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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2022

»Transitional Justice« – Wege und Sonderwege

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 205-223 | Metropol Verlag

Autor/in: Rainer Huhle

[0] Seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts ist der Begriff Transitional Justice (TJ) als Forschungsbereich und Diskursfeld einer rasch wachsenden »epistemischen Gemeinschaft« fest etabliert.[1] Dabei weitete sich auch das von dem Begriff abgesteckte Themenfeld räumlich, zeitlich und inhaltlich immer weiter aus und verlor an Schärfe. Die Entwicklung des Diskurses war wesentlich vom lateinamerikanischen Kontext geprägt, während vor allem US-amerikanische Stiftungen und Thinktanks entsprechende öffentliche Politiken und Institutionen als weltweites Modell zu etablieren suchen.

Lange bevor TJ jedoch zu der inzwischen unübersehbaren Fülle von Büchern, Zeitschriften, Debatten und nicht zuletzt Institutionen führte, hatte der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Hans Herz[2] in seinem amerikanischen Exil bereits die wesentlichen Punkte der Debatten, ganz ohne den Begriff der Transitional Justice, ausgeführt. Herz fragte sich schon 1978, ob Probleme, die sich in den Siebzigerjahren in Griechenland, Spanien und Portugal beim Übergang von den Diktaturen zu rechtsstaatlichen bzw. demokratischen Systemen ergaben, Gemeinsamkeiten erkennen ließen, vielleicht sogar mit den Transitionen nach dem Ende der faschistischen Regime 1945. Herz stellte überrascht fest: »(...) struck by the similarities of the problems with which countries in such stages of development are confronted: For instance, what to do about the excesses of the preceding regimes, and the perpetrators; what to do about corrupted bureaucracies and judiciaries, or military and police setups that served the dictatorship; what about the party or movement that underlay it; what about leaders and followers? Forgive and forget, or prosecute and purge? How to insure that the democratic values underlying the fledgling successor regime will inspire its new processes and institutions? Such questions occur again and again. It is all the more surprising that, to my knowledge, little attention has been paid to studying these and other similarities in comparative fashion.«[3]

Diese Feststellung führte anschließend zu einem komparativen Forschungsprojekt, im Rahmen dessen Herz Fallstudien zu Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Japan, Spanien, Portugal und Griechenland durchführte.[4]

So ist es nicht überraschend, dass sich die US-amerikanische Aspen Foundation, als sie sich dem Thema des Übergangs von Diktaturen zu Demokratien bzw. dem Umgang mit dem Erbe von Diktaturen zu widmen begann, auch an John Herz als Impulsgeber wandte. Auf der von der Stiftung im November 1988 an ihrem Sitz im Wye Center im US-Bundesstaat Maryland organisierten Konferenz unter dem Titel »State Crimes: Punishment or Pardon« hielt Herz den Einführungsvortrag.[5] Im Mittelpunkt des Interesses standen inzwischen allerdings die Entwicklungen in Südamerika. Von den im (unvollständigen) Konferenzbericht genannten Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen acht aus Lateinamerika, zwei aus Afrika und einer aus Asien, die restlichen 13 waren prominente US-amerikanische Akademiker und Menschenrechtsaktivisten.

Die beiden publizierten Hauptvorträge hielten der chilenische Jurist und Menschenrechtsaktivist José Zalaquett, der bald der Motor der chilenischen Wahrheitskommission werden sollte, und der argentinische Jurist Jaime Malamud-Goti, der u. a. ein enger Berater des ersten argentinischen Präsidenten Raúl Alfonsín gewesen war, als es um die Frage der strafrechtlichen Verfolgung der 1983 abgetretenen Militärjunta ging. Zalaquett und Malamud-Goti setzten sich sehr differenziert mit den juristischen und moralischen Fragen, insbesondere auch mit Fragen zur möglichen Strafverfolgung von Angehörigen des vorigen Regimes auseinander. Dabei erkannten sie die Tatsache an, wie Zalaquett es formulierte, dass »dealing with transitional political situations is a new area of human rights practice that poses some complex ethical, legal and practical questions«.[6]

Bei allem Differenzieren und Bemühen um eine realistische Einschätzung der Situation,[7] wurde doch deutlich, dass sich die Diskussion vor allem um die Frage der strafrechtlichen Bewältigung der von den Diktaturen begangenen Verbrechen drehte. Sie war und blieb aus lateinamerikanischer Sicht im Zentrum dessen, was bald Transitional Justice genannt werden würde.

 

Als eigentliche Geburtsstunde dieses Begriffs und der damit verbundenen Debatten gilt eine Konferenz, die gut drei Jahre später in Salzburg stattfand. Einberufen wurde sie Anfang März 1992 wiederum von einer in den USA angesiedelten Stiftung, allerdings handelte es sich bei der New Yorker »Charter Seventy-Seven Foundation« um den amerikanischen Zweig der tschechoslowakischen Charta-77-Bewegung.

In der kurzen Zeitspanne zwischen den beiden Konferenzen hatte sich Entscheidendes getan. In Lateinamerika hatte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof 1988 sein bahnbrechendes Urteil im Fall Velásquez-Rodríguez vs. Honduras gefällt,[8] das neue Standards für die internationale Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen und die daraus resultierende Staatenverantwortlichkeit setzte.[9] Die Vereinten Nationen hatten außerdem eine erhebliche Zahl weiterer Menschenrechtsinstrumente verabschiedet, die Einberufung der Weltkonferenz über Menschenrechte für 1993 in Wien beschlossen, und der UN-Sicherheitsrat hatte erste Schritte zur Intervention in den Jugoslawienkrieg beschlossen.[10] Das herausragende prägende Ereignis dieser Zeit war aber ohne Zweifel der Zerfall der kommunistischen Regime in Osteuropa, deren Übergang zu »ungewissen Demokratien«[11] noch in vollem Gang war und eine Reihe von Fragen und Ungewissheiten präsentierte, die die bis dahin vor allem von Lateinamerika bestimmte Debatte um TJ neu belebte. Im Rahmen des Helsinki-Prozesses waren 1990 in Kopenhagen das Dokument über die Menschliche Dimension der KSZE und 1991 der »Moskauer Mechanismus« zur Überwachung der menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der Schlussakte von Helsinki verabschiedet worden. So waren in Salzburg nicht nur aufgrund der Trägerschaft der Charter Seventy-Seven Foundation knapp 40 teils hochrangige Vertreterinnen und Vertreter aus den ehemals kommunistisch regierten Ländern anwesend. Allerdings erscheint die Auswahl im Rückblick bisweilen etwas seltsam, wenn etwa für die Fragen der ehemaligen DDR vor allem der damalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf als Sprecher das Wort ergriff.[12] Zu den Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmern gehörten, wie schon bei der Aspen-Konferenz, auch Aktivisten, Akademiker und Politiker aus Lateinamerika und den USA. Dabei handelte es sich teilweise um die gleichen Personen oder Institutionen, die sich bereits als Repräsentanten des neuen Politikbereichs Transitional Justice profiliert hatten.

Schnell wurde klar, dass diese Ost-West-Begegnung nicht einfach war. Neil J. Kritz, der Direktor des Rule of Law Center of Innovation des US Institute for Peace, erinnerte sich einige Jahre später: »A fascinating undertone seemed to dominate the first day of the conference, as the assembled began to describe the experience of their respective nations. In words spoken and unspoken, in skeptical glances and general body language, the Latin Americans and Europeans seemed to be expressing the same thing to one another: the suffering of our people during the old regime and the difficulties resulting from our legacy is far worse than any hardship you endured. Ours is the greater pain; there is little we can learn from your experience.«[13]

Die gleiche Erfahrung hatten bereits drei Monate vorher auch die Organisatoren einer ähnlichen, freilich intimeren Konferenz gemacht, die vom Dokumentations- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika (DIML)[14] als »Trialog über Straflosigkeit« konzipiert worden war. Die Veranstalter, zu denen der Autor dieser Zeilen gehörte, wollten ihre Erfahrungen aus Lateinamerika mit denen aus Osteuropa bei der Überwindung der Diktaturen im gemeinsamen Gespräch zusammenführen und dabei außerdem, dem Genius Loci folgend, beides auf Lehren der Nürnberger Prozesse zurückbeziehen. Aus Lateinamerika waren Vertreterinnen und Vertreter[15] wichtiger Menschenrechtsorganisationen eingeladen, so auch der damals in zwölf Ländern aktive »Servicio Paz y Justicia« (Dienst für Frieden und Gerechtigkeit) des argentinischen Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel oder Pater Javier Giraldo, Mitorganisator des internationalen »Tribunals gegen die Straflosigkeit in Lateinamerika«, das im April des gleichen Jahres in Bogotá stattgefunden hatte.[16] Auch Mexiko, Guatemala, EI Salvador, Nikaragua, Kolumbien, Chile, Uruguay und Bolivien waren durch Mitglieder wichtiger Menschenrechtsorganisationen vertreten. Als schwieriger hatte es sich erwiesen, repräsentative Vertreter aus den ex-kommunistischen Ländern zu gewinnen. Mit Repräsentanten von Memorial aus Russland und der Charta 77 aus der (am Ende des Jahres aufgelösten) Tschechoslowakei sowie Albanien und der ehemaligen DDR kam es dennoch zu lebhaften Diskussionen. Die lockere Atmosphäre der dreitägigen Konferenz erlaubte zwar intensive persönliche Begegnungen, konnte aber die großen Unterschiede auf beiden Seiten, was ihre Erfahrungen und Erwartungen hinsichtlich der »Demokratisierung« betraf, nicht überdecken. Über die Bedeutung und die Reichweite von Strafprozessen, Wahrheitsfindung und ihrer Organisation oder Säuberungen des Staatsapparats konnte genauso wenig Einigkeit erzielt werden wie über die Prioritäten bei der Ausgestaltung der künftigen Staatsordnung. Gerade deswegen aber verliefen die Gespräche ungemein lehrreich und langfristig zumindest für die Veranstalter auch sehr produktiv. Das oft gehörte Wort vom »grandiosen Misserfolg« des Trialogs beschreibt diese Wahrnehmung.

Wenige Tage vor der Salzburger Konferenz hatte am 2. und 3. März in Warschau ebenfalls eine Konferenz stattgefunden, einberufen von der Stefan-Batory-Stiftung unter dem Titel »Decommunization and Democracy«. An diesem bis heute kaum dokumentierten Treffen nahmen ausschließlich Politiker und Akademiker aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn teil.[17] Auch nach der Salzburger Konferenz setzte sich die Reihe von einschlägigen Konferenzen zu den Transitionen in Osteuropa fort. Die Salzburger Konferenz war ausdrücklich als »Inaugural Meeeting« des Projekts »Justice in Time of Transition« konzipiert.[18] So fand z. B. Ende 1992 eine weitere Konferenz des Projekts in Budapest statt, die sich auf das Thema der Archive und des Zugangs zu Dokumenten konzentrierte.[19] Hier standen die ex-kommunistischen Staaten im Mittelpunkt, die Wahrheitskommissionen von Chile und Argentinien wurden nur zum Vergleich herangezogen. Diese und weitere Konferenzen vor allem in Osteuropa sind bisher kaum Gegenstand eingehender historischer Forschung, haben aber für die Herausbildung der osteuropäischen Politiken im Umgang mit der Vergangenheit eine erhebliche Rolle gespielt.[20]

Dass unter diesen vielen Konferenzen Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre heute die Salzburger Konferenz vom März 1992 als nahezu einzige im Gedächtnis geblieben ist, hat mehrere Gründe. Zum einen war sie sehr hochrangig besetzt, mit politisch aktiven Teilnehmern aus den beiden damals hauptsächlich im Fokus stehenden Weltregionen: Lateinamerika und Osteuropa. Zum andern nahmen auch eine Reihe sehr einflussreicher Akademiker an ihr teil, die als »epistemische Gemeinschaft«[21]das Diskursfeld der TJ bereits abgesteckt hatten und weiterentwickeln sollten, wie z. B. Samuel Huntington,[22] Ruti Teitel, Diane Orentlicher[23] (alle USA) oder auch Claus Offe[24] (Deutschland). Nicht zuletzt ging aus der Salzburger Konferenz das dreibändige Sammelwerk Transitional Justice hervor,[25] zusammengestellt von Neil Kritz, Teilnehmer der Konferenz, und, wie bereits erwähnt, Leiter des »Rule of Law Center of Innovation« des US Institute of Peace. Die drei Bände, zusammen bis heute ein Standardwerk zu TJ, versammeln die bis dahin entscheidenden theoretischen Texte, in denen alle wesentlichen Themen und Kontroversen angesprochen werden (Band 1). Darüber hinaus werden 21 Länderstudien vorgestellt (Band 2), davon acht zu West- und Südeuropa, vier zu Lateinamerika, sieben zu ex-kommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas sowie je eine zu Afrika und Ostasien. Außerdem werden auf ca. 800 Seiten einschlägige Gesetzestexte, institutionelle Mandate, Berichte und ähnliche Dokumente zu Institutionen der TJ aus insgesamt 29 Ländern aufgeführt, gegliedert nach Wahrheits- und Untersuchungskommissionen, Maßnahmen zur Säuberung des öffentlichen Diensts, Strafverfolgung und Amnestie, Verjährungsfragen sowie Regelungen der Entschädigung und Rehabilitierung (Band 3). Im Verbund stellen die drei Bände einen bemerkenswert kompletten Überblick über die damaligen Debatten und die in wenigen Jahren schon entstandenen Institutionen und Normen dar, die das Feld und den Begriff Transitional Justice etablierten.

Wie schon auf der Salzburger Konferenz zeigt sich auch im Sammelband des US Institute of Peace das Bemühen, den postkommunistischen Staaten erheblichen Raum zu geben und damit das Konzept der TJ aus seinem lateinamerikanischen Entstehungskontext zu lösen und es universell, in allen Transitionen anwendbar zu machen. Allerdings offenbart schon ein kurzer Blick in das Inhaltsverzeichnis des dritten Bandes, dass die angewandten Instrumente äußerst ungleich auf die Weltregionen verteilt waren (und sind). Instrumente zur Strafverfolgung der Verbrechen des Vorgängerregimes bzw. Amnestieregelungen wurden nahezu ausschließlich in Lateinamerika entwickelt. Nicht-justizielle Säuberungsmaßnahmen hingegen wurden in großer Zahl, aber eben fast ausschließlich in den postkommunistischen Staaten beschlossen, die wiederum keine Wahrheitskommissionen aufweisen.

Diese Gegensätze waren auch bei dem Nürnberger »Trialog« vom November 1991 der substanzielle Hintergrund der erlebten Spannungen. Mit dem für die Lateinamerikaner so zentralen »Kampf gegen die Straflosigkeit« wollten die Osteuropäer wenig zu tun haben. Umgekehrt mussten die Lateinamerikaner überhaupt erst einmal das Wort »Lustration« lernen, das die Osteuropäer ständig im Munde führten. Woher diese so unterschiedlichen Akzente rührten, wo es doch in beiden Fällen um das Gleiche zu gehen schien, nämlich die Überwindung diktatorischer Herrschaftsformen und ihren Ersatz durch demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien, ließ sich damals im Rahmen von ein paar Tagen gemeinsamer Diskussionen nicht wirklich klären. Im Folgenden soll untersucht werden, wie es zu den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen kommen konnte. Als Orientierung dienen die heute allgemein anerkannten vier Säulen der TJ: Gerechtigkeit/Strafverfahren, Wahrheit/Wahrheitskommissionen, Wiedergutmachung/Entschädigungen und Garantien der Nichtwiederholung.[26]

 

 

I. Der Kampf gegen die Straflosigkeit

 

Der Begriff der Straflosigkeit als Rechtsbegriff klingt im Deutschen noch immer hölzern. Im Wörterbuch der Brüder Grimm wird er erstmals Anfang des 18. Jahrhunderts nachgewiesen.[27] Im Bereich des römischen Rechts finden sich die aus dem Lateinischen impunitas abgeleiteten Begriffe schon sehr viel früher. Die erste Ausgabe des bis heute maßgeblichen Wörterbuchs der spanischen Sprache brachte als Beispielsatz für impunidad: »Gott verzeiht vielfach die Sünden, selten aber ihre Straflosigkeit.«[28] Das von Spanien ab Ende des 15. Jahrhunderts eroberte Lateinamerika übernahm in seiner kolonialen Verwaltungsstruktur und erst recht nach der Unabhängigkeit wesentliche Elemente des römisch-spanischen Rechts. Dazu gehörten auch Rechtsgarantien gegenüber der Obrigkeit, in denen sich schon damals Argumente fanden, die später zu den Menschenrechten gehören sollten. Der indigene Chronist Felipe Guamán Poma de Ayala wandte sich 1615 mit seiner in Bild und Text abgefassten umfassenden Klageschrift Neue Chronik und Gute Regierung[29] direkt an den spanischen König. Er stellte sich in die naturrechtliche Tradition der spanischen Kleriker, die als Verteidiger der indigenen Interessen auftraten.[30] Nach ihrer Unabhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts wurden aus den spanischen Überseegebieten durchwegs Republiken mit teils sehr modernen, von der Französischen Revolution inspirierten Verfassungen. Antonio Nariño, nach dem heute der Regierungspalast in Bogotá benannt ist, schrieb in spanischer Haft 1793 die erste Menschenrechtserklärung nach der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, ehe er nach der Unabhängigkeit zu einer der Gründerpersönlichkeiten Kolumbiens wurde. Die zahlreichen Militärdiktaturen, unter denen die neuen Republiken fast alle immer wieder zu leiden hatten, vermochten die rechtsstaatlichen Traditionen nicht vollständig auszulöschen, die die Legitimität dieser Gewaltherrschaften infrage stellten. Auch wenn die real existierende Rechtskultur in Lateinamerika mit ihren unzähligen Juristen innerhalb und außerhalb des Staatsapparates vielfach mehr Bürde als Hilfe war, schimmerte dahinter immer die Möglichkeit eines Rechtsstaats durch, was stets aufs Neue zu realen Gegenbewegungen und Demokratisierungsprozessen beitrug.

Dennoch löste man auch in Lateinamerika bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Konflikte um die politische Macht überwiegend mit den Mitteln der Amnestie und vor allem des Exils.[31] Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als nicht mehr persönliche Diktaturen von »caudillos«, also autoritären Führern, kamen und gingen, sondern eine neue Form ideologisch verfestigter und institutionalisierter Diktaturen Regierungen prägte, wurde der Ruf gegen Straflosigkeit laut, nicht zuletzt durch organisierte Opfergruppen wie FEDEFAM.[32] Unterstützt wurden diese Forderungen durch die Entwicklung des internationalen Strafrechts, das, ausgehend von den Nürnberger Verfahren, keine Straflosigkeit mehr für »Verbrechen gegen die Menschheit« akzeptierte. An dieser Entwicklung hatten lateinamerikanische im Unterschied zu osteuropäischen Juristen erheblichen Anteil. Ab 1989 formierten sich, getragen von einer zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsbewegung, die sich inzwischen professionalisiert hatte,[33] in einer Reihe von lateinamerikanischen Staaten »Tribunale gegen die Straflosigkeit« der Diktaturen, nach dem Muster der Russell-Tribunale.[34] Im April 1991 kulminierte dieser Prozess in Bogotá in einem kontinentalen Tribunal, an dem viele prominente Menschenrechtsverteidiger teilnahmen und gemeinsam den Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika ausriefen.[35] Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden anschließend auch zum »Trialog« nach Nürnberg eingeladen.

So unbestritten es ist, dass die Bewegung gegen die Straflosigkeit ihre stärksten Impulse aus Lateinamerika bezog, ist doch auch festzuhalten, dass die Bekämpfung der Straflosigkeit gerade in den 1990er-Jahren Eingang in die internationalen Institutionen fand und damit auch eine globale Bewegung wurde. Zum Beispiel wurde 1996 in Ouagadougou (Burkina Faso) eine vom kanadischen Menschenrechtszentrum International Centre for Human Rights and Democratic Development (ICHRDD) organisierte Konferenz mit Teilnehmenden vor allem aus Afrika, aber auch Asien und der Karibik abgehalten.[36]

Das Verlangen nach rechtsförmiger Bestrafung der Verantwortlichen für die Diktaturverbrechen bewegt sich grundsätzlich im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit. Gleichwohl stellten sich auch in Lateinamerika die Probleme bei der Ahndung massenhafter Staatsverbrechen, die sich schon bei den Nürnberger Verfahren gezeigt hatten: eine unzureichende Fähigkeit der bestehenden Justizapparate, quantitativ, aber auch substanziell diese Verbrechen zu bewältigen. Die bestehenden Gerichte waren, wenn auch nicht in dem Maße wie die deutsche Justiz nach der Nazizeit, von Anhängern oder opportunistischen Gefolgsleuten der Diktatur durchsetzt, und die Auswahl der Angeklagten konnte nicht ohne politische Vorentscheidungen getroffen werden. Auf diese Herausforderungen suchte die TJ Antworten zu finden.

So fiel in Argentinien nach dem Ende der Diktatur das Verfahren gegen die Mitglieder der Militärjunta nach damaligem Recht zunächst in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit. Doch als diese de facto die Prozesse sabotierte, reformierte das neue Parlament das Militärgesetzbuch und schloss eine Reihe von schweren Straftaten, darunter Verbrechen gegen die Menschheit, von dessen Zuständigkeit aus. Damit ging das Verfahren, gegen den erbitterten Widerstand der Generäle, an ein ziviles Gericht über, das im Dezember 1985 die obersten Generäle der Junta größtenteils zu lebenslangen Haftstrafen verurteilte, gestützt auf die Delikte, die in dem auch unter der Herrschaft der Militärjunta geltenden zivilen Strafgesetzbuch enthalten waren, insbesondere Mord, Freiheitsberaubung und Folter. Nicht bestraft werden konnte aber z. B. das gerade für die argentinische Diktatur so kennzeichnende Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens, das noch nicht im Strafgesetzbuch verankert war. Auch unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs geschah dies erst später und führte zu neuen Verfahren.

Ein weiteres Hindernis für eine adäquate Verurteilung der Diktaturverbrechen war in Argentinien, wie in etlichen weiteren Staaten, die Amnestie, die sich die Junta vor ihrem Abtritt selbst gewährt hatte. Auch hier stieß das formal rechtsstaatliche Kriterium der Rechtssicherheit, das normalerweise Amnestien irreversibel macht, auf das Erfordernis, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das in einer Reihe internationaler Normen verankert war. Das Amnestiegesetz der Junta wurde für ungültig erklärt. Auch der Oberste Gerichtshof erklärte die von Präsident Alfonsín unter dem Druck aufständischer Militärs ausgesprochene Begnadigung der Juntageneräle für illegal. Der Weg zur Strafverfolgung der Diktaturverbrechen, den Argentinien erfolgreich beschritten hat und für den es exemplarisch steht, war also auch dort nicht geradlinig, sondern wurde von Rückschlägen begleitet und auch rechtstheoretisch immer wieder kritisiert.[37] In vielen anderen Ländern waren Gerichtsverfahren gegen die Täter der Diktaturen erst nach vielen Jahren, wenn überhaupt, möglich, in Chile etwa erst nach der Verhaftung von General Pinochet in London 1998. Aber gerade diese Schwierigkeiten belegen, wie viel der Menschenrechtsbewegung in Lateinamerika aufgrund ihrer Geschichte und Erfahrungen daran gelegen war, Rechtsstaatlichkeit auch durch Strafverfahren wiederherzustellen und auf diesem Weg das vergangene Unrecht als solches verbindlich zu kennzeichnen. Der Bezug auf die internationalen Menschenrechtsnormen hat erheblich dazu beigetragen, erforderliche Eingriffe in gewohnte Verfahrensweisen der Justiz auf das Nötige zu begrenzen und damit vom Ruch der Siegerjustiz, wie er seit Nürnberg gegen alle Besonderheiten der Transitional Justice erhoben wird, weitgehend zu befreien.[38] Das konnte freilich auch eine Kehrseite haben, nämlich die Überantwortung der »Vergangenheitsbewältigung« von der Politik auf die Justiz. In Lateinamerika haben sich die Gefahren einer Loslösung der unabhängigen Justiz von den Zielen der TJ als unbedeutend erwiesen, nicht zuletzt dank der kontinuierlichen Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs. Gerade der argentinische Fall zeigt aber, dass das Setzen auf eine gerichtliche Bewältigung der Menschenrechtsverbrechen ein Spannungsfeld zwischen Politik und Justiz aufmacht, das ständiger Ausbalancierung bedarf.[39]

 

 

II. Das Recht auf Wahrheit

 

Neben dem Ruf nach Gerechtigkeit war die zweite große Forderung der meisten Opfergruppen und der Menschenrechtsbewegungen die Aufklärung der Verbrechen der Diktatur. Wo Gerichtsverfahren möglich waren, trugen sie ihren Teil zur Dokumentation der Verbrechen bei. Das belegen bis heute die Dokumentation der Nürnberger Prozesse oder auch des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, ebenso des Prozesses gegen die Junta in Argentinien mit Hunderten von Zeugenaussagen, Expertendokumenten und anderen Unterlagen. Aber die strafprozessuale Wahrheitsfindung ist ihrer Natur nach immer auf einen Ausschnitt des Gesamtbildes beschränkt, nämlich den, der zur Beweisführung für die Verantwortlichkeit der Angeklagten notwendig ist.[40] Wo – vielleicht auch nur zunächst – keine Gerichtsverfahren möglich waren, suchte man nach anderen Wegen, die Wahrheit aufzudecken, was zur Errichtung von »Wahrheitskommissionen« führte. Diejenigen, die seit den 1980er-Jahren in aller Welt zahlreich eingesetzt wurden, unterscheiden sich teils erheblich in ihren Kompetenzen und Zielen. Gemeinsam ist ihnen aber ihre Trennung vom Justizsystem. Sie sind nicht an die Regeln gerichtlicher Beweiserhebung gebunden, sie identifizieren in der Regel keine individuellen Täter. Ihr Ziel ist es, ein möglichst umfassendes Gesamtbild des Unrechts des alten Regimes zu erstellen, typische Vorgehensmuster zu identifizieren und auch tiefer liegende sozioökonomische und politische Ursachen zu benennen.

Obwohl die meisten Wahrheitskommissionen dort entstanden, wo keine Strafverfolgung möglich war, wurden sie anderswo auch als Ergänzung zu den beschränkten Möglichkeiten justizieller Wahrheitsfindung zusätzlich zu den Gerichtsverfahren errichtet, wie z. B. in Sierra Leone. Ohne die institutionelle Autorität eines Gerichts hängen die Legitimität der Wahrheitskommissionen und der Einfluss ihrer Berichte entscheidend von ihrer Zusammensetzung durch glaubwürdige, integre und kompetente Persönlichkeiten ab, wie dies meist auch ausdrücklich im entsprechenden Gesetz verlangt wird. Die Kommissionen müssen in ihrer Arbeit nicht nur von einem breiten öffentlichen Konsens getragen werden, sondern auch von einer Politik der neuen oder Übergangsregierung, die auf transparente und glaubwürdige Weise die Unabhängigkeit ihrer Arbeit garantiert.

Wahrheitskommissionen, die Anhörungen der Opfer breiten Raum und breite Öffentlichkeit geben, können einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der »historischen Wahrheit« über die Diktatur in der gesellschaftlichen Wahrnehmung unter der neuen Regierung ausüben, wie z. B. in Chile, Peru und vor allem in Südafrika. Die Berichte und Empfehlungen der Kommissionen konnten Eingang in Schulbücher finden und beständige Referenzpunkte in der weiteren Auseinandersetzung um die Vergangenheit werden, mit denen sich Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur auseinandersetzen mussten.[41] Dies ist nur ein Punkt, in dem sich die Wahrheitskommissionen von Untersuchungskommissionen (commissions of inquiry, fact-finding-commissions u. Ä.), wie z. B. den beiden Enquetekommissionen des Bundestags von 1994 und 1998 zum DDR-Unrecht oder den über dreißig derartigen Kommissionen unterscheiden, die bisher allein vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingesetzt worden sind und deren Ergebnisse gewöhnlich nur ein Fachpublikum erreichen.[42]

 

 

III. Wiedergutmachung und Entschädigungen

 

Die dritte Säule der Maßnahmen im Rahmen von TJ umfasst das weite Feld von materieller und symbolischer Wiedergutmachung. Als explizites Recht der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen wurde es in den Vereinten Nationen erstmals durch die von dem holländischen Juristen und UN-Mitarbeiter Theo van Boven im Auftrag der Unterkommission für Menschenrechte erarbeiteten Prinzipien zum Schutz der Opfer eingeführt.[43] Die »Van-Boven-Prinzipien« unterscheiden zwischen verschiedenen Formen der Wiedergutmachung:

  • »Restitution« soll »das Opfer so weit wie möglich in den Stand versetzen, der vor der groben Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen (…) bestand.« Im Einzelnen werden aufgeführt: die »Wiederherstellung der Freiheit, des Genusses der Menschenrechte, der Identität, des Familienlebens und der Staatsangehörigkeit, die Rückkehr an den Wohnort, die Wiederherstellung des Beschäftigungsverhältnisses und die Rückgabe des Eigentums.« (Par. 19)
  • »Entschädigung« bezieht sich auf »jeden wirtschaftlich messbaren Schaden«, der je nach den Umständen auszugleichen ist. (Par. 20)
  • »Rehabilitierung soll die medizinische und psychologische Betreuung sowie rechtliche und soziale Dienste umfassen.« (Par. 21)
  • Unter dem Begriff »Genugtuung« wird eine große Zahl von Maßnahmen zusammengefasst (Par. 22), insbesondere zur Feststellung bestimmter Wahrheiten (offizielle Untersuchungen über bestimmte Unrechtstaten, die Suche nach den Verschwundenen …), öffentliche Entschuldigungen, Gedenkveranstaltungen u. Ä., die den Ruf der Opfer wiederherstellen, sowie gerichtliche und außergerichtliche Sanktionen gegen die Täter und Schulungsmaßnahmen über Menschenrechte für den öffentlichen Dienst.

 

 

IV. Garantien der Nichtwiederholung

 

Die Palette von Maßnahmen, die hier unter dem Oberbegriff der Wiedergutmachung (Reparation) aufgeführt wird, geht weit über das hinaus, was üblicherweise unter Entschädigung verstanden wird. Wenn etwa zu dem Anspruch der Opfer auf »Genugtuung« auch »wirksame Maßnahmen zur Beendigung anhaltender Verletzungen oder Verstöße« gezählt werden (Par. 22a), leitet das bereits zum letzten Punkt der Maßnahmen zur Wiedergutmachung über, den »Garantien der Nichtwiederholung« (Par. 23). Diese enthalten eine lange Reihe von grundlegenden institutionellen rechtsstaatlichen Reformen, wie z. B. die zivile Kontrolle des Militärs, die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit, die vollständige Umsetzung internationaler Menschenrechtsnormen in nationales Recht u. Ä. Diese »Garantien der Nichtwiederholung« erscheinen in späteren Texten als eigene, vierte Säule des TJ-Gebäudes, wie z. B. in dem Mandat des 2012 eingesetzten Sonderberichterstatters für TJ »Special Rapporteur on the promotion of truth, justice, reparation and guarantees of non-recurrence«. Es sagt jedoch einiges aus, dass diese »Garantien der Nichtwiederholung« zunächst im Rahmen des Nachdenkens über sinnvolle Wiedergutmachung für die Opfer erarbeitet worden sind. Die Forderung nach solchen Garantien gehörte von Beginn an zu den Kernforderungen der Opferbewegungen und manifestierte sich in dem auf zahllosen Demonstrationen zu hörenden Ruf: »Nunca Más/Never again/Nie wieder«.[44] Sie als Element von Wiedergutmachung zu verstehen, verweist auf ein tieferes Verständnis dieses Begriffs, der die beiden Kernelemente der Van-Boven-Prinzipien verbindet: den Rechtsschutz der Opfer und die Wiedergutmachung der erlittenen Schäden. Wiedergutmachung bedeutet also nicht, dass der Staat den Opfern eine restitutio in integrum, die vollkommene Wiederherstellung des Zustandes vor der Verletzung gewähren kann. Das jedenfalls ist bei den Verbrechen gegen die Menschheit unmöglich. Wiedergutmachung ist also nicht nur rückwärtsgewandt: So sehr es darum geht, die erlittenen Schäden nach Möglichkeit auszugleichen, zu »reparieren«, so sehr geht es auch darum, Sicherheit zu geben, dass sich Ähnliches nicht wiederholt. Für viele Opfer ist dieser Aspekt, die Sicherheit vor künftigen Menschenrechtsverletzungen, das entscheidende Anliegen und somit eben auch das entscheidende Element von Wiedergutmachung.

Bei den Garantien der Nichtwiederholung wird schnell deutlich, dass sie in der Regel nicht in individueller Form gewährt werden können. Ein Folteropfer kann wegen der erlittenen Schäden zwar individuell Schmerzensgeld, Leistungen des Gesundheitsdienstes und andere persönliche Entschädigungsmaßnahmen erhalten. Die Garantie, dass die Person nicht wieder gefoltert wird, macht aber nur Sinn, wenn der Staat Maßnahmen trifft, die grundsätzlich das Foltern verhindern. Das Gleiche gilt für die Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen. Das heißt aber, dass auch die Wiedergutmachung immer eine kollektive Dimension hat und nicht auf individuelle Maßnahmen beschränkt werden kann, sondern die Garantien der Nichtwiederholung einschließen muss. Die Koppelung dieser Garantien an die Maßnahmen der Wiedergutmachung in den Van-Boven-Prinzipien ist also gut begründet.

Zugleich führt die große Breite und Tiefe der als Garantien gegen die Wiederholung geforderten Maßnahmen TJ an ihre Grenzen, sind diese Maßnahmen doch vor allem für Übergangssituationen konzipiert. Verfassungsreformen, Rechtsstaatsgarantien, die Beschränkung des Militärs und andere der in dieser vierten Säule von TJ genannte Maßnahmen sind aber letztlich menschenrechtliche Normen, die unabhängig von Transitionen Geltung haben. Sie als Ergebnis von Transitionen zu garantieren, verweist auf das Ende der Transition und die Etablierung von menschenrechtlichen Prinzipien jeden demokratischen Rechtsstaats.

 

 

V. Der innere Zusammenhang der Elemente von Transitional Justice

 

Nicht nur die Konzepte und Ziele von Wiedergutmachung und Garantien der Nichtwiederholung sind eng verzahnt. Ähnliches gilt für die Beziehungen aller vier Säulen der TJ untereinander. Zwar können die einzelnen Maßnahmen getrennt durchgeführt und in separaten Institutionen organisiert werden, sie sind aber immer aufeinander bezogen. Die Justiz bestraft nicht nur, sie etabliert auch eine konkrete Wahrheit mit besonderer Geltung, eine Wahrheit, die auch Konsequenzen hat. Insofern sind Gerichtsurteile auch immer eine Form der Wiedergutmachung und werden gerade von Opfern auch als solche verstanden.[45] Die Ergebnisse von Wahrheitskommissionen können ebenfalls Effekte der Wiedergutmachung zeitigen, doch wenn es nicht auch zusätzlich zu Gerichtsverfahren kommt, werfen sie die Frage nach den Konsequenzen dieser Wahrheitsfindung auf und können sogar als reviktimisierend empfunden werden.[46] Die vier Säulen der TJ stützen sich also gegenseitig, können aber auch Spannungen untereinander aufbauen, und das umso mehr, je ungleicher sie vorhanden sind. Im idealen Konzept der TJ sind alle vier Säulen gleich stark und tragen gemeinsam die Lasten der Transition.[47] In der realen Welt ist dies kaum irgendwo der Fall. Waren tatsächlich alle vier Elemente stark vertreten, wie z. B. in Argentinien, wurden sie zeitlich versetzt eingeführt, sodass dennoch Spannungen zwischen ihnen entstanden.

Welche Elemente von TJ bei einem Regimewechsel überhaupt eingeführt werden, und in welchem zeitlichen Ablauf dies gegebenenfalls geschieht, hängt offensichtlich vom Charakter des repressiven Regimes, den Umständen der Transition und den Bedingungen, unter denen sich die neue Regierung etabliert, aber auch von deren eigenen Zielen ab. In all diesen Punkten unterschieden sich die Menschenrechtsaktivisten und -politiker aus Lateinamerika von denen aus Osteuropa bzw. aus den postkommunistischen Staaten des sogenannten Ostblocks.

Doch auch untereinander unterschieden und unterscheiden sich die ex-kommunistischen Staaten erheblich. In Russland und den asiatischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion fällt es schwer, überhaupt von einer Transition im Sinne einer Demokratisierung zu sprechen. Im ehemaligen Jugoslawien zerstörte der Krieg rasch die Ansätze einer Demokratisierung und Aufarbeitung der Vergangenheit, die jetzt wieder, unter neuen Bedingungen, beginnt. Von TJ lässt sich am ehesten in den westlichsten Ländern des ehemaligen Ostblocks und im Baltikum sprechen. Gemeinsam ist ihnen eine aktive Zivilgesellschaft, die teils schon lange vor dem Ende der Diktaturen existierte, eine nationale Geschichte mit zumindest teilweise demokratischen Strukturen, an die angeknüpft werden konnte, und stärkere intellektuelle und kulturelle Verbindungen in den Westen, die sich nach dem Ende der alten Regime auch schnell intensivierten (u. a. in der Serie von Konferenzen zu TJ-Fragen, die von westlichen Stiftungen organisiert oder gefördert wurden).

Doch auch hier gab es große Unterschiede im Verlauf der Ablösung des alten Regimes. Während dessen Auflösung in Ungarn und Polen vergleichsweise langsam und kontinuierlich verlief, wehrte sich das Husák-Regime in Prag bis zuletzt gegen sein Ende und wurde dann 1989 in wenigen Tagen durch Massenaktionen entmachtet.[48] Dementsprechend war die Abrechnung mit dem alten Regime in der Tschechoslowakei (und später in Tschechien) vergleichsweise härter als in anderen ex-kommunistischen Staaten. Wo die Transition hingegen in kleinen Schritten verlief, wie exemplarisch in Ungarn, war das Interesse an Maßnahmen gegen das alte Regime deutlich geringer. Mag der Spruch »Living well is the best revenge«[49] auch ebenso übertrieben sein wie zuvor schon das Wort vom »Gulaschkommunismus«, so drückte er doch eine offenbar verbreitete Stimmung im Lande aus.

Doch gerade Ungarn zeigt, dass es nicht nur Stimmungen oder momentane politische Konjunkturen waren, die den Charakter der TJ bestimmten. In Ungarn wie in fast allen postkommunistischen Staaten gilt, dass keine der vier Säulen der TJ konsequent zum Tragen kam. Prozesse gegen die früheren Machthaber fanden kaum statt, mit geringfügigen, die neuen Gesellschaften wenig prägenden Ausnahmen in Rumänien, Deutschland und Polen. Einen Grund dafür merkte der langjährige polnische Oppositionsführer Adam Michnik einmal an: Wenn er seinem Gegenüber am Verhandlungstisch nicht angekündigt habe, dass er später vor Gericht käme, wäre es unmoralisch von ihm gewesen, dies hinterher zu tun.[50]

In Ungarn verzichtete man allerdings nicht stillschweigend auf Prozesse. Schon ein gutes Jahr nach den ersten Wahlen verabschiedete das neu gewählte Parlament im November 1991 ein Gesetz, das die Strafverfolgung bestimmter politisch motivierter Verbrechen vorsah und dazu auch die Verjährungsfristen entsprechend anpasste.[51] Obwohl das Gesetz nach rechtsstaatlichen Standards entwickelt worden war, insbesondere nur Anklagen nach bereits im alten Regime bestehenden Gesetzen zuließ, weigerte sich der ebenfalls neu gewählte Präsident Árpád Göncz, das Gesetz zu unterzeichnen, und überwies es zur Prüfung an das ebenfalls neue, wenige Monate vor dem Parlament gebildete Verfassungsgericht. Dieses berief sich auf die gerade wieder in die Verfassung eingeführten streng formalen Grundsätze des »Rechtsstaats« (deutsch im Original!) und darauf, dass sogar der kürzlich vollzogene Systemwechsel auf legale und verfahrensmäßig untadelige Weise vollzogen worden sei.

Auf die Entwicklung des menschenrechtlichen Völkerrechts, das ein Rückwirkungsverbot für schwere Verletzungen internationalen Rechts schon lange nicht mehr anerkannte, ging das Gericht dabei nicht ein. »Einen Rechtsstaat kann man nicht unter Missachtung der Rechtsstaatlichkeit schaffen«, befand das Gericht und berührte damit eine »umstrittene Beziehung«,[52] die in der TJ-Diskussion immer wieder Fragen aufwirft. Wie weit können Besonderheiten der Strafverfolgung wie selektive Auswahl der Angeklagten, Einführung international anerkannter, aber dem nationalen Strafrecht bis dahin unbekannte Tatbestände, Modifikationen der Strafprozessordnung oder auch bessere Behandlung der Opfer im Prozess gehen, ohne die grundlegenden Ideen von fairen Verfahren zu verletzen? Der UN-Sonderberichterstatter Pablo de Greiff hat umfassend argumentiert, wie TJ den Rechtsstaat nicht unterminiert, sondern im Gegenteil befördert.[53]

Ob das bevorzugte Mittel, zu dem in vielen osteuropäischen Staaten nach dem Ende der Diktatur gegriffen wurde, die Lustration, solch strengen positivistischen Rechtsprinzipien besser als Gerichtsprozesse genügt, darf hinterfragt werden. Doch Lustration war das große Stichwort, das in den frühen Konferenzen, in denen zwischen Ost und West nach Wegen des Übergangs von Diktaturen zu demokratischen Gesellschaften gesucht wurde, zuverlässig auftauchte, wenn die osteuropäischen Vertreter von Alternativen zu Strafprozessen sprachen, um eine decommunization (Entkommunisierung) von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Obwohl es nie eine präzise Definition dieses damals recht neuartigen Begriffs gab,[54] war doch klar, dass damit die Säuberung des Staatsapparats auf administrativem Weg gemeint war. Die Begründung lag auf der Hand. Die kommunistischen Regime hatten Staat und Gesellschaft in den betroffenen Ländern in allen wesentlichen Bereichen durchdrungen, teilweise ein umfassendes System der Bespitzelung der Bevölkerung aufgebaut und damit Positionen besetzt, von denen aus die alten Eliten nach dem Regimewechsel weiter Macht ausüben konnten. Es ging also darum, zügig einen relativ großen Personenkreis von wichtigen Positionen des öffentlichen Dienstes zu entfernen, was auf dem normalen Rechtsweg kaum möglich schien. Wie sich bald zeigte, war aber auch die Lustration hier nur sehr begrenzt erfolgreich.[55] Zudem gibt es Hinweise, dass die Lustration, wegen des Verdachts der Manipulation durch die neuen politischen Machthaber – begründet oder nicht –, das Vertrauen in die Transitionsregierungen untergraben hat.[56] Es gab kein klar definiertes Konzept, welche Institutionen und welcher Personenkreis von der Lustration genau betroffen sein sollten, welche Taten im Einzelnen damit verfolgt werden sollten, welche Verfahrensweisen angewandt werden sollten (und welche Garantien die Betroffenen hätten, sich gegen die Lustration zu wehren) oder wie lange der gesamte Prozess anhalten sollte. In den meisten Ländern konzentrierte sich die Lustration auf die Mitglieder der Überwachungsorgane, von denen scheinbar die größte Gefahr für den Transitionsprozess ausging. Deshalb war auch die Öffnung ihrer Archive der zweite zentrale Punkt der TJ in den postkommunistischen Übergangsregierungen gewesen. Auch hier gab es große Unterschiede bezüglich des Zugangs und der Veröffentlichung der Unterlagen. Kein anderes Land ging so weit wie Deutschland mit der Öffnung der Stasi-Unterlagen. So bewertete z. B. der ungarische Verfassungsgerichtshof das Recht auf Datenschutz höher als das Recht auf Kenntnis der Details aus den Akten der Geheimpolizei.[57]

Kritik an den Lustrationsprozessen gab es von Vertreterinnen und Vertretern der Menschenrechte schon früh, und zwar sowohl aus dem Westen als auch aus Osteuropa, wie z. B. das polnische Helsinki-Komitee, das eine lange Liste von strengen Bedingungen vorlegte, unter denen Lustrationsmaßnahmen aus menschenrechtlicher Sicht und nach rechtsstaatlichen Kriterien akzeptabel sein könnten.[58] Nach der Salzburger Konferenz, zu deren Organisatoren der US-amerikanische Juraprofessor Herman Schwartz gehört hatte, unterzog er die Lustrationen in Osteuropa einer sehr kritischen Bestandsaufnahme. Er legte auch einen Vorschlag vor, wie sie rechtsstaatlich zu gestalten seien. Dabei bestimmte er als einziges legitimes Ziel, diejenigen, die den Übergang zur Demokratie gefährden könnten, daran zu hindern.[59] Verschiedene internationale Menschenrechtsorgane meldeten ebenfalls Bedenken gegen Maßnahmen der Lustration an, darunter der Europarat, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und der UN-Menschenrechtsausschuss.[60]

Im Kontext von TJ deckt sich das Verfahren der Lustration mit keiner der vier Säulen. Weder ist es ein Instrument der Justiz noch der Wahrheitsfindung oder ein Element der Wiedergutmachung im engeren Sinn. Am ehesten kann man es als ein Instrument der Garantie gegen die Wiederholung verstehen. So sieht es auch der UN-Sonderberichterstatter de Greiff. In seinem diesbezüglichen Bericht[61] wie auch sonst in der TJ-Theorie ist Lustration allerdings nur ein Element von breiteren Maßnahmen, für die sich der Begriff vetting (prüfen) eingebürgert hat. De Greiff betont, dass vetting keinesfalls massenhafte Säuberungen aufgrund bloßer Mitgliedschaften oder Zuschreibungen bedeuten dürfe – er betont hier den Unterschied zwischen vetting und purges (Säuberungen). Vielmehr müsse es um korrekte Verfahren gehen, in denen individuelles Verhalten auf der Basis objektiver Kriterien zu prüfen sei. In diesem Zusammenhang kritisierte er das 2003 im Irak durchgeführte Programm der »Ent-Baathifizierung«, also das kompromisslose Entfernen aller Mitglieder der Baath-Partei aus den Sicherheitskräften, als nicht vereinbar mit einem Vetting-Programm und überdies als kontraproduktiv.[62] Wenn hingegen vetting als Teil einer Gesamtpolitik von TJ-Maßnahmen verstanden und durchgeführt werde, könne es sehr wohl auch zur Befriedung der Gesellschaft, der Anerkennung der Opfer und der Stärkung des Rechtsstaats beitragen, indem es die Voraussetzungen für die Wirkung anderer Maßnahmen schaffe.[63]

 

Blickt man zurück auf die großen Anstrengungen, die nach dem Zerfall der kommunistischen Regime in Osteuropa hauptsächlich von US-amerikanischen Thinktanks und Stiftungen unternommen wurden, um die im Zuge von Erfahrungen in Lateinamerika entwickelten Ideen einer TJ in ein universelles Konzept für die Ablösung von Diktaturen durch Demokratien v. a. in Osteuropa zu verwandeln, ist das Ergebnis eher ernüchternd. Zu unterschiedlich waren die Hintergründe und Voraussetzungen der verschiedenen Transitionen, zu unterschiedlich auch die daraus entwickelten Zukunftsperspektiven, als dass sie zu gemeinsamen Strategien hätten führen können oder auch nur eine auf die universellen Menschenrechte gründende global community von Aktivisten und Intellektuellen hätte entstehen können. Die Differenzen, die auf einigen der Konferenzen Anfang der 1990er-Jahre zwischen Vertretern aus Ost und West auftraten, erwiesen sich als mehr als nur Missverständnisse aufgrund mangelnder gegenseitiger Kenntnis. Wie sich in den folgenden Jahren zeigte, gingen die Wege der Transition in Ost und West eher noch weiter auseinander. Überdeutlich wird dies an dem Thinktank, der seit seiner Gründung 2001 wie kein anderer das Feld der TJ mitgeprägt und auch praktisch mitbestimmt hat: das New Yorker »International Center for Transitional Justice« (ICTJ). Zu seinen Gründungsmitgliedern und späteren prominenten Verbündeten gehörten viele der einflussreichsten Autoren auf dem Gebiet der TJ, von denen einige, wie etwa Pablo de Greiff, Juan Méndez oder Ian Martin auch wichtige Positionen im UN-Menschenrechtssystem einnahmen und dieses stark prägten. Schon nach ein paar Jahren war das ICTJ in über 20 Ländern mit Projekten vertreten, in Amerika, Afrika und Asien, aber in keinem einzigen Land Osteuropas. Daran hat sich auch 20 Jahre später kaum etwas geändert. Die Themen, die das ICTJ mit seinen zahlreichen akademischen Publikationen, aktuellen Berichten, Projekten und im Rahmen der Beratung von Regierungen setzt, bestimmen den Diskurs über TJ in allen Teilen der Welt entscheidend mit – außer in Osteuropa. Warum es diesen Sonderweg der postkommunistischen Transitionen gibt, ist eine Frage, die in der TJ-Diskussion noch längst nicht geklärt ist, die aber angenommen werden sollte, auch um allzu eingefahrene Gewissheiten mancher Positionen in diesen Diskussionen produktiv zu hinterfragen.

 

 


[0] Der diesem Beitrag zugrunde liegende Vortrag des Autors war Teil der Internationalen Online-Konferenz »Dealing with the Past – Erinnerung und Aufarbeitung nach Systemumbrüchen im späten 20. Jahrhundert«, ausgerichtet von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 18./19. August 2021.

[1] Siehe Constanze Schimmel: Transitional Justice im Kontext. Zur Genese eines Forschungsgebietes im Spannungsfeld von Wissenschaft, Praxis und Rechtsprechung, Berlin 2016.

[2] Hans Herz ging nach seiner Entlassung aus dem juristischen Staatsdienst durch die Nazis zunächst in die Schweiz ins Exil. Dort veröffentlichte er 1938 im Züricher Europa-Verlag, Heimat so vieler Exilautoren, unter dem Pseudonym Eduard Bristler eine umfassende Studie über »Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus«. Noch im gleichen Jahr emigrierte er in die USA, führte als ersten Vornamen von nun an »John« statt »Hans« und begann, sich auf das politikwissenschaftliche Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen zu konzentrieren, aus dem heraus er wie sein ebenfalls vor den Nazis emigrierter Kollege Hans Morgenthau die »Realistische Schule« mitbegründete.

[3] John H. Herz: On Reestablishing Democracy after the Downfall of Authoritarian or Dictatorial Regimes, in: Comparative Politics 10 (July 1978), H. 4, S. 559–562.

[4] John H. Herz (Hg.): From Dictatorship to Democracy: Coping With the Legacies of Authoritarianism and Totalitarianism, Westport 1982.

[5] Abgedruckt in: Alice H. Henkin (Hg.): State Crimes: Punishment or Pardon. Papers and Report of the Conference, November 4–6, 1988, Wye Center, Maryland, Justice and Society Program of the Aspen Institute, Queenstown 1989.

[6] José Zalaquett: Confronting Human Rights Violations Committed by Former Governments: Principles Applicable and Political Constraints, in: Henkin: State Crimes (Anm. 5), S. 23–69, Zitat S. 64.

[7] In Chile hatte erst wenige Wochen vor der Konferenz ein Referendum stattgefunden, in dem sich die Bevölkerung gegen eine weitere Amtszeit von General Pinochet ausgesprochen hatte. Dies führte jedoch erst 1990 zu seiner Ablösung durch einen gewählten Präsidenten und damit zur Rückkehr zur Demokratie. Währenddessen bahnte sich in Argentinien gerade der dritte Versuch rebellischer Militärs an, die demokratische Regierung von Präsident Alfonsín zu stürzen.

[8] Inter-American Court of Human Rights, Case of Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Judgment of July 29, 1988 (Merits).

[9] Eine gute Zusammenfassung der wegweisenden Elemente dieses Urteils gaben nach Ende des Verfahrens die beiden Anwälte der honduranischen Opfer, Juan Méndez und José Miguel Vivanco, die in den folgenden Jahrzehnten zu führenden Menschenrechtsverteidigern weltweit wurden, siehe Juan Méndez/José Miguel Vivanco: Disappearances and the Inter-American Court: Reflections on a litigation experience, Hamline Law Review 13 (1990), H. 3, S. 507–577.

[10] In seiner Resolution 713 vom 25. September 1991 verhängte der UN-Sicherheitsrat u. a. ein Waffenembargo für Jugoslawien. Im Mai 1993 beschloss er dann mit Resolution 827 die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien.

[11] So der Begriff (»Uncertain Democracies«), den Guillermo O’Donnell und Philippe C. Schmitter in ihrem einflussreichen Buch »Transitions from Authoritarian Rule. Tentative conclusions about uncertain democracies« (Baltimore 1986) für die Phase nach den Transitionen verwendeten. Damit erwiesen sie sich als weit vorsichtiger als z. B. Samuel Huntington (s. u.) oder dessen Kollege Francis Fukuyama, der im Jahr der Salzburger Konferenz sein Buch »The End of History and the Last Man« (New York 1992) veröffentlichte. Darin proklamierte er die »weltweite liberale Revolution« infolge des Endes der Diktaturen als Endstadium der menschlichen Geschichte. Huntingtons Buch war prägend für den politikwissenschaftlichen Begriff der Transition, den die Theoretikerinnen und Theoretiker der TJ übernahmen.

[12] Siehe Mary Albon: Project on Justice in Times of Transition, Inaugural Meeting, Salzburg, Austria, March 7–10, 1992. Dieser kurze zusammenfassende Konferenzbericht scheint der einzige zugängliche Bericht über die Salzburger Konferenz zu sein, was angesichts der sehr prominenten Besetzung und des großen Einflusses der Konferenz erstaunt. Eine gekürzte Fassung dieses Konferenzberichts findet sich in Neil J. Kritz: »The Dilemmas of Transitional Justice«, in: ders. (Hg.): Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes, 3 Bde., New York 1995, Bd. 1, S. 42–54.

[13] Ebd., Bd. 1, S. XIX.

[14] Das DIML wurde bald nach dieser Konferenz in »Nürnberger Menschenrechtszentrum« (NMRZ) umbenannt.

[15] Anders als bei den genannten Konferenzen waren beim Trialog tatsächlich mindestens die Hälfte der Teilnehmenden Frauen.

[16] Dokumentiert in dem Band »Liga Internacional por los Derechos y la Liberación de los Pueblos. Tribunal Permanente de los Pueblos: Proceso a la impunidad de crímenes de lesa humanidad en América Latina 1989–1991« [Internationale Liga für die Rechte und die Befreiung der Völker. Ständiges Tribunal der Völker: Prozess gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschheit in Lateinamerika 1989–1991], Bogotá 1991.

[17] Meine Information stammt lediglich aus einer kurzen Nachricht im »Journal of Democracy« der Johns Hopkins University,3 (April 1992), H. 2. Recherchen mit der Unterstützung der Batory-Stiftung ergaben leider keine weiteren Informationen oder die Möglichkeit auf Einsicht in weitere Dokumente.

[18] Siehe Albon: Project on Justice (Anm. 12).

[19] Siehe Truth and Justice: The Delicate Balance. Documentation of Prior Regimes and Individual Rights, October 30 – November 1, 1992, Budapest. Workshop Co-sponsored by The Institute for Constitutional and Legislative Policy of the Central European University and The Project on Justice in Times of Transition of the Charter 77 Foundation – New York. Rapporteur's Report by Mary Albon (ungedruckter Konferenzbericht, auf: https://beyondconflictint.org/wp-content/uploads/1992/10/BUDAPEST-92.pdf, ges. am 28. Oktober 2021).

[20] Siehe Ruti Teitel: Transitional Justice, Oxford 2000, Preface, S. vii – viii.

[21] Der Begriff stammt von Constanze Schimmel (siehe Anm. 1).

[22] Siehe Samuel P. Huntington: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Normand & London 1991. Das Buch verbreitet die Überzeugung, dass mit dem Ende der osteuropäischen Diktaturen weltweit eine Epoche von Demokratien angebrochen sei.

[23] Diane F. Orentlicher: Settling Accounts: The Duty To Prosecute Human Rights Violations of a Prior Regime, in: The Yale Law Journal 100 (1991), H. 8, S. 2537–2615. Der Aufsatz etablierte die maßgeblichen menschenrechtlichen Normen für die TJ-Diskussion, die eine Strafverfolgung von Verletzungen internationalen Menschenrechts obligatorisch machen. Damit wurde die Autorin zu einer gewichtigen Stütze des »Kampfs gegen die Straflosigkeit«, vor allem in Lateinamerika. Später schrieb sie als UN-Expertin die aktualisierte Fassung der ursprünglich von Louis Joinet verfassten »Prinzipien gegen die Straflosigkeit« (E/CN.4/2005/102/Add. 1, 8 February 2005).

[24] Claus Offe: Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt/New York 1994.

[25] Kritz: Transitional Justice (Anm. 12).

[26] Siehe das Mandat des 2011 geschaffenen »Special Rapporteur on the Promotion of Truth, Justice, Reparation and Guarantees of Non-Recurrence« (A/HRC/RES/18/7, 13. Oktober 2011).

[27] Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, www.woerterbuchnetz.de/DWB (ges. am 9. September 2021).

[28] Diccionario de la lengua castellana, en que se explica el verdadero sentido de las voces, su naturaleza y calidad, con las phrases o modos de hablar, los proverbios o refranes, y otras cosas convenientes al uso de la lengua, dedicado al Rey nuestro Señor Don Phelipe V. (que Dios guarde) a cuyas expensas se hace esta obra. Compuesto por la Real Academia Española, Madrid 1726 – 1739 [Wörterbuch der kastilischen Sprache, in dem der wahrhaftige Sinn der Wörter, ihre Natur und Eigenschaft erklärt werden, mit den entsprechenden Sätzen und Redewendungen, Sprichwörtern und Reimen sowie anderen für den Gebrauch der Sprache nützlichen Dingen, gewidmet unserem Herrn, dem König Philipp V. [den Gott behüte], auf dessen Kosten dieses Werke geschaffen wird. Zusammengestellt von der Königlichen Spanischen Akademie zu Madrid 1726 – 1739], Eintrag »Impunidad«.

[29] Felipe Guamán Poma de Ayala: El Primer Nueva Corónica i Buen Gobierno [1615], Edición crítica de John Murra y Rolena Adorno, Mexiko 1980 (zahlreiche Neuausgaben).

[30] Siehe Rolena Adorno: Cronista y Principe. La obra de don Felipe Guamán Poma de Ayala [Chronist und Fürst. Das Werk von Felipe Guamán Poma de Ayala], Lima 1989, Kap. 3.

[31] Siehe Mario Sznajder/Luis Roniger: The Politics of Exile in Latin America, Cambridge 2009.

[32] FEDEFAM (Federación Latinoamericana de Asociaciones de Familiares de Detenidos-Desaparecidos): No a la impunidad. Los familiares no callarán [Nein zur Straflosigkeit. Die Angehörigen werden nicht schweigen], Caracas 1989.

[33] Siehe Rainer Huhle: Die politische Sprengkraft des Unpolitischen. Die Menschenrechtsbewegung verändert das politische Gesicht Lateinamerikas, in: Jürgen Mittag/Georg Ismar (Hg.): »¿El pueblo unido?« Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas, Münster 2009, S. 405–432.

[34] Der britischen Philosoph und Pazifist Bertrand Russell initiierte 1966 ein internationales Tribunal gegen den Vietnamkrieg, zu dem er zahlreiche renommierte Gelehrte und Aktivisten zusammenrief. Daraus entstand die Tradition von zivilgesellschaftlichen »Tribunalen der Völker« zu bestimmten menschenrechtlichen Problemen, die von offiziellen Gerichten nicht untersucht und verfolgt wurden. Zu den in Lateinamerika organisierten »Tribunalen der Völker« im Vorfeld des kontinentalen Tribunals in Bogotá gehörten u. a. Tribunale in Kolumbien selbst, in Peru, Guatemala oder Uruguay.

[35] Siehe Liga Internacional por los Derechos y Liberación de los Pueblos (Hg.): Tribunal Permanente de los Pueblos: Proceso a la impunidad de crímenes de lesa humanidad en América Latina, 1989–1991 [Ständiges Tribunal der Völker: Prozess gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschheit in Lateinamerika], Bogotá 1991; siehe auch Rainer Huhle: Das Ständige Tribunal der Völker gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen in Lateinamerika, in: Nord-Süd-aktuell 5 (1991), H. 2, Hamburg, S. 232–237. Nachgedruckt in: Rainer Huhle/Otto Böhm/Stefan Herbst (Hg.): Menschenrechte ohne Gerechtigkeit (= epd-Entwicklungspolitik Materialien II/91), Frankfurt a. M. 1991, S. 44–49.

[36] Siehe International Centre for Human Rights and Democratic Development: Campaign Against Impunity: Portrait and Plan of Action, Montreal 1997.

[37] Siehe dazu den Vortrag von Jaime Malamud-Goti auf der Aspen-Konferenz 1988, abgedruckt in: Henkin: State Crimes (Anm. 5).

[38] Siehe dazu die Berichte des UN-Sonderberichterstatters Pablo de Greiff zur Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien in der TJ vom 13. 9. 2012 (A/67/368) und zu Strategien der Priorisierung bei der Strafverfolgung vom 27.8.2014 (A/HRC/27/56).

[39] Siehe Carlos H. Acuña/Catalina Smulovitz: Guarding the Guardians in Argentina: Some Lessons about the Risks and Benefits of Empowering the Courts, in: A. James McAdams (Hg.): Transitional Justice and the Rule of Law in New Democracies, Notre Dame/London 1997.

[40] Generell dazu: Julie Allard u. a. (Hg.): La vérité en procès: les juges et la vérité politique [Die Wahrheit im Prozess: die Richter und die politische Wahrheit], Issy-les-Moulineaux 2014, vor allem die Kapitel 12–14.

[41] Zur gesellschaftlichen Wirkung von Wahrheitskommissionen siehe Onur Bakiner: Truth Commissions. Memory, Power, and Legitimacy, Philadelphia 2016, insbes. die Kapitel 4–7.

[42] Siehe Liste eingesetzter Kommissionen unter https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/Pages/ListHRCMandat.aspx (ges. am 10. September 2021).

[43] Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung, Resolution A/Res/60/147 der UN-Generalversammlung, 21. März 2006.

[44] »Nunca más« fand auch Eingang in die Titel mehrerer Berichte von lateinamerikanischen Wahrheitskommissionen und wurde zum Namen groß angelegter Kampagnen wie »Colombia Nunca Más« in Kolumbien.

[45] Schon in seinem ersten Urteil hielt der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof fest, dass sein Urteil »an sich schon eine bedeutsame Form der Wiedergutmachung und der moralischen Genugtuung für die Familien der Opfer darstellt.« (Caso Velásquez Rodríguez Vs. Honduras. Reparaciones y Costas. Sentencia de 21 de julio de 1989. Serie C No. 7, Par. 36). (Übersetzung R.H.)

[46] »Von Kopf bis Fuß, und von meinen Fußsohlen wieder zum Scheitel hinauf habe ich so oft ausgesagt, was hier geschehen ist. Und wozu? Nichts hat sich jemals geändert.« (Übersetzung R.H.) Interview mit einer Bäuerin aus Carhuahuarán, Perú, in: Lisa J. Laplante/Kimberly Theidon: Truth with Consequences: Justice and Reparations in Post-Truth Commission Peru, in: Human Rights Quarterly 29 (2007), H. 1, S. 228–250, Zitat S. 229.

[47] Siehe das Kapitel »Comprehensive approach and interrelationship of the four elements« im ersten Bericht des UN-Sonderberichterstatters für TJ: Report of the Special Rapporteur on the promotion of truth, justice, reparation and guarantees of non-recurrence, Pablo de Greiff (A/HRC/21/46), 9. August 2012.

[48] Nadya Nedelsky: Czechoslovakia and the Czech and Slovak Republics, in: Lavinia Stan (Hg.): Transitional Justice in Eastern Europe and the Former Soviet Union. Reckoning with the Communist Past, London/New York 2009, S. 37 ff.

[49] Siehe Gábor Halmai/Kim Lane Scheppele: Living Well Is the Best Revenge: The Hungarian Approach to Judging the Past, in: McAdams: Transitional Justice (Anm. 39), S. 155–184. Das Buch von McAdams ist das Resultat einer weiteren internationalen Konferenz über Transitional Justice, die im April 1995 unter dem Titel »Political Justice and the Transition to Democracy« am Center for Civil and Human Rights der Notre Dame Law School in Indiana (USA) stattgefunden hat und u. a. vom Helen Kellogg Institute of International Studies unterstützt wurde.

[50] Zitiert bei Halmai/Scheppele, ebd., S. 179.

[51] Ich folge hier der detaillierten Darstellung von Halmai/Scheppele, ebd., S. 158 ff.

[52] Pádraig McAuliffe: Transitional Justice and Rule of Law Reconstruction. A contentious relationship, New York 2013.

[53] Report of the Special Rapporteur on the Promotion of Truth, Justice, Reparation and Guarantees of Non-Recurrence, 13 September 2012 (A/67/368).

[54] Siehe Roger Duthie: Introduction, in: Alexander Mayer-Rieckh/Pablo de Greiff (Hg.): Justice as Prevention: Vetting Public Employees in Transitional Societies, New York 2007, S. 18.

[55] Siehe Aleksander Smolar: Revolutionary Spectacle and Peaceful Transition, in: Social Research 63 (Summer 1996), H. 2, S. 439–464.

[56] Siehe Cynthia M. Horne/Margaret Levi: Does Lustration Promote Trustworthy Governance? An Exploration of the Experience of Central and Eastern Europe, in: János Kornai/Susan Rose-Ackerman (Hg.): Building a Trustworthy State in Post-Socialist Transition, New York 2004, S. 52–74.

[57] Siehe Halmai/Scheppele (Anm. 49), S. 171 ff.

[58] Siehe Andrzej Rzeplinski: A Lesser Evil?, in: East European Constitutional Review 1 (Fall 1992), H. 3, S. 33–35, nachgedruckt in: Kritz: Transitional Justice (Anm. 12), Bd. 1, S. 484–487. Rzeplinski war selbst Mitglied des polnischen Helsinki-Komitees.

[59] Herman Schwartz: Lustration in Eastern Europe, in: Parker School of East European Law 1 (1994), H. 2, S. 141–171, auszugsweise nachgedruckt in Kritz: Transitional Justice (Anm. 12), Bd. 1, S. 461–483. Eine ausführliche Kritik an Lustrationen und anderen nicht justiziellen Säuberungsmaßnahmen legte einige Jahre später der kolumbianische Jurist Federico Andreu-Guzmán vor: Due Process and Vetting, in: Mayer-Rieckh/de Greiff: Justice as Prevention (Anm. 54), S. 448–481.

[60] Ausführlich dazu Andreu-Guzmán, ebd.

[61] Siehe Report of the Special Rapporteur on the promotion of truth, justice, reparation and guarantees of non recurrence, 21. Oktober 2015 (A/70/438).

[62] Ebd., Par. 18.

[63] Ebd., Par. 19 ff.

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