JHK 2003

Nikolai Krestinskij, der Šachty-Prozeß und die deutsch-sowjetischen Beziehungen

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 176-189 | Aufbau-Verlag GmbH

Autor/in: Bernhard H. Bayerlein

Nicht zu unrecht wird der »Šachty-Prozeß« des Jahres 1928 in der Geschichtsschreibung als erster Schauprozeß Stalinscher Prägung eingestuft.[1] In Šachty (deutsch: Schachte), früher Grusevskaja, der Bergbaustadt im östlichen DonezBecken, wurden am 7. März 1928 fünf deutsche Ingenieure und Techniker, die den Firmen Krupp und Knapp angehörten und mit der Übergabe von Dampfturbinen an die Kohlebergwerke beschäftigt waren, unter der Anklage auf Beteiligung an einer konterrevolutionären Verschwörung verhaftet.[2] Die diffuse Anklage unterstellte Verbindungen zwischen den ehemaligen in Deutschland lebenden Grubenbesitzern und den in Šachty arbeitenden Ingenieuren. Diese hätten die Absicht, durch Sabotageakte die Produktion der Gruben zum Erliegen zu bringen und sich im Fall eines Krieges sogar in landesverräterischer Weise zu betätigen. Der hier veröffentlichte Brief Krestinskijs und die Antwort Stalins aus dem Bestand des Stalinfonds3 belegen eine mutige Intervention des Berliner Botschafters der UdSSR. Er legte sich mit Stalin an, um die Freilassung der deutschen Ingenieure zu erreichen und eine schwere Krise der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu verhindern. In nuce war dieser Vorstoß gegen den von Stalin seit 1928/29 verfolgten Paradigmenwechsel in der sowjetischen (Außen)-Politik gerichtet. Stalin staucht Krestinskij wegen dieser Haltung regelrecht zusammen und stempelt ihn (fast) als Sachwalter der deutschen Interessen ab. Zehn Jahre später stand Krestinskij selbst als Angeklagter vor Stalins Tribunal. Im Dritten Moskauer Schauprozeß wurde er angeklagt, Verbindungen zum deutschen Geheimdienst unterhalten zu haben.

Der Šachty-Prozeß

Nicht zuletzt um Sündenböcke für eigene Fehler in der Wirtschaftspolitik zu finden und aus weiteren, vornehmlich innenpolitischen Gründen leiteten Stalin und Molotov mit dem Šachty-Prozeß zugleich ein neue Ära staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen ein, die gezielt das Spezialistentum und das wissenschaftlich-technische Personal in der sowjetischen Industrie kriminalisierten. Auch die ausländischen Spezialisten wurden zur Zielscheibe, sollte doch ein Zusammenhang zwischen »Schädlingstum« und (ökonomischer) Intervention des Westens gegen die UdSSR konstruiert werden. Entgegen früheren Vermutungen, es habe sich bei der Šachty-Affäre in erster Linie um Vorstöße lokaler Organe gehandelt, kann heute als empirisch belegt gelten, daß der Beschluß zur Durchführung eines großen Prozesses und die einzelnen Schritte der Inszenierung bis zur Festsetzung der Schuld der einzelnen Angeklagten im Politbüro der VKP (b) festgelegt wurden. Rykov[3] als »Regierungschef« sollte die Sache nach außen vertreten. Obwohl nur dürftiges Belastungsmaterial vorlag und der Prozeß in der Führungsspitze der VKP (b) nicht unumstritten war, gelang es Stalin und seiner Gruppe mit Hilfe des Leiters der OGPU, Mensinskij[4], im Politbüro den Prozeß durchzusetzen (vermutlich auf einer Sitzung vom 5. März 1928). Am 8. März 1928 beschloß das Politbüro zudem die Verhaftung deutscher Spezialisten.[5] Ende März wurden weitere Verhaftungen veranlaßt, Jaroslavskij wurde für die Zentrale Kontrollkommission der VKP (b) in den Donbass geschickt. Auf dem Vereinigten Plenum des ZK und ZKK im April 1928 stimmten auch die »Rechten« (Rykov, Bucharin u.a.) den Maßnahmen zu, warnten jedoch vor Übertreibungen. Der Prozeß mit 53 Angeklagten (darunter noch drei Deutschen) wurde am 18. Mai 1928 eröffnet und dauerte bis Anfang Juli. Nach haarsträubender Beweisführung wurden 11 der Angeklagten (von ursprünglich 22 von der Anklage geforderten) zum Tode verurteilt, sechs Urteile wurden noch kurz vor der Vollstreckung kommutiert.

Nikolai Nicolaevic Krestinskij

Krestinskij, der bisher noch keinen Biographen gefunden hat,[6] ist gleichwohl in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Er wurde am 13. Oktober 1883 in Moglilev als Sohn eines Gymnasiallehrers aus der Ukraine geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums inVil’na studierte er in St. Petersburg Jura. 1903 wurde er Mitglied der SDAPR (b) und nahm an der Revolution 1905 teil. Als Bolschewik wurde er mehrmals deportiert (so 1914–1917 in den Ural). Von 1917 bis 1921 war er Mitglied des ZK der RKP (b), von 1919 bis 1921 auch des Politbüros sowie Sekretär des ZK und als solcher ein Vorgänger Stalins. Von Oktober 1921 an wirkte er fast acht Jahre als geachteter sowjetischer Botschafter (»Bevollmächtigter Vertreter«) in Berlin. In diese Zeit fielen der Vertrag von Rapallo 1921, den er und Dirksen unterzeichneten, die Friedenskonferenz in Den Haag 1922, auf der er die Sowjetunion vertrat, der »Deutsche Oktober« 1923, der deutsch-sowjetische Vertrag (Berliner Vertrag) vom April 1926 und eben jene unrühmliche Šachty-Affäre.

Der aufgrund seiner Sehstörung fast blinde Revolutionär und Diplomat gehörte wie Sljapnikov, Preobrazenskji, Pjatakov (in Paris), Joffe oder Sklovskij zur »alten Garde«, die mit der Vereinigten Linken Opposition Trockijs und Zinov’evs sympathisierten und diese bisweilen trotz ihrer diplomatischen Stellung unterstützten.[7] Sein Abschwören der Opposition in einem Brief an Jaroslavski[8] fiel in die Zeit seines hier publizierten Briefes an Stalin. 1930 wurde Krestinskij VizeAußenminister. Bis zu seiner Verhaftung im März 1937 arbeitete er im außenpolitischen Apparat. 1938 wurde er im Schauprozeß gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« zum Tode verurteilt und erschossen. Denkwürdig, ja als Legat an die Nachgeborenen zu verstehen ist Krestinskijs Haltung vor den »Richtern«.

Als einziger Angeklagter des dritten Moskauer Schauprozesses widerrief er öffentlich seine angebliche Schuld (u. a. sollte er mit dem deutschen Geheimdienst zusammengearbeitet haben)[9]. Daraufhin wurde er so schwer gefoltert, daß die Physiognomie des anderthalb Tage später Wiedervorgeführten sich völlig verändert hatte, »falls der Vorgeführte kein Doppelgänger war« (Hildermeier).[10]

Šachty, die deutsch-sowjetischen Beziehungen und der Paradigmawechsel in der sowjetischen Außenpolitik

Eine der für das deutsch-sowjetische Verhältnis negativen Konsequenzen der Šachty-Affäre war, daß die im Februar begonnenen bilateralen Wirtschaftsverhandlungen am 15. März 1928 qua Entscheidung Stresemanns bzw. des Kabinetts unterbrochen bzw. ausgesetzt wurden.[11] Die in Krestinskijs Brief an Stalin zum Ausdruck kommende schroffe Ablehnung der Verhaftungen ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Der russische Historiker Sergej A. Gorlov hat bereits darauf hingewiesen, daß es bei der Krise um mehr als den Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen ging. Auf dem Spiel standen auch die Fortführung der deutsch-sowjetischen militärischen Zusammenarbeit, ja vielleicht – was hinzuzufügen wäre – die besondere Qualität der Beziehungen zu Deutschland. Die Militärbeziehungen wurden sogar wenig später zum Gegenstand einer eigens hierfür gebildeten Kommission des Politbüro der VKP (b). »Der sowjetische Vertreter in Berlin, Nikolaj N. Krestinskij – so Gorlov – mußte in seiner Korrespondenz mit Stalin und Vorosilov seine ganze diplomatische Kunst aufwenden, um einen Abbruch zu verhindern.«[12] Auch Mick vertritt die Auffassung, Krestinskij sei entscheidend (und im Unterschied zu Scharfmachern wie Brodovskij, ja selbst im Vergleich zu Čičerin[13]) kategorisch für die Freilassung der Deutschen als Voraussetzung für die Wiederaufnahme und Verbesserung der Beziehungen eingetreten.

Er habe nicht wie Čičerin der deutschen Presse und den Unternehmern die Hauptschuld gegeben oder gar von der Instrumentalisierung der Affäre im Sinne einer Kehrtwendung der deutschen Außenpolitik nach Westen gesprochen.[14]

Nach zehntägiger Haft erfolgte auf Beschluß des Politbüros am 16. März 1928 die Freilassung des Krupp-Ingenieurs Goldstein, die Krestinskij am stärksten gefordert hatte. Wagner, ein weiterer deutscher Ingenieur, und vier sowjetische Spezialisten kamen ebenfalls am gleichen Tag frei. Krestinskijs Brief an Stalin ist zwar auf den 17. März datiert, doch seine bereits früher in der Korrepondenz mit Litvinov dargelegte Auffassung dürfte auf dem Hintergrund von Čičerins Bemühungen in Moskau und seiner permanenten Kontakte mit Brockdorff-Rantzau[15]ein wichtiger Anstoß dazu gewesen sein.[16] Am 16. März 1928 konnte Čičerin anläßlich einer »sehr ernsthaften Aussprache« mit dem deutschen Botschafter die Nachricht von der Freilassung übermitteln.[17] Drei deutsche Ingenieure und Facharbeiter (Otto, Maier und Badstieber) blieben zusammen mit 53 Angeklagten jedoch weiter in Haft. Der vom berüchtigten Vyšinskij geleitete Prozeß, in dem die üblen Verschwörungsamalgame der späteren Prozesse sozusagen erprobt wurden und an dem zeitweise Brockdorff-Rantzau teilnahm, dauerte sechs Wochen. Der Vertreter der Anklage, Krylenko, forderte für 19 Angeklagte die Todesstrafe, schließlich wurden 11 Urteile verkündet, davon wurden fünf vollstreckt. Badstieber erhielt als einziger Deutscher eine Gefängnisstrafe, allerdings mit einjähriger Bewährung, Otto und Maier wurden freigesprochen.

Mit dem Prozeß hatte Stalins »Cliquenwirtschaft«, die den Massen Sündenböcke liefern sollte (Paul Levi),[18] um den Preis der Bestrafung Unschuldiger und der Verschlechterung der Beziehungen mit Deutschland einen Ableiter für die Unzufriedenheit der Arbeiter gegen ausländische Spezialisten und untere Instanzen gefunden.[19] Dabei wurde der mit dem Prozeß verbundene außenpolitische Paradigmenwechsel von den meisten Beteiligten kaum bemerkt. Die Affäre markierte einen mehrfachen Einschnitt, ja einen inhaltlichen, institutionellen und personellen Bruch in den Jahren 1928–1930. Mit der Ablösung Čičerins in der sowjetischen Außenpolitik und dem Tod des langjährigen deutschen Botschafters in Moskau Brockdorff-Rantzau fand eine außenpolitische Ära ihren Abschluß. Hildermeier erkennt insofern im Šachty-Prozeß einen »Affront« gegen Čičerin.[20]Stalin setzte damit den uneingeschränkten Primat der Innenpolitik im Ansatz durch. Der intellektuelle und kultivierte Čičerin als typischer Vertreter der »alten Garde« konnte dem Repräsentanten des »neuen Bolschewismus« dabei nur im Wege stehen.[21]

Was Krestinskij betrifft, so kommt ihm zweifelsohne das Verdienst zu, Stalin nicht nur das Leben der deutschen Ingenieure und Facharbeiter abgetrotzt, sondern auch eine definitive Verschlechterung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses vorerst verhindert zu haben.[22]

Dokument 1

Nikolai Krestinski: Brief an Jossif Stalin

Streng geheim

17.3.192824

An Gen. Stalin.

Kopie an Gen. Čičerin

Sehr geehrter Jossif Wissarionowitsch,

Heute reist Gen. Schleifer[23] nach Moskau, und ich habe die Möglichkeit, ohne die nächste Diplomatenpost abzuwarten, Ihnen meine Überlegungen zu unserem Konflikt mit den Deutschen zu schreiben sowie die Vorschläge zu begründen, die Litvinov[24] und ich in unseren Telegrammen und in meinem Brief vom 12. März vorgelegt haben. Allerdings weiß ich aus den gestrigen Telegrammen des Gen. Čičerin, daß diese Vorschläge bereits abgelehnt sind. Ich weiß auch, daß mein Vorschlag, Goldstein[25] freizulassen, in der Form, wie ich es vorgeschlagen habe, gegenwärtig nicht durchführbar ist. Aber die Motive für Litvinovs und meine Vorschläge behalten ihre Bedeutung, weshalb ich es für notwendig erachte, sie darzulegen, da in den Telegrammen die Begründung natürlich fehlte oder sehr knapp ausfiel, weshalb sie nicht richtig verstanden wurde. Ich denke, Sie werden mir nicht böse sein, daß ich auf eine Frage zurückkomme, die heute bereits entschieden ist. Dafür sitze ich ja hier, um dem ZK in unserem internen Briefwechsel nach bestem Wissen und Gewissen meine Überlegungen zu Fragen mitzuteilen, die ich hier besser überblicke als Sie in Moskau. Das hindert mich nicht daran, alle von Ihnen eingehenden Direktiven strikt umzusetzen.

1.        Als in Moskau zu Beginn der vergangenen Woche der Beschluß gefaßt wurde, im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konterrevolution im Donbass[26]einige Deutsche festzunehmen, ist man meiner Meinung nach erstens von einer Unterschätzung dessen ausgegangen, wie die deutsche Bourgeoisie auf die Verhaftungen reagieren wird, zweitens von der Überzeugung, daß diese durchaus begründet und notwendig sind.[27]

Als sich bereits in den ersten Tagen nach der Verhaftung der Deutschen zeigte – für uns hier noch eher als für Sie in Moskau –, daß wir einem schweren, langwierigen Konflikt mit der deutschen Industrie, vielleicht sogar mit der Regierung und der Öffentlichkeit entgegengehen,[28] stellte sich Gen. Litvinov, der gerade auf der Durchreise war, und mir natürlich die Frage: »Was passiert, wenn bei der Entscheidung der Frage der Schuld oder der absoluten Notwendigkeit der Festnahmen ein Fehler passiert ist?« Das hieße doch, daß wir ohne ausreichenden Grund in einen äußerst schweren, unvorhergesehenen Konflikt geraten. Sollten wir nicht unverzüglich, solange es noch nicht zu spät ist, solange noch verstanden würde, daß wir diesen oder jenen Schritt aus eigenem Antrieb aufgrund der Ermittlungen und nicht auf Druck von außen getan haben, für uns selbst klären, ob die verhafteten Deutschen wirklich schuldig sind, ob sie sich alle schuldig gemacht haben oder vielleicht von den festgenommenen russischen Saboteuren nur fälschlich bezichtigt wurden? Deshalb hat Gen. Litvinov vorgeschlagen, eine Kommission aus höchsten Autoritäten zu bilden, die diese Grundfrage für das ZK intern klärt. Gen. Litvinov hat angeregt, einen Vertreter des NKID [Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten – d. Ü.] in diese Kommission aufzunehmen, dann aber präzisiert, daß der Vertreter des NKID nicht an den Verhören teilnehmen soll, weil das bekannt werden könnte, während er das Ziel verfolgt, daß die Verhöre der verhafteten Deutschen durch diese Kommission für die Deutschen wie die normale Ermittlung in einer Strafsache wirken.[29] Der Gedankengang des Gen. Litvinov, wie ich ihn verstehe, war dabei folgender: Wenn hochgestellte Persönlichkeiten, denen jedes Ressortdenken abgeht, die von der unvermeidlichen Voreingenommenheit des Ressorts frei sind, die verhafteten Deutschen befragen und das gegen sie vorliegende Belastungsmaterial prüfen, dann überzeugen sie sich entweder von deren Unschuld, oder sie berichten dem ZK, daß das vorliegende Material so schwerwiegend ist, daß man damit bedenkenlos vor Gericht gehen kann, ohne irgendwelche Komplikationen befürchten zu müssen. In letzterem Falle dürfte natürlich kein einziger der verhafteten Deutschen freigelassen werden. Wenn es dann unweigerlich zum Konflikt käme, wäre das ZK, erstens, vollkommen sicher, daß er nicht zu vermeiden war, überzeugte, zweitens, die Prüfung des Materials in einem offenen Gerichtsverfahren auch die deutsche Öffentlichkeit davon, daß Verhaftung und Anklage berechtigt sind. Das heißt, der Vorschlag des Gen. Litvinov hatte zum Ziel, dem ZK die Möglichkeit zu geben, in dieser ernsten Lage noch einmal zu prüfen, ob im Falle der Deutschen eine Maßnahme wie die Verhaftung tatsächlich notwendig war.

Mein Vorschlag, Goldstein freizulassen, schien und scheint mir bis heute ausreichend begründet zu sein. Ich habe das vom Politbüro übersandte Material zur wirtschaftlichen Konterrevolution im Donbass wirklich gründlich studiert. Auf den 34 eng bedruckten Seiten kommt der Name Goldstein nicht ein einziges Mal vor. Auch in dem Anschreiben des Gen. Jagoda[30] an Sie vom 2. März, mit dem das Material dem Politbüro vorgelegt wurde, wird er nicht erwähnt. Zum ersten Mal taucht der Name Goldstein in der Information auf, die Gen. Jagoda Gen. Čičerin als Grundlage für das Gespräch mit Brockdorff-Rantzau gegeben hat.[31]Diese enthält für jeden einzelnen Festgenommenen eine konkrete Anschuldigung, aber zu Goldstein heißt es nur: »War aktiv an allen dargelegten Verbrechen beteiligt«. Wann haben denn alle die angeführten Verbrechen stattgefunden? Zur Beteiligung der anderen Deutschen an verschiedenen Vergehen haben die verhafteten russischen Ingenieure Ende Januar 1928 ausgesagt. Die Taten lagen eindeutig vor der Zeit, da man über sie aussagte, ja sogar vor der Verhaftung der sie bezeugenden Ingenieure. Goldstein hat aber das Einreisevisum in die UdSSR erst am 27. Januar 1928 von uns erhalten und ist daher nicht vor dem 1. Februar im Donbass eingetroffen. Es ist doch klar, daß er nicht an Vergehen beteiligt gewesen sein kann, die vor seiner Einreise in die UdSSR stattfanden. Nach der ganzen Persönlichkeit Goldsteins kann man unmöglich davon ausgehen, daß er sich während seiner Dienstreise in den Donbass mit irgendwelchen illegalen Dingen befaßt hat. Er ist ein alter deutscher Ingenieur von 55 Jahren, arbeitet seit 23 Jahren bei der AEG und gilt dort als einer der besten Turbinenfachleute. Zugleich ist er auch einer der bestgestellten Mitarbeiter: Die AEG zahlt ihm jährlich 19 000 Mark Gehalt und 11 000 Mark Tantiemen, das heißt, allein seine Anstellung, von den verschiedenen Dienstreisen einmal abgesehen, bringt ihm 30 000 Mark im Jahr. Dazu kommen noch einige tausend Mark aus legalen Nebeneinkünften. Seine Dienststellung und seine materielle Lage sind so hervorragend, daß er sie, erstens, nicht aufs Spiel setzen würde, und wenn er sich, zweitens, auf so etwas Ungesetzliches einließe, müßte man ihm dafür eine Summe bieten, die sich keiner der ehemaligen Besitzer im Ausland leisten kann. Daher zweifle ich daran, daß Goldstein sich schuldig gemacht hat. Wie kann man da verlangen, daß Deutsch[32] das glauben soll, der Goldstein mit all seinen Beamten- und Spießereigenschaften persönlich gut kennt. Mir scheint, unseren Organen ist im Falle Goldstein ein Fehler unterlaufen. Aber Goldsteins Verhaftung steht im Mittelpunkt der ganzen Kampagne. Das Schicksal kleiner Techniker wie der Monteure von AEG und der Angestellten der Firma Knapp bewegt die Öffentlichkeit weniger. Das allgemeine Interesse und der allgemeine Verdacht, die Anschuldigungen könnten grundlos sein, konzentrieren sich auf die Person Goldstein. Wenn man Goldstein auf Initiative unserer Justizbehörden freiließe, dann könnte das zweifellos zu einer Beruhigung der Gemüter in Deutschland führen. Die Leute würden sagen: »Es war kaum anzunehmen, daß Goldstein schuldig ist. Die sowjetischen Justizbehörden haben ihn vernommen. Als sie sahen, mit wem sie es zu tun haben, wurde er unverzüglich freigelassen. Die Justiz funktioniert also dort genau so normal wie anderswo. Wenn die anderen fünf nicht freigelassen werden, dann liegen gegen sie offenbar ernste Beweise vor.« Ich war der Meinung, die Freilassung Goldsteins wäre ein guter taktischer Schritt, der die Pressekampagne von Anfang unterbunden, uns eine unangenehme Intervention der deutschen Regierung erspart und die Möglichkeit gegeben hätte, die Fälle der übrigen Deutschen in aller Ruhe und in normalem Tempo aufzuklären. Ich weiß nicht, ob ich mit meiner Annahme, daß die Beweise gegen Goldstein nicht ausreichen, recht habe. Aber in dieser Annahme selbst kann ich nichts Unzulässiges sehen. Schließlich hat unser Gericht noch nicht über Goldstein verhandelt und ihn noch nicht für schuldig erklärt. Der Beschluß über seine Festnahme wurde ohne vorherige Vernehmung gefaßt, daher können die Stellen, die seine Verhaftung vorgeschlagen haben, nach Festnahme und Verhör auch zu dem Schluß kommen, daß diese unbegründet war, und ihn freilassen.

2.        Im Vergleich zur Situation am Montag, dem 12. März, als ich meinen Briefmit der Darlegung der Reaktion der Industrie auf die Festnahme und dem Vorschlag der Freilassung Goldsteins übermittelte, hat sich die Lage in den letzten Tagen erheblich zugespitzt.

In der Zwischenzeit haben der Bund der Deutschen Industrie und weitere Unternehmerverbände beschlossen, ihre Vertreter aus der Kommission für die Wirtschaftsverhandlungen zurückzuziehen. Das nahm die deutsche Regierung als Anlaß und Grund, eine Unterbrechung der Verhandlungen zu beschließen.[33] Das ist bereits ein direkter Schritt, um staatlichen Druck auf uns auszuüben, wenn die deutsche Regierung auch in der Begründung erklärt, sie tue dies nicht auf eigene Initiative, sondern weil weitere Verhandlungen ohne die Experten der Industrie technisch unmöglich und unzweckmäßig seien. In ihren offiziellen Erklärungen, zumindest mir gegenüber (wie es in Moskau ist, weiß ich nicht), sagt die deutsche Regierung nicht, daß sie gegen die Festnahmen protestiert, sondern erklärt lediglich, die Industriellen hielten die Verhaftungen für unbegründet, wobei sie besonders über die Rede des Gen. Rykov empört sind, die als Druck auf das Gericht betrachtet wird, der einen Schuldspruch vorwegnimmt.[34] Seit dem Abbruch der Verhandlungen macht die hiesige Presse und natürlich die des Auslandes viel Wind um eine ernsthafte Komplikation zwischen uns und Deutschland. Stresemann[35] hat mir gesagt, daß der Bund der Industrie allen Unternehmen, die in der UdSSR tätig sind, empfehlen will, keine Leute mehr zu uns zu entsenden und diejenigen, die vor Ort sind, zurückzurufen.[36] Er hat nichts davon erwähnt, daß Regierungsstellen ähnliche Schritte planen, aber wir wissen, daß ein Professor, der morgen auf Einladung des Autotrusts in die UdSSR ausreisen sollte, vom Volksbildungsministerium, wo er arbeitet, die Aufforderung erhalten hat, seine Reise um einige Zeit zu verschieben. Damit ist eine Atmosphäre des Drucks auf uns geschaffen worden, die Maßnahmen wie z. B. die Freilassung Goldsteins natürlich erschwert. Jetzt würde diese wahrscheinlich als Ergebnis des Drucks gesehen.

Andererseits muß etwas unternommen werden, um die Atmosphäre wieder etwas zu entspannen. Die Deutschen können sich einfach nicht damit abfinden, mehrere Tage nicht zu wissen, wo der Beschuldigte festgehalten wird. Wenn wir hier Entgegenkommen zeigen und Brockdorff-Rantzau über die Angelegenheit auf dem Laufenden halten könnten (wir müssen ihm doch nicht die Akten des Falles zur Kenntnis geben, sondern können ihn, wie in anderen Fällen auch geschehen, über das NKID informieren), wenn wir dem deutschen Konsul eine Begegnung mit den Verhafteten ermöglichten, dann wäre das keinerlei Verletzung unserer Strafprozeßordnung und keine besondere Ausnahme. Schließlich haben wir Brockdorff-Rantzau eine Begegnung mit den deutschen Studenten ermöglicht,[37] haben seine engsten Mitarbeiter zu den sogenannten Konsularagenten und vielen einsitzenden Deutschen ins Gefängnis gelassen. Uns würde das nichts kosten, aber die Deutschen, die gewohnt sind, daß jeder Festgenommene binnen weniger Tage einen Anwalt verlangen kann, wären davon sehr angetan. Wie ich es sehe, rechnen die Deutschen nicht damit, daß die Inhaftierten rasch freigelassen werden. Maßnahmen, wie ich sie beschrieben habe und die, so schreibt die heutige Presse, in Moskau gewissermaßen bereits beschlossene Sache sind, könnten die Lage zeitweilig beruhigen.

3.        Diese zeitweilige Beruhigung wird jedoch nicht lange anhalten, und unserkünftiges Verhältnis zur deutschen Industrie wird trotz allem davon abhängen, wie die Sache mit den Ingenieuren ausgeht. Die deutsche Industrie und die Öffentlichkeit akzeptieren einen Schuldspruch gegen alle oder irgendeinen der Festgenommenen nur, wenn das Urteil auf unstrittigen und überzeugenden Beweisen in einem Gerichtsverfahren beruht. Daraus ergibt sich für uns wieder die Frage, wie fest wir selbst von der Schuld jedes einzelnen der inhaftierten Deutschen überzeugt sind. Wenn wir zu dem Schluß kommen, daß einer von ihnen vor Gericht freigesprochen wird, dann wäre es besser, wenn wir die Sache schon während der Voruntersuchung einstellen. Das ist natürlich nur möglich, wenn die äußere Konfliktlage beseitigt ist, das heißt, die deutsche Industrie von ihrer Position abrückt und die deutsche Regierung erklärt, daß sie bereit ist, die Verhandlungen fortzusetzen. Ob wir dann wieder verhandeln, wann und unter welchen Bedingungen das geschieht, ist eine andere Frage, die getrennt entschieden werden muß. Aber eine solche Erklärung der deutschen Regierung, die die offizielle Bereitschaft bedeutete, jeglichen Druck auf uns einzustellen, brächte uns Handlungsfreiheit und in der Sache der verhafteten Deutschen wieder Spielraum. Aus dieser Sicht scheint es mir wichtig, daß wir jetzt für uns selbst umfassend klären, in welchem Maße Goldstein kompromittiert und überführt ist. Schließlich ist der Konflikt vor allem wegen seiner Person entstanden.

4.        Zum Schluß ein paar Worte in eigener Sache. Mir scheint, daß meine Telegramme, so weit ich das aus den Telegrammen des Gen. Čičerin erkennen kann, im ZK den Eindruck erweckt haben, mein hier dargelegter Standpunkt, der sich durch meine Korrespondenz mit Moskau zieht, habe mein Verhalten gegenüber den Deutschen, insbesondere mein Gespräch mit Stresemann beeinflußt, dessen Angriffe auf unsere Souveränität ich nicht ausreichend zurückgewiesen hätte. Wenn tatsächlich dieser Eindruck entstanden ist, dann entspricht er nicht den Tatsachen. In den Gesprächen mit mir war Stresemann sehr vorsichtig und hat unsere Souveränität nicht angegriffen. Er hat weder im Namen der Regierung oder in seinem eigenen Namen protestiert, keine Bedingungen gestellt und auch nicht gefordert, daß die Verhafteten außerhalb unserer Rechts gestellt werden sollen. Deshalb gab es für mich nichts zurückzuweisen. Unzulässige Ausfälle und Forderungen erschienen in der Presse, weshalb ich Stresemann mein Mißfallen und meine Empörung über das Verhalten der Presse erklärt habe. Daher meine ich, daß Vorwürfe, ich hätte die Würde unseres Staates nicht ausreichend verteidigt, unangebracht sind.

Um Mißverständnisse auszuschließen, weise ich darauf hin, daß ich außer im Gespräch mit Deutsch in den ersten Tagen von niemandem, auch nicht von Stresemann, Forderungen nach Freilassung der Festgenommenen gehört habe. Daher war und ist mein Vorschlag, Goldstein freizulassen, meine eigene taktische Überlegung, deren Annahme aus meiner Sicht eine Verschärfung des Konflikts vor einigen Tagen hätte verhindern können und auch in einigen Tagen diesem Ziel noch dienen kann.[38]

Mit kameradsch. Gruß [Unterschrift] (N. Krestinskij)

Dokument 2

Jossif Stalin: Brief an Nikolai Krestinskij[39]

21.03.1928

Streng geheim

An Gen. Krestinskij

Kopien an die Gen. Schleifer und Čičerin

Ihren Brief an meine Adresse, Gen. Krestinskij, habe ich gelesen. Ich bin mit Ihnen in der ganzen Linie der Fragen, die Sie darin behandeln, nicht einverstanden. Es geht überhaupt nicht um Goldstein und dessen Freilassung. Auch ohne die Verhaftungen im Donbass hätten die Deutschen Schleifer und andere mit leeren Händen ziehen lassen,42 weil die deutsche Regierung schwankt und in einer kritischen Lage ist, wie sie auch die Polen mit leeren Händen fortgeschickt haben. Die Deutschen haben die Verhaftungen nur benutzt und sich dahinter versteckt, um die Schuld für die Unterbrechung auf uns abzuwälzen, womit sie zugleich demonstriert haben, daß sie bereit sind, uns erneut zu benachteiligen und damit bei unseren Gegnern etwas für sich herauszuschlagen. Aber Sie, Gen. Krestinskij (und Schleifer) haben den Beschluß des ZK der Partei über die sofortige Abreise nach Moskau sabotiert und damit den Deutschen geholfen, uns zu treffen; Sie haben es geschafft, daß man die russische Delegation mit Schimpf und Schande aus Berlin gejagt hat. Darum geht es, nicht um Goldstein und schon gar nicht darum, daß Čičerin Rantzau etwas nicht gesagt oder Rantzau sich nicht richtig ausgedrückt hat usw. Sie und Schleifer haben die bolschewistischen Traditionen unserer Partei gröblichst verletzt, haben eine ganze Woche lang mit der Instanz verhandelt und dadurch die Abreise der Delegation so lange verzögert, bis man sie aus Berlin hinausgeworfen hat.

Was Ihre Verhandlungen mit Stresemann u. a. über die verhafteten Deutschen betrifft, so ist Ihr Verhalten inzwischen in aller Munde. Der Vertreter eines freien Landes darf Verhandlungen nicht in einem Ton führen, wie Sie es für richtig hielten. Ist es denn so schwer zu begreifen, daß sich die Deutschen auf unverschämte Weise in unsere inneren Angelegenheiten einmischen, während Sie, statt das zu unterbinden, noch mit ihnen Liebenswürdigkeiten austauschen. Es ist schon so weit gekommen, daß man von Ihren Differenzen mit Moskau über die Verhaftung der Deutschen in der »Frankfurter Zeitung« lesen kann. Das ist doch wohl das Letzte.

Mit komm. Gruß

    21.3.28                                                                   [Unterschrift] J. Stalin

Übersetzung der Briefe aus dem Russischen von Helmut Ettinger

 

 


[1] Zur Šachty-Affäre siehe Ziehr, Wilhelm: Die Entwicklung des »Schauprozesses« in der Sowjetunion. Ein Beitrag zur sowjetischen Innenpolitik 1928–1938. Phil. Diss., Tübingen 1970, S. 73– 133; Reiman, Michal: Die Geburt des Stalinismus. Die UdSSR am Vorabend der »zweiten Revolution«, Frankfurt am Main 1979. Auf dem Hintergrund der deutsch-sowjetischen Beziehungen siehe Rosenbaum, Kurt: Community of Fate. German-Soviet Diplomatic Relations 1922–1928. Syracuse 1965; id.: »The German Involvment in the Shakhty Trial«, Russian Review XXI (1962), S. 238–260. Dyck, Harvey Leonard: Weimar Germany and Soviet Russia 1926–1933. A Study in Diplomatic Instability. London 1966, S. 129–136.

[2] Zur Vorgeschichte siehe: Reiman, Die Geburt des Stalinismus, S. 100 ff. Mick, Christoph: Sowjetische Propaganda. Fünfjahrplan und deutsche Rußlandpolitik 1928–1932. Stuttgart 1995, 490 S. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 42), S. 317–326. Als Zeitzeugnisse siehe Hilger, Gustav: Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918–1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten. Frankfurt am Main 1955, S. 209 ff.; Seibert, Theodor:

Das rote Russland. Staat, Geist und Alltag der Bolschewiki. München 1931, S. 201–215. 3 Mit freundlicher Genehmigung durch das RGASPI, Moskau.

[3] Aleksej Ivanovič Rykov. 1881 Saratov – 1938 Moskau. 1898 Mitglied der SDAPR, Jurastudent in Kazan, 1903 Bolschewik, Rykov war 1924–1930 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare.

[4] Vjačeslav Rudol’fovič Mensinskij (Men’sinskij). Ps.: Stepinskij. 19. 8. 1874 St. Petersburg – 10. 5. 1934, Archangel’sk bei Moskau. Russischer Sozialdemokrat polnischer Abstammung, später sowjetischer Staatsfunktionär und als Leiter der OGPU Geheimdienstchef. Im Schauprozeß 1938 verurteilt und hingerichtet.

[5] Sluč, Sergej: »Deutschland und die UdSSR 1918–1939. Motive und Folgen außenpolitischer Entscheidungen. Eine neue russische Perspektive.« In: Jacobsen, H.-A./Löser, J./Proektor, D./ Sluč, S. (Hg.): Deutsch-russische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941–1945. Baden-Baden 1995, S. 28–90, hier: S. 57.

[6] Zu Krestinskij siehe Schlögel, Karl: Berlin. Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin 1998.

[7] Eine Aufzählung der betreffenden Botschaften und Konsulate in Europa und Übersee siehe: Broué, Pierre: Histoire de l’Internationale Communiste 1919–1943. Paris 1997, 461 S.

[8] In einem Brief an Jaroslavskij vom März 1928 (Inprekorr, 11.4.1928, auszugsweise in der Pravda), schwörte Krestinskij den Ideen der russischen Linken Opposition ab. Siehe: »Bruch der Genossen Antonov-Ovseeenko und Krestinskij mit der Opposition«, Internationale Presse-Korrepsondenz (1928), Nr. 36, S. 657.

[9] Siehe Struger, Marlene: Nikolai Nikolaievich Krestinsky and Soviet-German relations 1921– 1930. Ph. D., The University of Wisconsin 1973.

[10] Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 459.

[11] Auch zur Rezeption der Affäre in Deutschland generell siehe Zarusky, Jürgen: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzungen und außenpolitische Konzeptionen 1917–1933. München 1992, S. 328. (Studien zur Zeitgeschichte. Bd. 39), 237 S. Zum Gesamtkomplex S. 236–240.

[12] Gorlov, Sergej A.: Geheimsache Moskau–Berlin. Die militärpolitische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich 1920–1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1996), 1, S. 133–165, hier S. 140.

[13] Georgi (Juri) Vassiljewitsch Čičerin. 12. 11. 1872 Selo Karaul, Gouv. Tambow – 7. 7. 1936 Moskau. Urspr. Sozialrevolutionär. 1918 Mitglied der RSDAP und hoher sowjetischer Staatsfunktionär. 1918–1930 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten.

[14] Mick, Sowjetische Propaganda, S. 325.

[15] Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau. Deutscher Diplomat. 29. 5. 1869 Schleswig – 8. 9. 1928 Berlin. 1919 Reichsaußenminister, Rücktritt als Leiter der deutschen Delegation aus Protest gegen den Vertrag von Versailles. Seit 1922 Botschafter in Moskau.

[16] Siehe hierzu u.a.: Reimann, Die Geburt des Stalinismus, S. 284–291 u.a.; Rosenbaum, Community of Fate, S. 255 ff.

[17] Von Brockdorff-Rantzau an das Auswärtige Amt, Geheim, Moskau, 17. 3. 1928. In: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Serie B 1925–1933, vol. VIII, 1.1.–1.4.1928. Hg. Hans Rothfels, Vincent Kroll u.a., Göttingen 1976, S. 359–360. Čičerin an Krestinskij, 16. 3. 1928; DVP [russ.], t. XI, Nr. 80.

[18] Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 239.

[19] Reiman, Die Geburt des Stalinismus, S. 103–117, S. 284–291.

[20] Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 362.

[21] Ebenda, S. 362. Hier angeführt: Uldricks, Teddy J.: Diplomacy and ideology. The origins of Soviet foreign relations 1917–1930. London 1979 (Sage studies in twentieth century history. Bd. 9), S. 117 ff.; O’Connor, Timothy E.: Diplomacy and revolution. G. V. Chicherin and Soviet foreign affairs, 1918 – 1930. Ames, Iowa State University Press, 1988, 153ff. Rantzau selbst hat wie viele diese Entwicklung fälschlicherweise als Verstärkung der revolutionären Regimetendenzen aufgefaßt, als Gegensatz zur bisher geführten Realpolitik. In der Darstellung von Botschaftsrat Hilger läßt sich die aus der neuen Qualität des Schauprozesses stalinistischen Typs resultierende auch kulturelle Schockwirkung nachvollziehen. Allerdings ergänzt er diplomatisch, daß nichtsdestoweniger  Vyšinskij positiv auf deutsche Belange eingegangen sei (Hilger, Wir und der Kreml, S. 209 ff.).

[22] Die Probleme werden in einem russisch-deutschen Projekt näher behandelt, zu dem Quellen aus dem Kominternarchiv und die Politbüro-Materialien der KPdSU herangezogen werden. 24 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-političeskoj Istorii (RGASPI), Moskau 558/11/824, 54–61. Typoskript. Mit wenigen handschriftlichen Ergänzungen und Verbesserungen. Mit vermutlich von Stalin vorgenommen Unterstreichungen.

[23] I. O. Slejfer. Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats für Innen- und Außenhandel. Verhandlungsführer der sowjetischen Delegation für die Wirtschaftsverhandlungen mit Deutschland. Noch am 15. 3 traf er, »der im ganzen etwas resignierter Stimmung war«, mit Ministerialdirektor Wallroth im AA in Berlin zusammen, um die Möglichkeiten einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zu sondieren. Siehe: Aufzeichnung des Ministerialdirektors Wallroth, Berlin 16. 3. 1928. In Akten zur deutschen auswärtigen Politik, S. 352–355.

[24] Maksim Maksimowič Litvinov. Urspr. Finkelstejn (17. (5.) 7. 1876 Byalistok – 31. 12. 1951 Moskau. Russischer Sozialdemokrat. 1903 Bolschewik. Während der zwanziger Jahre hoher Funktionär im Außenministerium. Von 1930 bis 4. Mai 1939 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten.

[25] Goldstein. Angestellter der AEG, und Wagner, die anderen vier Verhafteten waren Badstieber, Maier, Otto und Seebold.

[26] Šachty gehörte zum Gebiet des Nordkaukasus, der größte Teil des Donbass lag allerdings auf ukrainischem Gebiet, zuständig waren insofern die Organe der ukrainischen Hauptstadt Charkov. Siehe: M. Reiman, Die Geburt des Stalinismus, 302.

[27] Hier ist auch ein Beleg dafür, daß die Verhaftung der deutschen Ingenieure nicht durch lokale Organe veranlaßt wurde, sondern auf obersten Befehl hin erfolgte.

[28] Obwohl das Auswärtige Amt u. a. über Paul Scheffer die Wogen zu glätten versuchte, spiegelten die öffentliche Meinung und die Presse Betroffenheit, besonders scharf reagierten die Hugenbergschen und die sozialdemokratischen Organe sowie die deutsche Wirtschaft.

[29] Dies bestätigt, wie Mick ausführt, daß die Stalingruppe über die innenpolitische Zielrichtung der Šachty-Kampagne die außenpolitischen Konsequenzen vernachlässigt hatte. Siehe: Mick, Sowjetische Propaganda, S. 319.

[30] Genrich Georgievič Jagoda. 1891 Rybinsk – 15. 3. 1938 Moskau (Todesurteil). Russischer Kommunist. Seit 1920 im Apparat der Čeka, 1934–1936 Volkskommissar des Inneren der UdSSR, setzte den Stalinschen Terror durch.

[31] Čičerin, der negative Folgen für die deutsch-sowjetischen Beziehungen abfedern wollte, informierte bereits am 6. 3. 1928 Brockdorff-Rantzau über bevorstehende Verhaftungen und sagte diesem direkte Zusammenarbeit zu. Eine Wiedergabe des Gesprächs, bei dem er einen deprimierten Eindruck machte, siehe: Mick: Sowjetische Propaganda, S. 19.

[32] Felix Deutsch. Geboren 16. 5. 1858 in Breslau. Geheimer Kommerzienrat, Dr. Ing. Vorstand der Direktion der AEG.

[33] Am 11. 2. 1928 begannen die Verhandlungen über die Wirtschaftsbeziehungen, an denen von russischer Seite Ja. E. Rudzutak, Volkskommissar für Verkehrswesen, A. L. Sejnman, Präsident der sowjetischen Staatsbank, sowie I. Slejfer und M. Kaufman vom Kollegium des Volkskommissariats für Innen- und Außenhandel teilnahmen. Hauptziele waren die Einrichtung neuer Handelsvertretungen in Deutschland, die Gewährung weiterer Zollvergünstigungen sowie höherer Kredite zum Einkauf von Produkten für die sowjetische Schwerindustrie. Am 15. 3. 1928 beschloß das Reichskabinett, die Verhandlungen abzubrechen. »Reichskabinett hat soben der Unterbrechung der Wirtschaftsbesprechungen zugestimmt. Ich habe daraufhin Krestinski die Ew. Exzellenz mit Telegramm Nr. 128 offen übermittelte Aufzeichnung übergeben. Krestinski war ziemlich bestürzt und bedauerte Unterbrechung der Verhandlungen, die so vielvesprechend begonnen hätten.« (Stresemann an die Botschaft Moskau, Berlin 15. 3. 1928. Abgesandt: 16. 3. In:

Akten zur deutschen auswärtigen Politik, S. 340.)

[34] Rykovs Rede vor dem Moskauer Sowjet am 9. 3. 1928 war der scharfe Auftakt zur »Aufdekkung einer Verschwörung«, an den sich die Presse- und Mobilisierungskampagne zur Vorbereitung eines Schauprozesses anschloß. Rykov und auch Bucharin als »Parteirechte« argumentierten zeitweise schärfer als Stalin.

[35] Dr. Gustav Stresemann. 10. 5. 1878 Berlin – 3. 10. 1929 Berlin. Rechtsliberaler deutscher Politiker. 1923 Reichskanzler. 1923–1929 Außenminister der Weimarer Republik.

[36] Über die von Seiten der AEG und der deutschen Industrie geplanten Gegenmaßnahmen informierte Brockdorff-Rantzau Čičerin. Siehe: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie B, Band VIII, 402ff.

[37] Stalin bezieht sich hier auf den Moskauer Prozeß gegen die deutschen Studenten Kindermann und Wolscht, die der Zugehörigkeit zur rechtsextremen »Organisation Consul« beschuldigt wurden sowie Spionage getrieben und Attentate gegen sowjetische Parteiführer vorbereitet zu haben. Siehe: Rosenbaum, Community of fate, S. 146ff.

[38] Goldstein wurde mit Wagner noch am gleichen Tag, am 16. 3. 1928, freigelassen.

[39] Typoskript. RGASPI, Moskau 558/11/824, 62–64. 42 Die Einschätzung Stalins war unbegründet.

Inhalt – JHK 2003

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