JHK 2002

Zum Stand der historischen Aufarbeitung des jugoslawischen Sozialismus

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 299-318 | Aufbau Verlag

Autor/in: Todor Kuljic

Vorbemerkung

 

Der nachfolgende Beitrag wurde für das Kolloquium »Zum Stand der historischen Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen« verfaßt, das vom 29. November bis 1. Dezember 2001 in Berlin-Lichterfelde das Institut für Zeitgeschichte München, Außenstelle Berlin, mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit Vertretern aus vierzehn europäischen Ländern veranstaltet hat.[1]

Der Bericht über die Problematik der serbischen Geschichtsaufarbeitung soll in einer größeren Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt werden, weil er sich auf den ersten Blick durch seine Radikalität und besondere Akzentsetzung von anderen Länderberichten unterscheidet, zugleich aber den Eindruck vermittelt, daß bei der Explosion des jugoslawischen Kommunismus Spaltungselemente sichtbar wurden, die in anderen Ländern entweder tatsächlich fehlen oder aber in der Diskussion bisher nicht hinreichend beachtet werden. Bei aller Spezifik der Lage der Geschichtsschreibung im ehemaligen Jugoslawien eröffnet dieser Beitrag damit möglicherweise den Blick auf innere Probleme der Diskussion in anderen postkommunistischen Ländern, indem er Fragen aufwirft, die anderswo nicht öffentlich behandelt werden.

Selbstverständlich stellt der Autor seine eigene Meinung vor. Für Außenstehende war es gleichwohl neu, daß die Geschichtsschreibungen in anderen ex-jugoslawischen Staaten mit ähnlichen Fragen beschäftigt zu sein scheinen. Dabei wird durchaus realisiert, daß auch evidente Unterschiede zwischen einzelnen Ländern bestehen. So stieß beispielsweise in der Diskussion des Beitrags die Meinung des Autors, das jugoslawische Modell des Vielvölker-Sozialismus sei durch eine politische Manipulation »von oben« »unten« zur Explosion gebracht worden, auf Widerspruch und wurde unter Hinweis auf die demokratische Wahllegitimation der damaligen Führung als eine »verschwörungstheoretische Konstruktion« zurückgewiesen. Insgesamt verdient der post-jugoslawische Diskurs über die Erinnerungsarbeit nicht nur wegen seiner methodologischen Aspekte, sondern auch im Hinblick auf die postsowjetische Aufarbeitungsdiskussion in Russland Beachtung und Interesse.

Der Autor legte den Text in deutscher Sprache vor. Obwohl er für deutsche Leser nicht in allen Aspekten verständlich sein dürfte, wurde der Beitrag wegen seines unmittelbaren dokumentarischen Wertes nur zurückhaltend redaktionell bearbeitet.

Jan Foitzik

 

Mehr als zehn Jahren sind seit dem Zusammenbruch des Einparteien-Sozialismus vergangen. In dieser Zeit spielte auch die akademische Geschichtswissenschaft eine aktive Rolle bei der Vermittlung der politisch gewünschten historischen Identität. Doch trotz der neuen Möglichkeiten nach der Epochenwende von 1989 befindet sich die wissenschaftliche Aufarbeitung des jugoslawischen Sozialismus noch immer in einem Verwirrungszustand ohne entwickelte theoretische und methodische Ansätze, die eine nüchterne Beurteilung der eigenen Vergangenheit ermöglichen könnten. Die Verwirrung ist keineswegs durch eine produktive Gegenüberstellung verschiedener Urteile über den Sozialismus gekennzeichnet, sondern durch eine Vielzahl pauschaler Sozialismuskritiken ohne klare Kriterien, die eine differenzierte Debatte und einen rationalen Minimalkonsens ermöglichen. Der Nachahmungscharakter der jugoslawischen Sozialwissenschaften führt unweigerlich zu einer Verschiebung der Interpretation zentraler Aspekte der eigenen Geschichte in westlicher Richtung. Wir wollen wie der Westen sein, deswegen identifizieren wir alles, was wir schätzen, mit dem Westen. Die Perspektive des Westens wird zum Mittelpunkt, von dem aus die Geschichte interpretiert wird, auch unsere eigene Geschichte (Smolar 2000). Es soll gezeigt werden, wie im Kontext des globalen Umbruchs (chaotische Reorganisation der Sozialismusforschung, sprachliche Erneuerung, die Konstruktion neuer Begriffe und Theorien) die lokalen Gegebenheiten in Jugoslawien aussehen.

Zwei miteinander verbundene Prozesse charakterisieren die neue Orientierung der Sozialwissenschaften: das anfängliche Enttabuisierungsinteresse und die schnelle Konversion der Wissenschaftler. Eine kritische Bilanz der Aufarbeitung des Sozialismus in der jugoslawischen Soziologie ist schon geleistet worden (Ilic 1998). Es mangelt aber noch an einer Darstellung dieses Prozesses in der Geschichtswissenschaft. Hier sollen drei Probleme erörtert werden: erstens der all­gemeine Charakter der Vergangenheitsbewältigung in Jugoslawien, zweitens die Konstruktion neuer Helden, Opfer und Täter sowie drittens die Rolle der Historiographie in diesem Prozeß. Es handelt sich um einen Rückblick auf die neokonservative und neoliberale Geschichtsrevision der letzten zehn Jahre, der die Frage nach einer möglichen Verschiebung der kulturellen Hegemonie im jugoslawischen politischen Spektrum beinhaltet, bezogen vor allem auf die Geschichtspolitik.

 

Vergangenheitsbewältigung in Jugoslawien

Die veränderte Einschätzung des Sozialismus hat auch in Jugoslawien ihre Ursache zum einen in den »blinden Flecken« der kommunistischen Historiographie, zum anderen in den Interessen und der strategischen Option der politischen Eliten und ihrer Vergangenheitspolitik. Die schnelle Zerstörung von Erinnerung kann man mit Herrschaftstechnik, aber nicht weniger auch mit dem Interesse an der Schaffung einer neuen postkommunistischen Identität erklären. Je heftiger die soziale Krise ist, desto stärker ist die Vergangenheitsbewältigung auch sozial bedingt. In »normalen« Staaten kann man relativ nüchtern die sozialistische Vergangenheit beurteilen. Die neuen Balkan-Staaten stellen aber noch keine »normalen« Gesellschaften dar. Es herrscht noch immer eine konfliktreiche Kleinstaaterei (gar ohne feste Grenzen), die mit starken nationalen Traumatisierungen belastet ist, was auch die Beurteilung des Sozialismus verzerrt. Die in der kommunistischen Ära betriebene Tabuisierung historischer Konflikte zwischen den jugoslawischen Volksgruppen hat deren bewußte öffentliche Aufarbeitung verhindert. Das hat eine prekäre Reaktivierung früherer Ängste und unbewältigter schmerzlicher Verluste durch heutige Probleme begünstigt. Aber es ist keineswegs, wie viele Analytiker des Balkans behaupten, vor allem eine unbewältigte Vergangenheit, die die gegenwärtigen Konflikte auflädt. Es sind vielmehr vor allem die unbewältigten Probleme der Gegenwart, die eine Regression in die Vergangenheit hervorbringen (Vinnai 1999).

Insgesamt gesehen ist die Aufarbeitung der Vergangenheit in den letzten zehn Jahren in Jugoslawien mehr das Ergebnis von nichtwissenschaftlichen Zielsetzungen als eine akademische Angelegenheit. Die Vergangenheitsbewältigung geht in die Geschichtspolitik über, d. h. in den zielbewußten Versuch, politische Entscheidungen historisch zu legitimieren und gegen Kritik zu immunisieren (Steinbach 1999). Es ist auffallend, wie leicht serbische Intellektuelle ihre erkenntnisleitenden Interessen außerwissenschaftlichen Zielen opfern. In Zeiten eines radikalen sozialen Wandels kann die Geschichtswissenschaft viel zum Legitimitätsglauben an die neue Ordnung beitragen. In Jugoslawien, wo die Geschichtserinnerungen sehr stark waren, hatte auch die kommunistische Ideologie starke historische Fundamente. Das Regime Milošević hat die heutige geschichtspolitische Wendung vorbereitet, obwohl dieser Prozeß in serbischen Geschichtslehrbüchern etwas langsamer vor sich ging als in anderen ex-jugoslawischen Republiken. Denn die Bedeutung der Geschichtsdeutung im Postsozialismus sinkt nicht, sondern umgekehrt: sie wächst. Während früher die Apologie des Sozialismus im Zentrum stand, bildet heute die Kritik des Sozialismus die Basis für mannigfaltige Interessen und Identitäten. In der jugoslawischen Öffentlichkeit herrschten zehn Jahre Antitotalitarismus und Antikommunismus und als Legitimationsgrundlage der wiederbelebte Nationalismus, Chauvinismus und Faschismus. Es gibt mehrere Ursachen, weshalb Antikommunismus und Antitotalitarismus die bequemsten Legitimationskonzepte der heutigen Konvertiten bilden. Im Exkurs »Über die Treue« hatte Georg Simmel gezeigt, welche extremen Formen der Beweis der »neuen« Treue annehmen kann. Je heißer die Hoffnungen im Sozialismus waren, desto größer war die Verzweiflung danach. Je oberflächlicher die wissenschafts­politische Stellung durchdacht war, desto leichter fiel die Konversion. Und je stärker das Bewußtsein über die Gefährdung der eigenen Nation ist, desto intensiver wird die Kritik der verschiedenen Arten von Kosmopolitismus und Internationalismus (Marxismus, Jugoslawismus, usw.) betrieben. Die Intensität der Konversion kann man auch als Funktion des schlechten Gewissens der Historiker beziehungsweise der früheren kommunistischen Herrschaft deuten. Es lassen sich jedoch auch Beweise für die gegenseitige These finden: Die früheren Dissidenten sind nämlich auch heute die heftigsten Kritiker des Sozialismus. Die Realität der postkommunistischen Historiographie ist kompliziert, und es ist nicht leicht, ihre Opfer und Täter auseinanderzuhalten.

Die Beurteilung des Sozialismus hängt noch immer mehr von nationalen Überzeugungen als von der sozialen Stellung oder der allgemeinen politischen Einstellung ab. Zwar wird im Alltag der Sozialismus noch immer an der individuellen Lebenssituation mit dem Postsozialismus verglichen und beurteilt. Aber der Nationalismus verdrängt stets diesen spontanen Vergleich der schlechten Gegenwartslage mit der relativ stabilen sozialen Lage im Sozialismus, so daß noch immer der kommunistische Internationalismus als Hauptschuldiger für den realen oder angeblichen nationalen Niedergang beklagt wird. Es herrscht eine Art der Befangenheit, in der sich die Selbstwahrnehmung des nationalen Unglücks in Form eines nationalistischen Antitotalitarismus ausdrückt. Der nationalindifferente Kommunismus gilt als der wichtigste Gegenpol zur neuen Identität, die vor allem im Nationalismus verankert ist. Der Sozialismus wird als Feind der Nation denunziert. Erst an zweiter Stelle wird das antidemokratische Einparteiensystem kritisiert. Der autoritäre nationale Staat gilt als dem demokratischen Vielvölkerbund überlegen.

Es besteht aber ein Unterschied zwischen Bevölkerung und Intellektuellen. Die Bevölkerung beurteilt den Sozialismus eher nach der Perzeption der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Lage, die Intellektuellen nach der Perzeption der politischen und nationalen Lage. Jede Krise verbindet die Perzeption der nationalen Lage mit der Perzeption der sozialen Lage, wobei es nicht schwierig ist, den Schuldvorwurf auf den vergangenen Sozialismus zu lenken. Das Sozialismusbild ist nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Intellektuellen verzerrt. Der Balkan-Raum ist explosiv: Der Chauvinismus strömte von oben hinein und explodierte unten. Der permanente Kriegszustand schafft keine günstige Voraussetzung für eine reale Beurteilung des Sozialismus, weil die Vergangenheitsbewältigung schon an der Quelle verzerrt ist. Es gibt keinen differenzierten Blick auf den Sozialismus, der auf dem Balkan fast fünfzig Friedensjahre ermöglichte. Statt dessen herrscht eine dämonisierende Vergangenheitsbewältigung (mit einem übersteigerten Beweis der »neuen Treue« bei ehemaligen Kommunisten). Die Vergangenheitsbewältigung hat nicht zur friedlichen Lösung innergesellschaftlicher Konflikte beigetragen. Die pauschale Verurteilung des Sozialismus als totalitäres nationalfeindliches System zerstörte viele supranationale Kompromißmöglichkeiten. Die gesellschaftspolitische Situation während der neunziger Jahre begünstigte einen historiographischen Extremismus. Außerwissenschaftliche Einflüsse engten die Bandbreite für eine differenzierte Interpretation des Sozialismus ein. Anstatt die realen Funktionsmechanismen des jugoslawischen Sozialismus ernsthaft zu untersuchen, wurde die gesamte Sozialismusetappe im Grunde zum »tragischen Fehler« erklärt. Den Hintergrund bildeten oft mehr oder weniger explizite Verschwörungstheorien. Nach dieser Theorie seien Serben Sieger in Kriegen, aber Verlierer im Frieden.

Mit Hilfe des manipulierten Nationalismus vermischen sich leicht Gewinner und Verlierer der Transformation in einem einheitlichen »patriotischen« Block. Im Augenblick sind der arme und der reiche Volksgenosse Brüder, nicht wie früher der arme serbische und kroatische Arbeiter. »Brüderlichkeit und Einheit« waren im Sozialismus soziale, heute sind sie biologisch gefaßte Integrationseinheiten. Das neue Epochenbewußtsein änderte nicht nur das Bild von Opfern und Tätern, sondern auch ihre Substanz. Auf dem Balkan triumphiert heute Biologie über die soziale Solidarität. Im Bürgerkrieg war diese Umdrehung offensichtlich (Colovic 1994). In diesem Ausnahmenzustand wird die Verantwortung des Sozialismus weder in ökonomischen noch in demokratischen, sondern vor allem in nationalen Fragen stark betont. Der sozialistische Internationalismus sei an der nationalen Katastrophe schuldig (bei Serben wie bei Kroaten und Slowenen, weniger stark ausgeprägt bei Mazedoniern und Montenegrinern).Tito ist noch immer populär in Mazedonien, im muslimischen Bosnien, aber nicht bei Serben oder bei Kroaten. Von Slowenen wird er einfach ignoriert. Die staatspolitische Bedeutung des Tito-Kults ist mit der Zerstörung Jugoslawiens verschwunden. In der Historiographie ist die Verbindung von Amnestie und Amnesie kompliziert, weil die Disqualifizierung von Personen, Gruppen oder des Systems überhaupt auch mit der Rechtfertigung verschiedener Interessen und Identitäten verbunden ist. Es scheint daß zwischen Amnestie und Amnesie viele die Konversion als Ausweg gewählt haben (Smolar 2000).

 

Neue Helden, Opfer und Täter

Die Vergangenheitsbewältigung ist in Jugoslawien nach den Gesetzen der heutigen westlichen Mediengesellschaft konstruiert: Opfer – Täter, Schuld – Unschuld, Demokratie – Totalitarismus. Es gibt keine Vorsicht in der antitotalitären Rhetorik und keinen Vorbehalt, z.B. daß Titos Sozialismus etwas anderes war als die osteuropäische Zentralkaderverwaltung. Die Aufarbeitung des Sozialismus kennt keine Nuancen. Nicht ohne Grund sprechen B. Geremek über den »blinden Antikommunismus«, A. Michnik über den »Antikommunismus mit bolschewistischem Gesicht«, W. Wippermann über den »nekrophilen Antikommunismus«. Der Antikommunismus ist eine der bequemsten intellektuellen Haltungen der postkommunistischen Ära. Er entspricht einem neuen moralischen und politischen Konformismus, der seinen Ausdruck in einem stereotypen und konven­tionellen Pathos der Denunziation der totalitären Vergangenheit findet (D. Barbu). Es muß unterstrichen werden, daß ein wichtiger Unterschied zwischen dem Antikommunismus des Kalten Krieges und dem heutigen besteht. Der letztere ist ohne Konversion nicht begreifbar. Anders gesagt: Die Antikommunisten jüngsten Datums schließen den Kommunismus aus der eigenen Vergangenheit aus und stellen sich als Opfer des Sozialismus dar. Diese Metamorphose folgt nicht nur aus verändertem Epochenbewußtsein, sondern ist meistens, auch bei Intellektuellen, mit neuen Interessenlagen verknüpft. Die Konversion ist nämlich heute ein wichtiger Kanal des sozialen Aufstiegs. Aber diese Wendung veranschaulicht eigentlich auch die Unmöglichkeit der Formulierung der Schuldproblematik. Denn wenn alle Opfer sind, gibt es keine Täter. Außerdem dient bei vielen Intellektuellen die Flucht in die Nation zur eleganten Loslösung von jeglicher persönlicher sozialistischer Schuld und Verantwortung. Zwar sind, psychologisch gesehen, die erwähnten Prozesse sehr oft mit falschem Bewußtsein belastet, nämlich mit der dogmatischen Erklärung, daß ich zwar formal Kommunist gewesen sei, aber im Grunde war ich immer ein »innerer Dissident«. Doch das ist eine nachträgliche Rechtfertigung und Rationalisierung, die nur das elementare Selbstwertgefühl zum Ausdruck bringt. Die Geschichte des Kadersozialismus wird somit nicht befragt, sondern pauschal denunziert, sie wird nicht untersucht, sondern verurteilt. In der heutigen politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit »begeben wir uns in einen Zyklus der memorativen Wiederholung, der die (reale) Erinnerung an Vergangenes verdeckt« (Freud).

Es ist schon zur Trivialität geworden, daß die Verarbeitung des Sozialismus bei vielen Intellektuellen ohne Verarbeitung der eigenen Biographie stattfindet. Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit will man einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen und es womöglich aus der Erinnerung selbst wegwischen (Adorno). In Jugoslawien geht die Vergangenheitsbewältigung im Sinne Adornos vor sich. Es herrscht nicht der Wunsch nach einem Schlußstrich unter der Geschichte des Sozialismus vor, sondern nach einem Schlußstrich unter der eigenen kommunistischen Vergangenheit. Die Berücksichtigung der Geschichte im aktuellen Verhalten der Intellektuellen geschieht oft nicht spontan, sondern reaktiv, aus Erinnerung an die eigene zerrissene Biographie, d. h. an die eigene Verwicklung in die frühere Rechtfertigung des Sozialismus. Die frühere eigene Glorifizierung der Rolle Titos und der Partei erzeugt heute Schamgefühle, aber auch Abwehrverhalten. Die starke Kluft zwischen der linken Vergangenheit und der rechten Gegenwart schafft fast spontan eine Art des Abwehrverhaltens. Denn das explizite Bekenntnis zum früheren kommunistischen Teil der Biographie könnte zu ausgeprägten Schuldgefühlen und zur Selbstverleugnung führen. In Abwehrreaktionen gezeigte, aber nicht geäußerte Schamgefühle versuchen die Konvertiten durch einen übersteigerten Antikommunismus (als Beweis der »neuen Treue«) zu bewältigen. Es  existiert aber auch eine andere Art des indifferenten Verhältnisses zur eigenen Vergangenheit.

Dies ist zu berücksichtigen, es reicht jedoch für eine Erklärung des skizzierten Abwehrverhaltens bzw. der ihm zugrundeliegenden Schuld- und Schamgefühle nicht aus. Die neue nationale Identität bildet ebenfalls eine wichtige Grundlage für das beobachtete Abwehrverhalten und kommt teilweise als Erklärung für jene »hartnäckige Aufklärungsresistenz« gegen den vielschichtigen Bezug auf die sozialistische Vergangenheit in Betracht. Die Tilgung der Erinnerung ist besonders akut, aber gleichzeitig auch verständlich bei den Intellektuellen, die heute eine aktive politische Rolle spielen, und sie stellt sich als eine pragmatische Leistung in Sinne des »kommunikativen Schweigens« dar.

Im Unterschied zum Bezug auf den Faschismus ist bei der Verarbeitung des Sozialismus in der allgemeinen politischen Kultur Jugoslawiens keineswegs der »Primat der Schuld« gegeben. Es herrscht vielmehr eine pauschale Kritik des Sozialismus ohne eigene Schuldübernahme als Mitläufer oder als Parteimitglied. Bei den Intellektuellen ist das »Klima von Schuld« unpersönlich, weil alle verwickelt waren. Es scheint, daß eine bloße Ignoranz der Vergangenheit herrscht. Aber die antikommunistische Märtyrologie kann nicht ignoriert werden. Die antikommunistische Vergangenheit wurde zum wichtigsten persönlichen politischen Kapital. Bei den heutigen politischen Führern wird die unkommuni­stische Vergangenheit hervorgehoben, weil sie ihm die Legitimität des Opfers und einen moralisch überlegenen Status der Gedenkelite verleiht (Kostunica, Djindjic). Die bewiesene antikommunistische Vergangenheit ist eine wichtige Legitimationsbasis des neuen halbcharismatischen Status des »alten Kämpfers«.

Es mag paradox klingen, aber die neuen Konvertiten sind eben deshalb sehr treue Vasallen der neuen Eliten geworden, weil ihre Vergangenheit bekannt ist. Sie pflegen eine spezifische Loyalität gegenüber den neuen Herren eben wegen der eigenen unpopulären Vergangenheit und bilden heute sicherere Stützpunkte der neuen Herrschaft als jene ohne kommunistische Vergangenheit. Simmel hatte diese Erscheinung eine »übersteigende Treue der Renegaten« genannt. In Jugoslawien wird dies vor allem bei den neuesten Konvertiten sichtbar, die im Jahr 2000 zu den neuen Herrschaftseliten übergegangen sind. Es klingt paradox, aber Konvertitentreue ist die Basis der heutigen Kaderverwaltung in Jugoslawien. Bei der heutigen politischen Mobilität handelt es sich um einen Kampf um den Status der Totalitarismusopfer im allgemeinen Klima einer Opfermoral. Die neue Moral ist pragmatisch. Nach ihren Regeln gibt es kein Gedenken an die Opfer ohne direkte Prätention auf Entschädigung. Jede Öffentlichkeit geht mit Opfern sensibel um. Man glaubt mehr den Opfern als den Neutralen, weil Opfer als erprobte Erlöser gelten. Die universelle Märtyrologie des postkommunistischen Antikommunismus ist im Grunde manipulativ. Auch in der Historiographie fällt dies auf.

Das Ergebnis der neuen Vergangenheitspolitik in Jugoslawien ist eine neue »Fragmentarisierung der Geschichte« (Steinbach, Höpken). Neue Opfer und Helden vernebeln wichtige Teile der Geschichtserinnerung, weil die neue ethnokratische Perspektive zur einseitigen Ausblendung der sozialen Dimension der Geschichte führte. Die offizielle Geschichtsschreibung mit neuen Erinnerungen ist zur Waffe geworden. In der neuen obsessiven Erinnerungskultur war der Sozialismus das erste Opfer. Man kann gar von einer Mythologisierung der kommunistischen Untaten sprechen, d. h. über die Instrumentalisierung einer fixierten Interpretation der Vergangenheit für die Identität eines politischen Kollektivs. Es handelt sich noch immer um eine undifferenzierte Stilisierung der Kommunisten und Titos zu tödlichen Feinden der Serben und der Demokratie. Die Erinnerung an den »nationenfeindlichen Sozialismus« war besonders in den Jahren 1990 bis 1995 eine Waffe gegen den Vielvölkerstaat. Milošević’ Regime kontrollierte zwar die Geschichtsbücher, aber das Regime war nicht imstande, die ganze Historiographie zu kontrollieren. In der serbischen Historiographie offenbarte sich die schnell schwindende Kraft der linken Ideologien. Das zeigen auch die zerrissenen Biographien der heutigen Historiker auf: Einerseits die Doktorarbeiten aus dem »sozialistischen Zeitalter« und aktuelle antikommunistische Bücher anderseits. Die Kontroverse zwischen dem früheren Jugoslawismus und dem heutigen Na­tionalismus vertieft diese Kluft noch mehr. Zur Überwindung der Konversion sind gleich Rationalisierungsversuche entstanden nach den Formeln: »Ich war nie ein wahrer Kommunist« oder »Obwohl formal Kommunist, war ich innerer Dissident und Opfer« usw. Die Konversion von links nach rechts ist zwar ein global­europäisches Phänomen, aber in Jugoslawien verlief die Wandlung der führenden Historiker dramatischer (Petranovic, Djuretic, Gligorijevic usw.). Neben den turbulenten politischen Umständen ist ein wichtiger innerwissenschaftlicher Grund für die schnelle Konversion der Historiker wahrscheinlich in der narrativen Geschichtsvermittlung ohne theoriegeschichtlichen Hintergrund zu sehen. In der Ereignisgeschichte geht die Konversion leichter vor sich als in der Strukturgeschichte.

Das heutige Didaktik-Modell beruht auf Verarbeitungsformen, die sich noch immer auf den archetypischen Gegensatz von Gut und Böse, Täter und Opfer, Schuld und Unschuld, »meine Nation« und andere stützen. Das Modell der »Opferdidaktik« (kommunistischer Totalitarismus contra ethnokratischer Liberalismus) und das Modell der »Stunde Null«, wonach die wahrhafte Geschichte angeblich 1990 in Kroatien oder im Oktober 2000 in Serbien beginnt, können als Antworten auf den neuen Legitimationsbedarf verstanden werden. Der ethnokratische Liberalismus vereinigt den neuen westlichen Kurs mit dem alten konfessionellen Nationalismus, was viele Spannungen zwischen Separatismus und neuen Globalisierungsimpulsen erzeugt. In der serbischen Historiographie gelten noch immer Konflikte als historische Wendepunkte: Kriege, Aufstände, Schlachten und Säuberungen. Doch auf dem Balkan waren lange Friedensabschnitte, z. B. jener zwischen 1945 und 1990, weit mehr »wirklich historisch« als die dramatischen nationalistischen Konflikte. Im Rahmen der Kriegsrhetorik und des traditionellen Verständnisses des Historischen wurde hingegen die konfliktlose Sozialismusetappe als unhistorisch oder einfach als totalitär stigmatisiert. Im traditionellen Sinne noch immer als historisch gelten die Helden der zahllosen Rebellionen oder jetzt die nationalistischen Massen, wie in der »Oktoberrevolution von 2000«. Als historisch relevant gelten nicht konfliktlose Zeitalter, sondern Parteien oder Bünde, ihre spektakulären Schlachten, Niederlagen oder Siege. Konflikte stehen im Mittelpunkt, nicht das wenig spektakuläre, aber reale Leben vieler einzelner, d. h. die Geschichte von unten.

Vorweg muß darauf hingewiesen werden, daß die Beziehung zum Sozialismus nicht eine evolutionäre Entwicklung prägt, sondern ein äußerst konfliktreicher Transformationsprozeß mit starken politischen Belastungen auch der Intellektuellen. Hier ist mehr die Rede von der Wissenschaftskultur der Transformationsperiode und über die Evaluierung ihrer politischen Belastung. Vielleicht wird aber zuviel von einer Historiographie verlangt, die mit unlösbaren Staatsproblemem konfrontiert ist, wenn von ihr eine differenzierte Beurteilung des Sozialismus gefordert wird. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Tito ist beim alten Milovan Djilas sichtbar (ähnlich wie bei Slavko Milosavleski und Todor Kuljic). Natürlich muß gefragt werden, ob die Voraussetzungen für eine sachliche Beurteilung der Vergangenheit heute günstig sind. Der permanente Kriegs- und Gefährdungszustand schafft verschiedene leidenschaftliche Verzerrungen. Außerdem gibt es heute in den jugoslawischen Sozialwissenschaften keine notwendige Konkurrenz der Perspektiven: z.B. für eine Betrachtung des Sozialismus aus einer sympathisierenden Binnenperspektive und einer, die den Sozialismus als Fremdes analysiert. Was der heutigen Aufarbeitung fehlt, ist der Blick auf den Sozialismus aus der Perspektive eines anderen Epochen- und Geschichtsbewußtseins, d. h. einer Perspektive, als die Linke im Weltmaßstab mehr bedeutete als heute. Deshalb gibt es keine bedeutende hermeneutische alltagsgeschichtliche Strömung. Höpkens Analyse der jugoslawischen Vergangenheitspolitik (Höpken 1999) ist interessant und relevant, aber sie stellt nur eine ideologiekritische Perspektive vor. Der Sozialismus ist bei Höpken tief im Politischen verankert. Demgegenüber sieht das Bild des jugoslawischen Sozialismus anders aus, wenn man die Alltagsperspektive einschließt und ihn aus der Perspektive einer kontextuellen Einbettung in das Klima des »Kalten Krieges« betrachtet, als die Linke einen stärkeren Anteil am Zeitgeist hatte als heute. Ohne Konzentration auf Kontexte und die Möglichkeiten des Augenblicks ist aber eine differenzierte Beurteilung unmöglich. Der Sozialismus ermöglichte auf dem Balkan fast fünfzig Jahre unvorstellbaren Friedens, was einem anderen System kaum gelungen wäre, die sozialistische Selbstverwaltung war auf unteren Ebenen eine reale unmittelbare Demokratie, es herrschte eine relativ stabile soziale Sicherheit und ein Egalitarismus ohne scharfe soziale und nationale Konflikte. Das Ansehen Titos und Jugoslawiens war unverhältnismäßig groß in einer Epoche, in der der Sozialismus einen wichtigen Teil des Epochenbewußtseins bildete. Außerdem waren der jugoslawische Antifaschismus und Antistalinismus nicht bloße ideologisch-manipulative Formeln, sondern reale Tatsachen, die ein spezifisches und exklusives Staatsbewußtsein schufen.

Deshalb sollte man den jugoslawischen Sozialismus auf der makroanalytischen Ebene auch auf der Grundlage modernisierungstheoretischer Überlegungen zu erklären versuchen, als autoritäre Form der Modernisierung auf dem explosiven Balkan. Es ist nicht verwunderlich, daß heute der ethnokratische Liberalismus einerseits und antinationalistische Totalitarismustheorien (die Sozialismus und Nationalismus als verwandte oder gleiche Kolektivismusarten betrachten) anderseits differenzierte Erinnerungen an den Sozialismus verdrängen. Überall in Osteuropa betrachtet der Antitotalitarismus alle Gerechtigkeitsfragen als durch den Rechtsstaat auf universalistische Weise lösbar und ignoriert dabei die Rolle des Sozialstaats. Es ist zu einer Umformulierung der Kapitalismuskritik in eine Totalitarismuskritik gekommen, die gleichermaßen Faschismus wie Sozialismus treffen könnte. Die verfolgte Nation trat an die Stelle des Proletariats als Paradigma des leidenden Menschentums. Seit dem Ende des »real existierenden Sozialismus«, der den universellen Triumph des Kapitalismus mit sich brachte, tendieren ehemals kritische Intellektuelle dazu, das Jasagen zu üben, es triumphiert der »real existierende Opportunismus«. Das Ende des Staatssozialismus hat keineswegs nur in Osteuropa weitreichende moralische Zusammenbrüche ausgelöst. Es hat insgeheim auch die westliche Kultur entscheidend verändert, weil dieses Ende den Glauben, daß das Bestehende grundlegend verändert werden kann, entscheidend geschwächt hat. Wo aber der Glaube an etwas fehlt, daß das Bestehende auf etwas anderes hin transzendieren kann, ist wahrscheinlich keine wirkliche Moralität mehr möglich, es bleibt nur das Mitmachen übrig (Vinnai 1999).

Die Totalitarismustheorie bildet die verspätete Hintergrundideologie und eine bequeme Wissenschaftskultur der jugoslawischen Intellektuellen in der Transformationsperiode. Sie wird zwar auf verschiedene Weise akzentuiert: Bei einigen steht der totalitäre Marxismus im Vordergrund, bei anderen der totalitäre Nationalismus, bei dritten der totalitäre jugoslawische Vielvölkerstaat. Es handelt sich aber keineswegs um die systematische Anwendung totalitarismustheoretischer Ansätze zum Vergleich verschiedener Systeme. Es handelt sich um einen stigmatisierenden Antitotalitarismus. Doch überall dort, wo antitotalitäre Rhetorik herrscht, gibt es keine Nuancen. In dem identifizierenden und stigmatisierenden antitotalitären Klima können gar nicht konstruktive Ansätze der Totalitarismustheorie genutzt werden. Nicht ein differenzierter, sondern ein pauschaler Antitotalitarismus bildet den Identitätskern der verschiedenen ideenpolitischen Strömungen des neuen »intellektuellen Lagers«, das auch die wissenschaftliche Aufarbeitung des jugoslawischen Sozialismus determiniert. Der Antitotalitarismus schuf einen neuen Rahmen für den Umgang mit der Vergangenheit: Er unterminierte die Sozialgeschichte und favorisierte die Politikgeschichte, die leicht in Verschwörungstheorien übergehen kann (V. Krestic, D. Cosic). Er beseitigte alte und oktroyierte neue Opfer (Nation statt Arbeitsklasse) und Täter (Kommu­nismus statt Kapitalismus), belebte den Konservatismus verschiedener Prägung, rehabilitierte den Faschismus und seine Kollaborateure (D. Subotic, V. Kostunica), erneuerte den Monarchismus und romantische dynastische Geschichtsschreibung (R. Ljusic, B. Gligorijevic) usw. Unter den Intellektuellen sind in zwei unterschiedlichen Wellen mehr oder weniger konstruierte Opfer entstanden, die neue Einseitigkeiten schaffen und leicht zu rezipieren sind: Die erste Welle bildeten Titos Opfer nach 1990 und die zweite die Opfer von Milošević seit 2000. Der Wiedergewinn von tabuisierter Geschichte, mit neuem Opferbewußtsein begründet, endet oft im Extrem. Bei der heutigen nationalkonservativen Umdeutung der Vergangenheit liegt eine große Verschiebung beim Umgang mit dem Faschismus. Die notwendige Voraussetzung für die heutige nationalistische Aufarbeitung des Sozialismus bildet die Blockierung der Aufarbeitung der eigenen faschistischen Vergangenheit. Seit 1990 ist der Antifaschismus in die geschichtspolitische Defensive geraten. Die »vergessenen Opfer« sind nicht nur eine Folge historischer Unkenntnis, sondern die Entdeckung einer bewußten neuen Vergangenheitspolitik. Die jugoslawische Historiographie beweist noch einmal den Satz von Walter Benjamin, daß jede herrschende Geschichte eine «Geschichte der Sieger« ist, die nur ihre eigenen Opfer thematisiert. Die postso­zialistische Historiographie hat neue Sensibilität für die Mythen der nationalen Vergangenheit entwickelt. Der Sozialismus wurde auch wegen des Vergessens der Nation beklagt.

Es ist normal, daß eine ethnisch, kulturell und sozial gespaltene Gesellschaft in der Transformationsperiode auch in der Geschichte nach Bindekräften sucht. Der Antifaschismus war ein wichtiges Kohärenzelement in Titos Jugoslawien, aber auch ein kommunistisches ideologisches Herrschaftsmittel. Der Antifaschismus, die Erinnerung an Partisanenkampf und Titos Personenkult dienten nicht nur zur systempolitischen Loyalitätssicherung, sondern auch zur Festigung der Staatseinheit. Nach 1990 wurde die Geschichte Jugoslawiens und des Zweiten Weltkriegs in den neuen Balkanstaaten in unterschiedlichem Umfang revidiert. Jugoslawien wurde schnell aus einer natürlichen in einer unnatürliche Gemeinschaft verwandelt. Der Antifaschismus ist schnell nationalistisch geworden. Die Helden sind nicht mehr die Partisanen, sondern »nationale Patrioten«, auch Kollaborateure. Das Erinnerungssystem schafft mit Hilfe der neuen Historiographie neue historische Identität und eine neue Organisation des Hasses. Die Erosion der alten Vergangenheitspolitik geht noch immer im Zeichen des »Emanzipationsnationalismus« vor sich.

Heute werden mit Recht die »weißen Flecken« der kommunistischen Historiographie kritisiert. Aber bei der Aufarbeitung des Sozialismus sind heute gleich »gelbe Flecken« entstanden, die mit Blindheit gegenüber Tatsachen verbunden sind. Der »gelbe Fleck« verbindet die Schärfe des Sehens mit der Blindheit gegenüber gewissen Tatsachen (K. Wojciechowski, K. Mannheim). Bei der heutigen Vergangenheitsverzerrung sind z. B. die evidenten Modernisierungsinhalte des jugoslawischen Sozialismus aus dem Blickfeld verschwunden und üben keinerlei Einfluß auf die Wahrnehmung der Vergangenheit aus, die von der nationalen und antitotalitären Mentalität geprägt ist (Obradovic, Perisic). Es ist eine Erinnerungskultur entstanden, in der Sozialismuskritik salonfähig ist. Die Beseitigung von »weißen Flecken« ist durch neue Untersuchungen möglich, aber die Beseitigung der »gelben Flecken« ist schwieriger, weil sie sich gegen den Zeitgeist richtet. Für die »weißen Flecken« ist die kommunistische Historiographie verantwortlich, für die »gelben« aber der heutige nationalistische und antitotalitäre Konformismus.

Das kommunistische dichotome Schema von Revolution und Konterrevolu­tion ist aufgehoben und von neuen Schemata verdrängt: Patrioten – Verräter, Mondialisten – demokratische Nationalisten, Totalitarismus – Demokratie, Kommunisten gegen alle anderen. Neue historische Kontinuitäten und Linien sind nicht mehr sozial, sondern national konstruiert und mit verschiedenen Verschwörungstheorien verbunden. Die kommunistische Partei wurde aus einer Befreiungsrolle in eine totalitäre Kraft überführt, das um Titos Kult zentrierte Vergangenheitsbild ist dämonisiert, die Opfer des Kommunismus (Nationalisten und Kollaborateure) sind heute die wahren Patrioten. Diese Umkehrung hat auch einen tieferen Sinn. Die frühere Erinnerung an Partisanenkampf vermittelte gewünschte Werte wie Internationalismus und »Brüderlichkeit und Einheit«, so daß das kommunistische Parteimonopol eine zwar autoritäre, aber eine spezifische Art des Kosmopolitismus auf dem Balkan geschaffen hatte. Der Sozialismus war gewissermaßen im 20. Jahrhundert eine Globalisierungskraft auf dem explosiven Balkan. Heute dagegen sind Versuche aktuell, nach Furets Modell Titos Sozialismus zu denunzieren, d. h. durch die Verneinung des kommunistischen Antifaschismus, der angeblich verbrecherisch und totalitär war. Die Diskreditierung des kommunistischen antinationalistischen jugoslawischen Antifaschismus steht im Zentrum revisionistischer Geschichtspolitik. Die Verdrängung des jugoslawischen Antifaschismus schafft heute den Raum für nationale Exklusivität und für Sezessionismus. Zwar ist eine Form des konventionellen Antifaschismus geblieben (die überall in Europa unstrittig ist), verschwunden ist aber die tiefere »überbalkanische« nationalismusfeindliche Antifaschismuskomponente.

Etwas ähnliches geschah mit Tito. Die Kroaten negieren seine nationale und kommunistische Politik, versuchen aber seine große Weltreputation zu nutzen. In Zagreb trägt eine Straße noch immer Titos Namen, in Belgrad keine. Die Stilisierung des Tito-Kults stützte sich früher auf die bolschewistische, aber auch auf die balkanische Tradition des supraethnischen Übervaters (Helden- und Befreiungstopoi). Nach 1990 wurde Tito als totalitärer Bolschewist und als gefährlicher Internationalist schnell dämonisiert. Beide Tendenzen kann man in der Historiographie beobachten, d.h. die bloße Dämonisierung ohne distanzierte und differenzierte Beurteilung. Nach 1990 wurde Titos Antifaschismus und Antistalinismus in großem Tempo desavouiert. Im Unterschied zu Ungarn, wo der antisowjetische Aufstand von 1956 zu einer neuen Legitimationsbasis geworden ist, hat in Jugoslawien der Antistalinismus von 1948 jede Bedeutung verloren. Titos Antistalinismus hatte keine nationalen Töne und kann heute nicht instrumentalisiert werden. Der Nationalismus brauchte hier neue Erinnerungspunkte. Nur in Serbien war der Antifaschismus bis zum Jahr 2000 offiziell noch immer ein wichtiger Erinnerungspunkt. Der linksorientierte Antifaschismus und der Antistalinismus wurden in anderen neuen Balkanstaaten schnell vergessen. Die akademische Historiographie dient auch zur Schaffung neuer offizieller Erinnerungsbilder und zur Stärkung der politischen Loyalität. Solange sich die Misere der jugoslawischen Arbeitsgesellschaft noch als die Misere eines überlebten sozialistischen Modells behandeln ließ, hatten die Liebhaber von Demokratie und Marktwirtschaft keinerlei Problem damit, einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Titos Jugoslawien und dem Aufkeimen des Nationalismus herzustellen (Lohoff 1996).

Tito und Milošević werden dabei unkritisch identifiziert, und der ganze Zeitraum von 1945 bis 2000 wird heute fälschlicherweise als kommunistisch bezeichnet. Das antitotalitäre Denken sieht keine Unterschiede zwischen Tito und Milošević. Es soll aber nicht vergessen werden, daß die Innen- und Außenpolitik bei Tito und Milošević im Grunde verschieden waren. Milošević führte politischen Pluralismus ein, obwohl er persönlich sehr autoritär war. Tito dagegen verteidigte immer das Einparteiensystem, aber persönlich war er relativ kollegial. Titos Kult war offiziell sanktioniert, Milošević’ nicht. Der erste war in seiner Zeit supranationaler Führer und ein weltberühmter Staatsmann, der gar eine Art von Weltpolitik trieb, der andere ein provinzieller nationaler Führer und Hasardpolitiker, der nur wegen seines irrationellen Trotzes gegen die Welt bekannt geworden ist. Also ist die Gleichung zwischen der supranationalen und der nationalistischen Linken falsch (Kuljic 1998). Die heutige offizielle serbische Identifizierung Titos mit Milošević ist funktional, weil die neueste selektive Erinnerung und das in nationalstabilisierender Absicht kalkulierende Vergessen eine neue »Null-Stunde« (2000) zu oktroyieren versucht.

 

Die Rolle der Historiographie

In Jugoslawien wurde keine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur eingerichtet, der bis 2000 ausgebliebene Elitenwechsel wurde zwar häufig kritisiert, aber auch danach wurde keine serbische »Gauck-Behörde« ins Leben gerufen. An den Universitäten beschäftigen sich weiterhin dieselben Professoren mit der Zeitgeschichte, die schon vor 1990, damals unter Kontrolle des Bundes der Kommunisten, Forschung betrieben haben. Sie haben nur den Inhalt ihrer Erzählungen verändert, an die Stelle der Arbeiterselbstverwaltung ist das nationale Interesse getreten. Was offenbar eine jugoslawische Besonderheit in der Aufarbeitung des Sozialismus ausmacht, ist, daß der belebte Nationalismus äußerst rasch die radikale Konversion von links nach rechts normalisierte.

Die absolute Priorität der nationalen Interessen klärt den vergangenheitspolitischen Revisionismus der heutigen serbischen Historiographie. In dem Maße nämlich, wie der revanchistische Nationalismus in der Kontinuität der Geschichte verortet wurde, blieb der Sozialismus für das serbische Selbstverständnis nur ein bloßer Totalitarismus. Die weitgehende Tilgung der Erinnerung an die relativ stabile soziale und nationale Sicherheit (als alle Serben in einem Staat lebten) wird unter dem Vorzeichen des Antitotalitarismus in gewisser Weise zur offiziellen Geschichtspolitik. Insgesamt gesehen hatte die jugoslawische Historiographie, früher wie heute, mehr affektive als kognitive Wirkung bei der Beschäftigung mit der komplizierten und ambivalenten Aufgabe, Staatsintegration und Sezessionismus, Krieg und Frieden zu rechtfertigen. Sie hatte immer eine identitätsstiftende Wirkung, früher eine stabilisierende (antifaschistischer Jugoslawismus), heute eine explosive (antitotalitärer Nationalismus). Wegen der Integrationsleistung und der Wirkung auf die Stiftung der nationalen Identität sind die Erinnerungen an frühere Kriege leicht zu Elementen der politischen Mobilisierung geworden, natürlich auf Kosten einer differenzierten wissenschaftlichen Analyse. Das Erinnerungsdiktat war früher wie heute stark, verschieden sind nur die Folgen. Einen Rückblick auf die Rolle der Historiographie im jugoslawischen Sozialismus präsentierten die Belgrader Historiker Stankovic und Dimic 1996. Im Sozialismus handelte es sich um verordnete supranationale Erinnerung (mit »kommunikativem Beschweigen« der früheren ethnischen Kriege), im Postsozialismus um eine explosive Kombinierung manipulativ gelenkter und spontaner nationalistischer Befreiungserinnerungen. Im Sozialismus wurde die Zeitgeschichtsschreibung von Parteikadern kontrolliert, heute existiert zwar keine Parteikontrolle, aber die Einseitigkeiten sind nicht weniger geworden. Auf eine andere Weise ist heute der überparteiliche Nationalismus als neuer Konformismus verbindlich geworden. Obwohl heute der Raum für pluralistische Deutungsmuster offen ist, hat die jugoslawische Historiographie diese Chance größtenteils noch nicht genutzt, weil andere Politisierungsarten stark sind. Der aktuelle ethnische antilinke Konformismus gibt den Grundton der serbischen Historiographie an. Besonders auffallend ist die Klerikalisierung des ethnischen Diskurses und die Kirchenmärtyrologie. Das neue Geschichtsbild ist wie früher noch immer auf dualistische, oft manichäische Weise konstruiert, aber heute mit neuen Helden, Opfern und Tätern. Im Unterschied zu der früheren kommunistischen Historiographie (in der der Kampf gegen den Nationalismus der eigenen Nation im Vordergrund stand), kann man heute bei der kroatischen und serbischen Historiographie fast keine kritische Stellung gegenüber der Rolle der eigener Nation oder der Kollektivschuldthese treffen. Statt dessen herrscht noch immer vorwiegend der blinde Patriotismus, der immer das eigene Volk zum Opfer macht. Mit der oben beschriebenen selektiven Geschichtsaufarbeitung kann man keinen rationalen Umgang mit der Vergangenheit haben. Es bleibt nur die Legende über die nationale Größe und über die helle und stolze Nationalgeschichte. Bei uns gibt es noch keinen »Historikerstreit«. Statt dessen ist noch immer die restaurative Normalisierung des Nationalstaats mit Hilfe der Hervorhebung der Verbrechen der anderen und der Unschuld der eigenen Opfer aktuell. Dies erinnert an die Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts. Eine Historiographie, die auf dem organisierten Vergessen beruht, kann nicht zur Vergangenheitsbewältigung gelangen, d. h. zur Erklärung von Ursachen irrationaler Konflikte und Ausrottungsmaßnahmen.

Diese Tendenz verstärkt der Umstand, daß die Vergangenheitsbewältigung in Jugoslawien einen sichtbar provinziellen Ton hat. Nur wenige Intellektuelle, die den Sozialismus untersuchen, beherrschen Fremdsprachen. So handelt es sich meistens um ein neues Lesen schon bekannter archivalischer Materialien, jetzt mit »neuen Brillen«. Früher waren die lichten Seiten des Sozialismus interessant, heute die dunklen. Nur eine Minderheit aus der alten und mittleren Historikergenerationen folgt den alten Untersuchungsprioritäten (Antifaschismus und Partisanenkampf). Ein Teil der Historiker versucht die monarchistische Tschetnik-Bewegung zu rehabilitieren. Die Diskreditierung des kommunistischen Antifaschismus steht im Zentrum revisionistischer Geschichtspolitik. So entstand die revisionistische These, daß D. Mihajlovic und nicht Tito der erste Antifaschist auf Balkan war (K. Nikolic) oder daß M. Nedic und D. Ljotic keine Kollaborateure, sondern Patrioten waren (D. Medakovic, D. Subotic). Dieser Revisionismus hat mehr politische als wissenschaftliche Resonanz. Tabuzonen und »weiße Flecken« der kommunistischen Historiographie stehen im Mittelpunkt. Ein neues Untersuchungsfeld bilden Titos Verbrechen (K. Nikolic, V. Gudac, Z. Janjetovic), Terror (Goli otok–Literatur) und vor allem die kommunistische Nationalitätenpolitik, die angeblich katastrophal war (V. Djuretic, V. Krestic). Aus den Opfern von gestern (Kommunisten) sind nun nationale Verräter oder sowjetische Agenten geworden. Der Partisanenkampf wurde im nationalistischen Sinne umgedeutet. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wurde deutlich »entjugoslawisiert« und nationalisiert. In den Schulbüchern fand eine Säuberung von Internationalismus statt, dessen Motto »Brüderlichkeit und Einheit« lautete. Es erscheint verständlich, daß die neohermeneutischen Positionen heuristisch die Aufmerksamkeit der historischen Forschung auf eine bisher »vergessene Geschichte« lenken. In der jugoslawischen Historiographie sind auf der Ebene der soziokulturellen Evolution nicht Verdrängte, Fremde und Marginalisierte Gegenstand der »vergessenen Geschichte« wie im Bereich der eigenen Lebensgeschichte, sondern vor allem ehemalige kommunistische Gegner. Damit erhält auch die »vergessene Geschichte« eine aktive politische Rolle. In Serbien wird Titos Politik größtenteils als antiserbisch betrachtet (V. Djuretic, B. Petranovic), neutrale Urteile über Tito sind in der Minderheit (D. Petrovic, S. Cvetkovic, M. Vasic, V. Glisic). Das ehemalige Institut für neuere serbische Geschichte mit Latinka Perovic an der Spitze, dessen Gebäude während des NATO-Angriffs zerstört wurde, bildete eine Ausnahme im globalen nationalistischen Kurs der Historiographie. Auch einige Forschungen von Titos Außenpolitik sind neutral (D. Bogetic, L. Dimic, D. Tripkovic, D. Borozan). Heute sind aber nicht Titos Erfolge (in der Wirtschaft, Diplomatie und im Inland bei der Sicherung des nationalen Friedens), sondern Titos Opfer aktuell. Die serbische Historiographie hatte eine auffallende Wendung von Titos Glorifizierung zur Dämonisierung Titos gemacht. Diese Wendung ist unter Historikern salonfähig geworden. So wie es richtig ist, den Antifaschismus zu den zentralen Elementen der kommunistischen Geschichtspolitik zu zählen, so falsch wäre es, die kommunistische Politik als antiserbisch zu betrachten (wie es z.B. pauschal die historische Abteilung in der serbischen Akademie der Wissenschaft tut). Es überwiegt noch immer eine selektive narrative Geschichtsschreibung ohne eine entwickelte Struktur- oder Alltagsgeschichte. Die Analysen gehen nur selten über eine Ereignischronologie hinaus. Eine etwas andere Stellung nimmt die junge Historikergeneration ein, die nicht durch den Kommunismus belastet ist. Bei einigen jungen Historikern machten sich in den letzten Jahren alltagsgeschichtlich und kulturanthropologisch orientierte Forschungsansätze bemerkbar (M. Ristovic, P. Markovic, L. Dimic, M. Mitrovic), aber sie sind theoretisch und methodisch noch nicht entwickelt (siehe die Zeitschrift »Godisnjak za socijalnu istoriju«). Die Wirtschaftsgeschichte (S. Djurovic), Sozialgeschichte (M. Isic, Z. Jovanovic) und Kirchengeschichte im Sozialismus (R. Radic, N. Zutic, D. Zivojinovic) stecken auch noch in Ansätzen.

Die Frage nach der methodischen Vermittlung von narrativer, struktureller und kultureller Dimension der Kommunismusforschung ist noch gar nicht gestellt. Dies gilt noch mehr für die Frage nach den serbischen nationalistischen Vorurteilen und Hemmnissen in der Geschichtsschreibung. Die oben erwähnten leidenschaftlichen »außertheoretischen« Faktoren der historischen Forschung hemmen die historische Wahrheitssuche. Gegenüber den verschiedenen Formen des Reduktionismus ist die Gesellschaftsgeschichte des jugoslawischen Sozialismus besser zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären mit einer Kombination aus der Begrifflichkeit und den Interpretationsmethoden der Modernisierungs­theorie, der Hermeneutik und einiger Ansätze der Totalitarismustheorien. Jede einseitige Interpretation wäre Reduktionismus. Der jugoslawische Sozialismus war keine homogene und statische Ganzheit, sondern eine Abfolge und Überlagerung verschiedenen Phasen, die analytisch rekonstruiert werden müssen. In allen Phasen gilt nicht die gleiche Priorität der Interpretationsmethoden. Für die erste Phase 1945 bis 1952 erscheint die politische Überdetermination wichtig, für die zweite 1952 bis 1980 Marktwerte, Konsumgesellschaft und Kulturpluralismus, in der dritten Phase 1980 bis 1990 ist der latente politische Pluralismus mit mehr oder weniger offenen Konflikten zwischen Republiken und Nationen auffallend. Der Alltag des Sozialismus, das Leben der kleinen Leute (Arbeit, Freizeit, Wohnung, Reisen) kann man nicht mit Totalitarismustheorien beschreiben und erklären. Zwar ist die Geschichte von unten (Mikrohistorie) auch von der Politik abhängig, aber sie besitzt auch einen eigenen relativ unabhängigen Rhythmus, der keineswegs mit der Makrogeschichte identisch ist. Es ist fraglich, ob der in seinem Epochenbewußtsein verwurzelte junge Historiker überhaupt die sozialistische Alltäglichkeit hermeneutisch verstehen kann wie jener, der sie mitgelebt hatte. Außerdem ist es in der Krise psychologisch viel leichter, die Identifikation mit den Opfern des Sozialismus vorzubereiten als ein differenziertes und vielschichtiges Sozialismusbild vorzustellen, denn keine Krise duldet Nuancen oder neutrale Einstellung. Im Unterschied z.B. zu Ungarn, wo auf die weiche Diktatur und den sanften Übergang eine milde Vergangenheitsbewältigung folgte, folgte in Jugoslawien auf die noch weichere Tito-Diktatur ein heftiger Bürgerkrieg und eine kämpferische Vergangenheitsbewältigung. Ein besserer Beweis dafür, daß die Vergangenheitsbewältigung mehr von der postsozialistischen Gelegenheit als von der sozialistischen Erfahrung abhängt, ist kaum zu finden. Anderseits: Im Unterschied zu den Russen, die sich insgesamt eher als Opfer der heutigen Zeit, der Politik des Westens oder von Verschwörungen der Eliten empfinden, ist in Jugoslawien die Erinnerung an den Sozialismus mit dem tragischen Vielvölkerstaat verbunden. Während in Rußland gegenüber der Vergangenheit Schweigen herrscht, oft mit einem Gefühl des Stolzes verbunden, herrscht bei den Serben, die sich heute als Verlierer fühlen, Zorn gegen andere sezessionistische Republiken.

Im nationalistischen Diskurs ist das Freund-Feind-Schema noch ausgeprägter. Das verzerrte Sozialismusbild hat eine wichtige Funktion: Es hemmt eine innergesellschaftliche Auseinandersetzung um die Schuld am Bürgerkrieg in Jugosla­wien der neunziger Jahre. Die Mechanismen der Verdrängung des serbischen Faschismus und der Kollaboration 1941–45 sind eng mit Mechanismen der Tilgung der Schuld der eigenen Nation im Bürgerkrieg 1991–95 verbunden. In diesem Kontext wurde der Sozialismus als der Hauptschuldige entdeckt. Zur Zerstörung von Erinnerungen (J. Perels) treten jene Abwehrmechanismen, die die sozialistischen Errungenschaften verkleinern. Dazu kommt die Verharmlosung der Verbrechen von nationalkonservativen (Tschetniks) und faschistischen (»Zbor«) Bewegungen in Serbien (Nikolic). Die weitgehende Tilgung der Erinnerung an die faschistische Kollaboration und den serbischen Faschismus ist unter dem Vorzeichen eines neuen Patriotismus salonfähig geworden. In diesem Sinne wurde der Hitler-Verbündete M. Nedic als kommunistisches Opfer amnestiert. Die früher unumstrittene Tatsache, daß der jugoslawische Sozialismus etwas anderes war als der Lagersozialismus, ignorieren die neuen Totalitarismustheorien. Noch weniger aktuell ist die Tatsache, daß Titos Jugoslawien, solange es existierte, nie den allgemeinen Modernisierungspfad verlassen hatte und in diesem Teil des Balkanraums das erste moderne Staatsgebilde gewesen ist (Hobsbawn, Lohoff, Kuljic). Die nachholende Modernisierung war zwar autoritär und blockiert, aber sie verlief ohne nationale Konflikte. Die einseitigen Forschungsrichtungen ignorieren diese Modernisierungsergebnisse, überschätzen ungerechtfertigt die Kraft der Politik und unterschätzen die spezifische Unabhängigkeit der Gesellschaftsdynamik. Solche Interpretationsmuster mögen zwar Elemente der Wahrheit enthalten, sie werden aber der besonderen historischen und sozialen Konstellation des jugoslawischen Sozialismus keineswegs gerecht. Die Entwick­lungsdynamik des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus verstehen, be­deutet die Abkehr vom Monopol einer Forschungsrichtung und die Kombination komplexerer interdisziplinärer Interpretationskonzepte. Aber dafür bilden stabile und krisenlose außertheoretische Bedingungen die notwendige Voraussetzung. Die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vergangenheit in Jugoslawien ist noch nicht abgeschlossen. Heute können wir nur über eine Zwischenbilanz reden.

Die Interessenlagen selbst tangieren das Gedenken an den Sozialismus. Eine andere Gedächtniskultur und Opferidentifikation kann auch ein anderes Verständnis des Sozialismus erlauben und eine andere Haltung zur Vergangenheit hervorbringen. Noch immer gibt es keine angemessene Distanz zu politischen Bezügen. Von Interessenlagen künftiger Generationen als einzigartigen Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften (P. Nora, H. Bude) hängt eine kollektive Geschichtsrekonstruktion ab. Mit dem Generationswechsel ändern die Opfer, die Schuldfrage und somit auch die Erinnerung ihren Status. Wegen fortschreitender Globalisierung muß die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des multinationalen und multikulturellen Sozialismus schon jetzt auch die veränderte Mentalität der E-mail-Generation in Betracht ziehen. Ob die Beruhigung der nationalen Gegensätze (vor allem zwischen Serben und Kroaten) zu einem Zugewinn an Rationalität im Umgang mit dem Vielvölkerstaatssozialismus führt, bleibt abzuwarten.

 

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[1] Die Tagungsmaterialien sind auf der Homepage des Instituts für Zeitgeschichte einsehbar unter ifz-muenchen.de/Neuigkeiten.

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