Im Laufe der elf Jahre seit der deutschen Vereinigung und zwölf Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur ist die Forschung zur Geschichte der DDR sehr gut vorangekommen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens ist seit 1990 die Einsicht in die »geheimen« schriftlichen Hinterlassenschaften der SED-Herrschaft möglich. Damit besteht für Historiker die einmalige Chance, Akten sämtlicher Bereiche der DDR von ihrer Entstehung bis zu ihrem Untergang einzusehen und auszuwerten. Und die Öffnung der Archive begünstigte seitdem geradezu eine Flut von Veröffentlichungen zur DDR-Geschichte.
Zweitens gab es bereits vor 1990 wichtige und vielfältige Untersuchungen zur DDR. Allerdings haben die zahlreichen Publikationen von DDR-Historikern über die eigene Geschichte bis 1989 kaum Bestand, sind meist Makulatur. Denn die DDR-Geschichtswissenschaft sollte dem SED-Regime historische Legitimität verschaffen, ihre »Parteilichkeit« führte zu Legenden, Verzerrungen, Fälschungen. Hingegen hat die westliche Zeitgeschichtsforschung auch ohne Zugang zu den DDR-Archiven gültige Aussagen publiziert, beispielsweise über die Etappen der SED-Diktatur, ihre Kontinuitäten und Wandlungen, über die Herrschaftsstrukturen sowie über Mechanismen der Machtausübung (Ideologie, Terror, Neutralisierung) usw. Zu vielen Feldern der Politik und Gesellschaft, zum Parteiensystem mit dem Demokratischen Block oder über den Regierungsapparat, zu Wirtschaft, Recht, Kultur, Wissenschaft, Verfolgung von Regimegegnern und -kritikern, Medien usw. liegen Veröffentlichungen vor. Somit gab es beim Zusammenbruch der DDR einen lückenhaften, aber doch respektablen Forschungsstand.
Durch die Öffnung der DDR-Archive, insbesondere der SED bei der Stiftung der Parteien und Massenorganisation der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) und der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit bei der sogenannten Gauck-Behörde, kam die Erforschung der DDR-Geschichte erheblich voran, weil nun sowohl Hintergründe als auch Details genau zu erforschen waren.
Der Deutsche Bundestag hat die Notwendigkeit der Aufklärung früh erkannt und 1992 und erneut 1995 Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eingesetzt. Schon die erste Enquete-Kommission hat die Bedeutung der Akten, deren Sicherung und völlige Zugänglichkeit für den Prozeß der Aufarbeitung der Geschichte der DDR mit allem Nachdruck festgestellt.[1] Die zweite Enquete-Kommission gab konkrete Handlungsempfehlungen.[2] Außerdem wurde die Asymmetrie kritisiert, die dadurch hervorgerufen wird, daß für Akten im Westen die 30-Jahre-Sperre besteht, während DDR-Akten frei zugänglich sind. Eine weiterhin zentrale Forderung bleibt es daher, der Wissenschaft Einsicht insbesondere in die archivierten Überlieferungen der westdeutschen Parteien, des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen und auch des Verfassungsschutzes und des BND für die Zeit bis 1989/90 zu gestatten.
Doch mit einem Berliner Richterspruch vom Juli 2001 ist eine neue Situation entstanden, weil nunmehr für die Wissenschaft Akten gesperrt werden sollen. Und dies hat ausgerechnet ein Historiker provoziert. Ex-Bundeskanzler Kohls Klage gegen die bisherige Praxis der Behörde, Unterlagen des MfS zu Personen der Zeitgeschichte sowohl der Wissenschaft als auch den Medien zugänglich zu machen, endete vor Gericht mit einem fatalen Urteil. Schon im Vorfeld des Prozesses gab es heftige Debatten über einen erschwerten Zugang zu den Akten. Bereits im Januar 2001 hatten zahlreiche in- und ausländische Wissenschaftler in einem vom Westberliner Historiker Jochen Staadt initiierten »Offenen Brief an den Innenausschuß des Bundestages und die Fraktionen« vor geplanten Verschlechterungen für die Einsicht in die Stasi-Akten gewarnt:
»Das Stasiunterlagengesetz hat sich seit neun Jahren bewährt [...] Die rechtsstaatwidrige und illegale Informationsgewinnung ist die Natur der Sache, der das Stasiunterlagengesetz Rechnung zu tragen hatte [...] Erst die umfassende Auseinandersetzung mit dem vom DDR-Staatssicherheitsdienst hinterlassenen Schriftgut hat die bislang in der deutschen Geschichte einmalige rasche zeitgeschichtliche Aufarbeitung des untergegangenen Regimes möglich gemacht. Das Stasiunterlagengesetz hat die mutige, von der Bürgerrechtsbewegung der DDR gewollte und von der frei gewählten DDR-Volkskammer auf den Weg gebrachte Entscheidung zur raschen und umfassenden Aufklärung des im Auftrag der SED verübten Unrechts in Rechtsform gebracht. [...] Es wäre ein fatales Zeichen, wenn jetzt auf dem Verordnungsweg oder durch eine Gesetzesänderung die Grundvoraussetzungen der historischen Aufarbeitung des SED-Regimes verändert würden. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Stasimachenschaften gilt heute vielen Ländern Osteuropas als Vorbild und in der westlichen Welt als ein überzeugender Schritt des wiedervereinigten Deutschland zur Aufklärung der Diktaturfolgen. [...] Wir appellieren an Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die Uhr der historischen und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht nicht zurückzudrehen.«
Der Forschung haben die Richtlinien vom März 2001 gegenüber der bisherigen Praxis der Akteneinsicht Erschwernisse gebracht. In der Öffentlichkeit erweckte dies aber nur geringes Interesse.[3] Von seiten der Wissenschaft wurde bereits damals klargestellt, daß für die Aufarbeitung alle MfS-Überlieferungen (einschließlich der »Telefonmitschnitte«) zugänglich bleiben müssen. Schließlich ist darauf zu verweisen, daß die meisten Forscher die Stasi-Akten sehr verantwortungsvoll auswerteten.
Doch das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts ging weit über die Befürchtungen vom Frühjahr hinaus. Denn im Kern besagte das Urteil, es sei nicht nur dem Persönlichkeitsschutz »Betroffener« und »Dritter« Vorrang vor allen anderen Zielen des Gesetzes einzuräumen, sondern zudem müsse »hingenommen« werden, daß der Zugang zu Informationen »über Personen der Zeitgeschichte« für Forschung und Medien »in einem erheblichen Umfang ausgeschlossen« wird. Im Klartext bedeutet dies letztlich, für die Forschung soll die Einsicht in Stasi-Akten über Personen weitgehend eingeschränkt werden. Sogar DDR-Funktionäre müßten nach dieser Rechtsauslegung – vorausgesetzt, sie arbeiteten nicht für die Stasi – der Herausgabe ihrer Akten zustimmen, selbst diese blieben dann im allgemeinen für die Forschung verschlossen.
Damit behindert das Berliner Urteil aber die Intention des Gesetzes und dessen zehnjähriger Anwendung. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat es klar gesagt: »Entgegen der Auffassung der Richter wollte der Gesetzgeber die bisherige Praxis. Aufklärung ist der Hauptzweck des Gesetzes.«[4] Ohne den Zugang zu den Unterlagen der Stasi zu Personen der Zeitgeschichte, seien es nun Politiker, Künstler, Sportler, Journalisten oder Bürgerrechtler, kann eine gründliche Analyse nicht erfolgen, wird also die Aufklärung und damit die Aufarbeitung der DDR-Geschichte gefährdet.
Falls der Bundestag seine bisherige Auffassung beibehält (und er hatte schließlich zwei Enquete-Kommissionen parteiübergreifend eingesetzt, die den Vorrang der Aufklärung herausstellten), dann muß er das Stasi-Unterlagengesetz dahingehend präzisieren, daß der Wissenschaft alle Akten zweifelsfrei sofort wieder zur Verfügung stehen.
Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts muß indes noch unter einem anderen Gesichtspunkt bewertet werden. Für die Forschung und damit für die Aufarbeitung der SED-Diktatur könnte der Richterspruch auch insofern eine Katastrophe bedeuten, weil er für die 2003 drohende Aktenvernichtung von Stasi-Unterlagen weitere Argumente liefert. Mit der These, Kohl sei als »Opfer« der Stasi zu schützen, hat das Gericht den Opfer-Begriff aufgeweicht. Eine Gleichstellung der Politiker, deren Telefongespräche abgehört wurden, mit tatsächlichen Opfern, die im DDR-Gefängnis drangsaliert wurden, ist nicht einleuchtend. Brisanter ist indes, daß »Opfer« (ja sogar »Dritte«) nunmehr die Möglichkeit erhalten sollen, ihre Akten löschen oder vernichten zu lassen. Und dazu gehörten nach der Urteilsauslegung auch Personen der Zeitgeschichte.
Bei den bisherigen Diskussionen ging fast unter, daß im Jahre 2003 immer noch eine umfassende Aktenvernichtung droht. In dieser Frage hatte das Bürgerkomitee Leipzig die Öffentlichkeit 1998 gerade noch rechtzeitig alarmiert. Es waren nämlich bereits Vorbereitungen getroffen geworden, um nach § 14 des Stasi-Unterlagengesetzes eine »Anonymisierung« von Originalakten des MfS ab 1. Januar 1999 durchzuführen. Hinter dieser harmlos klingenden »Anonymisierung« stand die Gefahr einer Schwärzung, sogar einer »Löschung« von Dokumenten. Im ursprünglichen interfraktionellen Gesetzentwurf vom 12. Juni 1991 fehlte diese Passage, sie wurde erst wenige Wochen vor Inkrafttreten des Gesetzes noch eingefügt. Laut dieser Einfügung konnten »Anonymisierung und Löschung personenbezogener Informationen über Betroffene und Dritte« auf deren Antrag hin erfolgen, ausgeschlossen blieben nur Mitarbeiter und IM des MfS. Und es heißt sogar (§ 14,4), »ist eine Anonymisierung nicht möglich, tritt an die Stelle der Anonymisierung die Vernichtung der Unterlage«.
Erlaubt werden sollte also durch Schwärzung der Originale oder direkte »Entsorgung«, daß unwiederbringliche zeitgeschichtliche Archivalien endgültig vernichtet würden. Da sowohl Opfer, nämlich Betroffene, als auch »Dritte« dies beantragen können, käme das – so seinerzeit das Leipziger Bürgerkomitee – »einer bisher nie dagewesenen Vernichtung von für die Zeitgeschichtsforschung wichtigen Akten gleich«. Der in der deutschen Geschichte damit einmalige Vorgang massenhafter Vernichtung von Archivalien wurde allerdings zunächst verhindert. Nach Protesten von Bürgerrechtlern und Wissenschaftlern reagierte der Bundestag rasch, er hat noch im Dezember 1998 die »Anonymisierung« um vier Jahre bis zum 1. Januar 2003 hinausgeschoben.
Falls aber das Gesetz nicht verändert wird, steht die Aktenvernichtung Anfang 2003 an. Es ist also höchste Zeit, zu handeln. Im übrigen bleibt festzuhalten, daß in den Aktenkopien, die der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden, alles Private schon immer geschwärzt ist. Durch oft übermäßige Schwärzungen (bei vielen anderen Archiven genügen entsprechende Verpflichtungen zum Datenschutz) ist die Forschung mit den MfS-Akten ohnehin ziemlich erschwert. Aber Schwärzungen erfolgten bisher nur auf den Kopien, die Originale blieben der Nachwelt in den Archiven unbeschädigt erhalten. Und das muß im Interesse der Aufarbeitung beibehalten werden.
Die Bemerkung im Gesetzestext (§ 14, 2.2.), die Anonymisierung unterbleibe, »soweit die Information für die Forschung zur politischen und historischen Aufarbeitung erforderlich ist«, wirkt fast zynisch. Erfolgt die als »Anonymisierung« bezeichnete Vernichtung von Originalakten, dann könnte in 20 oder 30 Jahren kein Wissenschaftler mehr aktengestützt forschen. Denn wer kann sich heute anmaßen, bei Anträgen »Dritter« zu entscheiden, was in Jahrzehnten für die Forschung »erforderlich« ist und somit im Original nicht geschwärzt werden darf?
Nur die Abschaffung der »Anonymisierungs«-Möglichkeit in § 14 sowie die klare Festlegung, daß im Interesse der Aufklärung und der wissenschaftlichen Aufarbeitung wie seit zehn Jahren auch zukünftig Informationen zu Personen der Zeitgeschichte zur Verfügung stehen, können ein Desaster für die Forschung verhindern. Daher ist die Bitte der Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Marianne Birthler, an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, voll zu unterstützen, das Parlament möge mit einer »eindeutigen Formulierung« präzisieren, wie weit die Aufklärung gehen soll. Schließlich war und ist Aufklärung der »Hauptzweck des Gesetzes«.
Um die längst noch nicht beendete Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und der deutschen Geschichte gerade im Bereich Unterdrückung und Verfolgung durch das MfS weiterhin fortsetzen zu können, sind alle Wissenschaftler aufgerufen, sich gegen die geplante »Anonymisierung«, d.h. Vernichtung von Akten ab 2003 an den Bundestag zu wenden. Der Gesetzgeber bleibt aufgefordert, die knappe Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode zu nutzen, um § 14 des Stasi-Unterlagengesetzes zu ändern bzw. abzuschaffen, damit es 2003 zu keiner Löschung von Originalakten kommt. Falls das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts rechtskräftig werden sollte, ist zu präzisieren, daß die Aufklärung und die Aufarbeitung der SED-Diktatur Priorität haben. Im Sinne der Intention von 1991 sollten auch die Akten von Personen der Zeitgeschichte wie bisher für Forschungszwecke zugänglich bleiben.
[1] Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Hrsg. vom Deutschen Bundestag, neun Bände in 18 Teilbänden, Frankfurt/M.-Baden-Baden 1995, Bd. I, S. 647ff.; Ingrun Drechsler u.a. (Hrsg.): Getrennte Vergangenheit – gemeinsame Zukunft. Ausgewählte Dokumente, Zeitzeugenberichte und Diskussionen der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« in vier Bänden. München 1997, Bd. IV, S. 126ff.
[2] Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, Hrsg. vom Deutschen Bundestag, acht Bände in 14 Teilbänden. Frankfurt/M.-Baden-Baden 1999, Bd. I, S. 553ff.
[3] Vgl. die Darstellung von Marianne Birthler und die Replik von Manfred Wilke vom 21. bzw. 30. April 2001 im Tagesspiegel, Berlin.
[4] Berliner Zeitung vom 6. Juli 2001.