JHK 2003

Auf die Spitze eines Eisbergs getrieben: Philosophie als Organ der ideologischen Regression

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 051-72 | Aufbau-Verlag GmbH

Autor/in: Helmut Fleischer

Wir blicken zurück in eine andere Welt, wenn wir nach 80 Jahren dem nachgehen, was in der Sowjetrevolution (dem sogenannten Kommunismus) aus der Philosophie geworden ist; und wie sich in der »Sowjetphilosophie«, die jene Revolution begleitet hat, die Hegelsche Bestimmung erfüllt hat, eine Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«. Sie trug den amtlichen Namen »Dialektischer und historischer Materialismus« und war so etwas wie das Empfangsgebäude zu dem weitläufigen Lehrsystem des Marxismus-Leninismus. Von 1938 an, auf dem Höhepunkt der nachrevolutionären Institutionalisierung, war sie auf einen Katechismus »Über dialektischen und historischen Materialismus« vereidigt, der als ein Werk des Führers Stalin deklariert wurde und mit einem enormen Personalbestand in allen Sparten der Geisteskultur allgegenwärtig war.

Dieser philosophische Kanon konnte außerhalb seines Herrschaftsgebiets intellektuell nicht den geringsten Respekt erringen. »Der als Staatsideologie ausgehaltene, grundsätzlicher Diskussion längst entzogene und im Innersten leblose Kanon des Diamat, mit einem Wort: die parteioffizielle Philosophie«, schrieb Jürgen Habermas 1957, »ist nicht nur philosophisch gesehen so unbeträchtlich, sondern auch in Ansehung ihrer orientierenden Kraft für die politische Praxis von so geringer Wirksamkeit, daß das Gewicht einer Auseinandersetzung mit dieser Philosophie, für sich genommen, kaum unterschätzt werden kann.«[1] Ja und Amen, im Reich der Ideen war der Stalinismus »ein Nichts«. Doch nicht nur als der »gigantische Apparat«[2], als der er aus der Revolution hervorgegangen war, hatte dieses Nichts darin eine höchst bedeutsame und hochrepräsentative Funktion als die »Bewußtseinsform« oder das »Signalsystem« der bestimmten Daseinsweise eben dieses »Apparats«, dessen gesellschaftliche Wirklichkeit in einem wachsenden Personalbestand materialisiert war, in seinem »ideologischen Apparat«, aber auch im Resonanzraum einer aktiven Volksbasis.[3]

Was aus der Philosophie erst im Marxismus, dann im Sowjetmarxismus geworden ist, das ist der eine, der genealogische Aspekt. Es ist für unsere Inventur überaus wichtig, von dieser Genesis einen dezidiert historischen Begriff zu gewinnen. Noch immer geht von den »Vollendern« des Institutionellen Revolutionsmarxismus die nachhaltig wirksame Suggestion aus, die Geschichte der Marxismen, die man weithin als die »des Marxismus« wahrnimmt, sei eine »Entwicklung«, also die sukzessive und folgerichtige Entfaltung einer in den Marxschen Anfängen beschlossen liegenden geistig-praktischen Potenz gewesen. Es ist darum nicht müßig, ihre Genealogie von den Marx-Engelsschen Anfängen über die Marxismen der II. Internationale in den Marxismus Lenins und die Leninismen bis zum Aufstieg und Niedergang des groß-institutionellen Sowjetmarxismus, den man kurz den »Stalinismus« genannt hat, in ihren wechselnden Profilbildungen und in ihrem sich wandelnden geschichtlichen Situationsbezug zu analysieren. Die wichtigsten Aufschlüsse über die Marx-Marxismus-Geschichte dürften wir gewinnen, wenn wir ihre philosophische Quintessenz in den anfänglich angesetzten geistig-praktischen Koordinaten erfassen. In den Anfängen, wie uneinheitlich diese sich auch darstellen mögen, wird gerade an ihren charakteristischen Wandlungen (oder, mit dem Kantischen Ausdruck: »Umkippungen«) eine übergreifende Sinn-Einheitlichkeit des geistig-praktischen Charakters deutlich, die im weiteren Fortgang – beginnend schon bei den Stammvätern – immer mehr verlorengegangen ist.

Das philosophische Wort am Anfang

Als ich in den 70er Jahren einmal den Auftrag erhielt, das philosophische Denken von Karl Marx an einem enzyklopädischen Stichwort festzumachen, widersprach ich sogleich der Erwartung, dies könnte auf der Leitlinie der Marxschen Aufstellungen über die »menschliche Entfremdung« und ihre Aufhebung geschehen. Meine Signatur sollte vielmehr lauten: »Karl Marx: Die Wendung der Philosophie zur Praxis«.[4] Damit ist keine theoretische Intuition und keine praktische Intention benannt, sondern eine Erweiterung des Terrains und damit der Optik der Feldwahrnehmung. Bei den zwei Jungphilosophen, die nun keine Philosophen mehr sein wollten, hat die Erweiterung des Bezugsfeldes ihren Ausdruck dann auch in einem Theorem gefunden, das zugleich mehr als nur ein Theorem war: »Das Bewußtsein kann nie etwas andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.« So steht es im kardinalen Selbstverständigungs-Text, der aus einem brainstorming von Karl Marx und Friedrich Engels hervorgegangen ist, den Manuskripten von 1845/46 zur Kritik der »Deutschen Ideologie«.[5]

Wir haben es hier fraglos mit einer eminent philosophischen Aussage zu tun, doch nicht mit einem theoretischen Satz, der einen gegenständlich aufgefaßten Sachverhalt expliziert. Die Aussage bezieht sich intern-reflexiv auf einen Verbund von Akten und Aktcharakteren der »Subjekte« im Vollzug ihres »Lebensprozesses«. Und der Satz selbst verweist auf die ambivalente Möglichkeit, daß die betreffenden Subjekte die genannten Aktcharaktere von »Sein« (Lebendig-Tätigsein) und von »Bewußtsein« (ein Wissen haben) entweder in einer essentiellen »Tateinheit« wahrnehmen und denken können, oder aber sie je für sich (»abstrakt«) als getrennte oder trennbare Instanzen zu fixieren – so wie dies in einer arbeits- oder phasenteiligen Besonderung von Arbeitsschritten und Denkoperationen erfahrbar wird und in der »Abstraktion des Bewußtseins« festgehalten ist. So können Denken und Handeln, »die Theorie« und »die Praxis« je gesondert korporiert auftreten. Ein Praxisdenken im Banne der »Bewußtseinsabstraktion« heißt von nun an »ideologisch«.

Die »erste Voraussetzung« ist »natürlich die Existenz lebendiger Individuen«.[6]Aus gegebenem Anlaß – im Gegenzug zu der habituellen Abstraktion der »Gedankenkrämer« – sind »Mensch« und »Gesellschaft« so nachdrücklich als Gesellschaft der Individuen gedacht, daß an einer Textstelle auf 15 Zeilen elf Mal das Wort »Individuen« angeschrieben ist.[7] Die Individuen, heißt es in der »Deutschen Ideologie« anderswo, »gehen immer von sich aus«, so wie sie »wirklich« sind – und, je nach dem: als »persönliche Individuen«[8] oder als »Durchschnittsindividuen«[9] entweder mehr aus ihrer eigenen Spontaneität oder mehr zufällig-bedingt existieren. So sind auch die beiden Nach- und Vordenker von sich in ihrer spezifischen Seinsweise »ausgegangen«, nicht von Feuerbach und Hegel. (Erst die Durchschnitts-Marxisten sind in ihrer »bedingten« Seinsweise habituell »vom Marxismus ausgegangen«, von einem, für den sie gerade »weit genug« waren ...)

Und aus ihrer Seinsweise haben die Vordenker darüber befunden und sich darüber verständigt, mit welcher anderen Seinsweise sie sich positiv vergesellschaften können und mit welcher anderen nicht. Was über die »Selbstverständigung« in einen weiteren gesellschaftlichen Umkreis hinausreicht, wird zum Sujet einer damit korrelierenden »Rechenschaftslegung«. Beides, Selbstverständigung und Rechenschaftslegung, sind theoretische Akte in einem persönlich-gesellschaftlich praktischen Verbund, der sich um ein persönliches Kennen und Kennenlernen herum in einem kommunikativen Prozeß anreichert und ausweitet.

In einem weiteren Umfeld treten an die Stelle von Noch-nicht-Erfahrenem notgedrungen projektive Vermutungen hinsichtlich dessen, was man im Felde der relevanten Anderen den einen und den anderen zutraut. In etwa dieser Weise (und beim weiteren Eindringen genauer) kann man gedanklich nachvollziehen, wie die Explorationen, die Marx 1841/44 in seinem Briefwechsel mit A. Ruge bis zum »Kommunistischen Manifest« von 1847/48 betrieb, in ein lebenspraktisches »Verhältnis« mit dem sich formierenden Ensemble von Fabrikarbeitern eingetreten sind, die nach ihrer soziale Emanzipation strebten. Nicht wenige der schriftlich festgehaltenen Äußerungen jener Zeit fügen sich in den hier skizzierten Deutungsrahmen ein, manche nicht. Es war insgesamt ja ein reichlich ungesicherter, riskanter Vorgang, in dem immer wieder Projektionen eine fehlende Kenntnis und Urteilssicherheit substituieren mußten. Und zusammen mit hinzugewonnenen Erfahrungs-Sicherheiten konnten auch die Unsicherheiten zunehmen.[10]

Ein Charakterzug war beim Individuum und Gesellschafter Marx von Anfang an präjudierend für die Art der positiven Assoziierungen mit denen, die er dafür vor Augen oder in Aussicht hatte: ein von Grund auf republikanischer, nicht dominatorischer Modus. Noch in der Phase seines bürgerlichen Republikanismus, in der Ruge-Korrespondenz[11], wird die – nicht »machbare« – Generalprämisse sichtbar, daß auf dem praktischen Feld aus eigenem Antrieb und Vermögen hinreichend potente Bildungselemente einer republikanischen Öffentlichkeit zusammenkommen. Diese Erwartung überträgt Marx dann auf das Metier der Industriearbeiter. Dafür steht die dritte Feuerbachthese mit ihrer Absage an das Schlüsselamt eines »Erziehers«: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert [werden] und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile, von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.«[12]

Was für die Person des Erziehers gilt, das gilt ebenso für die Institution »Theorie«. Marx glaubte schon 1847 auf eine Anfangszeit der Arbeiterbewegung zurückblicken zu können, in der das Proletariat »noch nicht genügend entwickelt« war, sich »als Klasse zu konstituieren« und seinen Kampf schon politisch zu führen. Die Theoretiker der Klasse waren noch »Utopisten, die ... Systeme ausdenken und nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen«. »Aber in dem Maße, wie ... der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. ... Von dem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.«[13]

In der achten Feuerbachthese findet sich die Formel für die unio practica eines Handlungsbewußtseins, das sich auf einer höchsten Stufe des Einklangs mit einer progressiven »wirklichen Bewegung« befindet: Es ist ein von der Qualität der Praxis ermöglichtes und in sie eingelagertes »Begreifen der Praxis«.[14]

Kategorial durchgebildet haben Marx und Engels ihre Heuristik autochthoner Aktivierungen von Klassenkontingenten. Dabei rekurrierten sie namentlich auf die vitalen Produktivkraft-Potenzen, die solche Gesellschaftsteile gegen ihre Subordination unter herrschende Klassen aufzubieten haben. Ihr Kalkül mit der Produktivkraft-Potenz der Industrie-Handarbeiter blieb allerdings schon bei der ersten Gedankenprobe defizitär.[15] In seiner Studie[16] hat Wolfgang Schieder gezeigt, wie sich Marx in den enger gesetzten Maßgrenzen der »wirklichen Bewegung«, von der er (ab 1864) als Mitglied des Generalrates der Internationalen Arbeiter-Assoziation noch nahezu zwei Jahrzehnte miterlebt hat, in seinem temperiert-didaktischen Modus gewirkt hat.

Was läßt sich nach diesen (und anderen) Sondierungen im Marx-Engelsschen Praxisdenken über dessen Theoriecharakter sagen? Wie sehr es auch als Praxisdenken auf Zukünftiges bezogen ist, so bildet dieses doch nicht, als Zielbestimmung und Norm, den Angelpunkt für die Orientierung im Praktischen. Als so etwas gilt namentlich auch der »Kommunismus« nicht: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.«[17] Der Handlungsraum, der hier vor allem herkunfts- und gegenwartsbezogen gedacht ist, stellt sich dar als ein Erwartungshorizont, der sich tentativ in Prospekten erschließt und nicht eigentlich durch ein Programm definiert ist. Dabei versteht es sich, daß auch Erwartungen übermäßig sein können. Als ein Schlußwort können wir das Ceterum censeo nehmen, mit dem Marx nach dem aktivistischen Himmelssturm der Pariser Kommunarden die maßgebende Variable für alle geschichtlichen Prospektionen zu Protokoll gegeben hat: »Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigne ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente einer neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.«[18]

»Die Philosophie hat sich verweltlicht« – so hatte Marx schon 1843 im letzten Stück der Ruge-Korrespondenz das Fazit seiner eigenen Wendung von der Philosophie zur Praxis deklariert. Sein philosophisches Denken hat in diesem Übergang durchaus nicht aufgehört, philosophisch (»reflexiv« sich seine Voraussetzungen bewußt machend) zu sein; aber es hatte aufgehört, eine besonders systematisierte und korporierte Philosophie zu sein, wenngleich es ihr im engeren Bezirk des praxisbegleitenden reflexiven Begreifens einer geschichtlichen Praxis keineswegs an disziplinärer Systematik und Strenge fehlte. Der in jenen Anfängen angesetzte Radius an prospektiver Potenz ging über die reflexions- und kommunikationsanalytische Reichweite vorausgegangener, gleichzeitiger und nachfolgender, namentlich auch marxistischer Philosophien weit hinaus. Doch kam es nicht von ungefähr, daß der hier nachgezeichnete Torso (schon bei dem vergleichsweise »philosophischeren« Marx) weder in der Praxis noch in der theoretischen Elaboration eine reichere Entfaltung gefunden hat. Wie sein jüngerer Zeitgenosse Friedrich Nietzsche war auch Karl Marx ein »Unzeitgemäßer« – es ist hier nicht nötig, das multiplexe Dementi der »wirklichen« Geschichte aufzunehmen. Der stoische Rückzug auf eine »organisch« mögliche Praxis im Zuge der fortschreitenden Potenzierung der modernen zivilisatorischen Produktivkraft hatte etwas Resignatives und zugleich Vertröstendes.

Die »Bourgeoisgesellschaft« war nicht am »Zusammenbrechen«, sondern in einem grandiosen imperialen Aufbruch begriffen. Der Marxsche Erwartungshorizont hat sich zwischen 1871 und 1914 definitiv geschlossen. Was einen Niedergang bis an den Rand des Zusammenbruchs erlebte, waren die Pflanzstätten einer zivilen Republik in der »modern-bürgerlichen Gesellschaft«.

Der »Marxismus«, dessen erste Regungen Marx noch mit einiger Irritation bemerkte, war in seinen weiterreichenden Intentionen ein Anarbeiten gegen den Strom einer fatalen gesellschaftlichen Regression. Und er partizipierte auf seine Weise an dieser, unter anderem auch in seinem neuerlichen und mehrfachen »Philosophisch«-Werden. Schon die Marxsche »Spätphilosophie«, die man aus dem Umkreis des »Kapital«-Opus herauslesen konnte, war zusammen mit ihren Engelsschen (und Kautskyanischen Parallelen) ein Rückfall in überholte Philosophien. Ein Zeichen von geistig-kultureller Regression war es bereits, daß sich die Philosophie nunmehr als »Weltanschauung« formierte. Auch die kantianisierenden Repliken auf den neuerlichen Naturalismus und Objektivismus konnten keine Rettung sein.

Wechsel der Wegzeichen

Welche ideologischen Transformationen von Marx in die Marxismen geführt haben, ist hier ebenfalls nicht ausführlicher zu rekapitulieren.[19] Zu sondieren ist im folgenden die eine, sich im Zeichen der Philosophie vollziehende ideologische Transformation, die der west-mitteleuropäische, der russische und sowjetische Marxismus in ihrer dramatischen Geschichte durchgemacht haben. Zuletzt hat die Philosophie im Sowjetmarxismus eine Prominenz und eine institutionelle Ausweitung erhalten wie in keinem der anderen Marxismen des 20. Jahrhunderts. Daß ihre Betriebsamkeit und Betriebsgröße im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Fruchtbarkeit stand, davon war eingangs schon die Rede.

Die primären Koordinaten der Marxismusgeschichte verlaufen allerdings nicht in der philosophischen Weltanschauung oder Ideologie, sondern im praktischgeschichtlichen Prozeß der Arbeiter-Emanzipationsbewegung im 19. und 20.

Jahrhundert. Es ist also zuerst zu fragen, welche Zeichen der Zeit für einen Phasenwechsel in dieser Geschichte maßgebend gewesen sind. Ihre Topographie läßt sich vielleicht auf diese lexikalische Kurzformel bringen:

Das Denken von Marx und die Sequenz der Marxismen sind das Protokoll und zugleich der Prospekt einer Krise der modern-bürgerlichen (und »kapitalistischen«) europäischen Gesellschaft des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die Bewegung des Marxismus war auf eine zunehmend prekäre Weise selber vom Fortgang dieser Krise miterfaßt. In der Marxschen und marxistischen Sicht erschien die Krise (a) als eine finale Krise der kapitalistischen Produktionsweise, (b) als eine Sozialkrise jener Klassengliederung, die sich im Antagonismus von Kapitalisten (Bourgeois) und Lohnarbeitern (Proletariat) konzentriert. Es knüpft sich daran (c) die Erwartung, die Krise werde ihre Austragung in einem Kampf dieser beiden Klassen und (d) in einer Revolution des Proletariats ihre Auflösung finden.

Diese »Marx-Perspektive« nahm die doktrinal-konfessionelle Gestalt des »Marxismus« an, als sie zunehmend fraglich wurde und sich zeigte, daß (a) die »Bourgeoisgesellschaft« mit ihrer kapitalistischen Produktionsweise nicht im Niedergang begriffen war, sondern, nur von episodischen Krisenstörungen begleitet, (b) ihre ökonomische Kraftentfaltung weiter potenzierte, jedoch (c) im Verbund mit einer politischen Bewegung, die auf eine Potenzierung nationalstaatlicher, zumal militärischer Macht zwischen den Staaten gerichtet war und so (d) das kriegerische Zeitalter eines modernen Imperialismus heraufführte. Das war sichtlich nicht die Krise, der Marx entgegengesehen hatte und für die ihm eine produktive Auflösung vorschwebte: nicht eine Begrenzungskrise der kapitalistischen Produktionsweise, sondern umgekehrt eine Entgrenzungskrise, eine Krise der maßlosen national-imperialen Übermobilisation, in die Europas Gesellschaft und Staatenwelt stürzte, als sie in die Ära des Hochindustrialismus eintrat.[20]

Die Marxismen, die auf die Krise reagierten, waren sehr wenig dazu disponiert, sie auch analytisch zu diagnostizieren und sich geistig-praktisch auf sie einzustimmen. Sie verharrten entweder – mit weit zurückgenommenen Feldzeichen – im sozialreformerischen Erwartungshorizont des ausgehenden 19. Jahrhunderts, also in der Engelsschen Perspektive von 1895[21], oder sie traten im Ausgang des Weltkriegs in einer ebenso desperaten wie verführerischen Rand-Konstellation der europäischen Staatenwelt die »Flucht nach vorn« an, in eine imperiale Sozialrevolution, die viele Züge einer sozialkulturellen Regression trug – die einer Revolution, die aus der Kälte kam und einem kalten Kalkül folgte. Was zuerst ein schmerzlicher Mangel war, die geringe gesellschaftlich-formative Spontaneität der industriellen Arbeiterklasse, wurde im Marxismus des 20. Jahrhunderts jenseits des Marxschen Erwartungshorizonts zum emphatisch bejahten Prinzip. Der russische Marxismus war eine Ideologie der »Schüler«[22], von denen die unbedenklichsten sich zu selbstgewissen Lehrmeistern für einen revolutionierten Volksteil aufschwangen.

Schon im nachmarxschen westlichen »Ur-Marxismus« ist das Marxsche Erbteil zur »Lehre«, zur Doktrin geronnen. Damit war eine entscheidende Umkehrung der geistig-praktischen Optik vollführt: in den Zuordnungen von Bewußtsein und Sein, Materie und Leben, Theorie und Praxis, Interesse und Gesetzmäßigkeit, Spontaneität und Rezeptivität, Führungsinitiative und Massenbewegung. Mit der Institutionalisierung der Doktrin war eine höhere Ebene etabliert, in deren »Licht« der soziale Lebensprozeß als eine gesetzmäßig-notwendige »Entwicklung« ein anderes Aussehen und kraft ihrer ideativen Abstraktionen eine röntgen-artige Transparenz bekam. Es konnten Schriften mit Titeln wie »Die Erziehung der Massen zum Marxismus« erscheinen.[23]

An die Stelle einer »Sprache des wirklichen Lebens« ist im Marxismus der Epigonen aufs neue eine Sprache der Ideen getreten. Was nun als »die Theorie« figurierte, hatte einen Zug in die kosmische Weite: Sie blieb nicht »zentrisch« dem »Begreifen der Praxis« attachiert, sondern wurde als Weltanschauung einem allumgreifenden Ganzen eingegliedert und dessen Ordnungen subsumiert. Eben damit gewann die wieder zur Ideologie gewordene »Theorie« einen Zug in die Höhe: Die Begriffe über Gesellschaft und Geschichte, Mensch und Welt sine natura mußten, um Ihre Ganzheiten umfassen zu können, in der Stufenordnung der Abstraktion nach oben steigen. Im »Materialismus«, zu dessen Adoption Marx sich nach anfänglichem Zögern in einer neuen Lesart bereit gefunden hatte,[24] wurde »Materie« zum Titel für das Eine und Ganze. Engels entwarf in der Einleitung zu seiner »Dialektik der Natur« eine Breitband-Skizze des kosmischen Kreislaufs, den die Materie in ewiger Wiederkehr durchläuft.[25]

 

Wechsel des Terrains: An den Rand einer vordringenden Eiswüste

Am Anfang war der Feuersturm des Weltkriegs. Zu seiner Vorgeschichte gehörte bereits der Russisch-Japanische Imperialkrieg von 1904/05, der im besiegten Rußland eine erste Sozialrevolution auslöste. Der russische Marxismus, größtenteils in westlichen Emigrationsländern entwickelt, hatte anfangs verständlicherweise ein recht philosophisches Gepräge. Sein »Vater« Georgji Plechanow veröffentlichte 1896 in deutscher Sprache die Beiträge zur Geschichte des Materialismus auf der genealogischen Linie von Holbach, Helvetius und Marx. Als der revolutionäre Aufbruch von 1905 niedergeworfen war, wurden die theoretischen Grundlagendebatten unter den russischen Marxisten geradezu in einer exzessiven Weise philosophisch. Ein in ihrem Milieu wirkender Geheimagent des Zaren namens Azef äußerte, wie sich ein Beteiligter höchst erstaunt erinnerte, daß diese Revolutionäre mit aller Leidenschaft über ganz abstrakte Streitfragen der Erkenntnistheorie diskutierten. Ein herausragendes Dokument dieses Streits war Lenins 1909 erschienenes Buch Materialismus und Empiriokritizismus, das zum Grundbuch des nachmaligen philosophischen Leninismus wurde. In den Jahren des Weltkriegs entstand aus Lenins Hegel-Studien ein Konvolut von »Philosophischen Heften«, deren Hauptanliegen die Neufassung einer marxistisch-philosophischen Dialektik war. Nach seiner Revolution fertigte Lenin der sich nun formierenden Sowjetphilosophie 1922 die Geburtsurkunde aus, einen Artikel »Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus«. Schon die historische Chronologie dieser Arbeitseinsätze läßt erkennen, daß diese keine Meilenstiefelschritte einer geistigpraktischen Progression waren, sondern Ausgeburten einer zeitweiligen Apraxia.

Erst recht war die Etablierung einer sowjetischen Schulphilosophie nach den politischen Fraktionskämpfen der 20er Jahre die institutionelle Ratifizierung einer ganzen Epoche der ideologischen Regression. Diese Geschichte ist oft genug nachgezeichnet und kritisch bilanziert worden. Ich möchte hier nur etwas aus ihrem Vorfeld aufnehmen. Es ist eine Fragment gebliebene Betrachtung, die der bereits nach Kasachstan exilierte Leo Trotzki 1928 »Zur Philosophie der Bürokratie« angestellt hat.[26] Das war kurz bevor die Stalinfraktion nach ihrem Sieg über die letzte Oppositionsrichtung daranging, auch in der Philosophie den (hier anders gelagerten) Richtungsstreit auf eine autoritative »Generallinie« hin ebenso autoritativ zu beenden. In diesem Text von 20 Seiten bietet Trotzki wohl eine kritische philosophische Potenz im sowjetischen Marxismus auf, man sieht auch deren Grenzen. Es dauerte dann noch zwanzig Jahre einer extensiven Kaderbildung an der Front der philosophischen Arbeiter, bis Stalin 1938 mit seinem Kleinem philosophischen Katechismus Über dialektischen und historischen Materialismus auch in der Philosophie die Alleinführung übernahm.

 Seit kurzem liegt das Textfragment des Stalin-Antipoden nun auch in deutscher Sprache vor. Es ist zwar um mehrere thematische Stellen ärmer, und an diesen Stellen wirkt es recht schwach und unsouverän. Doch ist es gegenüber dem mainstream der sowjetischen Philosophie um eine wichtige theoretische Dimension reicher. Schon die Überschrift zeigt an, daß es sich hier um eine gesellschaftsgeschichtliche Orts- und Funktionsbestimmung handelt, und zwar eine, die einen ideologiekritischen Kontrapunkt zu der schein-soziologischen Selbstverortung der herrschenden Partei und zu den scheinhaften politischen Ableitungen aus dem Stalinschen Kanon bildet. Während sie sich ideologisch als die »Weltanschauung der Arbeiterklasse« deklarierte, haben wir es hier im Klartext, daß es sich um eine Philosophie der Bürokratie handelt. Wir werden allerdings sehen, daß in dieser soziologischen Zuordnung etwas genealogisch Wichtiges fehlt, wenn man über der verselbständigten Verwaltungsorganisaton der Sowjetbürokratie nicht auch ihren Ursprung in einer Politokratie in Ansatz bringt, die aus den Anomalien einer hypertroph politischen Revolution erwachsen ist, und den philosophischbegrifflichen Symbolisierungen dieses Ursprungs nachgeht.

Beginnen wir mit den Aktiva von Trotzkis Entwurf. Am Anfang steht der Entschluß, soziologische Kategorisierungen an die Stelle der ideologischprogrammatischen treten zu lassen, namentlich jene Mystifikation der »Arbeiterklasse und ihrer Partei« aufzulösen. Trotzki kommt nach einem kurzen Blick auf die Bürokratien, die früheren Herrschaftsklassen der Neuzeit attachiert gewesen sind, sogleich auf den Fall einer »Arbeiterbürokratie« zu sprechen, mit der er sich konfrontiert sah und die sowohl einen eigenen Habitus als auch eigene Interessen ausgebildet hat, und entsprechend auch eine eigene Mentalität. »Auch für die Arbeiterbürokratie trifft [die] allgemeine Charakteristik der leitenden, verwaltenden und schon dadurch privilegierten gesellschaftlichen Gruppierung zu. Die gesellschaftliche Funktion der Bürokratie und ihre Quelle ist das Administrieren; die Methoden und der Habitus des Verwaltens prägen unweigerlich in starkem Maße das gesamte Denken der Bürokratie.« Wichtig auch dieser weiterführende Ausschluß: In einer vom Marxismus geprägten Gedankenwelt äußert sich die besondere Mentalität auch in einer besonderen Philosophie. (120) – Im Lichte solch einer soziologischen Aufgeklärtheit wird man allerdings einen Blick auch auf den gesellschaftlich-praktischen Ort und Habitus des Theoretikers Trotzki zurücklenken.

Auf eines der neuralgischen Probleme, das ihn schon in seiner Bildungsphase beschäftigt und ihm Unbehagen bereitet hat, richtet Trotzki sein besonderes Augenmerk, und er findet hier ein Nest der bürokratischen Regression im Felde der philophischen Begrifflichkeit: In der »Faktoren«-Theorie von den Organfunktionen, die im gesellschaftlichen Lebensprozeß zusammenwirken und auseinandertreten können: »Ökonomie, Politik, Recht, Moral, Wissenschaft, Religion usw.« (122) Das war in der Marx-Engelsschen Kritik der »deutschen Ideologie« ein Hauptthema der »materialistischen Geschichtsauffassung«, und deren systematische Auslegung war schon bei den Vordenkern mit Schwierigkeiten verbunden, erst recht bei den Epigonen. Die Grundlinien einer materialistischen Geschichtsauffassung zu einem System des Historischen Materialismus fortzubilden war ein theoriegeschichtliches Verwirrspiel, aus dem (wie wir sehen werden) auch ein Trotzki nicht recht herausgefunden hat.

Er war 1898/99 bei der Lektüre von A. Labriola auf dieses Theorie-Erbteil gestoßen: »Mit der Theorie der vielfältigen Faktoren, die den Olymp der Geschichte bevölkern und von dort aus unsere Schicksale lenken, rechnete Labriola glänzend ab.« (123 Anm.) Dieses Akquisit konnte Trotzki nunmehr reaktivieren: »Das für die Bürokratie passende System ist die Theorie der Faktoren. Diese Theorie breitet sich natürlich auf einer breiten Basis aus – im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. ... Ein geschlossenes System der Faktoren, in dem die menschliche Gesellschaft und die ganze Welt als Produkt der Wechselwirkungen administrativer Instanzen, verschiedener Faktoren oder administrativer Kräfte erscheint, deren jeder ein besonderes Verwaltungs- (oder Leitungs-) Ressort zugewiesen wird – ein solches System konnte nur im Rahmen einer bürokratischen Hierarchie, die sich mit ihren Ministerien und Departements über die Gesellschaft erhebt, als Krone der Schöpfung gelten.« Und es mußte nicht nur als eine systemische Konsequenz erscheinen, es lag 1928 auch »in der Luft«, daß dieses System seine reale Krönung in einer Autokratie findet. (121) Als theoriegeschichtliches Fazit hält Trotzki fest: »Der Marxismus ist von der Theorie der Faktoren zum historischen Monismus gelangt. Der Prozeß, den wir jetzt betrachten, ist ein regressiver Rückfall vom Marxismus auf eine metaphysische Oligarchie von Faktoren.« (123)[27] Rundweg zu verwerfen sei die Rede von »Faktoren« nicht, wenn sie nur als Hilfsmittel für Klassifikationen dienen. Im bornierten bürokratischen Horizont begründet die Theorie der Faktoren jedoch eine »sehr verbreitete Spielart des abstrakten Idealismus«. (122)[28]

In einer Auseinandersetzung mit Stalinschen Exerzitien kommt Trotzki auf die generelle Frage nach der Essenz und den Essentialien des Marxismus. Diesen will er in einer ungebrochenen aktuellen (geschichtlichen, nicht ewigen[29]) Positivität hochhalten. Indessen hatte er es aktuell mit einem Marxismus zu tun, der nach Lenins Tod immer nachdrücklicher als Leninismus angerufen und vom vorausgegangenen (»vorrevolutionären«) Marxismus abgehoben wurde. In diesen »Stalinschen Mikrokosmos« (124) sollten wir hier nicht weiter eindringen, auch nicht in die Diskussion einer 1928 neu aufgelegten Konkordanzformel wie dieser: »Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Genauer: Der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im besonderen.« (127) Bei aller Positivität, in der Trotzki dem Prozeß der Sowjetrevolution und der Figur Lenins verbunden gewesen ist, war es für ihn doch eine ideologische Perversion, einen eigenen Leninismus zu kodifizieren. Im übrigen werde auch der »Marxismus« einer anderen Gedankenformation Platz machen, wenn die Zeit erfüllt ist und die »Überwindung des Marxismus« zugleich sein »höchster Triumph« sein wird. (131)

»Der Marxismus ist selbst ein historisches Produkt. Und dieser historische Marxismus hat drei grundlegende Bestandteile: die materialistische Dialektik, den historischen Materialismus und das theoretisch-kritische System der kapitalistischen Ökonomie. Wir meinen diese drei Elemente, wenn wir vom Marxismus sprechen, zumindest wenn wir uns rechtmäßig auf ihn berufen.« (131) Auf 15 Textseiten skizziert Trotzki einen Abriß seines philosophischen Grundverständnisses dessen, was Marxismus für ihn ist. Es ist ein unredigierter Text, den man nicht unbedingt nach Kriterien des theoretisch-thematischen Gewichts zu taxieren hat. Die Verhandlung darüber, »was denn Marxismus ist«, erfolgt in den genannten drei Segmenten und geht dann in einen offenen Diskurs über, der mehr auf des Verhältnis von Marxismus und Leninismus zielt.

Nicht von ungefähr beginnt Trotzki in jener philosophisch-essentiellen Höhenlage, in der sich die Frage aufdrängen kann, ob man da nicht auf das Eis eines Gletscherfeldes rund um einen eisigen Gipfel geraten ist und diesen auch sofort besteigen soll. »Da ist erstens die dialektische Methode«. (127) Eine einfache Wortverbindung steht hier für einen Wust von kontroversen Sinnbestimmungen. Es war ja elend wenig, was die ersten zwei Generationen philosophierender Marxisten den Marx-Engelsschen Andeutungen über ihr Hegelisch-dialektisches Erbteil abzugewinnen vermochten.[30] Was als genügend allgemeingültig zu behaupten ist, das ist auch schon wieder trivial – wie »der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen«. Wird man mehr spezifisch und faßt die Dialektik als einen Kodex universeller Bewegungsgesetze, so wird es absurd. Wie in seinen lichteren Momenten schon Engels, sieht Trotzki ein Zentrum dialektischer Charaktere in Prozessen der menschlichen Erkenntnis und setzt dafür das ungefüge Wort »Methode«, das zehn Jahre später auch Stalin an den Anfang seiner Kodifikation gesetzt hat. Doch dann ist er wieder im alten Trott, wenn er von Hegel sagt: »Aber er hatte recht, wenn er davon ausging, daß die Dialektik alle Prozesse des Weltalls, die menschliche Gesellschaft eingeschlossen, durchherrsche«, und zu diesem Schlußprotokoll ansetzt: »Indem Marx sich auf die gesamte vorherige materialistische Philosophie und auf den bewußtlosen Materialismus der Naturwissenschaften stützte, führte er die Dialektik aus der unfruchtbaren Wüste des Idealismus heraus und wandte ihr Gesicht der Materie, ihrer Mutter, zu.« (127)

Die Genealogie des Marxschen Neu-Materialismus ist damit reichlich verfremdend zurechtgeschoben. Als Marx diese Geschichte einmal rekapitulierte, befand er, daß der Materialismus bei Hobbes »menschenfeindlich« geworden sei, während eine Richtung des französischen Materialismus in den Humanismus, Sozialismus und Kommunismus eingemündet sei.[31] Es hätte im Sowjetrußland von 1928 durchaus allen Grund gegeben, sich zu fragen, ob ein Materialismus der Weltenmutter Materie im Verbund mit einer Dialektik, die als Weltprozeßordnung amtiert, weniger »menschenfeindlich« herauskommt als der eines Hobbes?

»Der zweitwichtigste Bestandteil des Marxismus«, fährt Trotzki fort, »ist der historische Materialismus, d. h. die Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Struktur der menschlichen Gesellschaft und ihre historische Entwicklung«. (127 f.) Mit dieser Rezitation einer Leninschen Formel, die danach Stalin kanonisiert hat, ist abermals die historische Genealogie durcheinandergebracht und ein Weg in die Enge angetreten. Bei Marx war die materialistische Geschichtsbetrachtung mit ihrer »ersten Voraussetzung« völlig autark auf eine ursprüngliche menschliche Wirklichkeitswahrnehmung gegründet, nicht derivativ von etwas Vorgeordnetem hergeleitet, das man gar noch aus einem Studium der materialistischen Philosophen hätte gewinnen müssen. Wer im Blick hat, wie Trotzki acht Jahre später die Stalinsche Sowjetgesellschaft seziert hat, wird überhaupt befremdet sein von der subalternen Manier, in der er in der Skizze von 1928 die Formelwelt der heraufkommenden Sowjetscholastik sekundiert. Der ursprüngliche Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung – im ersten Abschnitt war davon die Rede – ist bei den sowjetischen Epigonen verloren gegangen. Das Votum von Trotzki ist quantitativ wie thematisch enttäuschend.

Von den knapp 25 Zeilen für die geschichtstheoretische Disziplin verwendet Trotzki mehr als die Hälfte darauf, die Nachbarschaftsbeziehung des historischen Materialismus zum Darwinismus zu kommentieren. Ersterem komme vorerst die größere »praktische Bedeutung« zu, weil er »der fortschrittlichen Klasse erstmals die Möglichkeit bietet, die Schicksalsfragen der Menschheit bewußt anzugehen«. »Erst der vollständige praktische Sieg des historischen Materialismus, d. h. die Errichtung ... der sozialistischen Gesellschaft, wird es möglich machen, Darwins Gesetze auf die menschliche Spezies selbst anzuwenden, um die im Menschen angelegten Widersprüche zu mildern und zu überwinden.« (128)

Hier rücken, wie man sieht, Belange einer geschichtlichen LangzeitProgrammatik in den Vordergrund. Es ist indessen schon eine Sinnverfehlung, überhaupt in dieser Blickrichtung dem Geschichtsmaterialismus eine »unmittelbar praktische Bedeutung« zuschreiben zu wollen, eine für die Orientierung in den praktischen Orientierungsfragen. Geschichtlich-praktische Perspektiven kommen nur aus unmittelbar praktischen Dispositiven und Prämissen. Die historischmaterialistische Reflexion hatte solche inner-praktischen Vermittlungen zu prüfen, mehr Klarheit über einige kardinale Grundverhältnisse des geschichtlichformativen Wirkens in Menschengesellschaften zu gewinnen. Insbesondere darüber, wie es nicht von den programmatischen Projektionen oder Ideen, sondern von den produktiven Kräften und den sozialen Potenzen der jeweiligen Menschen-Ensembles abhängt, wie sie sich von Fall zu Fall auf eine veränderte Weise vergesellschaften können.

Verordnen wir uns im Originalton eine längere Paraphrase, die uns zugleich in das »dritte Element« hineinführt. Auch hier versäumt es Trotzki nicht, das Marxsche Kapital als eine »Anwendung des historischen Materialismus« auf diesen historischen Wirtschaftsraum hin zu konkretisieren, »so wie der historische Materialismus insgesamt eine Anwendung der materialistischen Dialektik auf das Gebiet der menschlichen Geschichte ist«. Man sieht, wie groß die Entfernung bereits geworden ist, welche diese Epigonen von der geistig-praktischen Situationswahrnehmung eines Marx trennte. Das kommt dann so heraus: »Marx’ historisch-theoretische Ökonomie zeigt, wie die Entwicklung der Produktivkräfte auf einer bestimmten, exakt zu charakterisierenden Stufe bestimmte ökonomische Formen mit Hilfe von anderen zerstört, sie zeigt, wie die Anwendung neuer, höher entwickelter Produktivkräfte – die stets durch Menschen vermittelt wird – neue gesellschaftlich-rechtliche, politische und andere Normen schafft, in deren Rahmen sie ein für sie notwendiges Gleichgewicht finden. ... In großer Ausführlichkeit und Klarheit zeigt die Marxsche Untersuchung die Transmissionsriemen, Zahnräder und sonstigen Übertragungsmechanismen auf, die von den wirtschaftlichen Verhältnissen nach unten, zu den Produktivkräften und zur Natur selbst, zur Erdkruste führen, deren Produkt der Mensch ist, und nach oben, zu den sogenannten Überbau-Apparaten und ideologischen Formen, die von der Ökonomie zehren – Brot essen alle, und am liebsten mit Butter – und zugleich von ihr assimiliert werden, die für sie einen Rahmen schaffen, ihre Funktionen regulieren und ihr Wachstum beschleunigen oder verlangsamen.« (129 f.) Man kann über solchen Formulierungskünsten ganz vergessen, daß alle diese Transmissionsriemen, Zahnräder und andere Übertragungsmechanismen, die da von den »Verhältnissen« bis zu diversen »Überbau-Apparaten« übergreifen, zuerst und organisch als Koordinationen in den Lebensäußerungen lebendiger Individuen fungieren. In der Produktion ihres Lebens gehen die Menschen gemäß ihren Produktivkräften jene »Verhältnisse« ein, d. h. sie verhalten sich in verschiedenen Weisen aktiv bzw. rezeptiv zueinander.

Was dieses »dritte Element des Marxismus« angeht, sein »ökonomisches System«, meint Trotzki, es sei neben den beiden anderen »das einzige Gebiet, auf dem die historische Entwicklung nach Marx und Engels nicht nur neues Tatsachenmaterial, sondern auch einige qualitativ neue Formen hervorgebracht« habe, wie sie Hilferding, Hobson und Lenin in ihren Arbeiten besprochen haben. Doch wäre es Lenin »nie in den Sinn gekommen, daß seine vorzügliche Broschüre über den Imperialismus der theoretische Ausdruck des Leninismus als eines besonderen Marxismus der Epoche des Imperialismus sei«. (133 f.) Wenn man den Blick aber nicht so sehr auf ökonomische Organisationsformen der Finanzökonomie, sondern auf den mit dem Namen »Imperialismus« bezeichneten Epochencharakter richtet, also auf den einer Weltkriegsepoche im nachmarxschen Jahrhundert, dann sollte man den Rahmen für die historische Betrachtung sehr viel weiter und nicht nur ökonomie-theoretisch ansetzen. Trotzki richtet den Blick hingegen zu sehr auf die Gedankenwelt des Marxschen »Kapital«, die genau dort endet, wo die Affären der modernen Staatenwelt zu verhandeln gewesen wären. Aber er fragt in diesem Text mehr danach, was auf dem Weg von Marx zu Lenin in der theoretischen Axiomatik des Marxismus – in diesen drei Segmenten! – an Neuerung eingetreten oder fällig geworden sein könnte. Und unter diesem verengten Aspekt konnte er sich ganz »marxismus-konservativ« geben: Sein Fazit lautet: »Wenn wir demnach weder eine neue materialistische Dialektik, noch einen neuen historischen Materialismus, noch eine neue Werttheorie der ›Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution‹ finden, was könnte dann Stalins Charakterisierung des Leninismus ... bedeuten?« (134)

An dem Entwurf von 1928 fällt auf, wie sehr Trotzki hier um den Kult mit dem »Leninismus« kreist, den die Epigonen trieben und dessen sinistren Hintersinn er natürlich durchschaut hat. In seiner prekären Defensivposition sah er sich gleichwohl genötigt, mit der nötigen philologischen Sorgfalt darauf einzugehen, und das minderte den philosophisch-thematischen Anteil und die philosophische Dignität des Texts. Das Fällige hätte es ja sein können, in einer undoktrinären philosophischen Reflexion die politisch-geschichtliche »Praxisform« zu analysieren, die sich im nachrevolutionären Prozeß »unter dem Banner des Marxismus« (-Leninismus) herausgebildet hat und wie weit außerhalb des geschichtlichen Erwartungshorizonts man sich damit befindet. Es war eben doch triftig, sich Rechenschaft vom Novum eines sich jenseits von Marx bewegenden Marxismus der Weltkriegsepoche des 20. Jahrhunderts zu geben.

 Ungeachtet seiner prekären Situation ist diese Praxis als die Praxis einer dezidiert politischen (oder »politokratischen«) Revolution für Trotzki nicht zum Fokus eines höheren historisch-theoretischen Problembewußtseins geworden. Marxens geschichtsmaterialistische Formel für soziale Revolutionen als Aufbrüche einer gefesselten höheren Produktivkraft war auf andere Konstellationen als die russische von 1917 gemünzt. Es fällt auf, daß Trotzki nicht auf die Diskussionen über die Produktivkraft-Basis der Oktoberrevolution eingeht, auf die Lenin in seiner letzten Apologie[32] zu sprechen gekommen war: Ob Rußland schon reif für eine sozialistische Revolution gewesen sei.

Ebensowenig nimmt er darauf Bezug, daß die Wende zur materialistischen Geschichtsauffassung organisch mit der Kritik und Verabschiedung des bisher vorherrschenden ideologischen Praxisdenkens vereinigt ist. Darin bekundete sich eine allgemeine Schwäche seines Marxismus der höheren Absichten. Vieles spricht dafür daß Trotzki in seiner Opposition gegen Stalin als der Unterlegene und 1928 bereits Exilierte momentan auf die Position eines solchen Marxismus der höheren Absichten zurückgeworfen war. Acht Jahre später kam das analytische Hauptwerk heraus, das sich in seinem historischen Hautteil – nicht ebenso in den weitergehenden Perspektivbildungen – wieder auf der Höhe der materialistischen Heuristik geschichtlicher Prozesse bewegt. Sein Manuskript hatte Trotzki unter den analytisch schlichten Titel gesetzt: »Was ist die UdSSR und wohin geht sie?«[33] Die Verleger haben es unter dem moralistisch-kriminalistischen Titel »Die verratene Revolution« in die Welt geschickt. Es empfiehlt sich, den improvisierten frühen Text im Lichte des späteren aufzunehmen – mit einiger Nachsicht. Man konnte lesen, Trotzki habe in dem philosophischen (oder unphilosophischen) Richtungsstreit der 20er Jahre nicht dem »menschewisierenden Idealismus«, sondern der »mechanizistischen« Seite nahegestanden. Die eben angeführten Texte können für eine solche Zurechnung sprechen. Richtiger dürfte es aber sein, an derartige außerdisziplinäre Exerzitien – wie zuvor bei Lenin und Bucharin, dann bei Stalin – überhaupt nicht die Maßstäbe strenger theoretischer oder gar philosophischer Disziplinarität anzulegen. Trotzki selbst urteilte allerdings sehr streng und abschätzig über das von N. Bucharin verfaßte Kompendium einer Theorie des historischen Materialismus (1921).[34] Er sah darin nur eine »Scholastik« oder »Eklektik, die im Gewand des historischen Materialismus auftritt«. Er hätte daran sehr wohl (wie G. Lukács) eine mehr systematische Diskussion festmachen können. Ihn zog es jedoch überhaupt mehr in die Praxis seiner eigenen Historiographie, wie er nach dem Buch über die »Permanente Revolution« auch die Praxis der Revolution und des Sozialismus nicht zu einem theoretischen Lehrstück fortgebildet hat.

Schon recht früh ist das Phänomen einer heraufkommenden sowjetischen Bürokratie in das Blickfeld von Trotzki gerückt. In einer Vortragsdisposition von 1923/24 zum Thema »Bürokratismus und Revolution« schrieb er: »Die Auffassung, der Bürokratismus sei nur der Inbegriff schlechter Verwaltungsusancen, ist des Marxismus unwürdig. Der Bürokratismus ist eine gesellschaftliche Erscheinung, ein bestimmtes System der Verwaltung von Menschen und Sachen.«[35] Spätestens mit Trotzkis Exilierung war manifest geworden, mit einem wie repressiven System der politischen Herrschaftsgewalt man es da zu tun hatte.

Wenn Trotzki an der sich formierenden sowjetischen Offizial-Ideologie mit Recht einen bürokratischen Grundcharakter diagnostiziert, hätte er vielleicht noch mehr Grund (und Demonstrationsstoff) haben können, eine kritische Reflexion über die massive politokratische Überformung des Sowjetmarxismus aufzunehmen. In der Schematik der »Faktoren« spürte er den beschränkten Geist der Bürokratie. Auf einer übergeordneten Stufe der historisch-materialistischen Doktrin hätte er auf die philosophisch-ideologische Signatur der Politokratie stoßen können, die weit mehr noch als die Bürokratie den kardinalen Sozialcharakter der Sowjetrevolution ausmacht. Eine »soziale Revolution« ist sie durchaus gewesen, doch mit einer »politischen Seele«. »Die politische Seele einer Revolution«, hatte Marx 1844 im Blick auf die Französische von 1789 notiert, »besteht ... in der Tendenz der politisch einflußlosen Klassen, ihre Isolierung vom Staatswesen und von der Herrschaft aufzuheben. Ihr Standpunkt ist der des Staats, eines abstrakten Ganzen, das nur durch die Trennung vom wirklichen Leben besteht... Eine Revolution von politischer Seele organisiert daher auch, der beschränkten und zwiespältigen Natur dieser Seele gemäß, einen herrschenden Kreis in der Gesellschaft, auf Kosten der Gesellschaft.«[36] Wo und wie das Praxisdenken diese Fasson annimmt, haben Marx und Engels im ideologiekritischen Arbeitsgang eruiert: Es ist die Ausgeburt einer Rebellion gegen bestehende Verhältnisse, einer »auf keiner neuen revolutionären Produktivkraft beruhenden Rebellion gegen die auf den bestehenden Produktivkräften beruhenden herrschenden Verhältnisse«.[37] Die Marxsche historisch-materialistische Formel für die Essenz einer sozialen Revolution bleibt bei den russischen Revolutions-Marxisten deshalb im Schatten, weil die Oktoberrevolution aus einem Überhang an negativen Energien des Protests erwachsen war.

In welchen Eigenheiten der historisch-materialistischen Begriffsbildung sich der politokratische Habitus der Partei- und Sowjetbürokratie äußert, darauf richtet sich bei Trotzki wohl darum keine besondere Aufmerksamkeit, weil er selbst in diesen »Usancen« gefangen gewesen und befangen geblieben ist. Er hätte sonst überhaupt die herrschaftliche Essenz der herrschenden Scholastik unschwer orten können. Sie liegt noch nicht in der »Theorie der Faktoren« beschlossen, die ja ebenso in außermarxistischen Systemfunktionalismen zu Hause ist. Ihr logischer Ort ist die kausalistische Begrifflichkeit von Sein und Bewußtsein, die mit jener von »Basis und Überbau« zusammenfließt. Gesellschaftlich-konkret verbindet sie sich (wohlweislich) nur in der Außenrelation zu feindlichen Klassen, nicht aber für den Binnenbereich des werktätigen Volkes mit der Signatur von Herrschaftsgewalt. Diese erscheint zur politischen Führung gedeutet, aus der Fähigkeit zu einer höheren und höchsten Einsicht in die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung legitimiert und begründet eine unanfechtbare Autorität der Partei(-führer). Bekanntlich ist in dieser Welt ja auch die menschliche Freiheit generell ein Attribut der »Einsicht in die Notwendigkeit«.[38]

In der Sowjetphilosophie ist ferner das Bewußtsein (nach Lenin) allgemein als »Widerspiegelung« des Seins in ein kardinal rezeptives Verhältnis zu diesem gesetzt. Nur gelegentlich (in den Notizen seiner »Philosophischen Hefte«) kontrapunktiert Lenin diese Hypertrophie der Widerspieglung durch die ebenso hypertrophe Bestimmung, daß das Bewußtsein die Wirklichkeit »auch hervorbringt«.

In der Begrifflichkeit von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein[39] kommen die Attribute eines »Bestimmens« als ein aktives, kausatives Wirken in Ansatz. Das gesellschaftliche Bewußtsein ist als ein »Produkt« des gesellschaftlichen Seins charakterisiert. Doch es wirkt aktiv-bestimmend auf dieses zurück. Und in die benachbarte Kategorialität von »Basis und Überbau« transponiert: Der Überbau ist von der Basis hervorgebracht und »dient« ihr; aber als aktives Medium kann der Überbau auch dazu kommen, sich eine ihm entsprechende, von ihm bestimmte Basis zu schaffen. Die Dialektik ist ja auch die Kunst, alles irgendwie passend zu machen.

Hinzu kommt (seit der Kampagne gegen den »Luxemburgismus«) noch die sowjet-idiotische Umdeutung des Begriffs »Spontaneität«, die man kurzerhand – gegen alle Ethymologie – als den defizienten Gegen-Modus zur höheren Bewußtheit mißdeutet hat. Alles zusammen ist diese fintenreichen Scholastik eine Logik der Subalternität unter »objektive« Bestimmungsinstanzen.

Trotzki hatte allen Grund, die Grobianismen von Stalins Zuordnungen der Theorie zur Praxis als die »Philosophie der theoretischen Nachtrabpolitik« abzufertigen, »die der Praxis der Gegenwart hörig ist«, dem »Befehl des Sekretariats« (139). Doch seine eigenen Ausführungen über die höhere Souveränität »der Theorie« sind nicht frei von Fetischisierungen; so, wenn er schreibt: »Und erst die Epoche der historischen Katastrophen des kapitalistischen Systems hat die Möglichkeit eröffnet, die entscheidenden Schlußfolgerungen des Marxismus in die Tat umzusetzen. Sie hat den Menschen – nicht allen, bei weitem nicht allen – den Marxismus nähergebracht.« (130 f.)

Größte weltgeschichtliche Bedeutung bekam das Thema »Revolution und Bürokratie« für Trotzki, als Stalin es 1924 für möglich erklärte, den Sozialismus in einem »einzeln genommenen Lande« aufzubauen, also nicht nur im Verbund einer internationalen sozialistischen Revolution. Dahinter sah Trotzki nicht nur eine resignative Bereitschaft, sondern geradezu »das Bedürfnis, die Nabelschnur, die die Sowjetrepublik mit der internationalen Revolution verbindet, ... zu durchtrennen« (136). Dieser »national-sozialistischen Revision« des Marxschen Revolutionsprospekts entsprachen die verhängnisvollen Interventionen Stalins in auswärtige revolutionäre Krisen. Wenn Stalin damit die Niederlagen und ihre Folgen verschlimmert hat, so kann man ihm andererseits aber auch nicht vorhalten, er habe glänzende revolutionäre Siege vereitelt. Es war eine Fatalität der wirklichen Geschichte, die Weltrevolution als Illusion der Epoche zu dementieren.

Die Philosophie, hieß es bei Hegel, sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«. Hegel läßt sogleich durchblicken, daß sie dabei ebenso von ihrer Zeit erfaßt, also jedenfalls nicht über die Zeitlage erhaben, das souveräne Organ ihres erkennenden Erfassens ist. In eigener Sache kann unsereiner allenfalls hoffen, daß inmitten dessen, worin er in seinen Gedanken von seiner Zeit erfaßt ist und einige ihrer Züge repräsentiert, er auch einige Erkenntnisse eingeholt hat und weitergeben konnte. Im Fall Trotzki muß man den Anteil von Erkenntnisleistungen nicht als gering veranschlagen. Kein anderer unter den führenden Köpfen, Lenin inbegriffen, kommt ihm gleich. Im inneren Kreis der Sowjetrevolution ist Trotzki wohl der aufschlußreichste Zeitzeuge. Als Diagnostiker der Revolution, an der er so prominent mitwirkte, hat er hohe Meriten. Jedoch war die Revolution für ihn viel zu sehr das Medium einer Doktrin, als daß er sonderlich viel zu ihrer Theorie (oder theoretischen Historik) hätte beitragen können.

Nachtrag: Anmerkung zu Trotzki in seiner Geschichte

Die russischen Revolutionäre mystifizierten sich selbst zu Trägern eines theoretisch (oder vielmehr doktrinal) durchgebildeten revolutionären Bewußtseins und der darin vorgezeichneten epochalen »Aufgaben«. Keiner unter ihnen hat so viele reflexive Aufschlüsse über seinen Sozialcharakter gegeben wie Trotzki. Er war der Aristokrat der proletarischen Revolution. Während Lenin mehr dem Habitus des Dienst- und Amtsadels angelagert war, stand Trotzki dem Typus eines Landadligen mit kulturellen Neigungen nahe. Das Zusammengehen mit der Arbeiterbewegung konnte nicht von ungezwungener Natürlichkeit sein, sondern behielt etwas Distanziertes und Bemühtes, während das Einrücken des brillanten Publizisten in eine höchste militärische Kommandofunktion erstaunlich leicht gelang. So konnte er ganz in der traditionellen Weise hart gegen sich selbst und noch härter gegen andere sein. In seiner politischen Urteilskraft mochte er Rosa Luxemburg am nächsten verwandt sein, in seinem praktischen Sozialcharakter war er Antipode. An einer sozialistischen Sozialreligion kann man ihn nicht messen, wie man überhaupt die Russische Revolution nicht daran messen kann.

Die natürliche Sphäre wäre für Trotzki eine Art revolutionärer Adelsdemokratie gewesen, und zwar unter der Bedingung einer weitestgehenden Ebenbürtigkeit und Kongenialität der aktiv daran Beteiligten. Es signalisiert den soziokulturellen Notstand, das Elend der Aufsteiger-Revolution, daß schon die engste Führungsgruppe um Lenin und Trotzki mit recht inferioren, instabilen und zweifelhaften Personagen besetzt war. Trotzki hat ihre Profile, außer demjenigen Stalins besonders die von Sinowjew und Kamenjew (in seinen Kommentaren zu den Moskauer Prozessen), unerbittlich nachgezeichnet. Die multikulturelle Gruppendynamik der russischen revolutionären Bewegung, die das eigentliche Kerngeschehen bildete, auf allen Stufen der aktiven und mitgehenden Teilhabe zu analysieren, wird ein wichtiges Stück künftiger Revolutions-Historiographie sein. In der Verbindung mit einem Grundstock von Parteidemokratie und kooperativer Führung konnte Trotzki auch für eine hart repressive revolutionäre Diktatur einstehen. Von der terroristischen Despotie trennte ihn eine absolute, von seinem Personalund Sozialcharakter her unüberschreitbare Schranke. Die unhistorische Frage, ob er anstelle von Stalin ein anderes Regiment geführt hätte, ist gegenstandslos. Trotzki war nur in der »heroischen Periode« der Revolution möglich. Er wußte, daß er danach ein Unzeitgemäßer war, und das lähmte seine politisch-praktischen Energien, lenkte sie ins Theoretisch-Diagnostische zurück.

 

 


[1] Zuerst in der Philosophischen Rundschau 3/4-1957, Nachdruck in: Theorie und Praxis, Neuwied (Luchterhand) 1963, S. 266.

[2] Trotzki, Leo: Der Anfang vom Ende (1937), in: Schriften 1.2, Hrsg. von H. Dahmer u. a., Hamburg 1988, S. 1099.

[3] In dem von mir herausgegebenen Sammelband Der Marxismus in seinem Zeitalter (Reclam Leipzig 1994) hat Karl Schlögel in seinem Aufsatz »Sowjetmarxismus: Einen ›toten‹ Text neu lesen« mit entschieden mehr historischem Verständnis und Gerechtigkeitssinn die Wirklichkeit dieser Formation charakterisiert.

[4] Beitrag zu der von J. Speck herausgegebenen Reihe Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit II, Göttingen 1976.

[5] Die »Deutsche Ideologie« wurde erst aus dem Nachlaß veröffentlicht. Das Feuerbach-Kapitel, Geburtsurkunde der »materialistischen Geschichtsauffassung«, erschien 1924 in Frankfurt in einer textkritischen Ausgabe als 1. Band des von D. Rjazanov für das Moskauer Marx-Engels-Institut herausgegebenen Marx-Engels-Archivs. Ohne viele der aufschlußreichen Arbeitsspuren des Verständigungsprozesses genügte es den Editoren der in Berlin (Ost) 1956 f. erschienenen Ausgabe der Marx Engels Werke (MEW), nach der ich im folgenden zitiere. Der angeführte Satz steht in Bd. 3 auf S. 26.

[6] MEW Bd, 2, S.20.

[7] MEW Bd. 3, S.67.

[8] MEW Bd. 3, S. 71.

[9] Ebd., S. 74.

[10] Weitere Eintragungen nahm ich in verschiedenen Partien meiner 1993 veröffentlichten Studie Epochenphänomen Marxismus vor. (In sehr kleiner Auflage im Verlag Walter G. Neumann Hannover erschienen.)

[11] Hier wandte sich Marx gegen das Verfahren einer »Konstruktion der Zukunft« und gegen einen präzeptoralen Gestus von Vordenkern: »Es hindert uns nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem Prinzip entgegen... Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.« (MEW Bd. 1, S. 344 u. 345)

[12] MEW Bd. 3, S. 5 f. »Sondieren« steht wohl für sondern = separieren.

[13] MEW Bd. 4, S. 143.

[14] NEW Bd. 3, S. 7.

[15] MEW Bd. 3, S. 67 f. Zugespitzt äußerte es sich in diesem Satz: »Nur die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sind imstande, ihre vollständige, nicht mehr bornierte Selbstbetätigung, die in der Aneignung einer Totalität von Produktivkräften und der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten besteht, durchzusetzen.« (S. 16).

[16] Karl Marx als Politiker, München/Zürich 1991.

[17] MEW Bd. 3, S. 35. Die Redaktion hat hinter »haben« ein »[wird]« gesetzt, statt darauf zu verweisen, daß der Infinitiv zur preussisch-militärischen Befehlssprache gehört. Eine Engelssche Parallelstelle findet sich in MEW Bd. 4, S. 321.

[18] In der 1871 unter dem Titel »Der Bürgerkrieg in Frankreich« erschienenen »Adresse des Generalrats« der IAA, MEW Bd.17, S. 343. Es folgt im Text, in einem anderen Sprachgestus, eine Evokation der »geschichtlichen Sendung« – diese 1876 abgeändert in »Tendenz« – der Arbeiterklasse und dem »Heldenentschluß, ihrer würdig zu handeln«.

[19] Ich habe einmal den Versuch gemacht, die wichtigsten Transformationsschritte in einer Folge von 17 Merkpunkten zu resümieren, u. a.: Ideenfixiertheit, Deduktivismus, objektivistischer ParaKognitivismus, Praxis als Anwendung der Theorie, »Aufgaben«-Orientierung, Klassenbewußtsein, Institution Historischer Materialismus, Weltanschauung.

[20] So formuliert 1989 für das bei Vandenkoeck & Ruprecht (Göttingen) erschienene Evangelische Kirchenlexikon (Stichwort Marxismus).

[21] Einleitung zur Neuausgabe der Marxschen Schrift über die Klassenkämpfe in Frankreich 1848– 1850, MEW Bd. 22, S. 509 f.

[22] Das war für den »Vater des russischen Marxismus«, G. W. Plechanow, ein Pseudonym für die frühen Marxisten vor der Jahrhundertwende, untergründig aber auch ein Index ihrer intellektuellen Unselbständigkeit.

[23] Diesen Titel hat eine Schrift der italienisch-russischen Linkssozialistin Angelica Balabanoff, nachdem sie 1922 schon resigniert aus Sowjetrussland in den westlichen Sozialismus zurückgekehrt war.

[24] Zuerst sah er im Materialismus überhaupt nur einen »abstrakten Spiritualismus der Materie«. (So in dem 1843 entstandenen Entwurf zu einer »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, MEW Bd. 1, S. 293) Über die Antiposition von Materialismus und Idealismus wollte er durch eine »beide vereinigende Wahrheit« hinauskommen, die in einem »durchgeführten Naturalismus oder Humanismus« liegt. (MEW Erg.-Bd.I, S. 577) Als er mit Engels die »materialistische Geschichtsauffassung« konzipierte – noch nicht zum »historischen Materialismus« hypostasiert! –, war die Lizenz zu einem »neuen Materialismus« erteilt. Programmatisch deklariert die 10. Feuerbachthese: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit.« (MEW Bd. 3, S. 7)

[25] MEW Bd. 29, S. 327.

[26] Der von Helmut Dahmer u. a. herausgegebene Text ist, aus dem Russischen übersetzt, 2001 als Text 59 (S. 120-143) im 3. Teilband von Band 3 der Schriften von L. Trotzki im Neuen ISP Verlag Köln erschienen. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diesen Band.

[27] Der Herausgeber verweist (mit K. Kosik) auf die für Trotzki nähere Parallele von G. Plechanow, der um dieselbe Zeit gegen die »Theorie der Faktoren« angegangen ist. In deren Sichtweise »stellt sich die menschliche Gesellschaft als eine schwere Fracht dar, die verschiedene ›Kräfte‹ – Moral, Recht, Ökonomie usw. – jede von ihrer Seite aus auf dem historischen Wege dahinschleppen. Vom Standpunkt der heutigen materialistischen Geschichtsauffassung sieht die Sache ganz anders aus. Die historischen ›Faktoren‹ erweisen sich als einfache Abstraktionen, und sobald ihr Nebel zerrinnt, wird es klar, daß die Menschen nicht einige voneinander getrennte Geschichten ... machen, sondern nur eine Geschichte ihrer eigenen gesellschaftlichen Beziehungen, die in jeder gegebenen Zeit durch den Zustand der Produktivkräfte bedingt werden.« (Über materialistische Geschichtsauffassung, Broschürenausgabe Berlin 1946, S. 39) Und wenn man im Blick auf die Geschichte an einen »Faktor« denkt, dann ist der gesellschaftliche Mensch ihr einziger »Faktor«.

[28] Trotzki illustriert das am bürokratischen Hantieren mit dem Titel »Diktatur des Proletariats«.Diese sei für den Bürokraten eine den realen Beziehungen der Klassen enthobene metaphysische Kategorie, die in sich selbst über alle Garantien verfügt (122 f.).

[29] So hat Trotzki nichts dafür übrig, Wissenschaften wie die Psychologie oder Biologie in »marxi-stischen« Lesarten zu novellieren. »Wahrscheinlicher ist aber, daß das neue System auch einen neuen Namen tragen wird. Der Marxismus beansprucht keineswegs, ein absolutes System zu sein, er gibt sich Rechenschaft von seiner historisch-transitorischen Bedeutung« (130 f.).

[30] »Wer übrigens seinen Hegel auch nur einigermaßen kennt«, versichert Engels dem Leser, »der wird auch wissen, daß Hegel an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht« (MEW Bd. 20, S. 349).

[31] MEW Bd. 2, S. 136 f. Von Lamettrie heißt es, er fasse den Materialismus »sogleich in bezug auf das gesellschaftliche Leben« (S. 137) , also nicht auf einem Umweg über die kosmische Materie. So geht es also auch, und eben so ist Marx verfahren.

[32] Es ist der Text »Über unsere Revolution«, der im Januar 1923 nach dem Blättern in den »Aufzeichnungen« des menschewistischen Kritikers N. Suchanow entstand. (Werke Bd. 33, S. 462 f.) 

[33] Ein Faksimile des russischen Schreibmaschinen-Originalmanuskripts, von Trotzki abgezeichnet, wurde in den 50er oder frühen 60er Jahren in Paris von einer trotzkistischen Gruppierung in Umlauf gebracht.

[34] Es erschien 1922 auch in einer deutschen Übersetzung und wurde nach 1968 von Aktivisten einer neokommunistischen Restauration nachgedruckt.

[35] Schriften, Bd. 3.1, S. 245.

[36] MEW Bd. 1, S. 408 – ohne die vielen Kursivsetzungen.

[37] MEW Bd. 3, S. 417.

[38] Wo F. Engels diese Bestimmung einführt, denkt er an instrumentelles Objekthandeln, nicht an eine übergreifenden Daseinsbestimmung menschlicher Praxis.

[39] Wenn es bei Marx heißt, nicht das Bewußtsein »bestimme« das Sein, sondern umgekehrt, ist dieses Bestimmen nicht als ein kausatives Einwirken gedacht. Das sogenannte Bewußtsein ist ja selber nur das »bewusste Sein«, anders gesagt: die Bewußtheit eines lebendig Wirklichen in und aus der Bestimmtheit seines »wirklichen Lebensprozesses«. Alles, was wirkt, liegt in dieser Bestimmtheit – genauer: einem Ensemble von Bestimmtheiten seiner Lebenstätigkeit – beschlossen, tritt diesen also nicht als ein eigener »Faktor« gegenüber.

Inhalt – JHK 2003

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