möchte, ist: Wir betrachten den Kommunismus nicht mehr nur als Herrschaftspraxis oder als Repressionssystem, sondern nehmen zunehmend auch die mentale Geschichte des Kommunismus als gesellschaftliches System in den Blick und versuchen, die neuen Methoden der westlichen Geschichtsschreibung anzuwenden. Der Blick von oben wird durch den Blick von unten ergänzt, man versucht, die Rolle der sozialen Träger des Systems zu erforschen, z. B. die Veränderung der Lebensweise infolge der Industrialisierung und Urbanisierung oder den Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Entscheidungen im Kreml. Es entstehen neue Biografien der führenden Kader, der Leute um Stalin, sie werden nicht als Machtmaschinen gesehen, sondern als Menschen mit eigenen Gefühlen, Interessen und Neigungen. Mithilfe neuer, etwa anthropologischer, kulturhistorischer Forschungsmethoden kommen die Forscher zu einem Bild der Epoche, das ihnen durch klassische Quellen verwehrt blieb. Durch diese »revisionistische« Wende bekommt das System in gewissem Sinne menschliche Züge, das schwarz-weiße Bild wird mehrfarbig. Es ist ein Schritt vorwärts im Vergleich zur Dämonisierung des Kommunismus, die wiederum zum Beispiel Anfang der neunziger Jahre politisch ihren Wert hatte.

Mählert: Vielen Dank! Wir wollen jetzt den Blick weiter nach Westen, nämlich nach Ungarn richten. Krisztián Ungváry vertritt János M. Rainer, den Direktor des »Instituts für die Geschichte der Ungarischen Revolution in Budapest 1956«. Die Forschungsschwerpunkte des Kollegen Ungváry am Institut sind Militärgeschichte, die ungarische Staatssicherheit zwischen 1956 und 1990, Antisemitismus, Nationalismus und Zwangsemigration im 20. Jahrhundert. Die Zahl der Publikationen geht in die Hunderte. Wir haben in Deutschland im letzten Jahr durch den 50. Jahrestag des Aufstands von 1956 vergleichsweise viel über die ungarische Zeitgeschichte gehört und dadurch auch einiges über Institutionen, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigen: Das »Haus des Terrors« ist zumindest in Kollegenkreisen als durchaus streitbare Institution bekannt. Man hat also mitbekommen, ohne es im Detail zu wissen, dass Zeitgeschichte in Ungarn auch Streitgeschichte ist, und sicher ist es so, dass gerade in den Ländern, die auf eine kommunistische Diktatur zurückblicken, die Perspektive auf die Kommunismusgeschichte eine andere ist als beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien. Wie würden Sie die Kommunismusgeschichte in Ungarn in knappster Weise umreißen? Und welche politischen und kulturellen Hintergründe sind dabei besonders zu benennen?

Dr. Krisztián Ungváry: Prof. Weber hat darauf hingewiesen, dass die Historisierung der Kommunismusforschung so eine Sache sei. Ich glaube, das ist in Ungarn das größte Problem der Kommunismusforschung. Hier findet Historisierung überhaupt nicht statt. Das beschränkt natürlich ganz extrem die Möglichkeiten des Forschers, solche Forschungsprojekte in der heutigen Politik durchzusetzen. Ich möchte betonen, dass das nicht unbedingt mit der jeweiligen Regierung zusammenhängt. Es geht in den Diskussionen weniger um allgemeine Fragestellungen zur Kommunismusforschung als vielmehr darum, herauszufinden, wer zur Stasi gehörte und wer IM war. Aber auch das wird nicht so gemacht, wie es in der Bundesrepublik mit der DDR möglich war. Die Politisierung zeigt sich auch in der Institutionslandschaft. Das »Terror-Haus« bspw. wird von Frau Mária Schmidt geleitet. Sie sagt ganz klar, es sei notwendig, neue Institutionen zu schaffen, wenn die alten aus mannigfaltigen Gründen nicht in der Lage sind, das Thema umfassend zu erforschen. Sie hat mit diesem Standpunkt durchaus Recht. Andererseits betreibt gerade das »Terror-Haus« gar keine Forschung. Es verlegt nicht einmal Jahrbücher, was sehr wünschenswert wäre.

Es gibt drei Institutionen: das Politikgeschichtliche Institut, das aus dem Institut für Parteigeschichte der früheren Staatspartei (heute Sozialisten) hervorgegangen ist, die Institution von Frau Schmidt für die Fidesz und das erwähnte 1956er-Institut, das allerdings nicht von Parteien ins Leben gerufen, sondern in Paris gegründet wurde, also unabhängig von jeglichen ungarischen Regierungen. Ich glaube, ich habe damit die Probleme angedeutet. Wenn es in Deutschland keine Geschichte der SED zu lesen gibt, dann kämpfen die Ungarn mit dem gleichen Problem. Die führenden Persönlichkeiten der Staatspartei sitzen wieder in der Regierung, und es gibt keine Geschichte über ihre eigene Partei.

Mählert: Wenn ich es richtig verstanden habe, beschränkt sich die ungarische Kommunismusforschung tatsächlich auf die kommunistische Diktatur nach 1945. Spielt der Zeitraum vor 1945 überhaupt keine Rolle?

Ungváry: Ja, selbst die Zeit zwischen 1945 und 1956 wird nicht mehr so intensiv erforscht, aber was 1919 oder die frühere KP betrifft, darüber gibt es überhaupt nichts. Die Forschung über die Räterepublik ist gleich null – weil die Räterepublik ja schon früher erforscht wurde und sich die neueren Quellen, die für eine weitere Forschung notwendig sind, in Moskau befinden. Ungarische Forscher fahren kaum nach Russland, um nach Quellen zu forschen. Was auch noch wichtig ist: Die Öffentlichkeit interessiert sich nicht für diese Fragen. Was interessiert wen an der Räterepublik? Für die Antisemiten ist interessant, dass ihre Führer jüdischer Abstammung waren, für die Kommunisten ist interessant, dass nach der Räterepublik in der Zeit des Weißen Terrors soundso viele Menschen umgebracht wurden. Das ist so ungefähr das Niveau, und da hört es dann auch schon auf.

Dr. Walter Süß: Wie sieht es mit der universitären Zeitgeschichtsforschung aus?

Ungváry: An den Universitäten findet eine Kommunismusforschung nicht statt. Ein Beispiel kann ich aus meinem eigenen Studium erzählen. Das ist im Jahre 1998 passiert, und das ist ja noch nicht so lange her. Ich musste als ungarischer Stipendiat eine Schulung besuchen, die von dem früheren Leiter des Historischen Instituts abgehalten wurde, der inzwischen von uns gegangen ist. Er nahm mit uns die Geschichte Ungarns von 1945 bis 1948 durch, und wir mussten aus einem Text, der im Jahre 1955 erschienen ist, Passagen vorlesen. Die hat er dann kommentiert, denn er hatte dieses Buch 1955 mitgeschrieben. Das war die Unterrichtsstunde. Ich habe diese Veranstaltung aus verständlichen Gründen nur ein einziges Mal besucht. Aber unter solchen Umständen kann man ja nicht von einer historischen Kommunismusforschung an einem Lehrstuhl sprechen. Daran hat sich bis heute, auch was das Personal betrifft, nichts geändert, und das behindert natürlich auch die Erforschung dieses Themas.

Mählert: Von Ungarn jetzt direkt nach Tschechien. Herr Tůma, in Ihrer Biografie ist interessanterweise zu lesen, dass Sie sich mit byzantinistischen Studien befasst haben. Und 1989, im Jahr des großen Umbruchs, als senior research fellow am »Institut für klassische Studien der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik« in Prag tätig waren. Von dort ging es 1992 an das neu gegründete »Institut für Zeitgeschichte«, dessen Direktor Sie seit 1998 sind. Also immerhin ein Sprung von mindestens anderthalb Jahrtausenden.

Sie haben in Tschechien eine ähnliche Situation wie in Ungarn. Auch dort gab es eine kurze Phase von »guten« Kommunisten. Eine solche Unterscheidung wird man für Russland nicht so richtig hinbekommen und für die DDR-Geschichte nur mit den allergrößten Verbiegungen nachträglich konstruieren können. Aber mit Imre Nagy in Ungarn und mit dem »Prager Frühling« 1968 in der Tschechoslowakei gäbe es zumindest in diesen beiden Ländern die Möglichkeit, im Nachhinein von einer kurzen Phase des »liberalen« Sozialismus zu sprechen, dessen »hoffnungsvolle Ansätze« von Moskau zerschlagen wurden. Inwieweit spielen eigentlich Kontroversen, die aus der Bewertung von 1968 resultieren, in der aktuellen Debatte eine Rolle, und inwieweit dürfen wir im Hinblick auf das Jahr 2008 mit Kontroversen in der zeitgeschichtlichen Forschung Tschechiens rechnen?

Dr. Oldřich Tůma: Das ist sehr interessant. 1990 / 91 und1992 war dies tatsächlich der Fall. Damals kam es in Bezug auf das Jahr 1968 zu Kontroversen. Viele der 68er, Dubček und andere, waren nach dem November 1989 in die Politik zurückgekehrt und von der neuen Rechtspartei kritisiert worden, und damit auch ihre Geschichte. In den Medien und im politischen Diskurs gab es in den neunziger Jahren eine Kontroverse zwischen diesen und anderen Kommunisten. Das ist jetzt vorbei. Und etwas Ähnliches geschah auch mit der Regimeopposition wie Charta 77 usw. Sie war auch nicht politisch zu instrumentalisieren. Diese aktuell-politische Debatte hatte auch etwas zu tun mit der Instrumentalisierung der Geschichte. Nach 30 Jahren hatten wir jetzt eine große Konferenz zur Charta 77, und mir scheint, dass die Debatte, die in den Medien und auch zwischen Historikern stattfand, ohne diese Politisierung verlief wie in Russland oder vielleicht auch in Ungarn.

In unserem Fall ist es so, dass die Zeit des Kommunismus in der Tschechoslowakei mehr oder weniger identisch ist mit unserer Zeitgeschichte als solcher. Die tschechoslowakische Geschichte nach 1948 ist auch die Geschichte des Kommunismus. Zeithistorische Forschung im eigentlichen Sinne gibt es bei uns erst seit relativ kurzer Zeit, vor dem Jahr 1989 gab es sie fast überhaupt nicht. Im Unterschied zu Deutschland war die Zeitgeschichte ein Gegenstand von ideologischer und politischer Manipulation und Indoktrination, es gab auch keine ČSSR-Forschung oder KPČ-Forschung im Ausland, im Exil oder auch im Samisdat. Die Forschung, die in der Opposition und im Samisdat stattfand, bezog sich nur auf die neueste Geschichte. Wir hatten auch keinen Zugriff auf die Akten und Dokumente. Aber nach dem Umsturz im November 1989 gab es das Konzept, dass schnell eine Institution für Zeitgeschichte entstehen müsse. Es waren revolutionäre Zeiten! Von der Idee der historischen Kommission des bürgerlichen Forums Ende 1989 bis zur Entstehung des Instituts für Zeitgeschichte im Februar 1990 verstrichen nur wenige Wochen. Aber, wieder im Gegensatz zu Deutschland: Bei uns fehlten die Experten. In der Historiografie des Kommunismus gab es drei Generationen. Diejenigen, die professionell forschen konnten, kamen mit 60 Jahren aus dem Exil oder aus anderen Berufen zurück wie z. B. Karel Kaplan. Dann gab es die mittlere Generation, der z. B. ich angehöre: Leute, die Anfang der neunziger Jahre von anderen Gebieten zur Kommunismusforschung übergegangen sind. Und dann gab es die junge Generation: Leute mit einem normalen Hochschulabschluss und mit verschiedenen Möglichkeiten, aber auch mit verschiedenen Ansichten. So war es kein Wunder, dass sich die ersten Forschungsprojekte vor rund 15 Jahren auf die weißen Flecken in der politischen Geschichte konzentrierten, also z. B. auf die Machtübernahme 1948, auf den »Prager Frühling« von 1968, auf die folgende Opposition und dann auf die Revolution Ende der achtziger Jahre. Ein Schwerpunkt waren Dokumenteneditionen. Ende der neunziger Jahre setzte ein Nachdenken über weitere Themen ein, und so entstanden Projekte zur Kulturgeschichte, der Oral History, zu politischen Biografien der Funktionäre und der Dissidenten etc.

Die Forschung über den kommunistischen Zeitraum der tschechischen Geschichte findet sich momentan an einer Wegscheide, scheint mir. In den letzten Jahren hat sich das Interesse der Medien an gewissen Aspekten dieser Geschichte wesentlich erhöht, wobei aber die Differenz des Vergangenheitsbilds zwischen den Medien und der Historiografie fast atemberaubend ist. Die Medien ignorieren vieles, und man muss als Historiker gleichsam immer wieder von Neuem beginnen. Das ist zweifellos mit der Entwicklung der politischen Szene verbunden, in der die Kommunistische Partei versucht, ihre politische Isolation, in der sie sich schon seit 17 Jahren befindet, zu überwinden. Wir haben heute in der Tschechischen Republik die Situation, dass die Sozialdemokratische Partei mehr oder weniger mit der Kommunistischen Partei zusammenarbeitet. In diesem Zusammenhang spielt die Instrumentalisierung der Geschichte eine Rolle. Es gibt jetzt von einigen Regierungspolitikern und Historikern Bemühungen zur Schaffung einer vom Staat kontrollierten großen Institution, die sich mit der Rolle der Repressionsorgane, insbesondere der Staatssicherheit und deren Akten, beschäftigen soll. Dieses neue Institut soll insbesondere das kriminelle Wesen des kommunistischen Regimes untersuchen und Verzeichnisse von Agenten und Offizieren der Staatssicherheit anlegen sowie die Rolle der Personen untersuchen, die im heutigen politischen Leben tätig sind. Die Regimeforschung ist zu einem permanenten Bestandteil der politischen Auseinandersetzung geworden, um damit die Kommunistische Partei, aber auch die Sozialdemokratische Partei zu diskreditieren.

Eine andere Möglichkeit für unsere weitere Entwicklung ergibt sich aus der akademischen Diskussion, die darauf abzielt, ein genaueres Bild über das Funktionieren des Systems zu erhalten. Dabei geht es darum, zu erforschen, wie stark das System verwurzelt war, wie weit das Regime die Gesellschaft durchdringen konnte, und das nicht nur mit Repressionen. Auch hier gibt es Inspirationen aus der deutschen Historiografie, z. B. der Mikrogeschichte usw. Mit Ausnahme der Oral History gab es bisher keine Biografieforschung, es gab z. B. keine Biografie von Husak, Nowotny und anderen. Bisher reduzierte sich die Kommunismusforschung zu sehr auf das Täter-Opfer-Verhältnis.

Zum Schluss einige Bemerkungen zur institutionellen Gewährleistung der Fachrichtung. Die Infrastruktur der Kommunismusforschung wird durch das »Institut für Zeitgeschichte« gesichert. Es gibt schon seit 17 Jahren eine Zeitschrift und Dokumentationen heraus. Für die Zukunft gibt es zwei Wege: eine Monopolisierung und Vereinheitlichung der Forschung im Rahmen einer zentralen Institution »Gedächtnis des Volkes« oder eine Diversifikation und Pluralität in verschiedenen Zentren an den Universitäten.

Mählert: Vielen Dank. Jetzt geht es weiter nach Polen, zu unserem östlichen Nachbarn, der sich ja in der Aufarbeitung als extremistisches Land zu etablieren droht. Nachdem am Anfang der große Strich gezogen wurde und man sich offenbar gesellschaftlich darüber einig war, bestimmte Fragen gar nicht erst zu stellen, geschweige denn zu beantworten, liest man jetzt in den Zeitungen von neuen Lustrationsanläufen, von einer reichlich aufgeheizten Debatte. Gleichzeitig weiß ich von keinem anderen ostmitteleuropäischen Land außer Polen, dass es eine Initiative zur Gründung eines Museums namens »Stiftung Sozland« gibt – wobei die Gründer meinen, die junge Generation bekomme man nur mit so etwas wie Disneyworld ins Museum. So soll die Volksdemokratie nachvollziehbar gemacht werden in Form eines kommerziell betriebenen Museums. Es gibt offensichtlich eine höchst vielfältige Kommunismusforschung bzw. Auseinandersetzung mit der sogenannten Volksdemokratie in Polen, und ich bin jetzt gespannt darauf, wie Krysztof Ruchniewicz die gegenwärtigen Trends umreißt. Krysztof wurde 1967 geboren und leitet jetzt schon seit knapp fünf Jahren das damals neu gegründete »Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław«. Er hat auch den Lehrstuhl für Geschichte an diesem Zentrum inne und ist Mitglied der deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Wie würdest du die heutige Kommunismusforschung in Polen charakterisieren?

Dr. Krystof Ruchniewicz: Vielleicht als Einstieg etwas zur Erheiterung. Ein bekannter polnischer Dramatiker hat vor vielen Jahren einmal versucht, die Geschichte Polens in einem Satz zusammenzufassen. Dieser Satz lautete: »Im Jahre 966 wurden wir getauft, im Jahre 1792 wurden wir geteilt, aber der richtige Zirkus ging erst nach 1945 los.« Vor einer ähnlichen Aufgabe stehe ich jetzt auch, wenn ich daran denke, was Uli Mählert hier von mir fordert.

Aber nun im Ernst. 1956 / 57 erschien ein Roman von einem Autor, der bis dahin als Stalinist galt, unter dem seltsamen Titel Mutter der Königin. Es ist die Geschichte einer Arbeiterfamilie, die in den dreißiger Jahren einsetzt und zunächst vom Kampf dieser Familie gegen das Piłsudski-Regime erzählt. Während des Zweiten Weltkriegs standen sie auf der richtigen, sprich kommunistischen Seite. Aber dann erfahren wir etwas Neues, etwas Interessantes, nämlich dass einer der Nachkommen der Familie den Krieg überlebt hat und dann im Knast sitzt mit einem Nazi – einem Offizier, der an der Bekämpfung des Ghetto-Aufstands teilgenommen hatte. Und dieser Nazi und der Kommunist führen nun in der Zelle ein Gespräch. Sie erzählen sich unterschiedliche Geschichten, bis es mit einem Mal auf den Punkt gebracht wird: An allem war die Partei schuld. Und so ist es auch in Polen nach 1956 gesehen worden: An allem, was nach 1945 passierte, war die Partei schuld. So könnte man sagen, dieser stalinistische Autor hat das für alle Polen auf den Punkt gebracht.

Sicher, es gab bis 1989 alle möglichen Institute für die Geschichte der Arbeiterbewegung, und es gab entsprechende Zeitschriften wie z. B. Aus dem Feld des Kampfes. Alle diese Institute und Zeitschriften sind nach 1989 aufgelöst worden. Sie sind nicht wie in der DDR abgewickelt, sondern einfach aufgelöst worden. Einige dieser Forscher sind dann in privaten Hochschulen gelandet. Und einige sind nach wie vor tätig, de facto als Überbleibsel.

Gleichzeitig aber setzte auch die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein. Impulse kamen von den Überlegungen der ersten Regimekritiker im Exil, die zunächst selber der Kommunistischen Partei angehört und sich dann von ihr gelöst hatten. Sie haben einige grundlegende Werke vorgelegt. Zu den Impulsen gehörten auch die Samisdat-Publikationen aus der Solidarność-Zeit, sie spielten eine große Rolle. Es ging um bestimmte Bereiche, die für die Nationalgeschichte von großer Bedeutung waren, vor allem um weiße Flecken und bisherige Tabuthemen, z. B. die Säuberungen in der polnischen Kommunistischen Partei in der Sowjetunion. Auch Arbeiten zum Hitler-Stalin-Pakt waren von größter Bedeutung für die Polen – sie betrachten ihn als die »vierte Teilung« Polens. Später hat man sich auch mit der Okkupation durch den Einzug der sowjetischen Truppen und mit den ersten Deportationen von Polen ins Landesinnere beschäftigt. So entstand langsam ein Bild nicht nur vom System selbst, sondern auch vom Terrorapparat, und man konnte jetzt auch von Dingen lesen, die bisher nicht bekannt gewesen waren bzw. nur in den Familien tradiert worden waren.

In die Zeit nach der Erklärung des Ausnahmezustands fällt auch die Gründung der bekannten Initiative Charta, die bis heute existiert. Ihre Wurzeln hat sie schon in den achtziger Jahren als eine Bürgerinitiative von Laienhistorikern, die sich der Erforschung der weißen Flecken widmete. Sie gründeten damals nicht nur Zeitschriften, sondern veranstalteten auch verschiedene Wettbewerbe. Das hat dazu geführt, dass Charta gerade nach 1989, inzwischen zur Institution geworden, auch zu den ersten bürgerlichen Initiativen gehörte, die das andere Bild zeigten. Natürlich hat auch die Forschung in Polen von der Zäsur 1989 profitiert. Mit dem Wegfallen der Zensur und der Öffnung der Archive gab es wirklich neue Möglichkeiten. Und Arbeiten, die bisher entweder unter Pseudonym oder im Untergrund entstanden waren, konnten erst jetzt öffentlich erscheinen. Das beste Beispiel ist ein Buch über die Etablierung der kommunistischen Macht in Polen in den ersten Nachkriegsjahren. Es war zunächst in London gedruckt worden, später im Untergrund und schließlich in Polen 1989. Dieses Buch ist zwar langweilig, aber sehr detailliert und kenntnisreich. Es war lange Zeit eine der wichtigsten Grundlagen, um Wissen über die Anfänge des Regimes zu erhalten.

Es war in Polen auch nicht notwendig, die Historischen Institute abzuwickeln. Der Großteil der dort beschäftigten Kollegen konnte seine Arbeit ungehindert fortsetzen. So ist auch zu erklären, dass in der ersten Phase, in den neunziger Jahren, sehr schnell sehr viele Arbeiten vorgelegt worden sind: zu den polnisch-sowjetischen Beziehungen, zur Situation in Polen nach dem Einmarsch der Roten Armee, zu den Deportationen usw. Man sieht aber eine bestimmte Tendenz: Gerade diese alte Kommunismusforschung ist nach und nach untergegangen bzw. wurde nicht mehr so stark berücksichtigt, wie das vordem war. Heute ist die Situation so, dass keiner sich mehr dafür interessiert; nur bei der ältesten Generation der Historiker kommt das noch ab und zu vor. Auch große Projekte wie ein Lexikon der polnischen Kommunisten, das noch vor 1989 auf die Beine gestellt werden sollte, sind nicht abgeschlossen worden. Sehr viele Projekte wurden nicht wieder aufgenommen oder wurden einfach abgebrochen.

In den neunziger Jahren hat man sehr heiß über die vergangene Epoche diskutiert: Wie ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einzuordnen? Was war die Volksrepublik Polen? War das ein Teil polnischer Geschichte, oder war es eine fremde Geschichte? War Polen okkupiert oder war es selbstständig? Gab es Zeitabschnitte, in denen doch größere Freiheitsräume existiert haben? Diese Diskussionen dauern noch an. Sie sind wahrscheinlich deshalb nicht abgeschlossen, weil immer wieder neue Dinge zutage treten und neue Bereiche diskutiert werden, wie etwa neulich die Frage der Katholischen Kirche, die bisher in Polen eigentlich tabu war, weil die Kirche als Hort des Antikommunismus galt. Jetzt gibt es auch darüber eine Diskussion.

Die Situation veränderte sich grundlegend im Jahre 1999 mit der Gründung des »Instituts für Nationales Gedenken«, das ist quasi unsere Gauck-Behörde, erweitert um die Aufgabe der staatsanwaltschaftlichen Verfolgung von Verbrechen an der polnischen Nation. Nach anfänglichen Schwierigkeiten beim Aufbau des Instituts entwickelte es sich rasch zu einem der bedeutendsten Institute in ganz Polen. Es beschäftigt über 200 Historiker, die eine sehr detaillierte Forschung betreiben und einen riesigen Output an Veröffentlichungen haben. Es werden neben den Forschungen zum System jetzt auch und vor allem Forschungen zur Oppositionsgeschichte betrieben. Inzwischen liegen mehrere Lexika zur polnischen antikommunistischen Opposition vor. Da das Institut fünf regionale Filialen im Land besitzt, werden auch viele regionale Studien publiziert. Und da es auch über die Akten des Staatssicherheitsdienstes verfügt, ist zu erwarten, dass demnächst entsprechende Arbeiten veröffentlicht werden.

Allerdings gibt es auch einige Schnellschüsse, die kaum wissenschaftlich untermauert sind. Sie erregen zwar großes Aufsehen, aber man fragt sich in der Tat ab und zu, ob sie wissenschaftlich gut genug sind. Ein Beispiel möchte ich nennen. Vor wenigen Tagen war ein Jahrestag der ersten Deportation von Polen in die Sowjetunion. Es wurde im 1. Fernsehprogramm erstens eine falsche Zahl genannt – es war von 1,5 bis 2 Millionen Menschen die Rede, wohingegen es in Wirklichkeit 200 000 bis 400 000 Menschen waren. Dann kam ein Zeitzeuge zu Wort, der beschrieb, wie schlimm das alles war, und dann folgte ein Historiker, der behauptete, dieses Thema sei nach wie vor unerforscht und dass es noch sehr viele Fragen gebe. Aber das stimmt so eben nicht, denn das sind längst erforschte Dinge.

Ich möchte noch ein Problem ansprechen, das in unserem Kreis hier noch nicht erwähnt worden ist: die Geschichtspolitik. Der Umgang mit der Geschichte des Kommunismus wird zum Instrument der Geschichtspolitik gemacht, zu einem Machtinstrument überhaupt. Man sieht schon an dem letztgenannten Beispiel, wie die heutige Regierung von diesem Instrument auch Gebrauch macht.

Mählert: Vielen Dank. Wir könnten uns jetzt ins Boot setzen und von Danzig nach Kopenhagen fahren. Wir setzen uns aber ins Flugzeug und fliegen nach Istanbul, wo Bülent Bilmez am Lehrstuhl zur Geschichte der modernen Türkei forscht und lehrt. Bülent hat sich mit der modernen osmanischen Geschichte beschäftigt, er hat in Ankara studiert und an der Humboldt-Universität promoviert. Und wir haben ihn sehr herzlich in unseren Beirat eingeladen, weil er nicht nur die Türkei in den Blick rücken kann, sondern auch Spezialist für Albanien ist, sich für südosteuropäische Geschichte interessiert und auch ein bisschen Persisch kann.

Die Türkei kann auf keine ausgeprägte kommunistische Geschichte verweisen. Die Türkische Kommunistische Partei war praktisch zeit ihrer Existenz verboten. Die Anknüpfungspunkte für unsere Forschungsinteressen liegen nicht zuletzt darin, dass die TKP ihr Exil in Leipzig und in Ostberlin hatte. Interessant ist auch die jüngere Geschichte der linken Bewegung in der Türkei in den letzten 15 bis 20 Jahren. Der Umbruch des Jahres 1989 hat dort unter den Linken merkwürdige Transformationsprozesse angestoßen. Viele Protagonisten marschierten stramm nach rechts und finden sich heute in nationalchauvinistischen Milieus wieder. Bülent Bilmez wird uns jetzt ein paar Worte zu der sehr disparaten Forschungssituation zur Geschichte des Kommunismus in der Türkei sagen.

Dr. Bülent Bilmez: Zuerst möchte ich erzählen, warum ich hier bin. Vorhin hatte Herr Vatlin gesagt, dass es in Russland den Begriff Kommunismusforschung gibt. Den gibt es in der Türkei auch, aber Forschung dazu gibt es leider kaum. Der Einzige, der wirklich dazu wissenschaftlich und akademisch geforscht und dem Thema seine akademische Karriere gewidmet hat, ist Herr Mete Tunçay, der Direktor unseres Departments. Er kann aber kein Deutsch – das ist der Grund, warum ich hier bin. Ich wurde eingeladen, weil ich angefangen habe, mit Herrn Tunçay über die Geschichte der Linken in der Türkei zu arbeiten und weil ich einigermaßen Deutsch kann – ich habe in Berlin an der Humboldt-Universität promoviert. Das war aber vor mehr als zehn Jahren. Ich habe gleich danach für drei Jahre an einer albanischen Universität Geschichte auf Deutsch unterrichtet, aber in den letzten sechs Jahren habe ich kaum Gelegenheit gehabt, deutsch zu sprechen. Deswegen entschuldige ich mich gleich für mein schlechtes Deutsch.

In der Türkei wird die Geschichte des Kommunismus eher zur Forschung über die Geschichte der Linken und die Geschichte der Arbeiterbewegung gerechnet. Deshalb würde man unter der »historischen Forschung zum Kommunismus« in der Türkei nicht nur die historische Forschung zu den kommunistischen (und sozialistischen) Bewegungen verstehen, sondern auch zur Arbeiterbewegung, zu den Gewerkschaften und zur Linken im Allgemeinen.

Der Stand und die Perspektiven der historischen Forschung zu den kommunistischen Bewegungen in der Türkei könnten unter verschiedenen Aspekten diskutiert werden:

a) Verschiedene Perioden der Bewegung als Fokus der Forschung

b) Verschiedene Themen als Fokus der Forschung

c) Wer betreibt diese Forschungen?

Ich möchte hier ein paar Sachen über die Periodisierung der kommunistischen Geschichte in der Türkei erzählen, weil diese stark die Forschung beeinflusst:

Die erste Periode wäre die Vorgeschichte der kommunistischen Bewegungen – die Anfänge der Linken und der Arbeiterbewegung im Osmanischen Reich bis 1919. Man kann kaum von einer wirklich sozialistischen / kommunistischen Bewegung in dieser Periode sprechen, und das erste Auftauchen von linken Ideen ist wissenschaftlich noch kaum studiert. Informationen darüber sind nur in den Einführungen oder den Kapiteln zur Vorgeschichte in den Büchern über die allgemeine Geschichte der Linken zu finden (z. B. von Aclan Sayılgan, Kerim Sadi [A. Cerrahoğlu], Mete Tunçay, Fethi Tevetoğlu, İlhan Darendelioğlu).

Über die Geburt der kommunistischen Bewegung im Osmanischen Reich im 20. Jahrhundert und besonders über die Beziehungen zwischen den Kemalisten, den Gründern der türkischen Republik, und den Bolschewiken sowie über die Gründung der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) in dieser Zeit wurde viel geschrieben (insbesondere von Mete Tunçay, Emel Akal, Feridun Kandemir, Rasih Nuri İleri und Kerim Sadi [A. Cerrahoğlu]). Dann kommt eine lange Zeit, wo alle kommunistischen oder linken Bewegungen verboten waren. Das ging bis in die sechziger Jahre. Man muss aber sagen, dass akademisch nicht viel darüber geforscht worden ist. Wie ich vorhin bereits gesagt habe, gibt es nicht viele wissenschaftliche Werke über die Geschichte der sozialistischen / kommunistischen Bewegung in dieser Zeit (1925 – 1960), sondern eher über die Geschichte der Moskau-orientierten TKP, die im Ausland aktiv war, und ihre (meistens illegalen) Zweige in der Türkei. Die Autoren sind vor allem Leute, die an dieser Bewegung selbst beteiligt waren und über ihre eigene Geschichte und damit eher biografische Werke geschrieben haben.

Die nächste Periode (1960 – 1968) ist die der Aktivitäten der illegalen kommunistischen Bewegung im Ausland und der ersten kommunistischen Massenbewegungen mit verschiedenen Gruppen / Parteien, vornehmlich der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), in einer demokratischen (und seit 1950 multiparteilichen) Türkei: In den sechziger Jahren war TİP sehr erfolgreich und stellte 16 Mitglieder im Parlament. Über diese Zeit wurde mehr geforscht. Dazu sind mehrere Monografien entstanden, und auch Materialien über diese Zeit wurden veröffentlicht (z. B. die Werke von Artun Ünsal, Mehmet Ali Aybar, Nihat Sargın und Sadun Aren).

Die nächste Periode umfasst die siebziger Jahre – die Zeit der Splitterungen und Radikalisierung bis zum Militärputsch 1980. Es ist kaum möglich, mehr als nur ein oberflächliches Bild der verschiedenen Gruppierungen und Aktivitäten in der Phase von 1968 – 1980 zu zeichnen. Diese Periode war wirklich eine Zeit, in der es eine sehr starke kommunistische Massenbewegung gab, doch die TKP hatte sich nicht geöffnet und war daher ziemlich klein. Aber die maoistische und andere radikale kommunistische Bewegungen waren sehr stark. Die Geschichte all dieser Bewegungen, von denen viele immer noch illegal sind, ist schwer zu erzählen, denn sie sind noch nicht Geschichte geworden. Ich meine, man kann nicht von einer Historisierung dieses Themas sprechen: Diese Periode wird von vielen noch nicht als »Vergangenheit« gesehen. Es gibt darüber mittlerweile eine allmählich steigende Zahl von populären Werken (z. B. von Turan Feyzioğlu, Ergun Aydınoğlu and Hakkı Öznur).

Die letzte Periode wäre die Zeit der linken Bewegungen unter dem Druck der fortdauernden Militärregimes in einer postmodernen Welt (1980 bis heute). Von einer Historisierung, also einer Geschichtsschreibung über diese Zeit kann noch nicht gesprochen werden.

Ein Sonderfall ist die TKP: Sie hat sich nach 1989 aufgelöst und die »Stiftung zur Erforschung der Sozialgeschichte in der Türkei« (Türkiye Sosyal Tarih Araştırma Vakfı, TÜSTAV) gegründet. Das ist wirklich eine vorbildliche Entwicklung. Ehemalige KP-Mitglieder arbeiten dort, aber auch viele Akademiker. Dokumente aus verschiedenen Ländern und aus der Türkei, die natürlich nicht komplett sind, werden in Istanbul gesammelt. Das sind meist keine Originaldokumente, sondern Mikrofiches und kopierte Dokumente von Behörden, denn man kann dem türkischen Staat nicht so weit trauen, dass man davon ausgehen kann, dass die Originaldokumente immer zugänglich sein werden. Die Mehrheit dieser Materialien stammt aus dem International Institute of Social History in Amsterdam. Dort gibt es seit 1987 eine Abteilung über die Türkei, mit Materialien nicht nur über die TKP, sondern auch über andere kommunistische Bewegungen. Das sind allerdings nur Archive, in denen die Materialien gesammelt werden. Leider gibt es weder eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe, die diese Materialien systematisch bearbeitet, noch eine Institution – weder in Amsterdam noch in Istanbul –, wo man z. B. Doktoranden oder junge Akademiker zusammenbringen und motivieren kann, die darüber forschen.

Da bleiben nur die Universitäten übrig – man könnte annehmen, dass sie sich mit dem Thema befassen. Es gibt aber an keiner Universität der Türkei eine Abteilung oder Forschungsgruppe, die über die Geschichte des Kommunismus wissenschaftlich arbeitet.

Wir sprechen hier von den letzten ca. 80 Jahren, in denen die kommunistische Bewegung entstanden ist. Dazu erschienen bisher nur drei Monografien, die die Zeit bis zu den sechziger Jahren umfassen (von İlhan Darendelioğlu, Fethi Tevetoğlu und Aclan Sayılgan). Sie wurden von Antikommunisten geschrieben, die auch Zugang zu manchen Materialien der türkischen Polizei und des Geheimdiensts hatten. Ende der sechziger Jahre ist das Buch von Mete Tunçay herausgekommen, es ist immer noch das einzige wissenschaftliche Werk, in dem die Entstehung und Entwicklung der TKP und der Splitterungen dieser Partei im Detail beschrieben sind. Herr Tunçay hat später mehrere erweiterte und bearbeitete Ausgaben davon und weitere Artikel und Bücher mit zusätzlicher Information herausgebracht. Zum Schluss ist noch das Buch von einem Kommunisten, Kerim Sadi (A. Cerrahoğlu), als ein erfolgreiches Beispiel zu nennen, in dem neue Materialien und Erkenntnisse über die Geschichte der kommunistischen Bewegungen zu finden sind.

Welche Tendenzen für die Zukunft gibt es? Ich würde sagen, es bestehen jetzt mehr Möglichkeiten, dass sich türkische Studierende und Doktoranden im Ausland auch für diese Themen interessieren. Es gibt in der Türkei jetzt auch eine unabhängige Stiftung für Sozialgeschichte (Türkiye Tarih Vakfı), die von Linken nach der Wende gegründet wurde – ich meine damit die türkische Wende, die Herr Mählert vorhin erwähnte, die ziemlich parallel zur Wende in Deutschland und Osteuropa stattfand. Dort betreiben jetzt mehrere junge Akademiker Forschung über die Geschichte der linken Bewegung. Was noch fehlt, ist eine Initiative zur Bildung einer akademischen Arbeitsgruppe. Junge türkische Akademiker nutzen jetzt auch insbesondere die Archive in Russland. In den letzten drei Jahren erschienen einige Bücher und Artikel, die auf solchen Materialien beruhen.

Ich persönlich denke, es gibt durchaus eine Chance, dass man sich in der Türkei von den alten Denkmustern distanziert, über Kommunismusgeschichte als »unsere« Geschichte oder »ihre« Geschichte zu reden. Man könnte sie als ein Feld sehen, das mittlerweile von immer mehr Akademikern als ein normales Forschungsthema akzeptiert wird.

Mählert: Vielen Dank. Wir werden jetzt weiter im Zickzack durch Europa schreiten. Von der Türkei direkt nach Schottland, wo Norman LaPorte an der University of Glamorgan lehrt und ganz im Sinne dessen, was Hermann Weber ganz zu Anfang unseres Seminars gesagt hat, antizyklisch forscht. Während sich in Deutschland alle Forscher auf die Geschichte der DDR konzentrierten und sich dabei gegenseitig die Archivbestände blockierten, ist er aus Schottland angereist, um die Geschichte der KPD in Sachsen zu erforschen, und hat mit diesem Thema wahrscheinlich gleichermaßen Verwunderung in Sachsen wie in Schottland erregt. Ich gebe ihm das Wort für einige Stichpunkte zum Thema historische Kommunismusforschung in Großbritannien.

Dr. Norman LaPorte: Was ich sagen werde, behandelt vor allem die Forschungen zur britischen Partei. Wie gesagt: Mein eigentliches Thema ist die Deutsche Kommunistische Partei, aber da ich mit Kollegen zur vergleichenden Geschichte arbeite, kenne ich auch die Tendenzen der Historiografie über den Kommunismus in Großbritannien.

Als Erstes möchte ich erwähnen, dass der Kommunismus in Großbritannien sehr unbedeutend für die nationale Geschichte war. Die KP hatte in der Zwischenkriegszeit vier Abgeordnete. Einige Führer, z. B. in Südwales oder in Schottland, hatten eine relativ starke Präsenz in den Gewerkschaften, besonders unter den Bergarbeitern, aber im Vergleich zu Deutschland war auch das nur gering und unbedeutend. Und deswegen gibt es keine spezielle wissenschaftliche Zeitschrift, in der Akademiker über die Geschichte des Kommunismus veröffentlichen können. Die dennoch veröffentlichten Beiträge erscheinen in ganz normalen wissenschaftlichen Journalen. Aber zurzeit gibt es richtig kräftige Debatten. Historiker stehen wirklich richtig auf Kriegsfuss miteinander, wenn es um die Positionen der Partei geht. War die Partei stalinisiert, oder folgte sie eher den inländischen Entwicklungen?

Die Partei war eigentlich so winzig, dass einige Historiker sich sogar gezwungen fühlten, zu erklären, warum es sich dennoch lohnt, über die Geschichte des britischen Kommunismus zu schreiben. Die meisten dieser Historiker beschäftigen sich ansonsten mit der Geschichte der breiteren Arbeiterbewegung. Deshalb gibt es auch den Trend, die Kommunistische Partei als Teil der Arbeiterbewegung und als eine ganz normale Partei zu sehen. Das ist der Trend seit den achtziger Jahren, und an dieser Forschungsrichtung hat sich seitdem nichts geändert. Nach 1990, als die neuen Akten in Moskau zugänglich waren, entstand etwas, das ich als Revisionismus bezeichnen würde – als »Revisionismus von oben«: Man erforschte die Beziehungen zwischen Moskau und London. Es dauerte zehn Jahre nach Öffnung der neuen Quellen, bis der erste Band herauskam, in dem die Beziehungen der britischen Partei zur Komintern erforscht wurden. Andrew Thorpe ist ein Forscher, der das Parteiensystem untersucht hat. Er hat über die konservative, über die liberale Partei, die Labourpartei und auch über die kommunistische Partei geschrieben. Sein Buch folgte ganz dem Trend, indem er als Hauptthese vertrat, dass die Beziehung zu Moskau keine Einbahnstraße war. Es gab Fehler Moskaus, es gab Dialog und Verhandlungen. Und in der Folge kam dann die Meinung auf, die KP sei den inländischen Bedingungen gefolgt. Natürlich bin ich nicht dieser Meinung, aber das ist der Trend. Es gibt auch eine andere Art von Revisionismus, so eine Art »Revisionismus von unten«, eine soziale Geschichte des Kommunismus.

In unserer englischen Kommunismusforschung wird der Kontrollmechanismus des demokratischen Zentralismus zwar erwähnt, die meisten Wissenschaftler setzen sich aber nicht gründlich damit auseinander, wie der demokratische Zentralismus als Kontrollmechanismus von stark zentralistischen Parteien funktioniert. Stattdessen heißt es immer, die Parteibasis macht eigentlich, was sie will. So wurden Wunschbilder beschrieben, etwa dass führende britische Kommunisten wie z. B. Harry Pollitt oder John Campbell die Bestrebungen nach Autonomie von Moskau unterstützt hätten. Aber das ging in die falsche Richtung und stimmt überhaupt nicht.

Ich bin mit vielen dieser Leute befreundet. Wir sind ein ganz kleiner Kreis von Akademikern, aber ich möchte hier weiter keine Namen nennen, denn das wäre wie ein Angriff. So viel zum »Revisionismus von oben«, Parteigeschichte, und »Revisionismus von unten«, Sozialgeschichte.

Zu den zentralen Fragestellungen, die die Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte bestimmten, zählte die Frage nach dem Grad der Unabhängigkeit der kommunistischen Bewegung in Großbritannien. 1980 gab es die erste bahnbrechende Studie von Stuart Macintyre Little Moscows: Communism and Working-Class Militancy in the Inter-War Britain. Das war ein Versuch, die Partei in einigen kleinen Bruchstücken, in Einzelheiten zu erforschen. Diese Richtung ähnelt der Erforschung der KPD in einzelnen Betrieben und Gewerkschaften. Ab Mitte der neunziger Jahre gab es über den Kommunismus in der Zwischenkriegsphase eine richtig starke Debatte, in der von den Historikern sehr unwissenschaftliche Begriffe verwendet wurden. Vor allem Trotzkisten, die es bei uns im Allgemeinen nicht so häufig gibt, die aber unter den Historikern vertreten sind, die sich mit der KPD-Geschichte beschäftigten, machten viel Krach. Meist treten zwei Historiker gegen diese Positionen auf – Alan Campbell und John McIlroy. Sie haben viele Aufsätze über den britischen Kommunismus veröffentlicht und haben nachgewiesen, dass die Befehle aus Moskau von den britischen kommunistischen Führern als normal betrachtet wurden. Manchmal waren zwar einige dagegen, aber letztendlich haben sie immer mitgemacht. Das gilt vor allem für Harry Pollitt. In den dreißiger Jahren hat die Partei viel Propaganda für eine stalinistische Diktatur gemacht. Und dabei erwähnten sie den Gulag, den Großen Terror oder den Hitler-Stalin-Pakt nicht, sondern ließen dies im Hintergrund. Sie wollten letztendlich eine stalinistische Diktatur in Großbritannien erreichen.

Immer größere Aufmerksamkeit finden mentalitätsgeschichtliche sowie biografische Fragestellungen. Erwähnt sei ein riesengroßes Projekt an der Universität Manchester, das unter anderem von Dr. Kevin Morgan geleitet wird. Man versucht dort, die Debatte weiter in Richtung Kommunismus als einer Bewegung, die zwar Befehle aus Moskau entgegennahm, aber auch irgendwie zur Gesellschaft gehörte, zu bringen. Sie war in den Zwischenkriegsjahren auch eine radikale soziale Bewegung. Es wird auch versucht, die Identität dieser Bewegung herauszuarbeiten.

Falls sich jemand für die neuere Geschichte ab 1945 interessiert: Da habe ich selbst das Thema der Beziehungen zwischen der britischen KP und der DDR untersucht. Was ich bemerkt habe, ist, dass auch die Eurokommunisten Interesse an der DDR hatten. Dass darüber hinaus der Kommunismus so in den Vordergrund getreten ist, war einigen Historikern zu verdanken. Der bekannteste Historiker unter uns ist Eric Hobsbawm. Ich denke, er hat faktisch niemals seine marxistische Prägung hinter sich gelassen. Zum Beispiel hat er neulich über den Spanischen Bürgerkrieg im Guardian geschrieben, und auch dieser Beitrag war etwas stalinistisch ausgerichtet. Diese Historiker haben das Journal Past and Present gegründet. Sie haben die Professionalisierung der Geschichtsschreibung weitergebracht. Es ist jetzt bei uns ein Top-Journal, und ich denke, es fördert das Bild, dass die Kommunisten unter uns ganz normale Leute sind, manchmal ein bisschen exzentrisch, aber sonst einfach englisch. Eine neue Generation von Forschern, die den Kalten Krieg nicht mehr erlebt hat und meiner Meinung nach die Bedeutung des Marxismus-Leninismus nicht versteht, beschäftigt sich mit dem Thema, was es bedeutet, Kommunist und englisch zu sein. Das finde ich nun wieder exzentrisch.

Mählert: Wir springen jetzt auf der Karte nach Dänemark, und ich gebe Herrn Friis das Wort.

Dr. Thomas Wegener Friis: Ich werde mich ganz kurz fassen. Ich sage etwas zur Kommunismusforschung ganz generell, denn die ist in Dänemark sehr lebendig, vor allem die nationale Kommunismusforschung, also die Forschung über die dänischen Kommunisten. Das ergibt sich einfach daraus, dass die Arbeitergeschichte und die Geschichte der Arbeiterbewegung in Dänemark doch einen sehr zentralen Platz einnehmen – dadurch, dass die Sozialdemokratie über 70 Jahre in der Politik völlig dominant war, dadurch, dass wir sehr starke Gewerkschaften hatten und dass linke Intellektuelle in der Universitätsforschung sehr dominant waren. Dazu kommt, dass unser Archivzugang, besonders zu linken Parteien, zu den Gewerkschaftsverbänden und den parteinahen Organisationen wie z. B. den Freundschaftsgesellschaften zur Sowjetunion oder zur DDR oder dem »Ständigen Komitee der Arbeiterkonferenz der Ostseeländer, Norwegens und Islands« in Dänemark sehr gut ist. Wir können also die Akten der Kommunisten und der Sozialdemokraten bis zur Mitte der neunziger Jahre einsehen. Das ist ein großer Vorteil.

Die Kommunismusforschung in Dänemark kann man eigentlich in drei Gruppen einteilen. Die eine ist die Restgruppe der Osteuropaforscher der siebziger und achtziger Jahre – Experten, die sich mit Ostblockgeschichte beschäftigen. Dann haben wir eine Gruppe, die auf eine Tradition aus den sechziger bis achtziger Jahren aufbaut, die sich mit der Arbeiterbewegung als soziale Bewegung befasst. Und dann gibt es noch eine dritte, relativ neue Gruppe, die sich vor allem aus jüngeren Kollegen zusammensetzt, und das sind die, die sich mit Kommunismus im Rahmen des Kalten Kriegs befassen. Da geht es um die Verbindungen der dänischen Kommunisten zu den sozialistischen Ländern und um die schon erwähnten nahestehenden Organisationen. Es geht um die Spionage der sozialistischen Länder, die Außenpolitik der sozialistischen Länder gegenüber Dänemark und letztendlich auch um die Bekämpfung der Kommunisten in Dänemark. Dazu möchte ich ein kurzes Beispiel bringen, weil es zeigt, was Kommunismusforschung auch sein kann. Wir machen gerade ein Buch über den sozialdemokratischen Nachrichtendienst, den es lange Jahre gab – einen privaten Nachrichtendienst, der relativ eng mit staatlichen Organen zusammenarbeitete, die die vornehmliche Rolle hatten, die kommunistische Partei und die kommunistischen Verbände zu unterwandern. Ich glaube, auch das gehört zur Kommunismusforschung. Die Dominanz der Arbeiterbewegungsforschung zeigt sich auch darin, dass unsere wichtigste Zeitschrift für Zeitgeschichte zurzeit die Zeitschrift für die Geschichte der Arbeiterbewegung ist.

Das wesentliche Problem der Kommunismusforschung in Dänemark sehe ich darin, dass der Horizont ein wenig fehlt. Sie haben es sicher bereits bemerkt: Ich habe jetzt schon mindestens 30-mal »Dänemark« gesagt. Es bleibt also immer im nationalen Rahmen. Es fehlt uns gewissermaßen der internationale Horizont und vor allem auch die Kooperation mit dem deutschen Raum.

Mählert: Herzlichen Dank, Thomas Friis. Thomas Friis ist Jahrgang 1975 und vertritt damit quasi die nächste Generation unseres Jahrbuchs. Er ist Historiker und Netzwerkkoordinator des neu gegründeten »Zentrums für Studien des Kalten Krieges« an der süddänischen Universität Odense und hat 2003 seine Dissertation über den Militärischen Nachrichtendienst der DDR und dessen Arbeit in Richtung Dänemark geschrieben.

Wir kommen nun aber nach Österreich. Lieber Herr Karner, Sie leiten das »Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung«, und ich möchte Sie bitten, hier auf die unmittelbaren Kriegsfolgen für Österreich einzugehen, das ja ebenfalls in Besatzungszonen eingeteilt war, von denen eine von den Sowjets verwaltet wurde. Darüber hinaus interessieren uns natürlich die gesamten Aspekte der gegenwärtigen Kommunismusforschung in Österreich.

Prof. Dr. Stefan Karner: Das ist nicht leicht für Österreich, weil wir tatsächlich eine Fülle von Initiativen und Ergebnissen haben, eine Fülle von Literatur. Etwas ist in Österreich bemerkenswert: Die Kommunistische Partei hat in Österreich in den parlamentarischen Vertretungen nie einen besonderen Stellenwert gehabt. In der Ersten Republik war sie überhaupt nicht präsent und in der Zweiten Republik nur über wenige Jahre; und dort auch nur mit vier bis fünf Abgeordneten. Und einen kommunistischen Minister gab es bei uns nur zwei Jahre, ehe er 1947 aus der Regierung ausgeschieden ist.

Warum haben die Kommunisten bei uns nie richtig Fuß gefasst in der Ersten Republik? Das hing damit zusammen, dass die Sozialdemokraten die Rätebewegung, die es auch in Österreich gegeben hat, und zwar sehr stark – wie 1918 / 19 in Ungarn mit Béla Kun oder in Bayern usw. kalt geschluckt haben. Die Räte sind dann irgendwie kanalisiert worden, wie wir es sagen, zum Schluss sind sie in der Sowjetunion im Roten Terror gewesen, Hotel Lux usw., und dann sind sie zum Teil mit Hitlerdeutschland ausgetauscht worden. Nach dem Krieg sind sie teilweise als Trotzkisten noch einmal in die Sowjetunion gekommen. Das sind auch Forschungsthemen, die es bei uns gibt und die ich dann noch ansprechen werde. Die Rätebewegung ist bei uns ein neues Forschungsthema. Was noch weithin unbekannt ist an der Räteentwicklung 1918 / 19: 800 000 Österreicher haben bei den Räteparlamentswahlen mitgemacht, das war ein Drittel der Parlamentswähler. Das ist schon ziemlich viel.

Österreich hat eine ziemlich lange Tradition der marxistischen Theorie, des Austro-Marxismus. Dazu gibt es eine Fülle von Arbeiten, aber auf die gehe ich nicht ein. Auf der anderen Seite gibt es in Ostösterreich, wie Herr Mählert schon einleitend gesagt hat, eine zehnjährige Erfahrung mit sowjetischer Herrschaft: die Besatzungszeit mit Demontagen, mit Ausbeutung, mit sowjetischem Eigentum – 450 Großbetriebe Österreichs waren sowjetisches Eigentum –, und es gibt natürlich auch schreckliche Schicksale, die auch in der politischen Arena sehr stark wirkten. Es gab Tausende nachgewiesene, amtlich dokumentierte Vergewaltigungen, aber die Dunkelziffer ist sicher viel größer. Auch die wirken nach. Dann gab es Menschenraub. Auf der anderen Seite fand in den sowjetischen Betrieben in diesen zehn Jahren natürlich eine gewerkschaftliche Mobilisierung statt, und es stellt sich immer die Frage: Wann wäre das denn gekippt, wenn es länger gedauert hätte? Wir wollen mal nicht so tun, als ob die Österreicher resistent dagegen gewesen wären. Da bin ich sehr, sehr vorsichtig.

Wir haben in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung lange Jahre nur die Erste Republik gesehen. Wir haben uns lange Jahre anderen Dingen zugewendet. Warum? Weil wir in Österreich auch in der historischen Forschung eine sehr starke Westorientierung hatten, weil wir den Eisernen Vorhang lange als Grenze hatten und weil die Kommunisten eine kleine Partei waren und politisch kein besonderes Thema. Damit überspringe ich den riesigen Zeitraum bis etwa 1990. Ab 1990 haben wir neue Themen: Nun wurden die österreichische Emigration in die Sowjetunion, die politischen Stalin-Opfer und die Kriegsgefangenen erforscht. Wir haben, das möchte ich betonen, einen fragmentarischen Quellenzugang in Moskau, und wir haben eine teilweise Öffnung der russischen, ehemals sowjetischen Archive. Ich betone dieses »teilweise«. Sie kennen alle die Matrjoschka, und ich kenne die Archive ganz gut, aber ich weiß nicht, was noch alles drin ist. Das ist jetzt nicht nur so für die Öffentlichkeit gesagt, es ist tatsächlich so. Wer von ihnen war im KGB-Archiv? Nicht in der Lubjanka! Im Süden der Stadt, wie die Russen sagen. Aber man muss mal in die tatsächlichen Archive im Süden der Stadt kommen, dann wird man sehen, was dort ist. Wer war im Archiv des Generalstabs? Wer war in Podolsk? Zehn Hektar Archive! Man sagt, es sei alles offen. Da bin ich sehr vorsichtig.

In Österreich beschäftigen sich Institutionen und private Forscher mit Kommunismusforschung. Es gibt staatliche und private Institutionen. Ich möchte diese kurz vorstellen, nur mit den Namen. Privat ist die Alfred Klahr Gesellschaft in Wien – ich verzichte darauf, alles vorzustellen, was dort erforscht wird. Ein Forschungsschwerpunkt ist die Politik der KPÖ in der Nachkriegszeit, dazu gibt es Publikationen in großer Zahl. Ein zweites großes Forschungsthema der Alfred Klahr Gesellschaft ist der KP-Widerstand gegen den Nationalsozialismus, und schließlich ist die Nachkriegsjustiz zu nennen, die Täterforschung und darin impliziert auch die Opferforschung. Die Gesellschaft hat eine Publikationsreihe Quellen und Studien, die sich großen Interesses erfreut, und sie verwaltet das Archiv der KPÖ.

Staatlich ist das Center Austria an der Universität in New Orleans. Dieses Center untersucht österreichische Zeitgeschichte, richtet den Blick aber in dem Zusammenhang auch nach Osteuropa. Es gibt die Publikationsreihe Contemporary Austrian Studies heraus.

Dann möchte ich auf eine private Einrichtung kommen. Man kann noch nicht sagen, das ist eine Forschungseinrichtung, aber es wird vielleicht eine werden: die Erzdiözese Wien. Dort beschäftigt sich Frau Dr. Fenzl, eine ausgewiesene Historikerin, sehr stark mit der Ostpolitik des Vatikan, und zwar im Zusammenhang mit der Karl-König-Stiftung. Kardinal König war ein wesentlicher Mann der vatikanischen Ostpolitik der sechziger und siebziger Jahre. Das ist noch wenig erforscht.

Was allgemein bekannt ist, ist die Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung in Linz, viele von uns waren dabei. Dann ist noch das »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes« zu nennen: Wolfgang Neugebauer, Brigitte Bailer-Galanda und andere. Forschungsschwerpunkte sind Widerstand und Verfolgung, Gedenken und Mahnen, aber auch Österreicher im Exil – das macht Herr Dr. Barry McLoughlin, ein Landsmann von Herrn LaPorte – oder die Volksgerichtsbarkeit nach 1945. Ein aktuelles Forschungsprojekt ist ein Biographisches Handbuch der österreichischen Opfer des Stalinismus (bis 1945), unter anderem mit Hans Schafranek und Walter Szevera. Es gibt eine Publikationsreihe Österreicher im Exil und noch vieles andere mehr.

Worauf ich hinweisen möchte: Die Republik hat aus den Restgeldern der Zwangsarbeiterentschädigung einen Fonds eingerichtet. Da ist Geld übrig geblieben in Österreich. Mit diesem Geld können wir forschen. Dieser »Zukunftsfonds der Republik Österreich« vergibt Projekte im weitesten Feld, zwar kleine, aber wichtige Anstoßprojekte, z. B. über die Situation der repatriierten Sowjetbürger nach 1945 in der Sowjetunion. Das ist ein ganz heißes Thema, aber das machen die.

Staatlich ist dann das Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Es ist allgemein bekannt und macht relativ viel, aber das ist das Traditionelle, was wir schon gehört haben, eben auch gerade von meinem Vorredner, Herrn Friis. Man schreibt dort die Geschichte des Ostblocks. Dann haben wir staatlich noch die Institute für Zeitgeschichte – ich erwähne hier Innsbruck mit Prof. Rolf Steininger, aber auch mit Prof. Michael Gehler, der jetzt in Hildesheim ist. Die Institute für Zeitgeschichte in Wien, in Graz und Linz brauche ich jetzt nicht weiter zu beschreiben. Dann haben wir noch ein interessantes Projekt, in dem ich mit im Leitungsgremium bin: das »Haus der Geschichte der Republik Österreich«, das wir konzipieren und wo auch in der Vermittlung gerade diese Themen vorkommen werden. Wir haben sie ja bereits inhaltlich konzipiert.

Und schließlich als Letztes – nur weil die Zeit es nicht anders ermöglicht – das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, auf das Herr Mählert bereits eingangs hingewiesen hat. Wir bemühen uns hier wirklich, ein paar Forschungsschwerpunkte durchzuziehen. Ausgegangen sind wir von der Kriegsgefangenenforschung, und zwar für Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Italien und für Österreich klarerweise. Inzwischen haben wir viel gemacht zur Zwangsarbeit, auch gemeinsam mit der österreichischen Historikerkommission. Wir untersuchen die sowjetische Besatzungszeit oder z. B. zusammen mit den Letten den lettischen Widerstand gegen die Sowjetherrschaft. Wir kooperieren viel mit den Weißrussen, und hier in Minsk mit dem weißrussischen KGB, was sehr interessant ist. Wir widmen uns Aspekten des Kalten Krieges, z. B. dem frühen Kalten Krieg oder aktuell dem »Prager Frühling« mit einem Projekt, das 2008 – hoffe ich – fertig sein wird. Wir machen Ausstellungen, die diese Themen entsprechend darstellen. Die Staatsvertragsausstellung hatte im Vorjahr immerhin 230 000 Besucher. Wir betreiben aber auch Lokalgeschichte usw. Aktuelle Forschungsprojekte sind zusätzlich die Besatzungswirtschaft, konkret die Mineralölverwaltung – Österreich hatte damals das drittgrößte Erdölvorkommen in Europa – und die sowjetische Strafjustiz in Österreich und in der Sowjetunion. Und etwas ganz Neues – dazu wird jetzt demnächst publiziert werden: die sowjetische Genforschung. Genforschung aber jetzt nicht aktuell bis 1990, sondern in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren am Beispiel der Pflanzengenetik. Vavilov ist der Hauptvertreter. Wir untersuchen auch die sowjetische Deutschlandpolitik. Zur Stalinnote erscheint jetzt ein Buch von Peter Ruggenthaler als Sonderband des Instituts für Zeitgeschichte, München. Wir haben auch selber einige Publikationsreihen.

Insgesamt also ein buntes Bild, das Österreich auf dem Gebiet dieser Forschung bietet. Man könnte noch einiges über Tendenzen und Richtungen sagen, aber ich mache jetzt Schluss.

Mählert: Herzlichen Dank, Herr Karner. Ich muss jetzt noch dazu sagen, dass er nicht nur das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung leitet, sondern bislang auch das Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Angesichts dieser Forschungsbreite wundert es nicht, dass Herr Karner 1995 – so kann man es im Internet erfahren – österreichischer »Wissenschaftler des Jahres« geworden ist.

Die Kollegen und Kolleginnen schauen nicht auf die Uhr in Gedanken an die Kaffeepause, sondern sie schauen jetzt gebannt auf Frau Studer und überlegen, wie man als Moderator so unhöflich sein kann, der einzigen Kollegin im Kreis des Beirates als Letzter die Möglichkeit zu geben, das Wort zu ergreifen, wenn die Konzentration am geringsten ist. Aber erstens bin ich davon überzeugt, dass man Ihnen, liebe Frau Studer, die größte Konzentration entgegenbringen wird. Und zweitens schien mir diese Reihenfolge auch deshalb sinnvoll, weil aus Ihrem Papier und unserem gestrigen Gespräch sehr deutlich wurde, dass in der Schweiz, wo man sich Lenins bereits 1917 entledigt hatte, die Historisierungstendenzen in Bezug auf die Kommunismusgeschichte ganz offenkundig viel weiter fortgeschritten sind als in den anderen Ländern. Frau Studer arbeitet zu Themen der Sozial- und Kulturgeschichte des Kommunismus und Stalinismus, zu Selbst und Subjektivität im Stalinismus sowie zur Historiografie des Stalinismus und Totalitarismus. Sie sind Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern, und ich möchte Sie bitten, vor der Pause zu umreißen, wie die historische Kommunismusforschung aussehen könnte, wenn die Schweiz das Vorbild wäre.

Prof. Dr. Brigitte Studer: Ich dachte schon, die Reihenfolge wäre dadurch bedingt, dass die Schweiz halt doch nicht ganz zu Europa gehört.

Ich möchte nicht nur über die Schweiz sprechen, sondern werde auch die französische Kommunismusforschung einbeziehen. Das hat inhaltliche und forschungspraktische Gründe. Nur über die Schweiz zu sprechen, wäre als Beitrag zu dünn, obschon wir heute hier nur wenig Zeit zur Verfügung haben. Allerdings wäre ein richtiger Forschungs-überblick über Frankreich dann auch schon wieder zu viel, denn die Kommunismusforschung in Frankreich ist seit Ende der Siebziger / Anfang der Achtziger äußerst produktiv und natürlich sehr viel breiter als in der Schweiz. Ich nenne ein paar Stichworte zur Kommunismusforschung in diesen beiden Ländern. Ich werde davon Abstand nehmen, einzelne Titel oder einzelne Forscher zu nennen, ich werde nur versuchen, eine Periodisierung vorzunehmen.

Aber zuvor noch kurz zu den Orten, an denen geforscht wird: In der Schweiz gibt es kein universitäres Zentrum für Kommunismusforschung, wie man sich vielleicht auch denken kann. Die zu diesem Thema Forschenden sind an einer Hand abzuzählen, und es wird dort über den Kommunismus geforscht, wo diese Forschenden auch lehren. Es existiert außerdem eine Stiftung, die »Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung« in Zürich, die unabhängig von akademischen Kreisen auch Forschung zum Kommunismus betrieben hat und zum Teil noch betreibt. In Frankreich ist die Kommunismusforschung zweigeteilt. Die Spaltung hat sich durch das Schwarzbuch des Kommunismus ergeben. Es gibt sozusagen zwei Welten. Die eine Welt ist in der Nachfolge von Annie Kriegel um die Zeitschrift Communisme versammelt. Die zweite Seite der Kommunismusforschung ist um das Centre Malher gruppiert, das an der Universität Paris 1 (früher Sorbonne) situiert und mit weiteren Forschern in Nanterre und an der Universität Dijon vernetzt ist.

Nun habe ich gesagt, dass die Zusammenarbeit der Schweiz mit Frankreich inhaltliche Gründe hat, aber auch forschungspraktische Gründe. Die meisten Forschungen in der Schweiz zum Kommunismus stehen in engem Zusammenhang mit der französischen Kommunismusforschung, und es gibt da verschiedene Forschungsverbünde. Wie hat sich die Kommunismusforschung nun in diesen beiden Ländern seit Öffnung der Archive in der ehemaligen Sowjetunion entwickelt? Es gab in beiden Ländern schon vorher eine mehr oder weniger entwickelte Kommunismusforschung, in Frankreich freilich viel ausgeprägter als in der Schweiz. Aber ich konzentriere mich nun auf die Zeit nach 1992 / 1993, als die ersten Publikationen nach Öffnung der russischen Archive erschienen sind.

Diese Jahre bilden meines Erachtens die erste Phase der Kommunismusforschung auf sowjetischer Quellenbasis, eine Phase, in der sehr viele Forschungen entstanden und publiziert wurden. Es war eine wirklich intensive Forschungsphase, aber auch eine Zeit heftiger Kontroversen, zudem mit großem Medieninteresse. Es gab nicht nur Arbeiten wissenschaftlichen Typs, sondern auch viele publizistische Veröffentlichungen. Die Erkenntnisinteressen waren jedoch sehr stark – ich sage das etwas schematisch – auf Lückenfüllung hin orientiert. Es ging in erster Linie darum, Fragen zu beantworten über Bereiche, über die man bislang nichts oder zu wenig wusste – so in Bezug auf die Parteien und Herrschaftsstrukturen, die Kominternstrukturen. Daneben ist über die wichtigen Personen intensiv biografisch gearbeitet worden, und es entstanden auch erste Forschungen zum Terror, aber es ging darin vorwiegend um Opferzahlen. Ich möchte diese erste Phase, vielleicht ein bisschen polemisch, als die sowjetische Phase der Kommunismusforschung bezeichnen, insofern als große Männer, Macht, Herrschaft und Institutionen bearbeitet wurden. Von den Gegenständen und auch von den Ansätzen her ist es, denke ich, eine Phase historistischer Geschichtsschreibung gewesen. Höhepunkt, oder vielleicht besser Wendepunkt dieser ersten Phase war das Schwarzbuch des Kommunismus, das die Forschungslandschaft gespalten und sehr viele Kontroversen provoziert hat. Aber das natürlich nicht nur in Frankreich und in der Schweiz.

Und dann gibt es eine zweite Phase, die sich gegen Ende der neunziger Jahre entwickelt hat. Diese Phase dauert meines Erachtens bis heute an. Da ging es und geht es inhaltlich noch immer sehr stark um biografische Forschungen. Allerdings hat sich das Interesse etwas verschoben in Richtung kollektivbiografischer Forschung. Es sind auch einzelne Nachschlagelexika erschienen. Daneben ist das Thema Terror und Repressionen weiterhin ein wichtiger Forschungsbereich geblieben, aber das Erkenntnisinteresse und die Fragestellungen haben sich geändert. Es geht seither weniger um die Opferzahlen und die Personen als um die Mechanismen des Terrors, die Hintergründe des Terrors.

Organisationsgeschichtlich hat sich das Interesse von den Hauptorganisationen – den Parteien, der Komintern – mehr zu Nebenorganisationen hin verschoben. Bearbeitet wurden nun auch kulturelle Interventionen, Aktionen und Orientierungen der kommunistischen Organisationen und Parteien. Und dann haben sich auch neue Thematiken entwickelt, insbesondere zu den Lebensbedingungen im Kommunismus. So wurde etwa gefragt, welche Erfahrungen die westeuropäischen Kommunisten, die in der Sowjetunion gelebt haben, gemacht haben. Ein wichtiges neues Thema bildete die Frage der kommunistischen oder stalinistischen Identität. Welche Faktoren und Einflüsse haben die Identitätsbildung orientiert, welche sozialen und kulturellen Praktiken haben die Lebenswelt Kommunismus geprägt, und welche Differenzierungen und Erfahrungen ergaben sich im internationalen Milieu der Komintern? (Diese Fragen stellen sich im Übrigen auch für die Phase nach 1945. Vor allem für die Nachkriegszeit gibt es allerdings bislang nur für die französische KP erste Forschungen.) Gab es vielleicht unterschiedliche Prägungen durch das jeweilige Milieu, durch das politische und kulturelle Leben des eigenen Landes? Oder waren die gemeinsamen politischen Interessen und die intensiven Transfers zwischen den beiden Ländern und den Organisationen stärker, dominierten die Verflechtungen, die sich dabei ergaben? Umgekehrt stellt sich die Frage der Aneignung von kulturellen Denkmustern aus der Sowjetunion in den kommunistischen Parteien in Frankreich und in der Schweiz. Hier hat sich eine methodologisch-konzeptionelle Verschiebung ergeben in Richtung einer kulturwissenschaftlich orientierten respektive einer sozialhistorisch und historisch-anthropologisch orientierten Geschichtsschreibung. Das zeigt sich sowohl in den Herangehensweisen an die Gegenstände als auch in den Fragenstellungen.

Um es wiederum ein wenig schematisch auszudrücken: Man könnte sagen, dass wir jetzt in einer »annalistischen« Phase der Geschichtswissenschaft stehen, nicht mehr in der dritten, sondern der vierten Generation der »Annales«, nicht mehr in der mentalitätsgeschichtlichen, sondern in der kulturgeschichtlichen Phase. In dieser Phase hat sich die Herangehensweise von deskriptiven Verfahren weg und stärker in Richtung rekonstruktiver Verfahren verändert. Das war zum Teil auch dadurch bedingt, dass neue Quellen »entdeckt«, respektive alte Quellen erst kürzlich beachtet worden sind – Quellen, die man neu gelesen hat. Ich denke an die Quellen des Typus »Egodokumente«. Die Sowjetunion ist in dieser Hinsicht ein Spezialfall. Es finden sich nämlich nicht nur »klassische« Egodokumente wie Tagebücher und Korrespondenzen usw., die in den letzten Jahren zum Teil auch durch die russische, die osteuropäische Geschichte erschlossen worden sind, sondern auch spezifische Egodokumente wie die zahlreichen Dokumente aus den Parteisitzungen, aber auch aus Unternehmen: Gruppendiskussionen und Selbstberichte, Selbstkritiken, Autobiografien kollektiver Art. All diese Quellen sind in den letzten Jahren vermehrt genutzt worden.

In diesem Sinne möchte ich auch sagen, dass das, was Hermann Weber eingangs angesprochen hat, nämlich die Notwendigkeit der Historisierung der Kommunismusforschung, ein Stück weit, meine ich, in der französischen und schweizerischen Kommunismusforschung umgesetzt worden ist. Auch mit der Intention, den Kommunismus stärker in die allgemeine Geschichte einzuschreiben, sozusagen als Spezialgebiet zu entgrenzen. Ob das wirklich gelungen ist, kann heute wohl nicht definitiv gesagt werden, aber ich denke, es hat sich doch etwas verändert. Ein Hinweis, dass es der historischen Kommunismusforschung zumindest in Ansätzen gelungen ist, aus ihrer selbst produzierten historiografischen Isolation auszubrechen, kann sicher darin gesehen werden, dass die kognitiv-theoretischen Bezüge der Kommunismusforschung sich auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der Geschichtswissenschaft allgemein in Richtung einer mehr kulturwissenschaftlich orientierten Sozialgeschichte, einer erneuerten politischen Geschichte verändert haben, dass sich eine gewisse Verschiebung in der Betrachtungsweise politischer Organisationen, kommunistischer Organisationen ergeben hat.

Mählert: Herzlichen Dank, Frau Studer. Herzlichen Dank an alle Referenten und Gäste, die jetzt schon über zwei Stunden mit gleichbleibender Konzentration den elf Beiträgen zugehört haben.

Gestern hat der Herausgeberkreis getagt. Gegenstand der Beratung war nicht nur die Zukunft des Jahrbuchs, auch die inhaltlichen Perspektiven und die Zusammenarbeit mit dem neu gegründeten Beirat standen auf der Tagesordnung. Es gab auch weitere Personalien, die für das Jahrbuch von großer Bedeutung sind und die einerseits jemanden betreffen, der unmittelbar neben mir sitzt, und andererseits zwei Herren, die heute nicht hier sein können. Hermann Weber hat das Jahrbuch 1993 gegründet und hat es zu dem gemacht, was es heute ist. Er hat uns schon vor zwei Jahren gewarnt, dass er die Arbeit am Jahrbuch nicht so lange fortzusetzen gedenkt, bis die Leute sagen, jetzt sei es aber Zeit, dass er sich zurückzieht. Und so hat Hermann Weber entschieden, mit dieser Ausgabe aus dem Herausgeberkreis auszuscheiden. In der nächsten und allen weiteren Ausgaben des JHK wird dann an prominenter Stelle vermerkt, wer dieses Jahrbuch begründet hat. Und dort, wo jetzt noch u. a. sein Name steht, werden dann Peter Steinbach und Stefan Troebst als neue Mitherausgeber benannt sein. Wir freuen uns auf unsere neuen Mitstreiter im Herausgeberkreis und darauf, dass Hermann Weber unserer Arbeit weiterhin mit Rat und Tat zur Seite stehen wird.

Mählert: Wir sind jetzt im zweiten Teil des heutigen Nachmittags angelangt. Das Wort haben zuerst unsere Gäste. Es gibt eine Reihe von Kollegen, die bereits angekündigt haben, dass sie unter Umständen Anknüpfungspunkte nutzen wollen, um über Kommunismusforschung in anderen Regionen oder zu speziellen Themen etwas beizutragen. Herr Wilfried Jilge hat jetzt als Erster das Wort.

Wilfried Jilge: Mein Name ist Wilfried Jilge. Ich komme vom »Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas« an der Universität Leipzig. Ich möchte anknüpfen an die Dinge, die zum Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung gesagt wurden, das sich ja – wenn ich es richtig verstanden habe – öffnen will für den osteuropäi-schen Kontext und die doch sehr unterschiedlichen Entwicklungen im postsowjetischen Raum in den Blick nehmen will. Wir haben ja eben von Herrn Vatlin eine Zusammenfassung gehört, und da ist mir doch aufgefallen – ich beschäftige mich vor allem mit der Aufarbeitung des Totalitarismus in der Ukraine –, dass es in den einzelnen postsozialistischen Ländern natürlich viele Ausgangsvoraussetzungen gibt, die ähnlich sind, aber dass die dortige historische Forschung beginnt, sich stark auszudifferenzieren. Was mir konkret am Herzen liegt, das sind Anknüpfungspunkte thematischer Art, die die DDR-Forschung oder die Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR-Forschung unmittelbar thematisch mit einem Land wie z. B. der Ukraine verbindet. Beispielsweise die sehr unterschiedlich verlaufende regionale Aufarbeitung, die in der Ukraine keineswegs in einer Ost-West-Spaltung aufgeht, sondern sich in drei, vier Erinnerungsregionen des Landes ausdifferenziert und sich teilweise sehr kontrovers darstellt. Und hier bietet sich vielleicht ein Erfahrungsaustausch an, denn in gewisser Weise betrifft dieses Problem ja auch das vereinigte Deutschland.

Der nächste Punkt betrifft den Dialog zwischen den Erinnerungskulturen. Wir haben ja eben noch gesagt, dass der Blick auf die einzelnen Länder und der Diskurs mit den dortigen Partnern vielleicht auch unsere Zugänge und Periodisierungen ändern wird. Und ich denke, wichtige Themen werden jetzt aufkommen, die die Erinnerung an den Totalitarismus auch im westlichen Europa verändern werden. In der Ukraine steht die Debatte über die eigene Vergangenheit sehr stark unter legitimationswissenschaftlichen Vorzeichen. Ein Beispiel ist die Debatte über die große Hungersnot 1932 / 1933. Die Forderung ukrainischer Historiker und Politiker (z. B. des Präsidenten) nach internationaler Anerkennung der Hungersnot als »Genozid am ukrainischen Volk« lässt sich jedoch nicht nur unter der Rubrik »interne Geschichtspolitik« verbuchen, sondern drückt auch das Bedürfnis nach größerer Anerkennung eigener totalitärer Erfahrung aus. Ich denke, dass dieses Thema auch über die Europäische Union, jetzt auch in Wissenschaftsprojekten gefördert, Teil unserer Debatte wird, so könnte ein Jahrbuch mit diesem Renommee auch ein Forum sein, um sich schon im Vorhinein – wenn die großen emotionalen Debatten vielleicht noch nicht ganz ausgebrochen sind und einen ernsthaften Dialog erschweren – mit diesen Fragen zu beschäftigen und Meinungen und Kontroversen abbilden. Denn es geht ja hier einerseits um Versuche der Konstruktion eines »ukrainischen Holocaust« oder osteuropäi-schen Holocaust, andererseits um eine zentrale Vernichtungserfahrung in der Geschichte des sowjetischen Staates, die in »westlichen Erinnerungskulturen« immer noch unterbelichtet ist.

Mählert: Das ermuntert mich, hier ausdrücklich zu sagen, dass solche Texte natürlich willkommen sind.

Weber: Es war ein spannendes Forum von Anfang an und es ist geradezu geschaffen für solche Dinge.

Jilge: Also es geht nicht nur um die Diskussion von Kontroversen, sondern um eine stärkere wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas, aber auch um eine intensivere Auseinandersetzung mit den Forschungsleistungen osteuropäischer Kollegen wie z. B. der ukrainischen Historiker. Ich denke, da gibt es immer noch ein Defizit. Das Thema ist ja auch bei uns nicht ganz ohne geschichtspolitische Vorzeichen, und ich denke, es wird sehr wichtig werden.

Dr. Jan Foitzik: Ich wollte generell auf die Spaltung aufmerksam machen, die in den Berichten erkennbar wurde. Im Grunde ist in Osteuropa die Kommunismusgeschichte in den Nationalgeschichten geronnen, während in Westeuropa ein kulturologischer Zugang zu dieser Geschichte dominiert. Wie kann man die beiden vereinen? Geht das? Wir haben die gleiche Diskussion in Deutschland. Die Richtungen entwickeln sich inzwischen unabhängig nebeneinander.

Man könnte auch sagen, dass die alte Kommunismusgeschichte an der Vielzahl der Fakten in gewissem Sinne gescheitert ist. Wir kommen mit den Einzelphänomenen nicht zurecht und versuchen, das irgendwie theoretisch zu kompensieren. Diese theoretische Aufbereitung kann man vielleicht für die Schweiz und für Frankreich machen, wo es keine Brüche in der historischen Entwicklung gibt. Jedenfalls nicht solche starken oder existenziell bedeutsamen Brüche wie in Osteuropa. Die »westlichen« Methoden kann man nicht generell auf Osteuropa anwenden.

Ja, aber wie bringt man die beiden Geschichten, die Kommunismusgeschichten, zusammen? Ist das möglich? Was ist nötig, um zu einer Verständigung zwischen den Schulen zu kommen? Sie werden jetzt vielleicht sagen, dass ich polemisieren will, wenn ich nur kurz rhetorisch frage: Wie kann man einen Osteuropäer dazu bringen, 
Baberowski zu lesen?

Jilge: Ich möchte das nur noch einmal unterstreichen, denn es geht genau in meine Richtung. Ich würde nur massiv die These in Frage stellen, dass wir hier in Westeuropa mit den kulturologischen, metahistorischen Instrumenten herangehen, und in Osteuropa ist das alles schön Nationalgeschichte.

Foitzik: Das meine ich nicht in dieser Entschiedenheit. In Tschechien spielt beispielsweise die französische Geschichtsdiskussion eine sehr große Rolle, und sie ist dort viel intensiver rezipiert worden als z. B. in Deutschland. Darin sehe ich das Problem – ein allgemeines, dass die einzelnen Forschungsrichtungen schon heute kaum miteinander kommunizieren können, und ein spezielles: Die Forschungslage ist äußerst komplex, und wir sollten sie hier nicht weiter zerbröseln.

Dr. Wilfriede Otto: Ich begrüße, was Prof. Weber in Bezug auf die Vernetzung angesprochen hat. Das ist natürlich sehr schwierig im Konkreten. Für den Charakter des Jahrbuchs und dessen Ausstrahlungskraft müsste man überlegen, bei welchen Themen man Osten und Westen vergleichen könnte. Z. B. wenn man an die Parteienproblematik denkt. Da gibt es Grundzüge, die stimmen zwischen den West- und Ostparteien überein. Ich meine Themen, wo man solche Grundzüge und gleichzeitig Unterschiede herausarbeiten kann, um verständlich zu machen, wie was aufeinander einwirkte und in welcher Zeit. Das wäre meines Erachtens auch für die Aufbereitung weiterer Erkenntnisse in Bezug auf die Kommunismusforschung und ihre Ausstrahlungskraft auf Debatten wichtig. Es müsste allerdings bewusst angedacht und organisiert werden, wenn ich z. B. an die Beziehungen zwischen KPdSU und SED oder, wie jetzt hier erwähnt wurde, zwischen der DDR und Dänemark denke. Hier handelte es sich zwar um die staatliche Ebene, aber möglicherweise lassen sich auch Schwerpunktthemen für ein vergleichendes Herangehen finden.

Die andere Sache, die ich sehr begrüße, ist der Blick auf die mentale Geschichte. Mein Eindruck aus verschiedenen Diskussionen ist, dass es Auffassungen gibt, die mentale Geschichte oder eine Historisierung der Kommunismusforschung pauschal als Ablenkungsmanöver verstehen. Warum? Da würde angeblich beschönigt, von Grundrichtungen oder von dieser oder jener Problematik abgelenkt. Ich denke, dem ist nicht so, weil es ein viel komplizierterer Vorgang ist, Prozessen konkret historisch nachzugehen und in diesem Sinne Grundelemente widerzuspiegeln, anstatt sich von vornherein auf bestimmte Thesen und Einschätzungen festzulegen. Mentale Forschungen und Historisierung erweitern das Blickfeld, lenken auf viel mehr Details und Widersprüchlichkeiten, für die man Erklärungen finden kann oder auch nicht, die man bewertend bzw. distanzierend behandeln kann. Insofern polemisiere ich gegen Meinungen, dass solche Forschungen eine Beschönigung der Vergangenheit, der ernsthaften Probleme der kommunistischen Bewegung und ihrer stalinistischen Entwicklung seien.

Mein anderer Punkt ist eine Frage, die schon Prof. Weber aufgeworfen hat: Warum haben eigentlich die Massen trotz Terroropfern immer noch zu den kommunistischen Regimen gehalten? Das ist eine Kernfrage, die für die einzelnen Länder unterschiedlich zu beantworten ist und die vermutlich aus theoretischer Sicht und unter sozialen Aspekten betrachtet werden muss. Denn keine geschichtliche Entwicklung vollzieht sich ohne eine gewisse Berücksichtigung sozialer Belange. Mich bewegt diese Frage im Zusammenhang mit Personen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, sich aber nie lossagten – weder von der stalinisierten Kommunismusidee noch von der Partei. Eine Antwort darauf zu finden ist schwer, wenn man einen konkreten Fall untersucht. Könnte hier nicht auch eine Rolle gespielt haben, dass die Stalinisierung, der Stalinismus und alles, was unter diesem Begriff historisch zu fassen ist, eben auch deshalb wachsen konnte, weil sie auf dem Boden marxistischer Auffassungen standen, die im 19. Jahrhunderte geboren wurden, die mit der sozialen Grundidee zusammenhingen und einleuchtend waren aufgrund konkreter historischer Bedingungen? Die aber dann missbraucht und in stalinistische Dogmen transformiert wurden, denen ein marxistisches Mäntelchen umgehängt wurde, das die Menschen nach wie vor faszinierte, auch unter besonders repressiven Unterdrückungsbedingungen. Da ist für mich die Frage, ob eine gewisse Grundlage vorhanden war, die umgemünzt werden konnte und Menschen einfing, ohne die Stalin’sche Linie, das Stalin’sche Konzept nahtlos von Marx bzw. aus dem Kommunistischen Manifest herzuleiten.

Mählert: Vielen Dank, Wilfriede Otto. Du hast eine Frage gestellt und auch gleich beantwortet.

Oberst Dr. Winfried Heinemann: Ich würde jetzt inhaltlich in eine ganz andere Richtung gehen wollen und die Frage nach dem Kalten Krieg und die Frage der Sicherheitspolitik ansprechen. Ich stehe ja, wie man sieht, dafür. Ich fand das jetzt in zweierlei Hinsicht sehr interessant. Auf der einen Seite ist mir aufgefallen, dass eine ganze Reihe Beiträge eigentlich den Kalten Krieg nur so als Folie sehen, vor der sich Kommunismusgeschichte in irgendeiner Weise entwickelt und die eigentlich nur einen Hintergrund bildet, den man zur Not auch noch ausblenden kann. Das halte ich für ein bisschen problematisch, weil es ja auch die Frage ausblendet, ob vielleicht umgekehrt der Kalte Krieg auch die Frucht einer ideologischen Auseinandersetzung ist. Diese Frage, inwieweit es ein ideologisch begründeter Krieg war, der 50 Jahre angedauert hat, also die Georges-Soutou-These, die fällt in der sicherheitspolitischen Debatte – Herr Friis, ich weiß nicht, ob Sie mir da zustimmen würden, aber das ist so meine Konzeption – doch etwas hinten rüber in den letzten Jahren. Die sicherheitspolitische Debatte nähert sich mehr der These an, das sei eine geostrategische Auseinandersetzung, sie ist in meiner Wahrnehmung erstaunlich entideologisiert. Und da, finde ich, wäre es auch eine wichtige Aufgabe für das Jahrbuch, diese ideologische Dimension zumindest als offene Frage wieder einzubringen. Ich behaupte jetzt hier nicht, dass es eine rein ideologische Auseinandersetzung gewesen ist zwischen dem Kommunismus und der freien Welt. Aber die Frage, inwieweit es das eine und inwieweit es das andere gewesen ist, diese Frage muss immer wieder gestellt werden, und ein Jahrbuch, das sich die Kommunismusforschung als Schwerpunkt setzt, könnte sie immer wieder einmal stellen.

Mählert: Wir haben das Glück, dass wir Martin Großheim in unserem Kreis haben, der, wie er mir gerade erzählte, über Bayern direkt aus Vietnam hierher gekommen ist und zu den wenigen Kollegen zählt, die sich mit der Zeitgeschichte des südostasiatischen Raums auskennen. Ich fände es ganz interessant, wenn Sie mal in Ergänzung dessen, was wir heute in den ersten zwei Stunden gehört haben, ein paar Stichpunkte geben würden, wie sich die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus dort eigentlich entwickelt.

Dr. Martin Großheim: Vielen Dank. Also Vietnam ist natürlich insofern ein Sonderfall, als die Kommunistische Partei in Vietnam noch an der Macht ist. Aber es gibt in den letzten Jahren, um es genau zu sagen, in den letzten 20 Jahren ganz interessante Entwicklungen. Das hängt damit zusammen, dass Vietnam sich seit 1986 geöffnet hat. Seitdem finden in Vietnam Wirtschaftsreformen statt, ähnlich wie in China, nur etwas zeitversetzt. Die damit verbundene Öffnung des Landes hat zur Folge, dass ausländische Forscher in Vietnam auch bessere Forschungsbedingungen haben, sprich Zugang zu Archiven, und auch die Möglichkeit, mit Vietnamesen Interviews zu führen. Außerdem haben Vietnamforscher seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten auch Zugang zu den Archivbeständen in Moskau oder hier in Berlin.

Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von interessanten Biografien entstanden, wie beispielsweise die Biografie von Ho Chi Minh, die seine Rolle ganz neu bewertet. Oder, was jetzt vielleicht etwas mehr auf die Fragestellung Kalter Krieg eingeht, es gibt eine ganze Reihe neuer Studien über die Beziehungen zwischen Vietnam, oder besser gesagt Nordvietnam, und der Volksrepublik China während des Kalten Krieges. Und es gibt neue Studien über die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Nordvietnam vor dem Hintergrund des sowjetisch-chinesischen Konflikts. Darüber hinaus sind eine Reihe weiterer neuer Untersuchungen über innenpolitische Probleme in Vietnam erschienen. Als Beispiel sei hier 1956 genannt. Das war auch für Nordvietnam ein Schicksalsjahr, ein Krisenjahr, denn es gab dort auch so etwas Ähnliches wie die »100-Blumen-Bewegung« in China, die sogenannte Nhan-Van-Giai-Pham-Affäre, und es gab eine Landreform, die aus dem Ruder gelaufen ist. Dazu liegt jetzt auch eine ganze Reihe von neueren Untersuchungen vor, weil, wie ich vorhin schon gesagt habe, ausländische Forscher in Vietnam mittlerweile Interviews führen können und Zugang zu neuen Quellen haben.

Vielleicht kurz zum Abschluss: Was die Forschung in Vietnam selber angeht, so muss man sagen, dass sich die vietnamesische Geschichtswissenschaft noch nicht an solche Tabuthemen heranwagt. Das hängt damit zusammen, dass es laut vietnamesischer Verfassung bzw. Strafgesetz unter Strafe steht, sogenannte revolutionäre Errungenschaften infrage zu stellen. Es ist also z. B. ein Straftatbestand, wenn historische Persönlichkeiten wie Ho Chi Minh angeschwärzt werden. Das kann sogar so weit gehen, dass es ein ganz eklatantes Tabu ist, wenn z. B. jemand behauptet, dass Ho Chi Minh verheiratet gewesen sei, weil die Legende eine andere ist. Es heißt, Ho Chi Minh habe sein ganzes Leben der vietnamesischen Revolution geopfert, aber Fakt ist, das wissen auch die meisten Vietnamesen, dass er mindestens einmal verheiratet war. In Vietnam kann man aber so etwas nicht offen sagen. Es gibt also immer noch Tabuthemen, ich habe ja schon das Stichwort 1956, die vietnamesische »100-Blumen-Bewegung«, genannt. Die Schriftsteller, die damals verhaftet bzw. mit einem Berufsverbot belegt wurden, sind mittlerweile wieder rehabilitiert, aber in der neuen vierbändigen vietnamesischen Geschichte, die bald herauskommt, findet man nach wie vor orthodoxe Darstellungen über diese Vorgänge. Da hat sich noch nichts Neues getan bzw. nur ganz wenig in Ansätzen. Das Bild ist also ambivalent: auf der einen Seite Neuentwicklungen in der Forschung über Vietnam im Ausland, auf der anderen Seite in Vietnam selbst nur ein ganz zaghafter Beginn.

Mählert: Es hat sich Herr Luban zu Wort gemeldet.

Ottokar Luban: Wir haben in China zwei Tagungen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft gehabt, 1994 und 2004. Die Teilnehmer, die sowohl auf der ersten wie auf der zweiten Tagung dabei waren, haben den großen Gegensatz gespürt. Das zweite Mal gab es eine freie Diskussion. Das konnte auch im Rahmen der Zielsetzungen der chinesischen KP geschehen, die die Demokratisierung, in einem bestimmten Rahmen natürlich, offiziell im neuesten Programm als eine der wichtigsten Aufgaben proklamiert, vor allem auch als ein Mittel, um die Korruption zu bekämpfen. Im Rahmen dieser Tagung von 2004 wurde ganz offen alles, was mit Mao und der Kulturrevolution zu tun hatte, heftigst kritisiert. Die freie Diskussion war auch das Kennzeichen einer internationalen Konferenz im vergangenen Jahr an der Huanzhong Normal University von Wuhan, wo man sich stärker den nationalökonomischen Arbeiten Rosa Luxemburgs widmete. Es war dort auch festzustellen, dass die Auffassungen von Gramsci und Lukácz an den Universitäten, jedenfalls von Doktoranden und fortgeschrittenen Studenten, sehr intensiv untersucht werden und dass versucht wird, ihre Auffassungen mit der Ideologie der chinesischen KP zusammenzubringen. Hier besteht also eine Forschung über den europäischen Kommunismus, die sehr unorthodox ist, nicht in den erwarteten orthodoxen Bahnen verläuft. Und das alles unter der offiziellen Ägide des Parteiinstituts in Peking, das auch sehr frei damit umgeht. In den Gesprächen mit deren Vertretern wurde gleichzeitig deutlich, dass sie sich darüber im Klaren sind, dass in den einzelnen Provinzen die wissenschaftliche Diskussion ganz anders ablaufen kann, noch freier als in Peking am Parteiinstitut oder auch wesentlich eingeschränkter. Hier wäre es einmal sehr interessant, einen Überblick im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung zu geben.

Mählert: Vielen Dank. Jetzt hat Walter Süß das Wort.

Dr. Walter Süß: Ich habe eine Frage an die Kollegen (eine Kollegin ist ja wieder nicht mit dabei) aus den ehemals kommunistischen Staaten. Sie ist zwar zum Teil von Herrn Vatlin schon für Russland beantwortet worden, aber mich würde generell interessieren: Inwieweit gibt es eine Diskussion über diese zeitgeschichtlichen Aufarbeitungsinitiativen in den ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes? Gibt es da überhaupt ein Bedürfnis und Interesse? Vom Gegenstand her – soweit man Kommunismusforschung betreibt – wäre es schon methodisch zwingend, sich auf eine solche Diskussion einzulassen. Das heißt aber nicht, dass sie auch automatisch stattfindet. Wenn sie also nicht stattfindet, denke ich, könnte auch das Jahrbuch dazu zumindest einen Beitrag leisten.

Ruchniewicz: Ich muss auch die Ansätze erwähnen, die es in den letzten Jahren gab, dass wir die Forschung über den Ostblock, die im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Ostblockstaatensystems steht, doch in etwas größerem Rahmen sehen. Genauso war das in Bezug auf die DDR. Da haben wir immer Probleme mit der deutschen Historiografie – der bundesdeutschen bzw. der der DDR – gehabt, die die DDR als innerdeutsche Angelegenheit gesehen hat, selbst noch in den 90er-Jahren. Damit tun wir uns nach wie vor schwer. Es hieß vorher Arbeiteraufstand und später Volksaufstand. Wir haben nach wie vor diesen Volksaufstand mehr oder weniger als Volksaufstand innerhalb des Ostblocks gesehen und nicht in dem deutschen Kontext. Zum Beispiel habe ich vor wenigen Jahren mit zwei anderen Kollegen über das widerständige Verhalten am Beispiel Polens im Vergleich mit der DDR und der Tschechoslowakei gearbeitet. Wir wollten ursprünglich auch Ungarn mit einbeziehen. Ich kannte damals Herrn Ungváry noch nicht, aber wir haben einen anderen Kollegen gefunden – János Tischler –, der sich sehr ausgiebig mit den polnisch-ungarischen Beziehungen beschäftigt hatte. Das Buch ist schon vor Jahren erschienen, aber ich kenne keine deutsche Zeitschrift, die darauf aufmerksam gemacht hat.

Ich würde also sagen, dass sehr viele Vergleichsstudien gemacht worden sind. Allerdings gibt es, wenn man die deutsche Forschung nimmt, zwar inzwischen sehr viele bilaterale Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen oder besser den Beziehungen Polen-DDR. Auf dieser Konferenz haben wir heute auch schon davon gehört, auch von den Beziehungen DDR – Großbritannien, aber es gibt von der deutschen Seite wenig Ansätze, das im größeren Komplex zu sehen: von der deutschen Geschichte wegzugehen und sich auf den Ostblock zu konzentrieren, also die Vorgänge in der sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR als Teil des Ostblocks zu sehen. Darin sehe ich schon ein Problem, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir nicht so gut kommunizieren können. Dazu kommt noch, dass man auf deutschen Tagungen auch erlebt, es gibt die sogenannten DDR-Spezialisten und es gibt Kollegen, die sich für die Geschichte Deutschlands interessieren. Aber die sprechen nicht miteinander. Das ist interessant zu beobachten. Das heißt, man redet sehr oft aneinander vorbei. Die DDR wurde nicht als Teil des Ostblocks gesehen – und da haben wir dann auch z. B. in Polen Probleme, polnische Kollegen zur Mitarbeit an solch einem geschichtlichen Thema bewegen zu können. Doch das Interesse ist vorhanden, und das Gespräch ist notwendig.

Mählert: Erhart Neubert drängt es zu einem Zwischenruf.

Dr. Erhart Neubert: Ja, Herr Ruchniewicz, das stimmt nicht ganz. Denn es gibt eine Buchveröffentlichung, die komparatistisch angelegt ist, wo die DDR-Geschichte und vor allem die Widerstandsgeschichte ausdrücklich in den osteuropäischen Kontext gestellt werden. Ich mache hier nochmals aufmerksam auf das Buch über die Rezeptionsgeschichte des 17. Juni, das wir mit Ilko-Sascha Kowalczuk zusammen gemacht haben. Da haben wir das ausdrücklich in den Kontext der osteuropäischen Aufstandsgeschichte seit 1945 gestellt.

Ruchniewicz: Das habe ich mit meinen Kollegen gemacht, aber das hat kein deutscher Kollege gemacht. In Deutschland ist niemand auf die Idee gekommen, die polnischen Akten mit einzubeziehen und selber als Deutscher darüber zu forschen. Das ist der Unterschied. Deswegen habe ich den Text mit meinen Kollegen geschrieben. Nur ich meine, um jetzt auf der anderen Seite Verständnis zu wecken, Sie können weder Polnisch noch Ungarisch sprechen, und deswegen ist es ganz wichtig, dass man weg ist von der deutschen Geschichte und in die jeweilige nationale Geschichte geht und versucht, diese bilaterale bzw. multilaterale Schiene einfach stärker zu berücksichtigen. Das habe ich gemeint.

Mählert: Welchen Band meinten Sie jetzt?

Großheim: Den Band, den Kowalczuk über den Volksaufstand und zur Rezeption des kommunistischen Volksaufstands herausgegeben hat: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte. Das war ein Tagungsband, an dem ich auch mitgewirkt habe. Das haben Sie wahrscheinlich gemeint.

Neubert: Nein, das ist kein Tagungsband, sondern es gibt eine Monografie, die ausdrücklich nur die Rezeptionsgeschichte behandelt. Wenn Sie da einmal hereinschauen, dann sehen Sie, dass das natürlich auch in diesen osteuropäischen Kontext hineingehört.

Mählert: Es wurde jetzt ein Kardinalproblem unserer Forschungslandschaft angesprochen: das Sprachproblem. Viele DDR-Forscher sind kaum in der Lage, englische Diskussionen zu verfolgen, geschweige denn polnische oder tschechische. Das lässt sich zum Teil biografisch erklären. Auch die formalen russischen Kenntnisse sind nicht gut genug, um russische Beiträge ausreichend zur Kenntnis zu nehmen. Und dass dann wiederum in Ungarn, Tschechien und Polen die Sprachkompetenz besser entwickelt ist, hat natürlich auch mit der Größe der Länder zu tun.

Aber Sascha Vatlin wollte noch einmal etwas zu dieser Zusammenarbeit sagen.

Vatlin: Ich bedauere wirklich, dass wir diesen komparatistischen Ansatz zumindest im osteuropäischen Bereich nicht haben. Vielleicht einige Sätze dazu, warum das so ist. Ich würde sagen, in den gesellschaftlichen Initiativen der Aufarbeitung klappt es viel besser – Beispiel Memorial, Beispiel Karta –, für die Historiker ist es aber offensichtlich schwieriger. Wir haben auch mit osteuropäischen Kollegen unsere Probleme. Das gilt für die sowjetische und die russische Geschichtsschreibung. Stefan Karner hat gerade dieses Matrjoschka-Beispiel angeführt. Also jetzt entpuppt sich die Matrjoschka in eine andere Richtung, was das sowjetische Imperium betrifft. Die anderen Länder wechseln die Fronten, wenn man es stark vereinfacht, und die Matrjoschka wird einfach kleiner. Und viele Historiker – in Russland meine ich jetzt, ich spreche für die russischen Historiker – sind wirklich nicht in der Lage, diese Geschichte so schnell zu verarbeiten; gerade was ich über die Heimatgeschichte erzählt habe. Jetzt gibt es bei uns Streit bei Lehrstuhlbesetzungen: Was macht man mit den früheren Sowjetrepubliken? Welchem Forschungsschwerpunkt werden sie zugeordnet? Wo findet man jetzt die Ukraine, wo findet man jetzt Usbekistan? In dem Fall, über den ich gerade in der Pause gesprochen habe, wird bei uns der Lehrstuhl »Blischnije zarubeschje« eingeführt, wörtlich Lehrstuhl für »näheres Ausland«. Die ost-europäischen Länder liegen gerade dazwischen, zwischen näherem Ausland, d. h. früheren Sowjetrepubliken, und dem »richtigen« Westen. Was soll man sagen? Bei vielen Kollegen, gerade bei denen, die in der slawischen Abteilung arbeiten, gibt es gewisse Ressentiments. Unsere frühere Solidarität ist jetzt vorbei, es ist so eine Art Scheidungsprozess gewesen. Man muss das einfach erleben und überleben, und gerade die neuen nationalen Töne in den osteuropäischen Ländern stoßen bei manchem Kollegen auf eine gewisse Intoleranz – sagen wir es so. Es wird immer wieder polemisiert, und deshalb habe ich gesagt, dass es mit der Historisierung schwierig sein wird. Und Historiker haben immer das Problem, dass sie der Macht viel näher sind als die gesellschaftlichen Initiativen wie Memorial und viele, viele andere. Das ist der jetzige Standpunkt der russischen Historiker.

Mählert: Herr Tůma wollte sich in dieser Sache noch äußern.

Tůma: Sie haben von Sprachproblemen gesprochen. Deutsch ist mein Sprachproblem, aber ich will es versuchen. Vor zehn oder zwölf Jahren waren es vor allem amerikanische Wissenschaftler, die uns zusammenbrachten und multilaterale Kooperationen anbahnten. Jetzt tragen auch das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung und die Stiftung Aufarbeitung dazu bei, gemeinsame Projekte zu initiieren und die Forscher verschiedener Länder zusammenzubringen. Manchmal sind bilaterale Kooperationen geradezu unerlässlich; etwa wenn es darum geht, die Geschichte des Prager Frühlings zu erforschen. Das ist ohne Zusammenarbeit mit russischen Kollegen und Archivaren nicht möglich. Wir sammeln seit acht Jahren unsere Erfahrungen in einem solchen gemeinsamen Projekt. Geplant ist eine Dokumentenedition, aber dies gestaltet sich so kompliziert, und es geht so langsam voran – es kann passieren, dass zwei bis drei Jahre gar nichts passiert. Manchmal erscheint mir dann die Zusammenarbeit mit russischen Historikern und mit den dortigen Archiven wie ein permanenter Kleinkrieg.

Ungváry: Ich habe inzwischen auch über die Frage nachgedacht, und in meinem Referat habe ich ja auch beschrieben, wie es bei uns um die Politisierung der Geschichtswissenschaft steht. Es ist ja um gewisse Diskrepanzen gegangen. Unsere Wissenschaft war einmal die freieste im Ostblock: In den achtziger Jahren oder Anfang der achtziger Jahre ist z. B. schon erörtert worden, dass das Horthy-Regime nicht faschistisch war. Selbst zu 1956 sind schon vor der Wende ganz unterschiedliche Bücher erschienen, und es gibt auch sicher sehr interessante und gute Sachen, die auf dem wissenschaftlichen Niveau des Westens waren, schon zur Wendezeit. Ich dachte darüber nach, warum und ab wann bei uns dann die Komparatistik fast zu 100 Prozent fehlt. Dass der Vergleich zur Tschechoslowakei oder zu Rumänien fehlt, mag auch an Sprachproblemen liegen. Wir sind zwar Nachbarn, aber trotzdem gibt es da bestimmte Probleme. Aber gerade die DDR-Forschung könnte ein Ansatzpunkt sein, denn es sprechen doch viele Ungarn Deutsch, und es gibt eigentlich auch Mittel, zumindest von deutscher Seite. Trotzdem ist das total untergegangen. Das geht so weit, dass es bei den 56er-Feierlichkeiten in Ungarn völlig unbekannt ist, dass in Berlin einige Jahre davor etwas passiert ist – und es ist deshalb völlig unbekannt, weil die Wissenschaftler darüber nie etwas geschrieben haben. Nicht einmal in einer Tageszeitung. Ich glaube, da kann das Jahrbuch sicher sehr viel beitragen, denn es müssen noch potenziell Leute in Ungarn vorhanden sein, die diese Komparatistik machen könnten. Wir haben nicht diese Strukturprobleme wie z. B. Bulgarien oder andere Länder, wo diese Forschungen nicht gediehen sind. Es gibt geschulte Leute, aber wir haben so etwas trotzdem nicht gemacht. Ich verstehe das auch nicht.

Mählert: Ich glaube, im Hinblick auf komparatistische Perspektiven und die Zusammenarbeit zwischen den Ländern kann man das Glas entweder als halb voll oder als halb leer bezeichnen. Wenn man konkret darüber nachdenkt, kann man sehr viele Beispiele für bilaterale Zusammenarbeit nennen. Ich verweise nur auf das an der Uni Mannheim in den neunziger Jahren realisierte Projekt über Parteisäuberungen im Kommunismus, in dem wir mit Karel Kaplan, mit František Svátek und mit russischen Kollegen zusammengearbeitet haben. Denken Sie an die großen Konferenzen, die unter Federführung des IPN in den vergangenen Jahren organisiert wurden, über die Geschichte von Geheimdiensten im Kommunismus. Die Liste solcher Kooperationen würde recht lang werden, denken Sie allein an die vielen Veranstaltungen aus Anlass des 50. Jahrestags des Ungarnaufstands. Wahrscheinlich ist die Situation besser, als es jetzt einen Moment lang den Eindruck erweckte, als du dich zu Wort gemeldet hattest. Im Endeffekt gilt für komparatistische Perspektiven in diesem Forschungsfeld das Gleiche wie für alle komparatistischen Perspektiven. Sie sind schnell eingefordert, aber schwer realisiert.

Ich möchte daran erinnern, wie wir in den neunziger Jahren in den Debatten über die Notwendigkeit gesprochen haben, auch mal einen Diktaturenvergleich zwischen dem Nationalsozialismus und der DDR zu machen. Das wurde im Großen und Ganzen ja bejaht, dass man das machen sollte, bei allen Unterschieden der Systeme. Aber wenn man mal genau hinschaut, wie viel im eigenen Sprachraum zu einem doch so naheliegenden Thema tatsächlich gemacht wurde, dann ist es doch ziemlich kläglich. Das zeigt einfach, dass komparatistische Ansätze nicht so stark verbreitet sind, wie man es sich wünscht und wie man es proklamiert. Und wenn es dann noch internationale Zusammenarbeit betrifft – das hat Herr Tůma schon gesagt –, kostet es eben in der Regel viel, viel Kraft. Es ist schon anstrengend genug, im eigenen Institut zusammenzuarbeiten – und umso mehr über die Landesgrenzen hinweg.

Aber jetzt, glaube ich, sollten wir Herrn Hedeler die Möglichkeit geben, vielleicht ein neues Thema aufzugreifen.

Dr. Wladislaw Hedeler: So neu ist das Thema nicht. Ich würde gerne auf die hier von vielen Kollegen angesprochene Öffnung der Archive zurückkommen, die als eine sehr positive Entwicklung wahrgenommen und eingeschätzt worden ist. Die Probleme und Schwierigkeit treten deutlicher hervor, wenn man nicht nur die Erfahrung der Arbeit in den russischen Metropolen, sondern auch die in der russischen Provinz einbezieht. In den letzten fünf Jahren habe ich in Archiven in Russland, aber auch in Kasachstan und in der Ukraine arbeiten können. Die Situation in der Ukraine und in Kasachstan ist ein Thema für sich. In der russischen Provinz wird man oft mit Bedingungen konfrontiert, die Forschung und Recherchen auf einem Stand, der dem der großen Moskauer Dokumenteneditionen nahekommt, unmöglich machen.

Auch deswegen plädiere ich dafür, dass im Jahrbuch Berichten und Skizzen über die Forschungen und die Forschungsergebnisse in den russischen Regionen und den Nachfolgestaaten der GUS weiterhin ein wichtiger Stellenwert beigemessen und mit der guten, in den vorhergehenden Bänden gepflegten Tradition nicht gebrochen wird. Erinnert sei an die Berichte von Jan Foitzik und Elke Scherstjanoi über die Archivsituation in Russland.

Forschungen zu vielen Themen, von denen hier heute die Rede war, finden in der russischen Provinz nicht oder nur in Ausnahmefällen statt. Diese Feststellung mündet u. a. in die beunruhigende Frage, wie lange wir von dem zehren können, was die Moskauer Kollegen in Gestalt der von Memorial besorgten Publikationen oder der von Alexander Jakowlew initiierten Reihe bis auf den heutigen Tag produziert haben. Irgendwann ist auch dieser Fundus erschöpft. Er bedarf der Ergänzung durch vor Ort recherchierte regionale Studien.

Mählert: Ich habe zum jetzigen Zeitpunkt niemanden auf der Rednerliste stehen. Ich weiß aber, dass Bernhard Bayerlein mich vorhin gefragt hat, wann denn Wortmeldungen möglich sind. Hast du etwas auf dem Herzen?

Dr. Bernhard H. Bayerlein: Ich habe eigentlich immer etwas auf dem Herzen. Wenn ich jetzt als Mitherausgeber des Jahrbuchs und vor allen Dingen in diesem Falle, auch in Bezug auf die letzte Frage, als Mitherausgeber des Internationalen Newsletter der Kommunismusforschung etwas sagen darf: Sicherlich ist die Archivsituation ambivalent, und unsere Aufgabe ist, sie auch in Zukunft in dieser Ambivalenz entsprechend zu spiegeln. Nur, was die Konsequenzen für die Historiografie angeht, würde ich doch schon eher für Foitzik Partei ergreifen, der vorhin die etwas provokante These aufgestellt hat, dass einfach so viele Sachen da sind, dass wir mit den Mitteln, d. h. auch mit bestimmten Methoden der Historiografie gar nicht mehr so richtig klar kommen mit dieser Fülle. Ich glaube, beide Aspekte sind wichtig.

Was die Informationen angeht: Zumindest im International Newsletter haben wir uns ständig bemüht, über neue Archivprojekte zu berichten, und tun es auch weiterhin. Wir haben immerhin das größte internationale Kooperationsprojekt der Russischen Föderation auf internationaler Ebene mitinitiiert, die Komintern-Onlinedatenbank, die an fast allen Universitäten Deutschlands zugänglich ist. Sie ist zwar noch verbesserungsbedürftig, aber es ist ein erster Schritt. Um das jetzt nicht zu verlängern: Nur in der letzten, der laufenden Ausgabe haben wir einen Artikel von Herrn Koslow, dem Leiter des Komitees für Archivwesen der Russischen Föderation, abgedruckt, der zwar sehr amtsrussisch daherkommt, der aber eine positive Bilanz der russischsprachigen Editionen zieht, der sogenannten Archiveditionen. Er dokumentiert laut der Planungen die Archiveditionen in der russischen Föderation von 1992 bis 2005, also in einer sehr wichtigen Phase. Ich bitte Sie, das zur Hand zu nehmen – Sie werden feststellen, welche inhaltlichen Reserven man noch immer hat in Bezug auf einzelne Veröffentlichungen. Das ist auch ein Beitrag zu dem, was Alexander Vatlin gesagt hat: Es sind in diesem Zeitraum fast tausend Dokumenteneditionen erschienen, 980 ungefähr, wie Sie auch im Übrigen noch einmal in der entsprechenden russischen Spezialliteratur nachlesen können. Es ist also doch einiges passiert.

Der zweite Punkt, auf den ich eingehen will, ist die Frage der vergleichenden Perspektive. Ich denke, dass wir auf einem guten Weg sind, die Grundfragen des Kommunismus bzw. die historische Bilanz des Kommunismus, die Frage, was war der Kommunismus im 20. Jahrhundert, beantworten zu können oder zumindest einen Schritt in diese Richtung zu tun, wenn wir weiterhin diese internationale, vergleichende, transnationale Perspektive, auch mit allen Schwierigkeiten, die hier zum Ausdruck gekommen sind, verfolgen. Die Frage des kommunistischen Subjekts, der kommunistischen Struktur oder des kommunistischen Systems lässt sich meiner Meinung nach auf eine simple Formel reduzieren: Der Kommunismus war im Unterschied zu anderen Phänomenen des 20. Jahrhunderts eine kongenial internationale Bewegung. Und wenn uns dies aus dem Gesichtsfeld gerät, so wie es eben nationalgeschichtlich im Augenblick aufgrund bestimmter politischer Bedingungen außer Acht gelassen wird, werden wir weder was die kulturalistische noch die systemische Betrachtungsweise des Kommunismus angeht, die noch lange nicht am Ende ist und für deren Fortsetzung ich natürlich ganz vehement auch in meinen Publikationen plädiere, viel erreichen können. Diese Internationalität der kommunistischen Bewegung können wir auch mit soziologischen, Max Weber’schen idealtypischen Begriffen sehr wohl umschreiben – diese kommunistische Besonderheit, die sich bis hin auf die unterste Ebene widerspiegelt, die jedem Individuum, egal ob in der englischen kommunistischen Partei oder in der vietnamesischen, einen Platz zugewiesen hat im Rahmen eines internationalen Kosmos, der idealtypisch sehr wohl analysiert werden kann. Max Weber und auch Karl Marx haben dazu entsprechende Analyserahmen und Hilfsmittel entwickelt, um das Phänomen des Internationalismus als solches theoretisch zu durchdringen. Das wäre mein Plädoyer. Ich kann jetzt hier nicht in Einzelheiten gehen, ich versuche dies in meiner Habilitationsschrift aufzuzeigen. Insofern glaube ich, dass wir unter Beachtung dieser Gesichtspunkte und mit dem Versuch der Annäherung doch auf einem sehr guten Weg sind.

Mählert: Thomas Friis hat das Wort.

Friis: Ich wollte nur kurz auf Herrn Heinemann eingehen, und zwar auf die Frage der Entideologisierung. Das ist nicht unbedingt die Erfahrung bei uns. Diese Sichtweise auf den Kalten Krieg und auf den Kommunismus findet man besonders in einer bestimmten Gruppe, und zwar in der Gruppe der Sicherheitsexperten der achtziger Jahre. Es war damals eben die Mode, und das versucht man jetzt wieder zu beleben. Bei der neuen Geschichtsschreibung geht es eher in eine andere Richtung, und zwar dahin, dass man die Ideologisierung des Kalten Krieges im Inneren wie auch im Äußeren fokussiert, also auf jeden Fall bei uns, wodurch das Thema eigentlich auch viel relevanter wird. Da machen wir nicht nur Geschichte für Marginalgruppen, also sprich für Diplomaten zum Beispiel, sondern eine breitere Geschichte für die Bevölkerung. Was bedeutet jetzt der Kalte Krieg in den Betrieben oder in der öffentlichen Debatte? Und da sieht man eigentlich schon die Kommunismusforschung auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Auch im Äußeren, wenn wir jetzt die Verbindungen zwischen unserem Land und den sozialistischen Ländern betrachten, da blickt man auch eher nicht auf die staatliche Ebene, weil sich da relativ wenig bewegte. Die Positionen kannte man schon, und man hatte auch nicht die Hoffnung, dass sich da etwas großartig änderte. Deshalb guckt man darauf, was denn z. B. seitens der DDR gegenüber Parteien und Gruppen in der Bevölkerung passierte – sprich Verbesserung des Sozialismusbildes – und welche Versuche es gab, die Zusammenarbeit mit nongovernment groups zu verbessern. Ich glaube, das macht es auch wesentlicher für die breite Bevölkerung, und jedenfalls bei uns in den nordischen Ländern gibt es doch großes Interesse an Fragen des Kalten Kriegs. Man sucht eben Erklärungen für das, was man damals erlebt hat.

Heinemann: Das ist nach meiner Wahrnehmung eher unterentwickelt in Deutschland. Ich habe den Eindruck, hier wird die Geschichte des Kalten Krieges weit überwiegend von den Sicherheitsexperten gemacht, die ihn in anderen Kategorien wahrnehmen. So ist das.

Mählert: Das ist praktisch ein Appell für einen Forumsbeitrag im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung. So war das doch gemeint? Hermann Weber steht hier als Letzter mit einem Schlussstatement.

Weber: Ich bin froh und vor allem stolz auf unseren neuen Beirat, denn gemeinsam haben wir es verstanden, hier unser Gesichtsfeld etwas zu erweitern. Wer kennt schon Details über Vietnam? Ein Buch ist gerade herausgekommen, Heinz Schütte aus Paris schrieb über die frühe Phase einiger Deutscher beim Viet Minh, aber das sind Ausnahmen. Wir leben heute nicht nur in einer Informationsgesellschaft, sondern wir werden mit Informationen überschüttet, auch in der Wissenschaft. Wer kann schon von sich behaupten, dass er jedes wissenschaftlich wichtige Buch tatsächlich von vorn bis hinten lesen kann. Aus zeitlichen Gründen schaut man leider oftmals nur selektiv rein. Das bedeutet, dass man sich darüber klar sein muss, dass ein Jahrbuch Vor- und Nachteile hat. Der Vorteil ist, dass es einmal im Jahr herauskommt und damit überblicksartig diese und jene Analyse, Dokumente, konzentrierte Berichte bringen kann. Ein Nachteil ist, dass noch von so vielem anderen im Jahrbuch zu berichten wäre, so dass es ins Unermessliche ausgedehnt werden müsste, aber das geht ganz einfach nicht.

In der Diskussion gab es einige sehr interessante Vorschläge, wie z. B. der Informationsaustausch zu verbessern ist. Herr Bayerlein hat ja auf den Newsletter verwiesen, dessen Aufgabe innerhalb des Jahrbuchs es ist, spezielle Mitteilungen zu bringen und auf Erfahrungen vor allem in anderen Ländern aufmerksam zu machen, und das können wir natürlich im Jahrbuch nicht noch einmal wiederholen. Es gibt feste Rubriken, die wir brauchen, sowie Schwerpunkte, die wir für das Jahrbuch jeweils setzen. Gestern haben wir uns im Beirat über die Schwerpunkte der nächsten Jahre verständigt. Und dann merkt man schon, dass Konzentration nötig ist, dies bedeutet, der Inhalt ist irgendwo zu begrenzen. Diese Arbeitsteilung muss natürlich beibehalten werden, reine Informationen gehören in den Newsletter. Doch ansonsten ist das Jahrbuch ein wissenschaftliches Projekt, in dem Diskussionen angeregt und Informationen verarbeitet werden und natürlich Analysen erfolgen. Ich will auch sagen, dass die Rolle dieses Periodikums nicht überschätzt werden sollte. Manchmal gibt es z. B. die Vorstellung, wenn das Jahrbuch die Komparatistik verstärkte, dann wären wir in der Wissenschaft viel weiter, dann könnten andere das auch machen. Aber solch einen Vorbildcharakter beanspruchten wir in den 14 Jahren nicht und werden das in den nächsten 14 Jahren vermutlich auch nicht tun können, wir müssen »auf dem Boden bleiben«. Doch ist das Besondere und das Schöne eines solchen Jahrbuchs: Mit ihm ist immer die Möglichkeit öffentlicher Diskussion gegeben. Deswegen verweise ich noch mal auf die Rubrik »Forum«, dieses Forum muss wieder verstärkt werden, um die Debatte weiterzuführen. Damit komme ich zum Inhaltlichen.

Es sind hier mit Recht eine Reihe von Bemerkungen gemacht worden über die Kommunismusforschung und auch über Fragen des Inhalts dieser Kommunismusforschung. Was verstehen wir eigentlich unter Kommunismusforschung? Ulrich Mählert hat am Anfang schon gesagt, was »klassische« Kommunismusforschung hieß: die kommunistische Bewegung, ihre Entwicklung als Weltorganisation, die Komintern mit einzelnen Parteien, die Biografien ihrer handelnden Leute usw. Die Kommunismusforschung wurde inzwischen im Wesentlichen eine Analyse der Herrschaftssysteme, sie wird jetzt überlagert von der Untersuchung des kommunistischen, oder genauer gesagt des stalinistischen Terrors. Wie Kommunismusforschung generell zu definieren ist, das ist eine der Fragen, die im Forum des Jahrbuchs diskutiert werden könnten. Was versteht man tatsächlich unter dieser Forschung? Es sind hier viele Begriffe gefallen, aber diese schöne Begriffswelt! Das ist recht und gut, und über alles ist zu diskutieren. Ich bin ein altmodischer Mensch, bleibe lieber auf empirischem Boden und versuche, daraus theoretische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Derzeit zeigen sich in der Kommunismusforschung gerade bei den generellen Einschätzungen beträchtliche Probleme. Monokausale Erklärungen für komplexe Vorgänge mögen in der Öffentlichkeit »gefragt« sein, der Historiker hat tunlichst eine kritische Differenzierung vorzunehmen. Anstelle simpler Schwarz-Weiß-Malerei sind die »Grautöne«, die »Zwischentöne« nicht zu vernachlässigen. Die Wissenschaft muss sich deswegen vor der Vereinnahmung durch die Politik ebenso hüten wie vor der dem jeweiligen »Zeitgeist«. Wichtig für die Kommunismusforschung ist heute, dass wir wieder mehr zur Differenzierung gelangen. Und da komme ich auf Frau Ottos Frage zurück. Natürlich habe ich mir oft Gedanken gemacht, jedoch bis heute keine vernünftige Antwort gefunden, wie es möglich war (es war z. B. unser Thema, als Andreas Herbst und ich uns ans Biographische Handbuch der deutschen Kommunisten machten), dass eine Bewegung mehr ihrer eigenen Führer und Funktionäre umbrachte, als es ihre Feinde getan haben? Das ist eine Besonderheit des Stalinismus in der Geschichte, und die ist zu erklären. Woran liegt das? Mancher meint, das sei furchtbar schwer zu erklären, weil das Rationale – vor allem bei Stalin selber – mit dem Irrationalen verknüpft ist. Das ist zunächst eine empirische Tatsache, die ist festzuhalten. Dann ist zu versuchen, mit einer Analyse einen Schritt vorwärtszukommen.

Das gilt wahrscheinlich für alle Gebiete, und da sind wir heute doch schon weit. Die eigentliche Kommunismusforschung in den verschiedenen erwähnten Bereichen ist noch einigermaßen überschaubar. Allerdings kommen die Sprachprobleme hinzu. Also ich gestehe, Ungarisch ist mir nach wie vor fremd, obwohl ich in Ungarn Freunde habe und wir miteinander über die alten Zeiten sprachen. Denn zum Glück konnten sie sehr gut Deutsch. Damit ist auf ein Problem hingewiesen – bleibt die Frage, welche Rolle und welche Mittel das Jahrbuch hat, um über diese Hürde zu springen. Die Hauptsprache ist Deutsch und daneben Englisch. Im Newsletter taucht auch schon immer häufiger Französisch auf. Aber wir müssen einsehen, mehr geht nicht. Es ist daher viel zu übersetzen, und es ist ein Fortschritt, dass wir inzwischen im Jahrbuch aus allen möglichen Sprachen Übersetzungen bringen können.

Zurück zur Forschung. Ich meine, das Entscheidende ist in der Tat die Frage einer Historisierung. Ich bin nun nicht so naiv, zu glauben, dass wir in den nächsten zehn Jahren bereits eine Historisierung erreichen. Was heißt Historisierung? Es gibt den weiten Begriff schon lange, und was darunter alles verstanden wird, ist hier nicht zu diskutieren. Ich fasse ihn ganz im Sinne von Martin Broszat auf, der das für den Nationalsozialismus sinnvoll erarbeitet hat – ich kann das im Einzelnen hier nicht ausführen, aber klar ist, dass damit nicht an eine Verharmlosung, Verniedlichung oder Beschönigung des Schreckensregimes gedacht ist. Erforderlich ist vielmehr, das Ganze viel stärker zu differenzieren, wegzukommen von der Schwarzweißmalerei, die wir auch in der Wissenschaft haben. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Nötig ist die differenzierte Sicht, die aufgrund empirischer Belege Analysen erstellt. So ist die Historisierung des Kommunismus zu sehen, sie braucht noch eine Weile, aber sie ist erreichbar.

Gerade bei der Historisierung ist ein zentraler Punkt zu klären: Wie war es möglich, dass der Kommunismus, selbst während der stalinistischen Barbarei, immer wieder so viele Anhänger fand in aller Welt? Bei der Anhängerschaft in den Diktaturen selbst waren Angst und Druck bestimmend oder Privilegien und ideologische Versprechungen. Aber im Westen gilt die gleiche Frage. In Deutschland bis 1933: Wieso wird die KPD drittstärkste Partei? In Frankreich und Italien gab es bedeutende KPen. Gleich nach 1945 existierten in Belgien, selbst in Luxemburg und anderswo starke KPen. Sie merken also schon, ich kann keine generelle Erklärung finden, sondern muss jeweils den Zeitabschnitt berücksichtigen.

Gestatten Sie, dass ich versuche, dafür einige Beispiele zu bringen. Während der Weltwirtschaftskrise im Westen festigte Stalin seine schon damals barbarische Diktatur, gleichzeitig verkündete er aber den Fünfjahrplan. Massen von Bauern zogen in die Städte, neue Fabriken wurden errichtet. Im Westen ging es abwärts: In Deutschland war fast jeder Zweite arbeitslos, in Amerika herrschte die Katastrophe. Ja, ist es dann ein Wunder, wenn seinerzeit viele sagten: Das Zukunftsland ist die UdSSR, da geht es aufwärts, bei uns geht es abwärts. Das nutzte der kommunistischen Agitation, die vom »Vaterland der Werktätigen« sprach. Als der Nationalsozialismus in Deutschland herrschte, waren es die Intellektuellen, die erschraken und meinten, jetzt kommt die braune Barbarei, da muss man natürlich für Stalin sein. Während Stalin anfing, seine Barbarei zu praktizieren ab 1934, wurden manche Leute auf einem Auge blind. Viele – das kann man ja heute nachlesen – unter den Dichtern, den Künstlern, den Philosophen, ob ich Bloch oder Brecht oder wen auch immer nehme von den ganz großen Namen, kamen zum Schluss: Ich darf Stalin selbst jetzt nicht kritisieren, weil ich sonst Hitler unterstütze. Das ist natürlich eine absurde »Logik«, aber so dachte man damals, und ihre Folge war eine zunehmende Anhängerschaft, und sie schrien eben »Heil Moskau«. Das habe ich als kleiner Junge auch schon geschrien, weil mein Vater, ein kommunistischer Arbeiter, mich Ende 1932 mal zu einer Nazidemonstration mitnahm und mir eingeimpft hatte, was ich zu brüllen hatte: »Heil Moskau, Hitler ist ä Drecksau«. Das zeigt, es war auch immer die politische Gegenseite, die bei der Verteidigung von Stalins Diktatur eine Rolle spielte.

Wir leben nicht im luftleeren Raum, es sind die Rahmenbedingungen zu prüfen, um zu erkennen, was die Stärke des Kommunismus in verschiedenen Zeiten ausmachte. 1945 schien der Stalinismus am Ende. War er aber nicht. Früher hatten die Kommunisten in Deutschland natürlich abgewehrt: Das ist Nazipropaganda, was die über die Stalin’sche Barbarei schreiben. Sie haben es einfach nicht glauben wollen. Als nach 1945 eine freie Presse mit Enthüllungen kam, hätten sie es doch merken müssen. Aber nein: Stalin stand als Sieger über Hitler glänzend da. Er galt nicht als der große Massenmörder, der er tatsächlich war, sondern als siegreicher Kriegsheld. Wobei wir heute wissen, auch das war Legende. Nach Stalins Tod kam die große Hoffnung: Jetzt ändert sich das System. Als Chruschtschow erklärte, was für ein Verbrecher Stalin war, glaubten viele, jetzt kommt die neue Zeit, wird der Kommunismus demokratischer. Erst nach der Zerschlagung der demokratischen Ansätze in der Tschechoslowakei 1968 äußerten kommunistische Intellektuelle grundsätzliche Kritik. Aber viele verwiesen auf die Kriegsgefahr: Inzwischen ist die Sowjetunion die zweite Weltmacht, und wir stehen am Rande eines Kriegs, eines Atomkriegs mit der Gefahr des Untergangs zumindest der Zivilisation. Darf man jetzt dauernd kritisieren? Wieder wurde der Stalinismus bagatellisiert. Es war nicht mehr die stalinistische Barbarei, aber es war eine harte Diktatur, und die wurde verharmlost. In Frankreich, Italien und anderen Ländern hatte diese Meinung eine Massenbasis.

Was will ich damit sagen? Es gibt noch keine generalisierende These, warum in den schlimmsten Zeiten der Barbarei des Stalinismus immer neue Anhänger zum Kommunismus stießen. Es hing jedoch weniger von der (verleugneten) stalinistischen Barbarei ab als von den Realitäten in der nichtkommunistischen Welt. Für mich ist eine solche Antwort deshalb wichtig, weil daraus resultiert, dass das politische Versagen, selbst demokratischer Staaten, Parteien und Gesellschaften, sehr leicht ideologische Verwirrung stiften kann. Allerdings existiert ideologische Verwirrung bei den Kommunisten selbst. Was sich da in China als Kommunismus etabliert hat (in Marx’ Namen), dieser brutale Kapitalismus, ist nur ideologisch verbrämt. Auch das zeigt wieder die Gefahr der Demagogie – die war auch ein Teil des Stalinismus. Diese Gefahr gibt es nicht nur auf der sogenannten linken Seite. Übrigens war dieser Kommunismus gar nicht links, wie Sie in unserem Buch Leben nach dem »Prinzip Links«. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten nachlesen können. Wenn die sogenannte Linke abgewirtschaftet hat, kommt es, wenn die Demokratie nicht gefestigt ist, logischerweise zum Rechtsruck. Das mag zunächst mit unserem Jahrbuch wenig zu tun haben. Doch Wissenschaft lebt nicht im luftleeren Raum, und Kommunismuswissenschaft schon gar nicht. Sie muss neben der strengen Forschung, die versucht objektiv zu sein – alle wissen, reine Objektivität gibt es nicht, aber als Anspruch wenigstens –, immer die Frage stellen: In welchem Umfeld passiert dies?

Hier war hochinteressant, was unsere Kollegen aus Osteuropa zu berichten wussten, wie die Geschichte des Kommunismus als Instrument der Tagespolitik wieder eine Rolle spielt. Das ist für uns Wissenschaftler ein Alarmzeichen, das Letzte, was Wissenschaft gebrauchen kann. Auch hier bedeutet Historisierung wegzukommen von jeder Instrumentalisierung. Das habe ich hier nicht näher ausgeführt und verweise noch einmal auf die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Forschung wird immer nur dann in Medien wie Fernsehen usw. wahrgenommen, wenn etwas Spektakuläres passiert. Leider ist es inzwischen auch in der Wissenschaft so. Sie müssen nur eine sensationelle These aufstellen, die unmöglich erscheint, das bringen dann die Medien, auch wenn sie als Wissenschaftler feststellen, das haben doch schon unsere Vorfahren in der Forschung längst dargestellt, das ist doch gar nichts Neues. Darin liegen unsere besonderen Schwierigkeiten, und daran können wir weder mit unseren Jahrbüchern noch anderen Forschungsorganen etwas ändern. Doch können wir mehr Druck machen, vor allem – das freut mich am meisten – wenn sich plötzlich wieder junge Wissenschaftler finden, die an dieser historischen Problematik Interesse haben.

Nun noch zu einem anderem Punkt, nämlich der Frage, in welcher Reihenfolge und nach welcher Systematik Kommunismusforschung vorgeht. Natürlich ist es klar, dass auch hier zunächst nach wie vor die Herrschaftssysteme im Mittelpunkt stehen werden. Die Regime haben tiefe Spuren hinterlassen. Doch nicht nur die stalinistische Barbarei ist zu prüfen, sondern ebenso die sozialen und radikalen Bewegungen im Westen oder anderswo. Um das »Wesen« des Kommunismus einschätzen zu können, sind auch seine Geschichte als radikale Arbeiterbewegung sowie die Ideologie und die in ihr enthaltenen utopischen Elemente zu berücksichtigen.

Eine andere Unterteilung »des Kommunismus« ist nötig. Unterschieden werden sollte zwischen dem Kommunismus als Teil der sozialen Bewegung, die eine »bessere Welt« schaffen will, und den herrschenden kommunistischen Regimen, die ihre bereits eroberte Macht mit allen Mitteln, nicht zuletzt des Terrors, halten, festigen und absichern wollten. Das wird folglich auch weiterhin einen Schwerpunkt im Jahrbuch bilden müssen. Der Terror bleibt im Vordergrund und ist nicht wegzudiskutieren. Wir können doch nicht so tun, als ob dieser Terror ein zweitrangiges Element der Herrschaft war. Dazu kommt die Ideologie. Ich bin dankbar, dass Sie den Begriff überhaupt wieder erwähnt haben. Sie war eine Stütze der stalinistischen Herrschaft. Bei der Frage, warum die Stalinisten Anhänger im Westen hatten, hatte natürlich die ideologische Vorstellung, die Verheißung eines besseren Lebens, große Bedeutung.

Damit sind wir wieder bei der sozialen Bewegung – also mit anderen Worten der Geschichte kommunistischer Bewegungen und Parteien. Deren Entwicklungen wurden zum Teil lange vor 1989 aufgearbeitet, interessanterweise besonders in Amerika. Das ist so ein Witz der Weltgeschichte, dass da, wo der Kalte Krieg tobt, die Wissenschaftler Geschichtsbände vorlegen, die auch heute noch Bestand haben. Aber dann hat sich diese Forschung irgendwie aufgelöst und ist ab 1989 fast verschwunden. Die KPen haben ihre Historie selbst beschrieben und eigene Geschichtsdarstellungen herausgebracht. Die KPdSU war immer »Vorbild«. Bei der Forschung kann diese offizielle kommunistische Darstellung als reine Legitimationswissenschaft außer Betracht bleiben, auch wenn es z. B. zur KPdSU oder SED umfängliche Untersuchungen gab und andere Parteien ihre Geschichte skizzierten, etwa 1975 die KP Bulgariens. Noch 1991 kam in Peking die History of the Chinese Communist Party heraus.

In der seriösen westlichen Forschung gab es einerseits die Untersuchungen der historischen Entwicklung der kommunistischen Bewegung weltweit (auch der Komintern) und der einzelnen Länder und andererseits der kommunistischen Systeme in den von kommunistischen Parteien beherrschten Staaten. Diese Kommunismusforschung, auf die man heute noch bauen kann, ist in Westeuropa und in Amerika entstanden. Nur sieht es inzwischen anders aus, und das hat auch mit diesem Fundus zu tun, mit den Archivalien. Nach dem Untergang des Kommunismus ist dieser zu einem historischen Forschungsgegenstand geworden. Dies beruht gegenwärtig auf zwei Voraussetzungen: dem beachtlichen Forschungsstand bis 1990 und den seither zugänglichen Archivalien mit früher geheim gehaltenen Materialien. Die Folge ist, dass in den letzten 15 Jahren eine riesige Zahl von Publikationen zum Thema Kommunismus erschien. Niemand, der sich mit Zeitgeschichte beschäftigt – ich auf jeden Fall nicht – wäre auf die Idee gekommen, noch zu erleben, dass man an Archive rankommt, die praktisch einen ganzen Staat wie z. B. die DDR vollständig erfassen. Und so kann man heute als Ergebnis erfreut feststellen, dass es eine Flut von Sachliteratur gibt. Und da kommt es jetzt darauf an, dafür zu sorgen – das wäre meines Erachtens eine der Aufgaben des Jahrbuchs – dass dies weiter so vernünftig läuft und etwas dazu beiträgt, zur Historisierung zu kommen.

Unsere Zusammenkunft hat mir gezeigt, dass es richtig von mir war, als Herausgeber des Jahrbuchs ab nächstem Jahr auszuscheiden – denn ich kann sagen, das kriegt ihr gut hin, das ist jetzt so positiv angelaufen. Den nächsten 14 Bänden wünsche ich heute schon viel Glück und Erfolg. Ihnen allen danke ich sehr für Ihr Kommen. Für mich war es – und ich hoffe für Sie auch – eine hochinteressante Tagung. In der Kürze lag wirklich die Würze in diesem Falle. Und wir werden jetzt ja – das haben wir gestern besprochen – jedes Jahr eine Konferenz machen, an der der Beirat beteiligt ist. Diese Möglichkeit besteht, und sie zeigt den Vorteil dessen, dass wir von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und nicht mehr von der »armen« Universität Mannheim »gesponsert« werden. Mir bleibt nur zu sagen: Ich bedanke mich ganz herzlich.

Inhalt – JHK 2008

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