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Hier finden Sie die retrodigitalisierten Fassungen der Ausgaben 1993 bis 2020 des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung (JHK).

Weitere Bände werden sukzessive online gestellt. Die aktuelle Printausgabe folgt jeweils zwei Jahre nach ihrem Erscheinen.

Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wurde 1993 von Hermann Weber (†) als internationales Forum zur Erforschung des Kommunismus als europäisches und globales Phänomen gegründet. Das Jahrbuch enthält Aufsätze, Miszellen, biografische Skizzen, Forschungsberichte sowie Dokumentationen und präsentiert auf diesem Weg einmal jährlich die neuesten Ergebnisse der internationalen Kommunismusforschung.

Seit 2004 wird das Jahrbuch im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und erscheint aktuell im Berliner Metropol Verlag.

Herausgeber: Ulrich Mählert, Jörg Baberowski, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulenbach, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke.

Wissenschaftlicher Beirat: Thomas Wegener Friis, Stefan Karner, Mark Kramer, Norman LaPorte, Krzysztof Ruchniewicz, Brigitte Studer, Krisztián Ungváry, Alexander Vatlin.

Bitte richten Sie Manuskriptangebote an die Redaktion: jhk[at]bundesstiftung-aufarbeitung.de

JHK 2016

»Was ist denn nun überhaupt mit Stalin los?« Der XX. Parteitag der KPdSU und die Stimmung der Bevölkerung in der DDR

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 253-266 | Metropol Verlag

Autor/in: Henrik Bispinck

Die Enthüllungen Chruschtschows über die Verbrechen Stalins auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 bedeuteten einen tiefen innenpolitischen Einschnitt für die Sowjetunion. Es hatte Vorboten dieser Entwicklung gegeben, die als »Tauwetter« und »Entstalinisierung« in die Geschichte eingegangen ist. Bereits mit Stalins Tod drei Jahre zuvor schien die Sowjetunion, so Manfred Hildermeier, »aus einer tiefen Erstarrung zu erwachen«.[1] Während in den folgenden Jahren die Diadochen um seine Nachfolge kämpften, zeichnete sich bereits eine Abkehr von dem zuvor vergötterten Diktator ab: Im Mai 1954 thematisierte Chruschtschow in einer Rede vor dem Parteikomitee der Stadt Leningrad die sogenannte Leningrader Affäre von 1949/50, im Zuge derer zahlreiche Funktionäre zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren, wenngleich er Stalin als Verantwortlichen hier noch nicht beim Namen nannte; ein Jahr später wurde der Geburtstag des verstorbenen Diktators in der Presse schon nicht mehr erwähnt. Parallel dazu wurden bis Anfang 1956 über 1,5 Millionen Häftlinge aus den sowjetischen Straflagern entlassen.[2]

Dieser Prozess fand mit der erwähnten Geheimrede von Parteichef Chruschtschow, dessen Sieg im Kampf um die Macht sich nach und nach abzeichnete, seinen Höhepunkt.[3] Chruschtschow rechnete schonungslos mit den Verbrechen Stalins ab und legte ihre Ursachen, Hintergründe und Auswirkungen offen.[4] In der Folge verschwanden an zahlreichen Orten in der Sowjetunion Statuen und Bilder des Diktators von den öffentlichen Plätzen und aus den Büros von Ämtern und Behörden. Zugleich ließ der Parteichef seinen Worten Taten folgen, die deutlich machten, dass die Zeit des Terrors, der absoluten Willkür und der ständigen Furcht vor Gewalt vorüber war: Über die Hälfte der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes wurde entlassen, die Sondergerichtsbarkeit wurde abgeschafft und bis 1960 wurden 700 000 Opfer des stalinistischen Terrors rehabilitiert. Die Abkehr vom Stalinismus zeigte sich auch im Umgang Chruschtschows mit seinen Rivalen: Diese wurden entmachtet und abgeschoben – wie der in Ungnade gefallene Außenminister Molotow, den Chruschtschow als Botschafter in die Mongolei schickte –, aber nicht mehr wie unter Stalin verhaftet und hingerichtet. Zugleich verbesserte sich die allgemeine Lebenssituation von Millionen von Sowjetbürgern durch die Erhöhung der Löhne von Arbeitern und Angestellten, eine Verbesserung des Warenangebots und ein gigantisches Wohnungsbauprogramm.

Die Folgen des XX. Parteitags blieben indes nicht auf die Sowjetunion beschränkt, sondern erschütterten den gesamten kommunistischen Machtbereich. Die größten Auswirkungen zeigten sich in Polen und Ungarn, wo es im Verlauf des Jahres 1956 zu Massenprotesten und Aufständen kam, die blutig niedergeschlagen wurden. Im Vergleich dazu blieb es in der DDR verhältnismäßig ruhig, doch auch am ostdeutschen Teilstaat ging die Entstalinisierung nicht spurlos vorüber: Die SED-Führung, insbesondere Walter Ulbricht, der sich bisher als einer der treuesten Gefolgsmänner Stalins profiliert hatte, bangte um ihre Macht, während an der Basis viele Parteimitglieder extrem verunsichert waren. Zugleich weckte die Abkehr von Stalin aber in weiten Teilen der Gesellschaft auch die Hoffnung auf eine Liberalisierung.

In der historischen Forschung ist bis heute die Meinung vorherrschend, dass der XX. Parteitag und die Abkehr von Stalin in der DDR – anders als etwa in Polen oder in Ungarn – überwiegend von Intellektuellen, von Studenten sowie von der Parteielite der SED rezipiert wurden. Einfache Arbeiter und Angestellte hätten dagegen kaum davon Notiz genommen. Zwar hat Stefan Wolle schon kurz nach der Öffnung der DDR-Archive die Frage aufgeworfen, ob »das bisher allgemein verbreitete Bild von einer politisch inaktiven und schweigenden Arbeiterschaft« im Zusammenhang mit der Entstalinisierungskrise »zu revidieren« sei, und kommt aufgrund einer Analyse der Stimmungs- und Lageberichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu dem Schluss, »daß der Unwille unter den Arbeitern weit größer war, als man dies bisher angenommen hat«.[5] Allerdings konzentriert er sich dabei auf die zweite Jahreshälfte 1956, als es in Polen und später in Ungarn bereits zu Streiks, Protesten und blutigen Auseinandersetzungen gekommen war. Ausführlicher hat Wolle wenig später gemeinsam mit Armin Mitter die Reaktion der Arbeiterschaft der DDR auf das »Tauwetter« unter die Lupe genommen.[6] Trotzdem hält sich die schon vor 1990 verbreitete Vorstellung, die Entstalinisierungskrise sei an der Masse der DDR-Bevölkerung weitgehend spurlos vorübergegangen, auch in jüngeren Gesamtdarstellungen hartnäckig. Dietrich Staritz schreibt in der 1996 erschienenen erweiterten Neuausgabe seiner Geschichte der DDR, dass die Stalin-Kritik in der DDR ein »nahezu isoliertes Überbauphänomen« geblieben sei und die Arbeiter »von diesen Debatten kaum Notiz« genommen hätten.[7] Ulrich Mählert spricht in seiner Kleinen Geschichte der DDR davon, dass es nach dem XX. Parteitag der KPdSU in der Partei und unter den Intellektuellen »gärte«, dass aber »der größte Teil der Bevölkerung der Entwicklung weitgehend unbeteiligt gegenüberstand«.[8] Dierk Hoffmann zufolge beschränkte sich die »sogenannte ›Tauwetterphase‹ […] auf eine kleine Personengruppe«, auf Arbeiter und Angestellte sei der Funke nicht übergesprungen.[9] Auch Christoph Kleßmann kommt in seiner Untersuchung über Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR zu dem Schluss, dass der XX. Parteitag »in den Betrieben offenbar zunächst nur eine geringe Resonanz« fand.[10] Erklärt wird die Zurückhaltung der Arbeiterschaft vielfach mit der Erfahrung der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953, die die Arbeiter vor größeren Protestaktionen abgeschreckt habe.[11] Dies ist insofern zutreffend, als es im Jahr 1956 in der DDR – anders als in Polen oder Ungarn – nicht zu größeren öffentlichen Demonstrationen kam, wohl aber immer wieder zu kleineren Streiks und Arbeitsniederlegungen.[12]

Der vorliegende Beitrag will, vornehmlich auf der Grundlage der Auswertung von Stimmungsberichten des MfS, die Reaktion der »einfachen« Bevölkerung der DDR, der Arbeiter, Angestellten und Bauern, auf den XX. Parteitag der KPdSU untersuchen. Der Aufsatz konzentriert sich dabei auf die erste Hälfte des Jahres 1956, als die Lage in Polen und Ungarn noch nicht eskaliert war. Dabei wird zu zeigen sein, dass Arbeiter und Angestellte nicht nur schon frühzeitig und intensiv die Ergebnisse des Parteitags rezipiert haben, sondern aus der ideologischen Kehrtwende in Moskau auch ganz konkrete Forderungen ableiteten.

 

Zur Stimmungsberichterstattung des DDR-Staatssicherheitsdienstes

Die »Stimmung« in der Bevölkerung einer Diktatur zu rekonstruieren gehört zu den besonderen methodischen Herausforderungen der Geschichtswissenschaft. In politischen Systemen, die keine freie Meinungsäußerung zulassen, in denen Presse und andere Veröffentlichungen der Zensur unterliegen, gibt es keine »öffentliche Meinung« im klassischen Sinne. Zeitungen, Leserbriefe, Meinungsumfragen und Ähnliches fallen daher als mögliche Quellen aus und der Historiker muss auf andere Unterlagen zurückgreifen; neben privaten Aufzeichnungen wie Tagebüchern und Briefen, Eingaben an staatliche Einrichtungen, internen Meinungsumfragen und retrospektiven Befragungen zählen hierzu im staatlichen oder im Parteiauftrag erarbeitete Stimmungsberichte.[13] Für die DDR können neben den Berichten verschiedener Parteien und Massenorganisationen[14] die vom Staatssicherheitsdienst zusammengestellten »Informationen« an die Staats- und Parteiführung herangezogen werden,[15] die im Fokus dieses Aufsatzes stehen.

Die regelmäßige Berichterstattung der Staatssicherheit über die Stimmung und Lage im Land begann im August 1953 und wurde bis Ende 1989 kontinuierlich fortgesetzt.[16] Anlass für die Entscheidung der SED, das MfS mit der Erstellung von Stimmungsberichten zu beauftragen, war der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der die SED-Führung völlig unvorbereitet traf.[17] Struktur und Inhalt der Berichte waren dabei im zeitlichen Verlauf Wandlungen unterworfen. Während in den ersten Jahren fast ausschließlich Stimmungs- und Lageberichte mit fest vorgegebener Struktur verfasst wurden, kamen später immer häufiger sogenannte Sonderinformationen über einzelne Vorkommnisse hinzu. Seit Mitte der 1950er Jahre übertrafen diese die genuinen Stimmungs- und Lageberichte in Zahl und Umfang erheblich.

Der Quellenwert der Stimmungsberichte des Staatssicherheitsdienstes ist bereits verschiedentlich kritisch hinterfragt worden. Weitgehende Einigkeit herrscht in der Forschung darüber, dass die Informationen an die SED-Führung nicht als universeller Öffentlichkeitsersatz zu betrachten sind. Ralph Jessen hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das geheimpolizeiliche Informationswesen nicht den Diskurs, den freien Austausch »konkurrierender Meinungen und Werthaltungen« ersetzen konnte, der in einer freien (Medien-)Öffentlichkeit gegeben ist.[18] Zudem war die Berichterstattung »geprägt von der geheimpolizeilichen Sicht«; die Mitarbeiter mussten auch »ihre besondere ›Parteiergebenheit‹ und politisch-ideologische Festigkeit unter Beweis stellen«, was sie daran hindern konnte, »über politische Stimmungen und Missstände völlig ungeschminkt zu informieren«.[19] Die Grenzen lagen »in den legitimatorischen Axiomen der monopolitischen Parteiherrschaft«[20] – die Suprematie der SED durfte nicht infrage gestellt werden.

Auf der anderen Seite ist an den Anlass für den Beginn der Stimmungsberichterstattung zu erinnern: Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hatte die SED-Führung den Staatssicherheitsdienst scharf dafür kritisiert, dass er sie unzureichend über die Stimmung in der Bevölkerung informiert habe. Der Staatssicherheitsdienst hatte also ein Interesse daran, möglichst realitätsnah zu informieren und dabei auch kritische Stimmen nicht zu unterschlagen. Dies galt zumindest bis Ende 1956, bevor Walter Ulbricht dem damaligen Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber vorwarf, mit den Stimmungsberichten würde die »Hetze des Feindes legal verbreitet« und damit die Partei geschädigt, woraufhin der Informationsdienst zunächst ganz eingestellt und die Stimmungsberichterstattung des MfS generell »sehr vorsichtig« wurde.[21]

Überhaupt ist hinsichtlich des Quellenwertes der Berichte zeitlich zu differenzieren. Die frühen Berichte zeugen von geringer Professionalität: Sie sind sprachlich dürftig und strotzen vor Tipp- und Rechtschreibfehlern. Überwiegend werden Einzelzitate zusammengestellt, ohne dass eine nennenswerte analytische Auswertung oder auch nur Gewichtung der unterschiedlichen Stimmen erfolgen. In dieser ungeschminkten Wiedergabe von Einzeläußerungen, die nur wenig durch ideologische Überformung gekennzeichnet ist, liegt aber auch der besondere Wert dieser Berichte. Roger Engelmann spricht in diesem Zusammenhang treffend von der »unbeholfene[n] Authentizität« der Stimmungsberichterstattung.[22] Dagegen finden sich in den Stimmungsberichten aus den 1970er und 1980er Jahren kaum noch Einzelmeinungen und wörtliche Zitate, stattdessen werden verschiedene Tendenzen allgemein zusammengefasst, wobei »negative« oder kritische Stimmen in der Regel einer »Minderheit« der Bevölkerung zugeordnet und häufig als von »westlichen Medien« beeinflusst charakterisiert werden.[23] Die Berichte des Jahres 1956 nehmen hier eine Zwischenstellung ein: Sie sind stärker strukturiert und von höherer sprachlicher Qualität als die des Jahres 1953, doch kommen hier noch häufig – anders als nach 1957 – direkte Zitate und Meinungsäußerungen vor, die oft konkreten, manchmal auch namentlich genannten Sprechern zugeordnet sind. Auch werden sehr negative Äußerungen aus der Bevölkerung noch ungeschminkt wiedergegeben. Allerdings werden diese vielfach als von »Feindtätigkeit« beeinflusst gekennzeichnet und ablehnende Haltungen auf »ideologische Unklarheiten« zurückgeführt.

Es spricht kaum etwas dagegen, dass die wiedergegebenen Aussagen in dieser oder ähnlicher Form auch tatsächlich gefallen sind. Sie zeigen daher das Spektrum der Meinungen auf, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in der DDR-Bevölkerung vorhanden war. Schwieriger einzuschätzen ist die Gewichtung dieser Aussagen. Da die Kriterien, nach denen die Berichte erstellt wurden, sich nicht unmittelbar erschließen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, in welchem quantitativen Verhältnis zustimmende und kritische Aussagen zueinander stehen. Hier hilft indes ein vergleichender Blick auf in enger zeitlicher Folge verfasste Berichte zu gleichen Themen, an denen sich zumindest die graduelle Entwicklung der Stimmung in der Bevölkerung ablesen lässt.

 

Die Stimmungsberichte zum XX. Parteitag

Im Jahr 1956 fallen von den insgesamt über 550 Informationen, die das MfS für die Staats- und Parteiführung zusammenstellte, rund 130 in die Kategorie Stimmungsberichte; ein zentrales Thema sind die Folgen der Entstalinisierung. Allein 25 dieser Berichte befassen sich direkt mit dem XX. Parteitag der KPdSU und seiner Rezeption durch die SED-Führung. In zahlreichen weiteren Berichten geht es um die Reaktion der Bevölkerung auf die Ereignisse in Polen und Ungarn im Sommer und Herbst 1956.

Die Stimmungsberichte zum XX. Parteitag – der erste wurde am 23. Februar 1956 abgefasst, also kurz vor Chruschtschows Geheimrede – sind alle nach einem ähnlichen Schema aufgebaut. Auf eine allgemeine Einschätzung folgen spezifische Analysen zu einzelnen Unterthemen, im dritten Teil wird zusätzlich nach unterschiedlichen Berufsgruppen sowie nach Mitgliedern der SED und bisweilen anderer Parteien differenziert. Während in den einleitenden Passagen der Berichte noch Floskeln dominieren, nach denen »der weit überwiegende Teil der Bevölkerung positiv zum Parteitag diskutiert«, werden im weiteren Verlauf konkret Unsicherheiten und Kritikpunkte genannt und mit zahlreichen Beispielen aus Betrieben, Produktionsgenossenschaften, Parteiversammlungen oder Universitäten untermauert.

Schon vor der berühmten Geheimrede Chruschtschows hatte es auf dem XX. Parteitag der KPdSU deutliche Anzeichen dafür gegeben, dass eine Abkehr von Stalin und seiner Politik bevorstand. Beim Einzug der Delegierten fand sich kein Bildnis von Stalin im Saal, und in seiner Ehrung verstorbener kommunistischer Parteiführer nannte Chruschtschow Stalin in einem Atemzug mit Klement Gottwald und Kyuichi Tokuda, dem tschechischen bzw. japanischen Kommunistenführer, ohne ihn besonders herauszuheben.[24] Chruschtschow und Nikolai Bulganin, der Vorsitzende des Ministerrats, verurteilten in ihren Rechenschaftsberichten den Personenkult – ohne hierbei allerdings Stalin konkret zu nennen – und Chruschtschow kritisierte die Atmosphäre der Gesetzlosigkeit und Willkür, die in den letzten Jahren in der Sowjetunion geherrscht habe. Auch distanzierte er sich von der bisherigen Vorstellung, dass ein dritter Weltkrieg unvermeidlich sei. Vielmehr seien die Kräfte des Friedens inzwischen stark genug, um einen Krieg zu verhindern.[25]

Deutlicher wurde Bulganins Stellvertreter Mikojan in seinem Diskussionsbeitrag, in dem er feststellte, dass in der KPdSU »ungefähr 20 Jahre lang […] faktisch keine kollektive Leitung bestand, weil der Persönlichkeitskult blühte, der schon von Marx und später von Lenin verurteilt« worden sei; dies habe »sich natürlich negativ auf die Lage in der Partei und ihre Tätigkeit« ausgewirkt.[26] Auch stellte er das bisherige Dogma infrage, wonach der Weg zum Kommunismus nur über eine gewaltsame Revolution möglich sei. Diese Infragestellung gipfelte in der Feststellung, dass verschiedene Wege zum Kommunismus führen könnten.[27] Durch die Veröffentlichung der Reden oder entsprechende Zusammenfassungen im Neuen Deutschland und in anderen Tageszeitungen wurden diese auch in der DDR bekannt. So äußerten Volkspolizisten aus dem Kreis Dresden ihr Unverständnis darüber, »dass man heute zur Erkenntnis kommt, dass ca. 20 Jahre keine kollektive Leitung bestand, obwohl die heute führenden Genossen bereits viele Jahre zu den engsten Mitarbeitern Stalins gehörten«.[28]

Schon diese vergleichsweise subtilen und noch wenig konkreten Anzeichen einer Abgrenzung von Stalin wurden in der Bevölkerung der DDR registriert, wenn auch, wie es im ersten Stimmungsbericht des MfS zum XX. Parteitag vom 23. Februar heißt, die Diskussionen dazu »in allen Schichten der Bevölkerung noch verhältnismäßig gering« waren.[29] Der Beitrag Mikojans hatte jedoch viele hellhörig werden lassen. Obwohl in dem im Neuen Deutschland veröffentlichten Auszug aus seiner Rede kein direkter Angriff auf Stalin vorkam, erkannte die Bevölkerung, dass dahinter eine Abkehr von dessen Lehre stand. Die Berichterstatter des MfS waren sich zu diesem Zeitpunkt – Ende Februar – offenbar noch unsicher, ob es tatsächlich auch in der DDR zu einer endgültigen Distanzierung von Stalin kommen würde: Sie versuchten, diese Diskussionen mit dem »Einfluss von Feindpropaganda« zu erklären.[30]

Neben den politisch-ideologischen Fragen standen in den frühen Stimmungsberichten die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen im Vordergrund, die auf dem Parteitag angesprochen worden waren. Hier sind es vornehmlich Arbeiter, Bauern und einfache Angestellte, die in den Berichten zitiert werden. Auf besonderes Interesse stieß bei Industriearbeitern und LPG-Mitarbeitern die Ankündigung Chruschtschows, im kommenden Planjahrfünft zu einem Sieben-Stunden-Arbeitstag überzugehen, und zwar »ohne den Verdienst der Arbeiter und Angestellten zu verringern«.[31] Diese Maßnahme wurde – wenig überraschend – überwiegend positiv rezipiert und als Beweis für die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems interpretiert. Zugleich wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich auch in der DDR bald verwirklicht würde.[32] Interessant dabei ist, dass nur solche Diskussionen von den Berichterstattern als »positiv« deklariert wurden, in denen die Erwartung, der Siebenstundentag würde auch in der DDR bald eingeführt werden, unbestimmt bleibt und an von den Arbeitern selbst zu erfüllende Bedingungen geknüpft wird. Charakteristisch ist dafür folgendes Zitat, das einer Arbeiterin aus dem Kaliwerk Volkerode zugeschrieben wird: »Wenn wir in der DDR alle unsere Kräfte einsetzen und die uns gestellten Pläne erfüllen, wird dieses auch bei uns Wirklichkeit werden. Ich selbst werde alle meine Kräfte dafür einsetzen.«[33] Formulierten Arbeiter diese Erwartung hingegen implizit als Forderung an die Regierung, etwa indem sie äußerten, dass der Siebenstundentag »auch bei uns bald eingeführt werden müßte, denn wenn es in der SU geht, warum sollte es dann bei uns nicht auch gehen«, so wurde dies als Ausdruck von »Unklarheiten« gekennzeichnet, da nicht berücksichtigt werde, dass »in der DDR erst die Grundlagen des Sozialismus geschaffen« würden.[34]

Doch ebenso breiten Raum wie positive und hoffnungsvolle Äußerungen nehmen in den Berichten skeptische Reaktionen ein. So äußerten Arbeiter aus dem VEB Metallwarenfabrik Lobenstein, dass die Sowjetunion unter der Einführung des Siebenstundentags »in wirtschaftlicher Hinsicht schwer leiden« würde,[35] und Bauern aus dem Bezirk Neubrandenburg befürchteten, dass bei einer Übertragung auf die DDR »die Planerfüllung nicht gewährleistet« sei.[36] Insbesondere Arbeiter, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befunden hatten, äußerten Zweifel. So bekundete ein Fleischereiarbeiter seinen Unglauben, dass das »Sowjetvolk« in der Zeit seit seiner Entlassung »zu so einer Bildungsstufe und zu solchem Wohlstand gekommen ist«.[37] Derartige Äußerungen wurden von der Berichterstattung aber noch der Kategorie »Zweifel und Unklarheiten« zugeordnet, während feindliche Äußerungen zu diesem Zeitpunkt nur »vereinzelt« bekannt geworden seien.

 

Die Stellungnahme Ulbrichts zum XX. Parteitag

Am 4. März 1956 veröffentlichte das Neue Deutschland einen ausführlichen Artikel Walter Ulbrichts zum XX. Parteitag der KPdSU.[38] Seine Stellungnahme stellte eine weitschweifige und affirmative Zusammenfassung der Ergebnisse des XX. Parteitags dar, wobei er sich zur Übertragung der Ergebnisse auf die DDR denkbar zurückhaltend äußerte: Zwar sollten »die wichtigen Lehren« des Parteitags für die Vorbereitung der bevorstehenden III. Parteikonferenz der SED ausgewertet werden, allerdings nur, so die Einschränkung, »soweit sie auf unsere Verhältnisse anwendbar sind«. Die Abkehr von Stalin handelte Ulbricht nur knapp und eher beiläufig ab, indem er auf »bestimmte theoretische Fehler« in dessen Schrift Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR hinwies und die Missachtung des Prinzips der »Kollektiven Leitung« und den Personenkult kritisierte. Die Ausführungen mündeten in den viel zitierten Satz: »Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen.«

Mit dieser Veröffentlichung endete die Zurückhaltung in der Bevölkerung schlagartig. Bereits zwei Tage nach Erscheinen des Artikels meldete das MfS: »Übereinstimmend wird berichtet, daß in allen Bevölkerungsschichten starke Diskussionen […] geführt werden. Sie beschränken sich jedoch ausnahmslos auf die Frage ›Stalin‹.«[39] In den folgenden Tagen wurden drei weitere Stimmungsberichte herausgegeben, die sich ausschließlich mit Ulbrichts Stellungnahme im Neuen Deutschland befassten. Zitiert werden in den Berichten Angehörige unterschiedlichster Berufsgruppen, am häufigsten Äußerungen von Arbeitern, einfachen Angestellten und Bauern – prinzipielle Unterschiede zwischen den Berufsgruppen sind nicht festzustellen. Im Wesentlichen kann zwischen drei Reaktionsmustern unterschieden werden.

Die häufigste Reaktion ist, wie schon in den frühen Stimmungsberichten zum XX. Parteitag selbst, völlige Verunsicherung, ein Phänomen, das von den Berichterstattern zumeist als Vorhandensein von »Unklarheiten« etikettiert wird. So wollten Arbeiter im Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« wissen, ob jetzt die ganze Lehre von Stalin hinfällig sei und ob es überhaupt noch Sinn habe, am Parteilehrjahr teilzunehmen, da sich doch die politische Situation laufend verändere.[40] Konkret fragte ein Arbeiter: »Was ist denn nun überhaupt mit Stalin los? Erst wurde Stalin vergöttert und jetzt wird er schlecht gemacht. Warum hat man das nicht vorher getan, als er noch lebte.«[41] Die Verunsicherung zeigte sich in besonderem Maße bei Genossen, die die Linie ihrer Partei schließlich auch nach außen zu vertreten hatten. Unter ihnen wurden Fragen laut wie: »Wenn Stalin nicht mehr zu den Klassikern gehört, muß er doch in seinen Werken entscheidende Fehler gemacht haben. Ich sehe jetzt nicht mehr klar, wie ich hier argumentieren soll.«[42] Bemängelt wurde auch die fehlende Begründung für die Abkehr von Stalin in Ulbrichts Stellungnahme. Insbesondere SED-Mitglieder bekundeten, dass zur Kritik an Stalin »eine tiefgründige Erklärung nötig« sei.[43] Auf einer SED-Bezirkskonferenz in Magdeburg forderte eine Delegierte: »Wenn schon etwas angesprochen wird, dann richtig. Wir möchten endlich eine Begründung der Kritik auf dem XX. Parteitag.«[44] Das Spektrum der Äußerungen reichte von solchen grundsätzlichen Themen bis zu ganz praktischen Fragen. Arbeiter des VEB Gummi- und Textilwerk in Bad Blankenburg, Bezirk Gera, wollten wissen, ob nun die Bücher von Stalin allesamt eingezogen würden;[45] Mitarbeiter des Statistischen Kreisamtes Sondershausen fragten: »Was soll man jetzt mit unseren Stalinbildern machen, die wir kaufen mußten und daheim in der guten Stube hängen haben. Man muß uns zu dieser Frage eine Anleitung geben, damit wir nicht krumm angesehen werden, wenn wir Stalinbilder wegnehmen und andere hinhängen.«[46]

Eine zweite Strömung, die hauptsächlich von älteren Arbeitern getragen wurde und besonders am Anfang stark war, hielt die Kritik an Stalin für unberechtigt oder zumindest überzogen. So wurde vielfach geäußert, dass die Alleinschuld für die Fehler, die in der Sowjetunion gemacht wurden, nicht bei Stalin liege, sondern auch die Mitglieder des ZK der KPdSU Verantwortung dafür trügen.[47] Den auf dem XX. Parteitag kritisierten Personenkult, so hieß es, habe Stalin selbst gar nicht gewollt, er sei vielmehr das Produkt vieler kleiner Parteifunktionäre gewesen.[48] Das häufigste Argument zur Verteidigung Stalins war, dass gegenüber seinen Fehlern seine Verdienste um die Entwicklung der Sowjetunion zu wenig herausgestellt würden;[49] ebenfalls wurde wiederholt auf seine Leistungen im »Großen Vaterländischen Krieg« verwiesen.[50]

Die dominierende und im zeitlichen Verlauf zunehmende Strömung in den Stimmungsberichten ist aber die Zustimmung zur Kritik an Stalin und Unmut darüber, dass man sich nicht schon viel früher von ihm distanziert habe. Die Menschen sprachen nun aus, was sie schon lange über Stalin dachten: Er sei ein »Diktator« und bei den Sowjetbürgern nicht beliebt gewesen.[51] Dabei wurden auch direkte Vergleiche mit Hitler gezogen. Ein Arbeiter äußerte: »Der Genosse Stalin war nicht der richtige Mann, sondern war genau wie Hitler. Er ist diktatorisch und radikal vorgegangen und das gesamte Volk hat ihn gehasst.«[52]

 

Ulbricht im Fokus der Kritik

In diesem Zusammenhang geriet auch Walter Ulbricht zunehmend in den Fokus der Kritik. Dieselben Arbeiter, die der Abkehr von Stalin zustimmten, kritisierten zugleich Ulbricht; sie fanden es »unverständlich, daß gerade Walter Ulbricht, der bisher immer so gut über Stalin sprach, jetzt eine andere Meinung vertritt«.[53] Ein Parteimitglied wurde mit den Worten zitiert: »Ulbricht kann gut reden, aber ich weiß noch ganz gut, daß er auf dem XIX. Parteitag nicht dicht genug an Stalin herankommen konnte, um ja mit aufs Bild zu kommen.«[54] Doch nicht nur der Opportunismus Ulbrichts wurde kritisiert, es wurden auch Parallelen zwischen dem Stalinismus und der Politik der SED-Führung gezogen und dementsprechend Forderungen gestellt, aus dem XX. Parteitag der KPdSU auch Konsequenzen für die DDR zu ziehen. Auch in der DDR gebe es »Personenkult«, insbesondere in Bezug auf Ulbricht.[55] Darüber hinaus wurden erste Forderungen nach einer Ablösung des Ersten Sekretärs laut, eine Arbeiterin im Stahlwerk Brandenburg fragte etwa, ob Walter Ulbricht angesichts der Kritik an Stalin »für uns noch tragbar sei«.[56]

Die Kritik an Ulbrichts Person nahm ab Mitte März so stark zu, dass die Abteilung Information eine eigene Unterserie der Stimmungsberichte einrichtete, die sich ausschließlich mit »Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht« befasste. Zwischen dem 23. März und dem 8. Juni 1956 erschienen fünf dieser Berichte. Hier wird das ganze Ausmaß der Kritik an Ulbricht deutlich, die immer unverblümter geäußert wurde. Ulbricht wurde immer wieder mit Stalin verglichen, er sei der »Stalin der DDR«, so ein SED-Mitglied,[57] oder sogar »ein noch schlimmerer Diktator […] als der Genosse Stalin«.[58] Selbst mit Hitler wurde Ulbricht in manchen Äußerungen auf eine Stufe gestellt: »Nicht nur Hitler war Diktator, nicht nur Stalin, bei uns ist es jetzt Ulbricht«, so eine Postzustellerin aus Salzwedel.[59] Daraus wurde abgeleitet, dass nun auch Ulbricht abtreten müsse, wobei dies zumeist nicht als Forderung, sondern vielmehr als Erwartung formuliert wurde: »So wie Stalin nach seinem Tode gestolpert ist«, hieß es, »wird auch Walter Ulbricht in Kürze stolpern, denn er ist doch der glühendste Verehrer und Verfechter der Lehren Stalins und ist genauso diktatorisch wie dieser«.[60] Arbeiter im Schwermaschinenbau Wildau waren überzeugt: »Ziegenbart wird in 14 Tagen nicht mehr auf seinem Posten sein.«[61] Entsprechende Gerüchte, dass Ulbricht nicht wieder zum Ersten Sekretär des ZK gewählt werden würde, fanden ebenfalls Verbreitung.[62] Verbunden war diese Erwartung mit der mehrfach geäußerten Prophezeiung, dass es ohne eine Ablösung Ulbrichts an der Parteispitze zu einem neuen »17. Juni« kommen würde. Diese Erwartung wurde in einer Weise formuliert, dass sie auch als latente Drohung verstanden werden konnte: Wenn die Regierung weitermache wie bisher, so äußerten Arbeiter nur wenige Tage vor dem dritten Jahrestag des Volksaufstands, sei sie »auf dem besten Wege, einen zweiten 17. Juni herbeizuführen«.[63]

Die Kritik an der Partei- und Staatsführung konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Person Ulbrichts. Präsident Wilhelm Pieck und Ministerpräsident Otto Grotewohl werden nur vereinzelt in einem Atemzug mit ihm genannt. Häufiger werden sie indes als positive Gegenfiguren angeführt. So äußerten Arbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe, es wäre besser gewesen, auf der III. Parteikonferenz der SED, die kurz nach dem XX. Parteitag stattfand, Grotewohl über den 2. Fünfjahrplan sprechen zu lassen, »denn Walter Ulbricht würde viel reden, aber wenig danach handeln«.[64] Andere fragten sich: »Weiß die Regierung, wie unbeliebt Ulbricht ist? Ich sage nein. Sie sollten Grotewohl sprechen lassen und der Erfolg wäre ganz groß.«[65] Teilweise scheinen in der Fokussierung der Kritik auf Ulbricht aber auch irrationale Ressentiments durch: Arbeiter in einem Berliner Metallverarbeitungswerk sagten aus, Ulbricht sei im Gegensatz zu Grotewohl derjenige, »der am meisten gehaßt wird«, denn er habe »die Sachsen nach Berlin geholt, die uns die Wohnungen, die für uns Arbeiter sein sollten, weggenommen haben«.[66]

In allen Stimmungsberichten blieb die Kritik überwiegend personalisiert, auf Ulbricht konzentriert. Hoffnungen und Erwartungen auf eine Änderung der Politik in der DDR werden zumeist nur allgemein, im Hinblick auf eine Ablösung der Regierung, formuliert, nur selten konkreter. Am häufigsten wird noch der Erwartung Ausdruck verliehen, dass nun hinsichtlich der deutschen Einheit Fortschritte gemacht werden. Vereinzelt finden sich aber auch andere Themen. So äußerten Arbeiter der Warnowwerft Warnemünde die Hoffnung, dass aufgrund der Erkenntnis, dass Stalin Fehler gemacht habe, »auch die Oder-Neiße-Grenze revidiert« werde.[67] Einige Bauern erwarteten, dass mit der Abkehr von Stalin auch ein Ende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und der Planwirtschaft insgesamt verbunden sein werde, da jetzt erwiesen sei, »daß der Weg der Sowjetunion und auch der DDR nicht richtig ist«.[68] Bisweilen nahmen die Analogieschlüsse auch skurrile Formen an: So bezeichneten Arbeiter und Angestellte im Bezirk Frankfurt/Oder die Prämienzahlung an einzelne Kollegen als Personenkult und forderten deshalb, dass in Zukunft nur noch »Kollektivprämien« gezahlt werden sollten.[69]

 

Resümee und Ausblick

Die Stimmungsberichte der DDR-Geheimpolizei zeigen, dass die auf dem XX. Parteitag der KPdSU vollzogene Abkehr von Stalin nicht nur von Intellektuellen und Studenten, sondern in allen Bevölkerungsschichten breit rezipiert wurde. Auch Arbeiter, Bauern und einfache Angestellte beteiligten sich landesweit rege an entsprechenden Diskussionen. Sie erkannten schon früh die Sprengkraft, die in den Ergebnissen des Parteitags lag. Wurden diese zunächst – bei aller Verunsicherung – überwiegend positiv aufgenommen, stand ab März 1956 die Frage nach den Konsequenzen für die DDR im Vordergrund. Dabei ging es nicht nur um eine politisch-ideologische Kehrtwende, es wurden auch Hoffnungen und Erwartungen auf konkrete sozial- und wirtschaftspolitische Veränderungen geäußert. Aber auch Skepsis wurde deutlich. Viele DDR-Bürger bekamen in ihrem Alltag die Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft zu spüren und erkannten, dass sich sozialpolitische Verbesserungen wie die Einführung des Siebenstundentages nicht so ohne Weiteres in der DDR umsetzen lassen würden.

Ein wiederkehrendes Element in den Stimmungsberichten ist der Verweis auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Immer wieder äußerten Arbeiter mehr oder weniger offen die Erwartung, dass ein Aufstand sich wiederholen würde, falls es nicht auch in der DDR zu Veränderungen käme. Während es in der ersten Jahreshälfte zumeist bei solchen Äußerungen blieb, schlug der Unmut ab Sommer in offene Drohungen um. Das MfS wies in Lageberichten und Sonderinformationen immer wieder auf Streiks und kurzfristige Arbeitsniederlegungen in Betrieben im Zusammenhang mit Lohn- und Normenfragen hin. Auf dem Land häuften sich ebenfalls offene Proteste und Massenaustritte aus den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Auch hier wurde oft auf den 17. Juni Bezug genommen. Dass insbesondere solche Aussagen von den Berichterstattern immer wieder aufgezeichnet wurden, ist ein weiteres Indiz dafür, dass das MfS seine Lektion aus dem Jahr 1953 gelernt hatte. Kein zweites Mal wollte es sich vorwerfen lassen, Partei und Regierung nicht vor einem bevorstehenden Aufstand gewarnt zu haben.

 


[1] Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 757.

[2] Siehe dazu Jörg Baberowski: Wege aus der Gewalt. Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung 1953–1964, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 401–437, hier S. 407 f., 417.

[3] Der Text der Geheimrede ist dokumentiert in: Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hg.): Entstalinisierung. Der XX. Parteitag und seine Folgen, Frankfurt a. M. 1977, S. 487–537.

[4] Zu den im Folgenden zusammengefassten innenpolitischen Auswirkungen des XX. Parteitags siehe Baberowski: Wege aus der Gewalt (Anm. 2), der die Chruschtschowsche Politik jedoch als »bedeutendste Friedensmission des 20. Jahrhunderts« (S. 414) überzeichnet.

[5] Stefan Wolle: Das MfS und die Arbeiterproteste im Herbst 1956 in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41 (1991), H. B 5, S. 44, 51.

[6] Siehe Armin Mitter/Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 219–228, 249–260.

[7] Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1949–1990, erweiterte Neuausgabe, Darmstadt 1997, S. 153.

[8] Ulrich Mählert: Kleine Geschichte der DDR, 5., überarb. Aufl., München 2007, S. 85.

[9] Dierk Hoffmann: Von Ulbricht zu Honecker. Die Geschichte der DDR 1949–1989, Berlin 2013, S. 60; ähnlich schon ders.: Die DDR unter Ulbricht. Gewaltsame Neuordnung und gescheiterte Modernisierung, Zürich 2003, S. 67 f.: Die »so genannten Werktätigen, das heißt die Arbeiter und Angestellten, [blieben] eher zurückhaltend beziehungsweise sogar passiv. In der DDR war somit das Tauwetter ein Phänomen, das fast ausschließlich auf eine kleine Bevölkerungsgruppe beschränkt blieb, nämlich die Intellektuellen.« Ähnlich argumentiert auch Andreas Malycha: Die SED unter Ulbricht. Durchsetzung und Grenzen des Machtanspruchs der Führungskader um Ulbricht in den Jahren von 1945 bis 1971, in: Torsten Diedrich/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2005, S. 87–118, hier S. 105.

[10] Christoph Kleßmann: Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Berlin 2007, S. 398.

[11] Siehe ebd.

[12] Darauf haben schon Armin Mitter und Stefan Wolle hingewiesen. Siehe dies.: Untergang auf Raten (Anm. 6), S. 219–224, 249–260.

[13] Zu diesem Thema richtete die Forschungsabteilung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (im Folgenden: BStU) im Mai 2014 die Tagung »Dem Volk auf der Spur … Staatliche Berichterstattung über Bevölkerungsstimmungen im 20. Jahrhundert. Deutschland, Osteuropa, China« aus, deren Ergebnisse voraussichtlich im Jahr 2016 veröffentlicht werden.

[14] Siehe dazu etwa Udo Wengst: Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Aus den Stimmungsberichten der Kreis- und Bezirksverbände der Ost-CDU im Juni und Juli 1953, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), H. 2, S. 277–321; Gert Noack: Stimmungsberichte als historische Quelle. Eine Umfrage des Zentralrats der FDJ vom Oktober 1948, in: Helga Gotschlich (Hg.): Deutsche Teilung – deutsche Wiedervereinigung. Jugend und Jugendpolitik im Umbruch der Systeme (= Die Freie Deutsche Jugend, Bd. 2), Berlin 1996, S. 130–137; Mark Allinson: Politics and popular opinion in East Germany 1945–68, Manchester 2000.

[15] Die Berichte werden zurzeit von der Forschungsabteilung des BStU jahrgangsweise herausgegeben. Siehe Daniela Münkel (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2009 ff. Bisher erschienen sind die Jahrgänge 1953, 1961, 1965, 1976, 1977 und 1988. Sie sind online verfügbar unter www.ddr-im-blick.de. Der Jahrgang 1956 wird zurzeit vom Verfasser bearbeitet und voraussichtlich im Jahr 2016 erscheinen.

[16] Die letzten Berichte stammen von Anfang Dezember 1989. Zur Struktur und Entwicklung der MfS-Berichterstattung siehe Daniela Münkel: Vorwort, in: Bernd Florath (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1965, Göttingen 2014, S. 7–11.

[17] Ausführlich zur Genese der Berichterstattung siehe Roger Engelmann: Einleitung, in: ders. (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1953, Göttingen 2013, S. 12–68, hier S. 16–21, 50–59.

[18] Ralph Jessen: Staatssicherheit, SED und Öffentlichkeit, in: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR (= Analysen und Dokumente, Bd. 30), Göttingen 2007, S. 157–163, hier S. 162.

[19] Münkel: Vorwort (Anm. 16), S. 7.

[20] Jens Gieseke: Annäherungen und Fragen an die »Meldungen aus der Republik«, in: ders.: Staatssicherheit und Gesellschaft (Anm. 18), S. 79–98, hier S. 96.

[21] Roger Engelmann/Frank Joestel: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (= MfS-Handbuch), Berlin 2009, S. 23 f.

[22] Ausführlich dazu mit Bezug auf das Jahr 1953 Roger Engelmann: Einleitung (Anm. 17), S. 55 f., Zitat S. 68. Siehe auch Gieseke: Annäherungen (Anm. 20), S. 81.

[23] Siehe beispielsweise die »Information über erste Reaktionen unter der Bevölkerung der DDR auf die in Vorbereitung des IX. Parteitages [der SED] veröffentlichten Materialien [Bericht O/21]« vom 3.2.1976, in: Siegfried Suckut (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2009; »Hinweise über einige beachtenswerte Entwicklungstendenzen in der Reaktion der Bevölkerung auf innenpolitische Fragen [Bericht O/209]« vom 24.11.1988, in: Frank Joestel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2010.

[24] Zum Verlauf des XX. Parteitags der KPdSU siehe u.a. William Taubman: Krushchev. The Man and his Era, New York/London 2003, S. 270–289.

[25] N.S. Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU: Kräfte des Friedens stark genug, um den Krieg zu verhindern, in: Neues Deutschland (Berliner Ausgabe) vom 15. Februar 1956, S. 1.

[26] Den Leninismus konsequent in die Tat umsetzen! Aus der Rede des Genossen A. I. Mikojan, in: Neues Deutschland (Berliner Ausgabe) vom 19. Februar 1956, S. 3.

[27] Siehe ebd.

[28] Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU [1. Bericht], 23.2.1956, Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (im Folgenden: BStU), MfS, AS 78/59, Bl. 16–24, hier Bl. 16.

[29] Ebd.

[30] Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (2. Bericht für die Zeit v. 23.2.–28.2.56), 28.2.1956, BStU, MfS, AS 78/59, Bl. 2–11, hier Bl. 2.

[31] Zitiert nach: Unsere Sache ist unbesiegbar! Einige Hauptgedanken aus dem Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU, erstattet von N. S. Chruschtschow auf dem XX. Parteitag, in: Neues Deutschland (Berliner Ausgabe) vom 15. Februar 1956, S. 3.

[32] Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU [1. Bericht], 23.2.1956, BStU, MfS, AS 78/59, Bl. 16–24, hier Bl. 16 f.

[33] Ebd., Bl. 16.

[34] Ebd., Bl. 17.

[35] Ebd., Bl. 18.

[36] Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (2. Bericht für die Zeit v. 23.2.–28.2.1956), 28.2.1956, BStU, MfS, AS 78/59, Bl. 16–24, hier Bl. 10.

[37] Ebd.

[38] Siehe Walter Ulbricht: »Über den XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«, in: Neues Deutschland (Berliner Ausgabe) vom 4. März 1956, S. 4. Hieraus stammen auch die folgenden Zitate.

[39] Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag (1. Bericht), 6.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 139–142, hier Bl. 139.

[40] Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag der KPdSU (2. Bericht), 8.3.1956, BStU, MfS, AS 79/59, Bd. 1a, Bl. 93–95, hier Bl. 94.

[41] Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag v. 6.3.1956 (1. Bericht), BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 139–142, hier Bl. 140 f.

[42] Ebd., Bl. 141.

[43] Ebd., Bl. 140.

[44] Neue Argumente zum XX. Parteitag der KPdSU (5. Bericht), 14.3.1956, BStU, MfS, AS 79/59, Bd. 1a, Bl. 104–110, hier Bl. 108.

[45] Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (2. Bericht für die Zeit v. 23.2.–28.2.1956), 28.2.1956, BStU, MfS, AS 78/59, Bl. 2–11, hier Bl. 9.

[46] Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag (1. Bericht), 6.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 139–142, hier Bl. 141.

[47] Ebd., Bl. 139.

[48] Ebd., Bl. 140.

[49] Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU [1. Bericht], 23.2.1956, BStU, MfS, AS 78/59, Bl. 16–24, hier Bl. 20.

[50] Siehe Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag (1. Bericht), 6.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 139-142, hier Bl. 139, 141.

[51] Neue Argumente zum XX. Parteitag der KPdSU (5. Bericht), 14.3.1956, BStU, MfS, AS 79/59, Bd. 1a, Bl. 104–110, hier Bl. 105.

[52] Ebd., Bl. 105, 106.

[53] Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag (1. Bericht), 6.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 139–142, hier Bl. 142.

[54] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (2. Bericht), 19.4.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 109–119, hier Bl. 110.

[55] Neue Argumente zum XX. Parteitag der KPdSU (5. Bericht), 14.3.1956, BStU, MfS, AS 79/59 Bd. 1a, Bl. 104–110, hier Bl. 104.

[56] Stimmung zur Veröffentlichung des Genossen Walter Ulbricht über den XX. Parteitag v. 6.3.1956 (1. Bericht), 6.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 139–142, hier Bl. 142.

[57] Hetze gegen den Genossen W. Ulbricht und andere (3. Bericht), 25.4.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 105–108, hier Bl. 105.

[58] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (1. Bericht), 23.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 120–122, hier Bl. 120.

[59] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (2. Bericht), 19.4.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 109–119, hier Bl. 114.

[60] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (1. Bericht), 23.3.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 120–122, hier Bl. 120.

[61] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (4. [5.] Bericht), 8.6.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 4–7, hier Bl. 5 (Der Bericht vom 8.6.1956 ist als »4. Bericht« ausgewiesen, nach korrekter Zählung handelt es sich aber um den 5. Bericht).

[62] Siehe ebd., Bl. 6.

[63] Ebd.

[64] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (2. Bericht), 19.4.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 109–119, hier Bl. 112.

[65] Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (4. [5.] Bericht), 8.6.1956, BStU, MfS, AS 89/59, Bl. 4–7, hier Bl. 6.

[66] Ebd., Bl. 5.

[67] Neue Argumente zum XX. Parteitag der KPdSU (5. Bericht), 14.3.1956, BStU, MfS, AS 79/59 Bd. 1a, Bl. 104–110, hier Bl. 104.

[68] Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU (6. Bericht), 23.3.1956, BStU, MfS, AS 79/59, Bd. 1a, Bl. 216–219, hier Bl. 217.

[69] Ebd.

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