JHK 2002

Österreicher im Exil bis 1945

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 393-395 | Aufbau Verlag

Autor/in: Jan Foitzik

McLoughlin, Barry/Schafranek, Hans/Szevera, Walter: Aufbruch-Hoffnung-Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion 1925–1945. Verlag für Gesellschaftskritik Wien 1997, 717 Seiten.

 Österreicher im Exil, Sowjetunion 1934–1945. Eine Dokumentation. Hg.: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Einleitung, Auswahl und Bearbeitung: Barry McLoughlin, Hans Schafranek, Verlag Deuticke Wien 1999, 798 Seiten.

 Schafranek, Hans unter Mitarbeit von Natalja Mussijenko: Kinderheim No 6. Österreichische und deutsche Kinder im sowjetischen Exil. Döcker Verlag Wien 1998, 251 Seiten.

Schon ab 1924 richteten österreichische Arbeitslose, inspiriert durch das Erlebnis der Kriegsgefangenschaft in Rußland, ihre Hoffnungen auf die Sowjetunion, aber erst 1925/26 durften erste Jugend- und Arbeiterdelegationen das ferne Land aufsuchen. 1926 verließen dann 210 Kolonisten mit finanzieller Unterstützung der österreichischen Regierung Wien, um auf einer 25 Quadratkilometer großen Siedlung neu anzufangen. Innerhalb eines Jahres halbierte sich die Zahl der landwirtschaftlichen Siedler und bald mußte das ganze Experiment aufgegeben werden. Derlei Fakten sind neu.

Eine zweite Emigrationswelle löste die Weltwirtschaftskrise aus. Auf ihrem Höhepunkt 1931 verzeichnet die Statistik 1262 österreichische Arbeitsemigranten in die Sowjetunion und bis 1933 machte das Land für einige Jahre dem klassischen Auswanderungsland USA den ersten Rang streitig. 1932 waren etwa 50 Prozent der damals in der UdSSR registrierten 42 230 »Gastarbeiter« Deutsche und Österreicher. Bereits 1933 ließ das sowjetische Interesse an ausländischen Fachkräften allerdings stark nach.

1934 fanden in der UdSSR 750 politisch verfolgte Schutzbündler Aufnahme. Da die mei­sten von ihnen Facharbeiter waren, befanden sie sich zunächst in einer privilegierten Position. Doch mit Einstellung des Subventionslohnes verschlechterte sich ab 1935 infolge allgemeiner arbeitsmarktpolitischer Neuerungen ihre soziale Lage, bald trat ein verstärkter Assimilationsdruck hinzu. Zwischen 1934 und 1941 kehrten 220 Schutzbündler freiwillig nach Österreich zurück, weitere 160 gingen nach Spanien. Die Bilanz weist ferner mindestens 190 vom NKWD Verhaftete und 100 ungeklärte Schicksale auf. Insgesamt wurde von den 400 in der Sowjetunion verbliebenen Schutzbündlern nach 1935 mehr als die Hälfte verhaftet, die meisten 1938. 30 von ihnen wurden nachweislich erschossen, 46 lieferte man in den Jahren 1939–41 an die Gestapo aus. 600 Österreicher befanden sich zwischen 1933 und 1945 im GULAG.

Von den 717 in den Jahren 1935/36 in der Sowjetunion erfassten KPÖ-Mitgliedern waren in den Jahren 1926–1934 55 und danach bis 1938 100–120 Schüler der Lenin-Schule. Auf der Kominternschule in Kuschnarenkowo machte Hans Schafranek 25 Österreicher aus. Einen Sonderfall der politischen Emigration stellten 105 Kinder von Opfern des Februar-Aufstands: Das älteste 17, das jüngste drei Jahre alt, die zwischen Oktober 1934 und August 1939 zusammen mit 10 deutschen Kindern von 12 Erziehern im Moskauer Kinderheim Nr. 6 betreut wurden. Zwischen 1935 und 1941 kehrten mindestens 27 Kinder nach Österreich zurück, bei einigen weiteren ist dies unklar.

 Auf der Grundlage eines intensiven Studiums traditioneller Quellen vornehmlich aus ehemals sowjetischen, aber auch aus österreichischen und deutschen Verwaltungsregistraturen sowie auf der Basis umfangreicher lebensgeschichtlicher Interviews mit Betroffenen und Zeitzeugen dokumentieren und kolorieren die einschlägig ausgewiesenen Autoren die Gruppengeschichte des österreichischen Exils in der UdSSR. Zwei Fragestellungen stehen im Zentrum der durch individuelle und kollektive Fallanalysen in die Tiefe der Entwicklungen vordringenden Gesamtschau: Zum einen die ökonomische, soziale und kulturelle Situation der Emigranten und zum anderen die Mechanismen der politischen Verfolgung des Stalinismus. In der mit Sorgfalt und mit Liebe zum Detail betriebenen Recherche stellt sich stellenweise der Eindruck ein, die Österreicher wären tatsächlich eine »charmante Abart der Deutschen«, wie sie der hochrangige Komintern-Funktionär Manuilsky noch 1942 auf »politisch inkorrekte Weise« bezeichnete. Ein großer Vorzug der drei Bände besteht zweifellos darin, daß sie die Schicksale der österreichischen Emigranten in die allgemeine soziale und politische Entwicklung in der UdSSR einbinden. Damit vermeiden sie den Eindruck von einer besonderen oder gar einmaligen Lage der politischen Emigration. Detailtreue, menschliche Wärme wie angemessene Zurückhaltung im Kommentar schaffen Raum, um sich über die schlaglichtartig beleuchtete innersowjetische Lage Gedanken machen zu können. Dies kann zur Folge haben, daß der Leser an einigen Stellen »hängenbleibt«, sich vor Entsetzen ungläubig fragt, ob die Zeitzeugen subjektiv überzeichnen oder die Autoren vereinfachen. Oder auch ob nur unser Wissen über die konkreten ökonomischen und sozialen Lebensumstände der Russen in der damaligen Zeit so schlecht ist. Letzteres scheint der Fall zu sein.

Generell konstatieren die Autoren eine in den Jahren 1937–41 schnell fortschreitende Gleichstellung der Emigranten mit sowjetischen Arbeitern, deren Folgen sich 1940–41 infolge politischer Zersetzung und der schwierigen Lebenssituation verschärfen. Die Verhaftungen in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und Evakuierungsmaßnahmen nach Kriegsausbruch zerstörten die noch vorhandenen Gruppenbindungen weitgehend: Das »Exil zweiter Potenz« zerstreute 1941 österreichische Emigranten auf 25 Evakuierungsorte in der UdSSR. Der privilegierte Schriftsteller fand eine »Oase der Sattheit« vor, zur gleichen Zeit litt die Ehefrau eines Verhafteten unter Hungerödemen und Typhusangst. Einzelschicksale führten in die Arbeitsarmee oder als Antifa-Instrukteur in Kriegsgefangenenlager; Familien wurden in alle Windrichtungen zerschlagen: Der eine verhungerte im Straflager, der andere in der Freiheit, ein Dritter starb den Heldentod eines sowjetischen Fallschirmagenten in Polen. In GULAG-Straflagern konnte die Lebensmittelversorgung besser sein als in der Freiheit, und russische Bergarbeiter fristeten laut Zeugen ihr Dasein unter schlechteren Bedingungen als feindliche Kriegsgefangene. Egalisierung durch unvorstellbares materielles und psychisches Elend. Persönliche Querelen wegen schlechter Laune und allgemeine Mißstimmung, das Abfangen persönlicher Briefe als »Kollektiveigentum« – in dieser Atmosphäre wurden persönliche Aversionen zu politischen Abweichungen stilisiert und Meckerei zum »Trotzkismus«. Die Selbstauslöschung der Privatsphäre und der Persönlichkeit gingen dem Terror voran, heißt es an einer Stelle. Das materielle Elend infolge der sich nach 1933/34 rapide verschlechternden wirtschaftlichen Situation und der erhöhte politische Anpassungsdruck waren älter als die »Spionomanie« des Systems, die 1937/38 den Höhepunkt erreichte.

Im Dokumentenband sind nach systematischen Gesichtspunkten in fünf Abschnitten 664 schriftliche Dokumente sowie weiteres Bildmaterial zusammengestellt, die die beiden Monographien vertiefen. Besondere Beachtung verdienen jene Teile, die den Lebensverhältnissen in der UdSSR gewidmet sind. Das vorgestellte Material provoziert weitergehende Fragen. Nicht nur solche nach dem Wert von »Antistalinismus«, wenn belegt wird, daß die KPÖ nach 1955 Informationen über Familienangehörige vorsätzlich unterdrückte, die von sowjetischen Gerichten bereits rehabilitiert worden waren, sondern überhaupt nach der Notwendigkeit einer umfassender Sicht des Alltags im totalitären System der Sowjetunion. Selten wurde die skurrile »Banalität« des Stalinismus so eindringlich und so direkt vor Augen geführt, wie in diesen drei Bänden. Die angewandte Methode des lebensgeschichtlichen Interviews und der individuellen wie kollektiven biographischen Fallanalyse erscheint unverzichtbar, um irrationale moralische Blockaden zu lösen, die die historische Analyse behindern. Ohne dieses Hintergrundwissen bleibt es für viele schlicht unvorstellbar, daß in den Jahren 1935–41 in der Sowjetunion tagtäglich etwa 3.000 Menschen aus politischen Gründen erschossen worden sind. Wenn man aber bedenkt, daß an jedem Tag des Krieges gegen Deutschland doppelt so viele sowjetische Soldaten das Leben verloren, erscheint vieles plausibel, was zunächst unglaublich zu sein scheint.

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