Jansen, Mark/Petrov, Nikita: Stalin’s Loyal Executioner: People’s Commissar Nikolai Ezhov. Stanford, California: Hoover Institution Press, 2002, 274 Seiten.
Petrov, N.V./Skorkin, K.V.: Kto rukovodil NKVD, 1934–1941: Spravočnik. Obščestvo »Memorial, RGASPI, GARF. Pod red. N.G. Ochotina i A.B. Roginskogo. Moskva: Zven’ja, 1999, 504 Seiten.
Razvedka i kontrrazvedka v licach. Ėnciklopedičeskij slovar’ rossijskich specslužb. Avtor-sost. A. Dienko, predisl. V. Veličko. Moskva: Russkij mir’, 2002, 608 Seiten.
Zur Personifizierung des großen Terrors wurde Nikolaj Ivanovič Ežov [Jeshov]. Während der nach dem Volkskommissar für Inneres benannten »Ežovščina«, der Hochzeit der Großen Säuberungen, wurden in der UdSSR mehr als 700 000 Personen hingerichtet, und Millionen von Menschen verschwanden in den Lagern des GULag. Dem aus den sowjetischen Lexika getilgten Ežov haben Marc Jansen und Nikita Petrov jetzt eine Biographie gewidmet, die eine Annäherung an den »Troubadour des neuen sowjetischen Terrors« versucht. Auf der Grundlage von bisher nicht ausgewerteten Dokumenten aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation (AP RF), dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte (RGANI), dem Russischen Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte (RGASPI), dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) und dem Zentralarchiv sowie dem Moskauer Regionalarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) zeigen die beiden Autoren, das Ežov nicht der entartete Spion, Trinker und Päderast war, der zusammen mit Berija als Sündenbock für die stalinistischen Massenrepressalien herhalten mußte. Jansen und Petrov arbeiten in ihrem quellengesättigten Buch heraus, daß er vielmehr als typischer Spitzenparteikader der Sowjetunion der 30er Jahre gelten muß. Ežov ist kein »Ausreißer« des stalinistischen Systems, sondern in einer Linie mit Stalin, Molotov, Chruščev, Malenkov, Berija, Jagoda und anderen hochrangigen Funktionären der Parteihierarchie Mitverantwortlicher für den wohl beispiellosesten politischen Genozid der Geschichte. Daß er der von ihm mitentwickelten Todesmaschinerie schließlich selber zum Opfer fiel, bestätigt nochmals das für die Sowjetunion unter Stalin typische Karrieremuster zahlloser Parteifunktionäre.
In ihrem Anfangskapitel schildern Jansen und Petrov die ersten Karriereschritte Ežovs. Seine mangelhafte Schulbildung versuchte der Autodidakt durch umfangreiches Literaturstudium zu ersetzen, was ihm von seinen Arbeitskollegen in den Petrograder Putilov-Werken den Spitznamen »Kolja die Leseratte« eintrug. Erste politische Erfahrungen sammelte der damals Zwanzigjährige 1915, als er wegen Beteiligung an einem Streik verhaftet und aus Petrograd ausgewiesen wurde. Den Ersten Weltkrieg verbrachte der kurze Zeit später zum Militär einberufene Ežov nach Fronteinsatz und Verwundung als Arbeiter in einem Artilleriedepot bei Vitebsk. Hier trat er im August 1917 in die RSDRP ein und wurde wenig später zum Kommissar einer Funkerschule der Roten Armee in Kazan ernannt. 1921 startete seine Parteikarriere, die zunächst über verschiedene Stationen in Zentralasien führte.
Unterbrochen wurde sie lediglich von zahlreichen Sanatoriumsaufenthalten, die der immer wieder kränkelnde Ežov zur Genesung von der Parteiführung bewilligt bekommen hatte. 1927 schaffte er mit der Ernennung zum stellvertretenden Leiter der ZK-Abteilung Organisation und Verteilung den Sprung in den zentralen Parteiapparat.
Die Autoren versuchen jedoch nicht nur den Funktionär, sondern auch den Menschen näher zu beschreiben. Der in seiner Jugend nicht nur heterosexuell ausgerichtete Ežov heiratete 1930 die jüdische Journalistin Evegenija Solomanova, die ihm Zugang zu Intellektuellen- und Künstlerkreisen verschaffte. Obgleich er bereits in der Anfangsphase seiner Karriere gelegentlich zum Alkoholmißbrauch neigte, galt der junge aufstrebende Funktionär als smart, freundlich und begabt, und zeigte keine Zeichen von Rücksichtslosigkeit oder gar Brutalität. Dies sollte sich mit seinem weiteren Aufstieg ändern.
Während viele Historiker annehmen, daß Ežov erst 1936 mit seiner Ernennung zum NKVD-Chef in die Parteispitze aufrückte, weisen Jansen und Petrov seine Zugehörigkeit zum »inner circle« der Macht bereits für den Anfang der 30er Jahre nach. Im Februar 1934 stieg er in das Sekretariat des Politbüros auf, wo er mit der Bearbeitung von Angelegenheiten der »Staatssicherheit« befaßt war. Nach der Ermordung Kirovs beauftragte Stalin das energische Organisationstalent mit der Überwachung der NKVD-Ermittlungen, nicht ohne ihn jedoch zuvor zu einem Genesungsurlaub nach Italien geschickt zu haben. Hier zeigte Ežov erstmals die »Fähigkeiten«, die ihn später zum Organisator der Großen Säuberungen prädestinieren sollten. Sein ehemaliger ZK-Abteilungsleiter Ivan Moskvin beschrieb diese Talente wie folgt: »I don’t know of any more ideal functionary than Ezhov. Rather, he is not a functionary, but an executor. After charging him with a task, you don’t have to check up on him: he will accomplish the mission.« Der auch mit der Organisation der nachfolgenden Repressalien beauftragte Ežov enttäuschte seinen Mentor Stalin nicht. Die von ihm ausgemachten Parteifeinde schaltete der Erfüllungsgehilfe zuverlässig aus.
Im September 1936 erreichte er mit der Ernennung zum Volkskommissar für Inneres den Zenit seiner Karriere. Damit wurde Ežov zum zweitmächtigsten Mann der Sowjetunion. Wenig später setzten die Säuberungen mit voller Wucht ein. Jansen und Petrov zeigen dabei in ihrem Buch beeindruckend, wie das NKVD unter seinem neuen Leiter die von Stalin und seinem Politbüro angeregten, organisierten und überwachten Massenerschießungen und -verhaftungen ausführte. Sie weisen auch nach, daß die brutalen Verhöre in den Folterkellern des NKVD, an denen sich Ežov persönlich beteiligte, nicht wie oft dargestellt, eine Entartungserscheinung des Staatssicherheitdienstes waren, sondern persönlich vom Diktator befohlen wurden. So setzte er, wie ein im AP RF aufbewahrtes Dokument zeigt, hinter den Namen des Leiters der Sanitätshauptverwaltung im Verteidigungsministerium, M.I. Baranov, die Worte »Schlagen, schlagen!«
Für den Vollzug solcher Anweisungen wurde Ežov von der Führung mit zahllosen Ehrungen überhäuft. Im Juli 1937 überreichte Kalinin ihm den Leninorden, wenige Tage später veröffentlichte die »Izvestija« eine Karikatur, die zeigte, wie der mit Stahlhandschuhen bewehrte Volkskommissar die als Schlange dargestellten Feinde der Sowjetrepublik zerdrückt. Wenig später fand sie als Poster millionenfache Verbreitung. Ab Ende 1937 veröffentlichten die »Pravda« und andere Regierungsblätter Huldigungsgedichte mit den Titeln: »Volkskommissar Ežov«, »Mein Glück«, »Hundetod für Hunde« oder »Lösche Sie aus«. Auch persönlich profitierte Ežov von seinem gestiegenen Einfluß. Eine Wohnung im Kreml, eine luxuriöse Datscha sowie eine einflußreiche Stellung für seine Frau dokumentierten seinen Aufstieg im System.
Nachdem im März 1938 in Moskau die drei letzten großen Schauprozesse gegen den »Antisowjetischen Block der Rechten und Trotzkisten« endeten, begann der unaufhaltsame Abstieg des jetzt nicht mehr benötigten blutigen Vollstreckers. Detailliert zeichnen die beiden Autoren nach, wie sorgfältig Stalin die schrittweise Entmachtung und Absetzung Ežovs plante und durchführte. Eine zentrale Rolle in diesem Ränkespiel nahm dabei die Ernennung Berijas zum 1. Stellvertreter des Volkskommissars für Inneres ein. Obgleich Ežov die Gefahr erkannte, die von ihm ausging, sah er sich nicht mehr in der Lage, wirkungsvoll dagegen zu agieren. Die Ausweglosigkeit seiner Situation erkennend, verwandelte sich Ežov immer mehr in ein nervöses ausgebranntes Wrack und flüchtete in Alkoholexzesse und homosexuelle Affären. Auch seine Frau wurde in die Pläne von Stalin und Berija einbezogen. Als »englische Spionin« sollte sie gegen ihren Mann aussagen. Diesem Druck nicht standhaltend, beging sie am 19. November 1938 Selbstmord. Wenige Tage später, am 23. November 1938, nach einem letzten Gespräch bei Stalin, reichte Ežov schließlich den Rücktritt als NKVD-Chef ein. Im April 1939 erfolgte endlich die lang erwartete Verhaftung. Der für Januar 1940 geplante Prozeß drohte beinahe wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Angeklagten zu platzen, letztmalig wies Stalin deshalb seine medizinische Behandlung, wenn auch im Haftkrankenhaus des Butyrka-Gefängnisses, an. Am 2. Februar wurde ihm schließlich der Prozeß gemacht. Bis zuletzt zeigte er sich unfähig zu erkennen, daß sein Mentor und Förderer Stalin ihn jetzt als Sündenbock für den Massenmord benötigte: »Let Stalin know that I am a victim of circumstances and that is not impossible that enemies of the people I have overlooked have had a hand in this. Let Stalin know I shall die with his name on my lips.« Kurz nach diesem Verhandlungsschlußwort wurde er im Keller der Lubjanka erschossen.
Jansen und Petrov ist eine eindrucksvolle und höchst aufschlußreiche Biographie zu einer der Schlüsselfiguren des Großen Terrors gelungen. Sie zeigen flüssig und hoch professionell, wie sich unter dem Einfluß der sozialistischen Diktatur ein kleiner und unscheinbarer Mann, der Modellboote und Volkslieder liebte, in einen eiskalten und brutalen Massenmörder verwandelte, der am Ende der von ihm mitangeworfenen Mordmaschine nicht entkommen sollte. Dem Schlußzitat dieses außerordentlich lesenswerten und für jeden Historiker unverzichtbaren Buches ist nichts hinzuzufügen: »Ezhov is a hunting dog on Stalin’s reign, but a faithful and distinguished one, that following the will of his master [...] As soon as the dog finishes the hunt [...] Stalins declares it mad and destroys it.«
Das neben Ežov auch andere NKVD-Führungskräfte dem von ihnen mitinitiierten Terror zum Opfer fielen, zeigt das von Petrov und Skorkin herausgegebene biographische Lexikon: »Kto rukovodil NKVD«. Die Arbeiten hierzu begannen vor mehr als 25 Jahren, als die Herausgeber in der Zeitungsabteilung der Moskauer Leninbibliothek damit anfingen, aus der zentralen und örtlichen Presse der Sowjetunion Angaben über Führungskader des NKVD herauszufiltern. Als Grundlage dienten die in den Zeitungen veröffentlichten Lebensläufe der NKVD-Funktionäre, die Mitglieder oder Kandidaten der Kreis-, Gebiets- und Republiksowjets waren. Mitte der 80er Jahre gerieten die Forschungen von Petrov und Skorkin in das Visier des sowjetischen Geheimdienstes. 1985 nahm der KGB bei einem der Herausgeber schließlich eine Hausdurchsuchung vor und beschlagnahmte das bisher zusammengetragene Material. Doch die Arbeiten ließen sich dadurch nicht aufhalten. 1990 stand das inzwischen von »Memorial« geförderte Nachschlagewerk zur personellen Zusammensetzung der NKVDFührung zwischen 1934 und 1941 kurz vor seinem Abschluß, dann ermöglichte der Zusammenbruch der UdSSR endlich auch den Zugriff auf Archivdokumente.
Im RGASPI konnten die Parteiunterlagen und Kaderakten der Führungsriege des NKVD eingesehen werden. Zur wichtigsten Quelle des Buches wurden jedoch die vom Geheimdienst erlassenen Kaderbefehle. Im GARF und im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (ZA FSB) sahen die Herausgeber mehrere zehntausend zwischen 1920 und 1952 erlassene Befehle durch, die Beförderung, Versetzung, Ablösung usw. von NKVD-Angehörigen betrafen. Im Archiv des FSB verschafften sich die Herausgeber zudem Zugang zu Aktenmaterial über die Verhaftung und Hinrichtung von leitenden NKVD-Kadern.
Auf Grundlage dieser Quellen rekonstruierten Petrov und Skorkin letztlich die Lebensläufe von mehr als 570 Führungsmitgliedern des NKVD. Der dabei gewählte Zeitraum zwischen 1934 und 1941 versucht, eine der wichtigsten Entwicklungsetappen des sowjetischen Geheimdienstes zu umfassen. Im Juli 1934 war aus der Vereinigten staatlichen politischen Verwaltung beim Ministerrat der UdSSR (OGPU) das Volkskommissariat für Inneres geschaffen worden, und im Februar 1941 wurden die mit der politischen Verfolgung beauftragten NKVDStrukturen als Volkskommissariart für Staatssicherheit (NKGB) aus dem Volkskommissariat für Inneres herausgelöst und in den Rang eines selbständigen Ministeriums erhoben.
Bevor sich die Herausgeber in ihrem Werk den Einzelbiographien zuwenden, geben sie einen knappen Überblick über die Organisations- und Strukturwandlungen der sowjetischen Staatssicherheit zwischen 1934 und 1941. Dabei wird deutlich, daß im genannten Zeitraum die politische Überwachung und Kontrolle alle Lebensbereiche der Sowjetunion erfaßte. Besonders erkennbar wird dies durch die ständig zunehmende Zahl von Hauptverwaltungen, Verwaltungen und Abteilungen im Zentralapparat des NKVD. Die genaue Struktur des NKVD bis hinunter zur Abteilungsebene, deren Entstehungs- bzw. Auflösungsdatum sowie die hierfür entsprechenden Rechtsgrundlagen als auch die personelle Besetzung sind im zweiten Teil des Organisationsüberblicks aufgeführt. In gleicher Form erfolgt ein Struktur- und Funktionsüberblick der örtlichen Organe der sowjetischen Staatssicherheit, welche die Ebenen Unionsrepublik, autonome Republik, Gebiet und autonomes Gebiet umfaßt.
Dem schließt sich der zentrale Teil des Buches an. Hier widmen sich die Herausgeber dem Hauptanliegen ihres Buches: »der Beschreibung der typischen tschekistischen Karrieren«. Hierfür haben sie die Lebensläufe aller Volkskommissare, deren Stellvertreter, der Haupt- und Verwaltungs- sowie der Abteilungsleiter der Zentralverwaltung des NKVD zusammengetragen. Ebensowenig fehlen die Biographien der Volkskommissare für Inneres der einzelnen Sowjetrepubliken und autonomen Republiken sowie die der Leiter der einzelnen Gebietsverwaltungen der sowjetischen Staatssicherheit.
Die gesammelten Personendaten werden in einheitlicher Form dargestellt und sind nach folgendem Muster aufgebaut: Dem Namen folgen Geburts- und, wenn ermittelbar, Todesdaten, dann werden die Nationalität des NKVD-Leitungskaders sowie seine soziale Herkunft angegeben. Es folgen Informationen über dessen Bildungsweg, mögliche Dienstzeiten in der Roten Armee oder eine entsprechende Berufstätigkeit. Den umfangreichsten Teil der Kurzbiographie nimmt die Darstellung der Karriere in den Organen der sowjetischen Staatssicherheit ein. Hier liefern die Autoren, beginnend mit dem Eintritt in die Staatssicherheitsorgane, detaillierte Angaben zu den einzelnen Karrierestufen der Führungskader des NKVD. Dadurch ist es möglich, minutiös den Aufstieg bzw. Fall der jeweiligen Leitungsmitglieder des NKVD zu verfolgen. Dem schließen sich Angaben über eine mögliche Verhaftung, Aburteilung, Hinrichtung oder Lagerhaft sowie eine spätere Rehabilitierung an. Auffällig dabei: Fast alle hingerichteten Leitungskader endeten ohne entsprechenden richterlichen Beschluß vor den Erschießungskommandos des eigenen Ministeriums. Zumeist genügte für den Vollzug der Todesstrafe eine von Stalin unterschriebene Personenliste, die eine zweiköpfige NKVD-Kommission zusammengestellt hatte. Angaben über erreichte Dienstgrade sowie erhaltene Auszeichnungen schließen die jeweilige Kurzbiographie ab. Wenn vorhanden, wird zudem ein Bild des Funktionärs aus seiner Kader- oder Untersuchungsakte abgedruckt.
Im Schlußteil des Buches werten die beiden Herausgeber die in den 571 Lebensläufen zusammengetragenen Informationen aus. Nach Petrovs und Skorkins Untersuchungen ergibt sich für 1936 folgendes Bild der NKVD-Leitung: Mehr als 50 Prozent des Führungspersonals war nicht proletarischer oder bäuerlicher Herkunft und vier von fünf leitenden Mitarbeitern älter als 40 Jahre. Mehr als zwei Drittel von ihnen arbeitete bereits seit der Gründungsphase der ČK/GPU für die sowjetische Staatssicherheit. Lediglich 14,5 Prozent verfügten über eine Hochschulausbildung, fast die Hälfte von ihnen besaß einen Mittelschulabschluß. Gleichzeitig hatte jeder Dritte NKVD-Führer lediglich eine Grundschule besucht und diese oft nicht einmal erfolgreich abgeschlossen. Besonders interessant dürfte die nationale Zusammensetzung der Spitzenführung des NKVD sein. Lediglich 30 Prozent der leitenden Geheimdienstfunktionäre waren 1936 Russen. Ukrainer und Polen stellten jeweils fünf Prozent der NKVD-Führung, während weitere acht Prozent aus dem Baltikum stammten. Den größten Anteil an den Führungsspitzen des NKVD stellten mit fast 40 Prozent die russischen Juden. Auffällig auch die politische Vergangenheit der leitenden Tschekisten. Jeder Fünfte von ihnen hatte vor der Revolution den Sozialrevolutionären, Menschewiki, Anarchisten oder dem jüdischen Bund angehört, zwei Prozent sogar während des Bürgerkrieges in den Reihen der Weißen gekämpft.
Diese Angaben zeigen, daß das NKVD in den Augen Stalins als unzuverlässiges Staatsorgan gelten mußte. Entsprechend seinen Vorgaben waren deshalb vor allem Personen aus dem Leitungskader »herauszusäubern«, die nicht zur russischen Titularnation gehörten, ehemalige Mitglieder nichtkommunistischer Parteien und Bewegungen waren und nicht der Arbeiter- oder Bauernschaft entstammten.
Dementsprechend begannen 1937 die ersten Säuberungen in den Führungsspitzen des NKVD. Zunächst traf es die Parteigänger des von Ežov abgelösten NKVD-Chefs Jagoda. Ihnen folgten NKVD-Kader polnischer, baltischer und deutscher Nationalität. Umfassend von den Säuberungen erfaßt wurde die NKVD-Führungsspitze jedoch erst mit dem Amtsantritt Berijas. Jetzt fielen den Repressionen vor allem Anhänger Ežovs und russische Juden zum Opfer. Anfang 1940, als die »Heraussäuberung« der unzuverlässig eingeschätzten Kader ihren Abschluß fand, hatte sich die Führungsstruktur des NKVD radikal verändert. Von 322 Leitungskadern in den Zentralen Verwaltungen der Staatssicherheit sowie auf Republik- und Gebietsebene waren 241, mithin fast 75 Prozent, verhaftet und zum Großteil hingerichtet worden. Sie wurden durch einen neuen Funktionärstyp ersetzt. Der Anteil der Russen bei den Führungskadern der Staatssicherheit hatte sich Anfang 1940 mit 64 Prozent mehr als verdoppelt. Gleichzeitig machten die russischen Juden mit weniger als vier Prozent nur noch eine verschwindende Minderheit aus. Auch der Altersdurchschnitt und die Professionalisierung veränderten sich stark. Im Gegensatz zu 1936 waren jetzt vier von fünf NKVD-Leitungsfunktionären jünger als 40 Jahre. Fast 40 Prozent von ihnen verfügten über einen Hochschulabschluß, der Anteil der NKVDFührungskader mit Grundschulabschluß sank auf unter 20 Prozent. Ehemalige Sozialdemokraten und Liberale hatte man mit großer Gründlichkeit aus dem Staatssicherheitsorgan entfernt. 1940 war nur noch ein Mitglied der Leitungsriege des NKVD vor der Revolution Angehöriger einer nichtkommunistischen Bewegung gewesen: der vormalige Agent der »Muslimischen Demokratischen Partei« in Aserbaidschan und Volkskommissar für Inneres, Lavrentij P. Berija.
Insgesamt zeigen die Säuberungen innerhalb der Führungsspitze des NKVD jedoch, daß sie sich kaum als politische Repression gegen »saubere Tschekisten« charakterisieren lassen. Petrov und Skorkin betrachten sie vielmehr als die erste Kaderrevolution in den Organen der sowjetischen Staatssicherheit, die auf eine radikale Erneuerung des Personalbestandes ausgerichtet war. Junge und aufstrebende Parteikader drängten dabei die altgedienten Tschekisten der ersten Stunde aus ihren Positionen.
Die Arbeit von Petrov und Skorkin ist ein unverzichtbares Werkzeug für Historiker, die sich mit der Geschichte der Sowjetunion unter Stalin beschäftigen. Wünschenswert wäre, daß dieses Buch, um einen breiteren Leserkreis zu erreichen, ins Englische oder Deutsche übersetzt werden würde. Zumindest ist es gegenwärtig unter der Internet-Adresse von »Memorial« www.memo.ru/history/nkvd/kto/index.htm frei zugänglich. Es wäre dienlich, wenn diese Forschungen auch auf den für die Säuberungen ebenfalls wichtigen »Mittelbau« des NKVD ausgedehnt würden.
Dieser Aspekt wird zumindest zum Teil durch das Buch »Razvedka i kontrrazvedka v licach« beleuchtet. Das Buch enthält insgesamt fast 2700 Kurzbiographien von Personen die zwischen 1917 und 1991 für die sowjetischen Staatssicherheitsorgane arbeiteten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Mitarbeitern oder Agenten, die für die Spionageabwehr und Auslandsspionage der UdSSR tätig waren. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Lexikons beschäftigt sich jedoch auch mit Angehörigen der mittleren Leitungsebene der sowjetischen Staatssicherheitsorgane. Ein Bruchteil des Buches ist darüber hinaus Offizieren der zaristischen Militärspionage und Angehörigen der Ochrana gewidmet. Zudem finden sich in dem Werk auch vereinzelte Angaben über Mitarbeiter der gegenwärtigen Geheimdienststrukturen der Russischen Föderation. Im Gegensatz zum Nachschlagewerk von Petrov und Skorkin stammt das biografische Lexikon aus der Feder ehemaliger KGB-Offiziere. Dadurch werden zum Teil Text und Diktion als auch inhaltliche Zielsetzungen bestimmt. Als Informationsgrundlage diente den Geheimdienstveteranen kaum Archivmaterial der eigenen Institutionen, vielmehr griffen die Herausgeber auf »offene Quellen« zurück. Diese erweisen sich jedoch, gewollt oder nicht, als nicht immer zuverlässig.
Besonders deutlich wird dies, wenn im Buch Informationen zu ehemaligen Angehörigen des NKVD gegeben werden, die selbst Opfer der Säuberungen wurden. Dies betraf zu einem nicht geringen Teil vor allem zahlreiche Mitarbeiter der für Auslandsspionage zuständigen NKVD-Verwaltung (INO). Allein zwischen 1937 und 1938 endeten 275 von 450 im Ausland eingesetzten INOMitarbeiter vor den Erschießungskommandos ihrer eigenen Genossen. Gerade bei der Recherche zu diesen Personen ließen es die Autoren nicht selten an der notwendigen Sorgfalt fehlen. Offensichtlich verfügten sie und der »Klub der Veteranen der Staatssicherheit«, der das Projekt unterstützte, über keinen Zugang zu den entsprechenden Akten des ehemaligen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten. Eine Zusammenarbeit mit »Memorial« oder auch nur ein Blick in die von dieser Organisation zusammengestellten und im Internet veröffentlichten Opferlisten hätte genügt, um fehlende oder gar falsche Informationen zu ersetzen. Doch waren Bereitschaft und Wille dazu offensichtlich nicht vorhanden. Wie ist es sonst zu erklären, daß vom ehemaligen INO-Residenten in Berlin, Boris M. Gordon, angeblich weder Geburts- noch Todesdatum aufzufinden sind. Wenige »Klicks« hätten genügt, um festzustellen, daß der 1896 geborene Gordon, der von 1933 bis 1937 die Residentur des NKVD in der deutschen Hauptstadt leitete, im April 1937 nach Moskau zurückberufen und dort verhaftet wurde. Am 21. August 1937 verurteilte ihn ein NKVD-Gericht wegen angeblicher Spionage zum Tode. Noch am gleichen Tag wurde das Urteil von einem Erschießungskommando vollstreckt. Ähnliches trifft auch für Ignatij Reif zu. Über den am 28. August 1938 wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären und terroristischen Gruppe hingerichteten stellvertretenden Abteilungsleiter der INO finden sich im Buch lediglich folgende Angaben: »(?-?). Illegaler sowjetischer Aufklärer. In der 2. Jahreshälfte 1933 von der Auslands(Aufklärungs-)abteilung der OGPU nach London entsandt.« Mitunter erhält der Text durch das selektive Vorgehen der Autoren sogar unfreiwillig komische Züge. Die Kurzbiographie des für den sowjetischen Nachrichtendienst arbeitenden deutschen Agenten Karl Gurski schließt beispielsweise wie folgt: »1937 nach Moskau zurückberufen. Mit persönlicher Waffe ausgezeichnet.« Dabei dürfte dem Leser jedoch klar sein, das in diesem Jahr eine Rückberufung nach Moskau zumeist mit anderem verbunden war: Verhaftung, Aburteilung, Erschießung oder Lagerhaft. Daß auch Gurski diesem Schicksal nicht entging, belegen Quellen, die die Autoren offensichtlich nicht ausfindig machen konnten.
Doch das Buch enthält zum Teil auch recht brauchbare Angaben, die zumindest in Beispielen den »Mittelbau« des NKVD während der Großen Säuberung charakterisieren. Ein typischer Vertreter der »alten« Strukturen der sowjetischen Staatssicherheit war beispielsweise Kasemir I. Nauikajtis (1896-1937). Der Hauptmann der Miliz war seit 1918 Mitglied der Kommunistischen Partei und diente seit 1921 in der Staatssicherheit, wo er zunächst bis zum Chef der Spionageabwehr der OGPU-Vertretung in Weißrußland aufstieg. Ab 1935 war er Leiter der Milizverwaltung des NKVD im Gebiet Saratov. 1937 wurde Nauikajtis »von den Organen des NKVD verhaftet, als ›Volksfeind‹ abgeurteilt und erschossen«. Seinen Platz nahmen aufstrebe junge Parteikader wie Evgenij P. Pitovranov und Aleksej M. Sidnev ein. Beide, zwischen 1938 und 1939 zum NKVD abkommandiert, machten im Krieg rasch Karriere und wurden nach kürzester Dienstzeit zu Generälen der Staatssicherheit ernannt. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde Pitovranov Chef der sowjetischen Auslandsspionage, Sidnev Minister für Staatssicherheit in der Tatarischen Autonomen Sowjetrepublik. Während er von der Welle der Nachkriegssäuberungen erfaßt und 1951 aus den »Organen« entlassen wurde, überstand Pitovranov den ebenfalls 1951 erfolgten Karriereknick und beendete seine Laufbahn 1965 als Leiter der Hochschule des KGB.
Ingesamt gesehen kann dieses biographische Lexikon als sinnvolle Ergänzung für Recherchen zum Apparat des NKVD während der Säuberungen gelten. Sein Vorteil liegt darin, daß hier vor allem Angehörige der mittleren Funktionärsebene des NKVD erfaßt sind. Nachteilig bleibt, daß die so gewonnenen Daten mit anderen Quellen abgeglichen werden müssen, um sinnvoll für weitere Forschungen verwendet werden zu können.