Zwischen politischer Gestaltung und sozialer Komplexität – Überlegungen zur Debatte über die Sozialgeschichte der DDR[1]
Angesichts der heutigen Fülle sozialgeschichtlicher Studien über die DDR ist fast unvorstellbar, wie wenig Aufmerksamkeit diesem Forschungsgebiet vor 1989 zuteil wurde. Daß die Sozialgeschichte der DDR vor 1989 keinen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschung bildete, ist auf zwei Hauptfaktoren zurückzuführen: erstens die damals schwierige Quellenlage und zweitens die politische Legitimierungsfunktion der Zeitgeschichte im geteilten Deutschland. Vor allem in der DDR spielte die zeitgeschichtliche Forschung eine zentrale Rolle bei den Legitimierungs- und Abgrenzungsbemühungen des SED-Regimes, die eine diesem Zweck dienende, eher eng definierte politische Geschichtsschreibung mit Schwerpunkt auf Parteibeschlüssen und heroischen Führungskräften im »besseren Deutschland« begünstigte. Diese historiographische Tendenz spiegelte sich zum Teil auch in der westlichen Forschung, wo die politische Umgestaltung im »anderen Deutschland« oft als Ausdruck des kommunistischen »Totalitarismus« gedeutet wurde und daher in den Vordergrund der wissenschaftlichen Forschung rückte. Doch der Hauptgrund für den Mangel an sozialgeschichtlichen Studien war letztendlich der Mangel an zuverlässigen Quellen – und das für Historiker im Osten wie im Westen, die alle zum größten Teil auf offizielle Informationsquellen angewiesen waren.
Nach dem Ende des SED-Regimes und der massiven Ausweitung der Quellengrundlage hat die historische DDR-Forschung Hochkonjunktur, die inzwischen zu einer Vielzahl von neuen sozialgeschichtlichen Studien und zu einem weit differenzierteren und detaillierteren Bild der DDR-Geschichte geführt hat.[2]Dieses zunehmend detaillierte Bild hat aber nicht nur einen deutlichen Kenntnisgewinn, sondern auch einen gewissen begrifflichen Orientierungsverlust zur Folge. Zum einen hat gerade der reißende Strom von empirischen Forschungsergebnissen zum Verlust von allgemeinen Deutungsstrukturen beigetragen. Zum anderen haben sich ältere Deutungsmuster – Totalitarismustheorien wie auch Modernisierungstheorien – vielfach als unzureichend erwiesen, weil erstere die soziale Sphäre weitgehend zum Objekt diktatorischer Steuerung reduzierten und letztere dazu tendierten, die fundamentalen Unterschiede zwischen liberalen und diktatorischen Systemen herunterzuspielen.[3]
So steht die sozialgeschichtliche Forschung seit Anfang der 1990er Jahre vor der Aufgabe, die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der DDR, zwischen sozialen Entwicklungen und politischem Machtanspruch neu zu konzipieren und entsprechende Forschungsansätze zu entwickeln. Zugespitzt formuliert: inwieweit kann und soll man angesichts der weitreichenden diktatorischen Macht des SED-Staates von einer »DDR-Gesellschaft« sozusagen als Eigengröße – d. h. im Unterschied zum »Politischen« – sprechen? Inwieweit ist es sinnvoll und/oder möglich, eine »Sozialgeschichte« – sowohl im Sinne einer mit sozialen Prozessen befaßten Teildisziplin wie auch im Sinne einer synthetisch ausgerichteten »Gesellschaftsgeschichte« – der DDR zu schreiben? Welche Strukturen stünden dabei im Mittelpunkt, und wie wären sie mit den politischen Strukturen dieses ausgesprochen interventionistischen Regimes in Zusammenhang zu bringen? Die verschiedenen Antworten auf diese Fragen ergeben eine der zentralen wissenschaftlichen Debatten über die DDR seit 1989. Nach einer einleitenden Beschreibung der Schlüsselpositionen in der Debatte um Politik und Gesellschaft in der DDR (I) werden in diesem Beitrag zunächst die Hauptmerkmale der neuen empirischen Forschung knapp geschildert (II) und danach vor diesem Hintergrund die praktische Anwendung und interpretative Überzeugungskraft der verschiedenen begrifflichen und analytischen Ansätze zur Erfassung der DDRSozialgeschichte (III) und der Auflösung des staatssozialistischen Projektes (IV) bewertet.
I. Das Primat der Politik? Konkurrierende Ansichten auf Staat und Gesellschaft in der DDR
Gleich welchen Maßstab man ansetzt, kommt man zu dem Schluß, daß die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR tiefgreifend und rasch verlief. Es besteht kein Zweifel daran, daß das sozialistische Regime eine fundamentale gesellschaftliche Veränderung im Osten Deutschlands herbeiführte. Klassenstrukturen, Eigentums- und Vermögensverteilung, Bildungszugang, Arbeits- und Familienverhältnissen, Religiosität und Geistesleben – auf all diesen Gebieten vollzog sich eine grundlegende Transformation während der vierzig Jahre des DDRSozialismus. Obwohl westliche Gesellschaften natürlich auch einen großen Wandel in diesem Zeitraum erlebten, griffen die Veränderungen im Osten in der Regel tiefer. Daß sie nicht nur Erscheinungen eines allen Industriegesellschaften gemeinsamen »säkularen« Trends darstellten, zeugt von der sozial gestaltenden Macht des staatssozialistischen Regimes. Interessenvertretung sollte zur exklusiven Angelegenheit der »führenden Partei« werden, die angeblich nach den »objektiven« Interessen der werktätigen Massen regierte, und gleichzeitig sollte die SED auch als Initiator und Vollstrecker einer radikalen sozialen Umgestaltung fungieren. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel ab 1946, die Ausbildung einer zentralisierten Planwirtschaft ab 1948, die Kollektivierung der Landwirtschaft von 1952 bis 1960, die politische wie soziale Selektion beim Bildungszugang und Karriereaufstieg, die Unterdrückung aller unabhängigen Organisationen und politischen Parteien – im Prinzip war kein Gesellschaftsbereich vom monopolistischen Machtanspruch der SED ausgenommen.
Es gibt also durchaus gute Gründe, gerade die immense Macht des diktatorischen Regimes bei der Umgestaltung der Sozialstrukturen und Kontrolle der Sozialprozesse zu betonen. Kein Wunder, daß in der DDR-Forschung seit dem Ende der 1980er Jahre totalitarismustheoretische Ansätze wieder an Einfluß gewonnen haben. Allerdings ist es viel zu vereinfachend, die DDR aus totalitarismustheoetischer Sicht bloß als eine »politische Gesellschaft« darzustellen, »in der eine weitgehende Identität von privater und öffentlicher Sphäre herrschen und in der es nahezu keine staatsfreien Räume geben sollte«.[4] Nach diesem eher eindimensionalen Bild ließ die totalitäre Herrschaft des »SED-Staates« im Grunde keine Autonomie in Wirtschaft, sozialen Institutionen, Recht oder auch im Alltag zu. Die Politik der herrschenden Partei wurde weitgehend durch eine Mischung von Überwachung und Verführung, Indoktrination und Unterdrückung in die Tat umgesetzt – für eine Sozialgeschichte der DDR also eine recht unergiebige Betrachtungsweise.
Weit brauchbarer ist der Ansatz von Sigrid Meuschel, der nicht nur den »SEDStaat«, sondern auch die Entwicklungen und Widersprüche innerhalb der Teilsysteme Wirtschaft, Recht und Kultur in Betracht zieht.[5] Laut Meuschel verlangte die Durchsetzung des Totalitätsanspruches der Partei »die ökonomischen, politischen und sonstigen gesellschaftlichen Ressourcen zu zentralisieren, Klassen und Interessengruppen, Parteien und Assoziationen in ihrer relativen Unabhängigkeit zu zerschlagen und überdies eigenständige Institutionen und Regelungsmechanismen wie Markt und Recht, Öffentlichkeit und Demokratie abzubauen«. Anstelle des von den »Konvergenztheorien« der 1960er und 1970er Jahre diagnostizierten Trends nach zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung fand nach Meuschel »ein machtpolitisch durchgesetzter sozialer Entdifferenzierungsprozeß statt, der die ökonomischen, wissenschaftlichen, rechtlichen oder kulturellen Subsysteme ihrer Eigenständigkeit beraubte, ihre spezifischen Rationalitätskriterien außer Kraft setzte oder politisch-ideologisch überlagerte. Nicht der Staat starb ab im Verlauf der jahrzehntelangen Herrschaft der Partei, es handelte sich vielmehr um einen Prozeß des Absterbens der Gesellschaft.«[6] Mit anderen Worten: das Endergebnis war eine weitgehende »Stillegung« von sozialen Institutionen und eine De-facto-Verschmelzung von Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst und Freizeit, aufgrund derer der Staat seine Kontrolle über diese verschiedenen Teilgebiete der »Gesellschaft« konsolidierte.[7] Insofern dieses Argument den omnipräsenten Charakter des Staates betont, deckt es sich zum Teil mit den totalitarismustheoretischen Darstellungen. Beide Ansätze haben die gemeinsame Neigung, nur das formale Herrschaftssystem in den Blick nehmen. Die historische Wirklichkeit wird dadurch weitgehend auf eine enge Politikgeschichte reduziert, in der Partei und Staat als die einzigen wichtigen historischen Akteure vorkommen.
Obwohl die Hauptrichtung der SED-Politik – nämlich die Abschaffung von gesellschaftlicher und institutioneller Autonomie – kaum ernsthaft angezweifelt wird, ist aus diesen Gründen die These der »stillgelegten« Gesellschaft auf eine gewisse Skepsis unter Sozialhistorikern gestoßen. So umfassend die Herrschaftsansprüche der SED zweifellos waren, es gibt große Zweifel über den eigentlichen Umfang und die eigentlichen Auswirkungen dieser politischen Kontrollversuche. Überzeugende Antworten auf diese Fragen können sich freilich nicht auf eine Untersuchung von Partei und Staat beschränken, sondern müssen auch die Rolle von sozialen Strukturen, Prozessen und anderen Akteuren bei der Mitgestaltung, Hemmung und/oder Umstellung von politischen Steuerungsversuchen »von oben« in Betracht ziehen. Über diese Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels sind sich die Sozialhistoriker weitgehend einig. Doch innerhalb dieses sehr allgemeinen Konsenses existieren diverse Forschungsansätze und Ansichten hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen politischen und sozialen Faktoren und ihrer »Rangstellung« in der Geschichte der DDR.
Zur begrifflichen Fassung von Staat-Gesellschaft-Beziehungen in der DDR hat sich unter vielen Sozialhistorikern die Vorstellung einer »durchherrschten Gesellschaft«[8] durchgesetzt. Wie Jürgen Kocka formuliert hat, steht bei der sozialhistorischen Forschung über die DDR »meist nicht so sehr … die Frage nach der sozialen Basis politischer Prozesse als vielmehr die Frage nach der politischen Basis sozialer Prozesse im Vordergrund«.[9] Diese »ubiquitäre politische Herrschaft« habe »tiefreichende sozialgeschichtliche Konsequenzen« gehabt und »prägte … jene Gesellschaft bis in ihre feinsten Verästelungen hinein«. Demnach war die DDR-Gesellschaft weitgehend ein »künstliches Produkt politischer Herrschaft, von dieser ermöglicht, durchformt und abhängig«.[10]
Dagegen räumen andere Historiker sozialen Prozessen mehr Autonomie ein. Ralph Jessen z. B. argumentierte frühzeitig und direkt gegen die Annahme eines »einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft« und unterstellt »auch in diesem Fall die relative Autonomie der sozialen Dimension«.[11]Obwohl der unbegrenzte Herrschaftsanspruch der Partei zweifellos zu einer weitgehenden strukturellen Entdifferenzierung der DDR-Gesellschaft geführt habe, lasse sich die SED-Politik nicht »auf die Umsetzung eines stringenten Programmes« reduzieren; vielmehr sei sie durch eine Mischung aus ideologischen Zielsetzungen einerseits und systemkonformen Improvisationen anderseits gekennzeichnet gewesen. Ostdeutschland war freilich keine tabula rasa für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft. »Das Haus wurde gebaut aus den Steinen, die vorhanden waren«[12], zu denen die vielen Kriegsauswirkungen, tradierte industrielle, konfessionelle und professionelle Strukturen, Stadt-LandBeziehungen, schichtspezifische Milieus und vieles mehr gehörten. Zudem zeitigten die sozialen Steuerungsversuche der SED – aufgrund dieser Erbschaft und auch der Widersprüche ihrer eigenen Politik – oft unbeabsichtigte Folgen. Daher soll die realsozialistische Gesellschaft – so Jessen – als eine »hockkomplexe Mischung aus dem ideologiegeleiteten diktatorischen Konstruktionsversuch auf der einen und dem verbleibenden und neu entstehenden Eigengewicht sozialer Strukturen und Prozesse auf der anderen Seite« begriffen werden. Schlicht gesagt, gab es aus dieser Sicht keine »stillgelegte Gesellschaft«.[13]
II. Die DDR-Gesellschaft von der »antifaschistischen Umwälzung« zum »Realsozialismus«
Diese Vorstellung einer komplexen, vielseitigen Beziehung zwischen diktatorischer Intervention und sozialen Faktoren und Prozessen wird von der neueren sozialhistorischen Forschung im großen und ganzen bestätigt. In der Praxis konnte die sozialistische Transformation in Ostdeutschland keine bloße Einbahnstraße sein, sondern mußte auch zum Teil – allerdings informell, überaus asymmetrisch und oft implizit – »verhandelt« werden. Obwohl das Endergebnis ohne Zweifel als grundlegende soziale Veränderung zu betrachten ist, wird immer deutlicher, daß die sozialen Steuerungs- und Kontrollierungsversuche der SED oft eher langsam und nicht vollständig umgesetzt wurden. Auf vielen Gebieten mußte man sich mit einer »durchführbaren« Version der offiziellen Politik begnügen, und die Resultate der politisch induzierten Eingriffe wirkten aus der Sicht der SED-Führung vielfach kontraproduktiv.[14] Dies zeigte sich in vielen Bereichen, wovon hier nur einige Punkte schwerpunktmäßig betrachtet werden können: in der Umgestaltung der Wirtschaft, in der Heranbildung neuer gesellschaftlicher Führungsgruppen, in der partiellen Nivellierung tradierter und Herausbildung neuer sozialer Unterschiede und in einer tiefen Generationskluft. Im folgenden werden einige Beispiele aus der neueren sozialgeschichtlichen Forschung als Erläuterung dieser Punkte angeführt.
Aufgrund der herkömmlichen Schwäche der Kommunisten und der weit verbreiteten antikommunistischen Haltung in den ländlichen Gebieten stellte die Umgestaltung der Landwirtschaft eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen der 1940er und 1950er Jahre dar. Trotz der verheerenden Auswirkungen des Krieges und insbesondere des Flüchtlingsstromes auf dem Lande erwies sich die Beharrungskraft alter Sozialstrukturen und Denkweisen in den Dörfern schon bei der Bodenreform – dem ersten kommunistischen Eingriff in die ostdeutsche Sozialstruktur. Obwohl die Bodenreform der 1940er Jahre zweifellos eine tiefe strukturelle Zäsur mit Blick auf Bodenbesitz und -verteilung darstellte, prägten die bestehenden dörflichen Milieus und die neuen sozialen Spannungen die sozialen Wirkungen der Reformbemühungen stark. Die Enteignung der großen Bodenbesitzer wurde vielfach von der sozialen Hemmschwelle gegenüber dieser ländlichen Elite wie auch von der starken Orientierung auf Großgrundbewirtschaftung in vielen nördlichen und östlichen Gebieten behindert. Zudem begünstigten die engen sozialen Netze in vielen Dörfern die Korruption bei der Verteilung von Boden und Inventar, die in der Regel den relativ gesicherten Altbauern – nicht, wie beabsichtigt, den bedürftigen Neubauern – begünstigte.[15]
Solche Kontinuitätsfäden – soziale Achtung, Arbeitsgewohnheiten, Eigentumsvorstellungen – behinderten auch die nachfolgenden Kollektivierungskampagnen. Das Dickicht von sozialen Beziehungen auf dem Lande hatte zur Folge, daß viele Funktionäre in den Dörfern eher unzuverlässige Regimevertreter waren. Obwohl die Professionalisierung des Funktionärskörpers ab Mitte der 1950er Jahre diese geteilte Loyalitäten bei ländlichen Funktionären allmählich überwinden half, blieb auch das »vollgenossenschaftliche« Dorf nach dem »sozialistischen Frühling« 1960 eine Mischform aus politischen Zielsetzungen, bäuerlichen Interessen und älteren dörflichen Milieus. Zum einen haben viele neue LPGen eine Zeit lang nur »auf dem Papier« bestanden, zum anderen ging die herkömmliche Grenze zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen in die neue LPG-Struktur oft unversehrt über. Großbauern nahmen oft Aufsichtspositionen in den neuen LPGen ein und bildeten gelegentlich LPGen unter Ausschluß von schwächeren Betrieben. Bis Mitte der 1960er Jahre aber wurde solche soziale »Resistenz« immer schwächer und das LPG-System weitgehend stabilisiert. Grundsätzlich befand sich das »dörfliche Milieu« selbst – und damit ein großer Teil der bisherigen Beharrungskraft gegen politische Steuerung »von außen« – aufgrund der Abwanderung nach den Städten und der Verschmelzung von individuellen LPGen in einem allmählichen Auflösungsprozeß. Insgesamt stellte die Rezeption und Durchführung der Bodenreform- und Kollektivierungspolitik in den Dörfern der SBZ/DDR also eine stark umgekämpfte und langsame Transformation dar, die viel widersprüchlicher war als die Landumverteilungs- und Vergenossenschaftlichungsstatistik auf den ersten Blick andeuten.[16]
Obwohl die SED sich eher in den Industriezentren als auf dem flachen Lande beheimatet fühlte, ging der Versuch, die Arbeiterschaft zu mobilisieren und die Produktion in den »volkseigenen« Betrieben streng zu kontrollieren, letztendlich erfolgsloser aus als die Transformationsbemühungen in den Dörfern. Dem SEDRegime gelang es weitgehend, die Arbeitsstrukturen und -kultur in den Betrieben umzubauen, doch wirkten die Änderungen in der Praxis in wesentlichen Hinsichten kontraproduktiv. Zum einen schlugen die Hoffnungen vieler Arbeiter auf eine sozialistische Transformation nach dem Grauen des Nationalsozialismus bald in Enttäuschung um, als die Partei die Betriebsräte und Gewerkschaftsorganisationen allmählich ablöste.[17] Zum anderen mußte die Parteiführung wegen Arbeitskräftemangel und des Fehlens eines deutlichen Lohnanreizes ständig mit unzureichender Produktivität, schlechter Arbeitsdisziplin und kaum kontrollierbaren Lohnerhöhungen fertigwerden. Die gelegentlichen Produktivitätskampagnen blieben weitgehend wirkungslos, zum Teil weil viele Betriebsmanager das Konfliktpotential mit den Arbeitnehmern vermindern wollten – auch wenn dies nur auf Kosten der gesamten Planwirtschaft zu erreichen war. So wurden Betriebsunstimmigkeiten über die Einführung »harter« Arbeitsnormen oder Leistungslohn, über die Herabsetzung von Prämien usw. oft durch informelle Konfliktregulierungsmechanismen vor Ort beigelegt, die die Parteiführung schon in den ersten Jahren nach der Gründung der DDR – und insbesondere nach den Ereignissen im Juni 1953 – im Interesse des Betriebsfriedens tolerieren mußte.[18]Während es den Industriearbeitern gemeinsam mit den Bauern an formeller Interessenvertretung gegenüber dem Regime fehlte, bestand ein wichtiger Unterschied zwischen beiden gerade in diesem versteckten »Lohnhandel« in den Industriebetrieben. Als durchaus rationale Verhaltensweisen innerhalb des sozialistischen Wirtschaftssystems blieben diese informellen Verhandlungsstrukturen auf Betriebsebene und die damit verbundenen Lohn- und Produktivitätsprobleme ein zentrales Merkmal der »volkseigenen« Betriebe bis zum Zusammenbruch der DDR und trugen schließlich selbst durch ihre lähmenden wirtschaftlichen Wirkungen maßgeblich zum Zusammenbruch bei. »Realsozialismus« in den Industriebetrieben entsprach also kaum der ursprünglichen Vision der SED.[19]
Aufgrund der starken NS-Belastung nahezu aller deutschen Elitengruppen lag ein Schwerpunkt der sozialen Umgestaltungsbemühungen der SED in der Heranbildung einer neuen Funktionselite, einer sozialistischen »Intelligenz«. Durch die Schaffung von Ausbildungsschleusen wie den »Arbeiter- und Bauernfakultäten« und die Einführung eines Systems positiver Diskriminierung in den Hochschulen sollte das bürgerliche Bildungsprivileg endgültig gebrochen werden. Nicht nur aus egalitären/ideologischen Gründen, sondern auch aus politischtaktischen Gründen sollte eine möglichst hohe Proportion dieser neuen Intelligenz aus den unterbürgerlichen und insbesondere aus den Industriearbeiterschichten rekrutiert werden, die ihren Aufstieg der SED so zu verdanken hatten und sich deswegen mit der Partei identifizieren sollten. Tatsächlich führte die SED-Bildungs- und »Kaderpolitik« – im Zusammenhang mit der Entnazifizierung und der Abwanderung von abertausenden Professionellen, technischen Experten und Kaufleuten in den Westen[20] – zu einer unerhörten sozialen Mobilität in den 1950er Jahren, wobei allerdings politische Zuverlässigkeit, nicht soziale Herkunft per se, das ausschlaggebende Selektionskriterium bildete.[21]
Doch die Erfordernisse der Rekonstruktion verlangten eine sehr differenzierte Herangehensweise gegenüber den verschiedenen Berufssparten, was die Umgestaltung der gesellschaftlichen Führungsgruppen und damit auch die Nivellierung der sozialen Unterschiede im allgemeinen langfristig verhinderte. Ganz deutlich werden diese unterschiedlichen Herangehensweisen durch einen Vergleich zwischen den Lehrberufen und den Ärzten. Das Profil der Lehrberufe wurde wegen ihrer weitgehenden Nazifizierung vor 1945 und ihrer zugeteilten politischen Rolle bei der antifaschistischen Umwälzung besonders rasch und gründlich umgeformt. Kurz nach Ende des Krieges wurden ungefähr 50 Prozent aller Schullehrer in der SBZ entlassen und durch Tausende meistens unerfahrene und schlecht ausgebildete »Neulehrer« ersetzt.[22] Im Gegensatz dazu mußten wegen akuter Gesundheitsversorgungsprobleme nur sehr wenige Ärzte aus ihren Positionen entlassen werden, obwohl ca. 80 Prozent der Ärzte NSDAP-Mitglieder gewesen waren. Zudem blieb die tradierte »bürgerliche« Selbstrekrutierungstendenz unter Ärzten bis in die 1960er Jahre hinein weitgehend intakt. Angesichts des bestehenden Ärztemangels und insbesondere der durchlässigen Grenzen nach West-Berlin konnte es sich die SED kaum leisten, gegen Mediziner einen Konfrontationskurs zu steuern.[23] Auch die Umgestaltung der Ingenieurberufe wurde durch die Schlüsselstellung und Beibehaltung (mittels Sonderverträge usw.) vieler »bürgerlicher« Experten beim wirtschaftlichen Aufbau und zudem durch den begrenzten Erfolg der Rekrutierungskampagnen unter Industriearbeitern lange Zeit behindert.[24] Selbst innerhalb der Hochschulen fielen die Veränderungen in den verschiedenen Fakultäten sehr unterschiedlich aus: während die politisierten Geistesund Gesellschaftswissenschaften relativ rasch umgestaltet wurden – auch im Vergleich zu den Hochschulen in benachbarten sozialistischen Staaten[25] – , waren die Naturwissenschaften von einer starken personellen und strukturellen Kontinuität geprägt, jedenfalls bis weit in die 1960er Jahre hinein.[26] Schließlich gab es tiefgreifende Änderungen in allen Berufsgruppen. Aber es steht auch fest, daß die Entmachtung traditionaler Führungsgruppen und die soziale und kulturelle »Entbürgerlichung« der DDR-Gesellschaft aufgrund der offenen Grenze, der wirtschaftlichen Schlüsselstellung vieler bürgerlicher Experten und der Trägheit tradierter sozialer Werte viel langsamer und widersprüchlicher war, die Kontinuitäten dauerhafter und beharrlicher waren als oft angenommen worden ist.[27]
Erwies sich die Durchsetzung des Kadersystems als ein komplizierter und umkämpfter Prozeß, waren seine Auswirkungen durchaus ambivalent. Allerdings wurde das Hauptziel – nämlich die Schaffung einer möglichst regimetreuen »Dienstklasse« – in wesentlichen Punkten erreicht. Das Kadersystem trug maßgeblich zur Stabilisierung der SED-Herrschaft bei, und trotz einer scheinbaren technokratischen Machtverschiebung in den 1960er Jahren stellte das DDR-Expertentum zu keinem Zeitpunkt eine »Gegenelite« oder gar ein von der SED-Führung unabhängiges Machtzentrum dar.[28] Obwohl es durchaus Spannungen zwischen Machtelite und Funktionselite gab, blieb die offene Konfrontation aus. Doch langfristig war der Preis des Kadersystems geradezu immens, wie fehlende Leistungsstärke und eingebüßtes Innovationspotential zeigten. Die zentrale Bedeutung der politischen Zuverlässigkeit als Aufstiegskriterium verstärkte die politische Kontrolle, verminderte aber die Konkurrenz und Risikobereitschaft. Freilich befanden sich im Leitungskader sehr viele kompetente und engagierte Experten, deren Know-how, Einsatzbereitschaft und Krisenmanagement das schlecht funktionierende Wirtschaftssystem lange Zeit aufrechterhielten. Abgesehen von der individuellen Leistung begünstigte das System der politischen Selektion und Perspektivpläne eine gewisse Provinzialität, förderte den Nepotismus und führte schließlich zu unübersehbaren Stagnierungstendenzen in der Wirtschaft und auch zum Teil in der Wissenschaft.[29]
Hinzu kam die zunehmende und ideologisch äußerst peinliche Selbstrekrutierung der Führungsschichten ab den 1970er Jahren, die Teil einer allgemeinen Verkrustung der einst flüssigen Sozialstruktur der DDR war. Kam in den 1950er Jahren eine relativ hoher Anteil der Hochschulstudenten aus Arbeiterfamilien, schrumpfte diese Quote im Laufe der 1960er und 1970er Jahre rasch und fiel schließlich unter das Niveau der Bundesrepublik.[30] Dabei spielten nicht nur Sozialisationsprozesse innerhalb der Familie eine wichtige Rolle, sondern auch der Abbau der Fördermaßnahmen für Arbeiterkinder und selbst die Bezeichnung fast aller Funktionäre als Nachkommen der »Arbeiter- und Bauernklasse«, wobei diese demographische Kategorie nahezu bedeutungslos wurde.[31] Wie oben bemerkt, war diese Bezeichnung schon in der Aufbauphase der 1950er Jahre nur von begrenztem Wert, da der Vorrang der politischen Zuverlässigkeit als Selektionskriterium eine großzügige und durchaus unsoziologische Auslegung des Begriffs »Arbeiterherkunft« nahelegte. Ohnehin bedeutete die »Entbürgerlichung« der DDR-Gesellschaft während der 1950er und 1960er Jahre keine klare Vorherrschaft der »Arbeiterklasse«. Um nur ein Beispiel zu nennen: bei der Umgestaltung der Hochschulen profitierten die Mittelschichten (außer dem Bildungsbürgertum) deutlich mehr als die Arbeiterschichten, die freilich immer als die »offiziellen« Gewinner der SED-Hochschulpolitik galten.[32]
Die zunehmende Festigung der DDR-Sozialstruktur und die entsprechend abnehmenden Aufstiegschancen trafen natürlich die jüngeren Generationen besonders hart. Die hohe und zum Teil unmittelbar politisch verursachte Mobilität der 1950er Jahre trug zweifellos zur Integration der sogenannten »Aufbaugeneration« in das sozialistische System bei, bedeutete aber zugleich eine schwere Hypothek für die Integration der nachkommenden Alterskohorten, gerade weil relativ junge (und dem Ruhestand weit entfernte) Kader viele Stellen besetzten.[33] In diesem Zusammenhang argumentiert Heike Solga pointiert, daß »die gesamte Entwicklung der DDR-Gesellschaft den Lebensabschnitten, Bedürfnissen und Interessen einer Generation folgte, nämlich denen der ›alten Garde‹«.[34] Die daraus resultierende Generationskluft war also nicht nur tief, sondern auch strukturell kaum überbrückbar. Zudem waren die sozialen und politischen Auswirkungen dieser Generationsschranke von grundlegender Bedeutung für den allmählichen Loyalitätsverfall in der DDR. Im krassen Gegensatz zur utopischen SED-Rhetorik war das Ergebnis schon in den 1970er Jahren eine stagnierende Gesellschaft, die zur zunehmenden Frustration der jüngeren Generation führte – »nach außen durch die Mauer und nach innen von einer eingefrorenen und rigiden Sozialstruktur blockiert«.[35] In diesem Sinne war es kein Zufall, daß die Mehrheit der Demonstranten im Herbst 1989 jünger als 45 Jahre alt war.
So wichtig die Kategorie Generation für die Rekonstruktion der DDRSozialgeschichte ist, spielten auch geschlechtsspezifische Strukturen und Prozesse eine zentrale Rolle. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung zählten Frauenemanzipation und Gleichberechtigung der Geschlechter zu den »größten Errungenschaften« der DDR.[36] Nach der sozialistischen Definition der Frauenemanzipation als Befreiung von sozialer Abhängigkeit von Männern und Gleichheit mit Bezug auf die Produktionsmittel verfolgte die SED-Frauenpolitik zwei verwandte Ziele: erstens die weibliche Erwerbstätigkeit zu fördern bzw. Arbeitskraft zu mobilisieren, und zweitens die allgemeine Rechts-, Lohn- und Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern zu schaffen. Die Kombination von Beruf und Familie wurde durch eine Reihe von sozialen Einrichtungen und gesetzlichen Regelungen[37] befördert, was zur Folge hatte, daß die DDR in den 1980er Jahren eine Frauenerwerbsquote von rund 90 Prozent erreichte – eine der höchsten Quoten der
Welt und deutlich höher als die der BRD (rund 50 Prozent). Trotzdem wird die »emanzipatorische« Wirkung dieser Politik stark angezweifelt. Vielfach wird darauf hingewiesen, daß hauptsächlich »Mütter« und nicht unbedingt »Frauen« vom Staat unterstützt wurden und daß das Fehlen von entsprechender Vaterschaftsunterstützung – auch im Vergleich zu vielen westeuropäischen Ländern – die herkömmlichen Geschlechterrollen bei der Kindererziehung eigentlich aufrechterhielt. So entstand durch die Beförderung der Frauenerwerbstätigkeit die klassische »Doppelbelastung«, die in der Praxis die behauptete Chancengleichheit unterminierte. Für die Mehrheit der Frauen bedeutete die Geburt der Kinder einen Karriereknick. Wie auch im Westen waren Frauen in den meisten Berufen unterrepräsentiert, und die Einkommensunterschiede blieben sogar bei gleicher Qualifikation weitgehend bestehen.[38] Zudem erwiesen sich herkömmliche Vorstellungen über »Männerarbeit« und »Frauenarbeit« in der DDR als sehr beharrlich. So blieb die DDR laut »Frauenreport ’90« trotz der Förderungsmaßnahmen eine »patriarchalische« Gesellschaft, die die Ungleichheit von Frauen und Männern »beginnend beim Bildungssystem, über die berufliche Qualifikation, die Gestaltung der Berufs- und Arbeitswelt und über eine einseitig auf die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft statt Elternschaft orientierte Sozialpolitik aufs Neue reproduziert«.[39] Wie das Beispiel der Frauenförderung besonders deutlich zeigt, lassen sich in beträchtlichem Maße Kontinuitäten und Ungleichheiten selbst dort erkennen, wo Diskontinuität und relative Gleichheit zu herrschen schien.
Diese Feststellung kann auch allgemein auf die vertikale Schichtenbildung der DDR-Gesellschaft übertragen werden. Obwohl die herkömmlichen sozialen Unterschiede sich durch Lohnnivellierung und Konsummangel deutlich verringerten, wurden sie nie vollständig abgeschafft und wurden zudem von neuen sozialen Ungleichheiten innerhalb des staatssozialistischen Systems überlagert. Dabei wogen Einkommensunterschiede – abgesehen von den Gehältern im Bereich der Staatssicherheit, die mehr als doppelt so hoch als in der Industrie liegen konnten[40] – nicht so schwer für die Lebensstandardkalkulation wie der Zugang zu bestimmten Privilegien und Zusatzversorgungen oder die Verfügung über Westkontakte (oder genauer: der Zugang zu Devisen). Wiederum waren bei der Verteilung von Privilegien politische Faktoren ausschlaggebend, wobei allerdings eine Karriere im Staats- oder Parteiapparat in dieser Hinsicht zweischneidig sein konnte. Während einige Funktionäre und Prominenten als Reisekader in den Westen reisen durften, lebten andere – wie z. B. Angehörige der Streitkräfte oder des MfS – unter striktem Verbot von Westkontakten. Genau deswegen erhielten Mitarbeiter in diesen Kreisen bestimmte Sonderprivilegien quasi als Ausgleich für den Westkontaktverbot. Die Verteilung von Wohnraum war auch ein entscheidender Faktor für das Lebensniveau, der mehr oder weniger deutlich die beruflichen und sozialen Hierarchien der DDR-Sozialstruktur widerspiegelte. Während Einfamilienhäuser vorwiegend von Leitungspersonal bewohnt waren, wohnten in den Neubauten vorwiegend Angestellte und waren Produktionsarbeiter überproportional in Altbauwohnungen vertreten.[41]
Freilich waren solche Ungleichheiten nicht so groß wie im Westen: die Gruppenunterschiede waren objektiv kleiner, und die Mangelwirtschaft setzte dem »Geltungskonsum« relativ enge Grenzen. Doch was die politische Legitimierung des Systems betrifft, waren subjektive Wahrnehmungen – nämlich der Kluft zwischen politischer Rhetorik und sozialer Wirklichkeit – vielleicht von größerer Bedeutung als diese objektive Differenzen. Aufgrund der zentralen Bedeutung des Gleichheitsprinzips unter dem Staatssozialismus erlangten selbst kleinere Unterschiede – und insbesondere der Ideologie widersprechende Unterschiede – eine politische Brisanz, die sie in kapitalistischen Gesellschaften kaum erreichen können. Und zu allem Übel nahmen solche Ungleichheiten im Laufe der Jahre scheinbar nicht ab, sondern immer weiter zu. Ein besonders auffälliges Beispiel war der Ausbau der sogenannten »Intershops« ab Mitte der 1970er Jahren, die den Zugang zu Devisen zu einem geradezu ausschlaggebenden Faktor des individuellen Lebensstandards machten. Die durch solche Entwicklungen neu entstandene Schichtenbildung wurde von der Bevölkerung ständig angeprangert und widersprach auf krasse Weise dem sozialistischen Prinzip »jedem nach seinen Bedürfnissen« – nicht nach dem Wohnort seiner Tante, wie Wolfgang Harich beklagte.[42] Über das Ausmaß und die politische Bedeutung dieser Ungleichheiten war sich die SED-Führung durchaus im klaren. Wie Lothar Mertens jüngst gezeigt hat, lieferte eine Reihe empirischer Studien an der Akademie der Gesellschaftswissenschaften ein recht detailliertes Bild der sozialen Ungleichheiten in der DDR.[43] Anstatt auf der Grundlage der in diesen Studien widergespiegelten sozialen Wirklichkeit zu agieren, hielt die Parteiführung an der ritualisierten Gleichheits- und Klassenannäherungsrhetorik fest. So wurde das offizielle Bild der »realsozialistischen Gesellschaft« zu einer immer unglaubhafter wirkenden Inszenierung: daß die ideologisch bornierte Bezeichnung der DDR-Gesellschaft als bestehend aus »zwei Klassen und einer Schicht« – Arbeiter, Bauern, Intelligenz – eine reine Fiktion war, lag natürlich auf der Hand.[44]
III. Die begriffliche Erfassung der gesellschaftlichen Komplexität
Diese Mischung aus diktatorischer Steuerung, Traditionsballast und unbeabsichtigten Auswirkungen der SED-Politik wird häufig mit »Grenzen der Diktatur« umschrieben.[45] Dabei werden nicht nur die immense Macht des Regimes und der große Umfang der sozialen Veränderung und Kontrolle anerkannt, sondern auch die vielen hemmenden, abschwächenden oder mitbestimmenden Faktoren berücksichtigt. Auch wenn sich dieser Begriff als sinnvoll erwiesen hat, so sind ihm doch gewisse Nachteile eigen. Obwohl er einerseits Akteure und Prozesse in Betracht zieht, die von totalitarismustheoretischen Ansätzen weitgehend ausgeschlossen werden, reproduziert er andererseits gerade die begriffliche Grundlage dieser Ansätze, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens werden in beiden Fällen die Absichten des Regimes als analytischer Ausgangspunkt genommen, was zur Folge hat, daß die eigentlichen sozialen Entwicklungen sozusagen durch die Linse der Behörden und ihrer Gesellschaftspläne betrachtet werden; Maßstab bleiben in beiden Fällen die Gesellschaftspläne des Regimes. Zweitens gehen beide Ansätze von derselben Machtvorstellung aus: Die diktatorische Macht wird sozusagen im Zentrum des Regimes »geortet«, von dort habe sie bis zur Peripherie des Regimes und auf die von ihr regierte Gesellschaft ausgestrahlt. Der Unterschied besteht darin, ob man diese Macht als begrenzt – und daher jenseits von gewissen Grenzen nicht herrschend – oder als im wesentlichen unbegrenzt betrachtet. Lehnt man aber die Vorstellung, Macht sei von den Grenzen her definierbar, ab und geht statt dessen von einer Definition der Macht als diffusem und ubiquitärem Einflußfeld aus, ist der herkömmliche begriffliche Gegensatz zwischen Diktatur und Gesellschaft viel leichter zu überwinden. So können schließlich die gesellschaftlichen Beziehungen als vielschichtige sich deckende Felder von verschiedenen gesellschaftlichen Werten und Interessen betrachtet werden.
In dieser Hinsicht bietet der von Alf Lüdtke entwickelte Begriff der »Herrschaft als sozialer Praxis« ein gewisses Korrektiv an.[46] Herrschaft wird hier nicht nur wie in der klassischen Weberschen Vorstellung als eine auf sozialen Institutionen und legitimierender Ideologie ruhende asymmetrische Beziehung begriffen, sondern auch als Prozeß, ja in gewissem Maße als Wechselwirkungs- oder gar als Austauschbeziehung zwischen Herrschern und Beherrschten. In dieser Betrachtungsweise ist eine saubere begriffliche Unterscheidung zwischen »aktiven« Herrschern und »passiven« Beherrschten, zwischen Staat und Gesellschaft kaum möglich.[47] Obwohl es dem SED-Regime weitgehend gelang, die Autonomie nahezu aller sozialen Organisationen und Institutionen abzuschaffen, blieben seine Vertreter an der Basis (Betriebsfunktionäre, Abschnittsbevollmächtigte, FDJ-Sekretäre usw.) zur Durchsetzung zentraler Steuerungsversuche (Kollektivierung, Planerfüllung oder verschiedene Zustimmungsinszenierungen) in gewissem Maße auf Zusammenarbeit mit »gewöhnlichen« DDR-Bürgern angewiesen. Die DDR-Bevölkerung spielte also in diesem Sinne eine aktive, keinesfalls nur reaktive Rolle beim Aufbau des DDR-Sozialismus.
Freilich sollen hier die vielen rein reaktiven Verteidigungsaktionen gegen Steuerungsversuche »von oben« oder das krasse Ungleichgewicht dieser Machtbeziehung nicht übersehen werden. So warnen einige Befürworter der Totalitarismustheorien vor den angeblich verharmlosenden Tendenzen von Forschungsansätzen, die in der einen oder anderen Weise von der Machtkonzentration beim Politbüro, vom grundsätzlichen Fehlen demokratischer Verantwortlichkeit oder von den Unterdrückungsorganen des Regimes ablenken, indem sie letztendlich den fundamentalen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie verwischen. So ernst man diese Risiken nehmen sollte, gibt es m. E. keine überzeugenden Anhaltspunkte für die Annahme, daß solche Forschungsansätze diese Unterschiede zwangsläufig verwischen oder das SED-Regime beschönigen. Es darf als mehr oder weniger selbstverständlich gelten, daß das Grundmerkmal der staatssozialistischen Gesellschaft im Gegensatz zu westlich-demokratischen Gesellschaften in der starken Durchdringung der Gesellschaft durch die herrschende Partei bestand, die prinzipiell nicht bereit war, auch nur einen Gesellschaftsbereich unbeeinflußt zu lassen. Geht man von dieser Voraussetzung aus, können solche Ansätze vielmehr ein neues und nützliches Licht auf die Struktur und Entwicklung von Herrschaft in der DDR werfen und insbesondere darauf, wie »gewöhnliche« Menschen diese Herrschaftsstrukturen für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten und dabei in gewissen Maßen änderten.
Zur begrifflichen Fassung von Staat und Gesellschaft in der DDR ist diese Perspektive »von unten« – obwohl in der Forschungspraxis weitgehend auf der Mikroebene angelegt – von grundlegender Bedeutung. Laut Thomas Lindenberger hat es eine »DDR-Gesellschaft« im Sinne eines nicht nur vom Staate gelenkten Sozialbereiches zweifellos gegeben, allerdings auf die untere Ebene beschränkt, wo eine halbwegs autonome Interessenvertretung möglich war – d. h. in den »kleinen Welten« des Betriebs, des Dorfes, der Arbeitsstelle. Diese Ansicht weist bestimmte Ähnlichkeiten mit der klassischen totalitarismustheoretischen Vorstellung von »islands of separateness«[48] und mit Günter Gaus’ berühmtem Begriff der »Nischengesellschaft«[49] auf, der entscheidende Unterschied besteht in der Betonung von Überschneidung – nicht Getrenntheit – von formalem/offiziellem und informellem/privatem Bereich. Diese kleinen Welten bildeten nach Lindenberger keine »islands of separateness«, er spricht von begrenzten Interaktions- und Verhandlungsfeldern zwischen diktatorischem Staat und Gesellschaft – allerdings nur auf individueller, nicht intermediärer Ebene – , und insofern waren sie doch »verinselt«. Deshalb war die Gesellschaft in der DDR, so Lindenberger, »weder abgestorben oder stillgelegt, sie war vor allem begrenzt«.[50]
Die Interaktion zwischen Staat und sozialen Akteuren wirkte sich auf zahlreichen Gebieten fruchtbar aus. Nicht nur die Herrschaftsbeziehungen in den Industriebetrieben und LPGen waren von einem bestimmten Geben und Nehmen geprägt: Selbst die streng kontrollierte Zensur beruhte in gewissem Maße auf Verhandlungen zwischen verschiedenen Gruppen (Verlegern, Ministern, Künstlern, Wissenschaftlern, Erziehern) mit verschiedenen Interessen (finanziell, politisch, ästhetisch, pädagogisch) und wurde daher von sozialen Kräften beeinflußt.[51] Um die Rolle von sozialen Beziehungen und Prozessen in der DDR zu erforschen, ist es also erforderlich, nicht nur die (weitgehend »entdifferenzierten«) Makrostrukturen der »DDR-Gesellschaft« zu untersuchen. Der Staat bestand nicht nur aus Zentralbehörden; er kann also von der Gesellschaft nicht sauber getrennt werden. Basisfunktionäre in ihrer Rolle als Regimevertreter »vor Ort« waren ebensosehr Teil der DDR-Gesellschaft als Rädchen in der Staatsmaschinerie, und ihre politischen Vorstellungen und Loyalitäten waren oft – insbesondere in den frühen Jahren – von den Ansichten des »durchschnittlichen« Bürgers kaum zu unterscheiden. Obwohl immense persönliche Probleme in den 1940er und frühen 50er Jahren unvermeidbar waren, spielten viele Basisfunktionäre auch in den folgenden Jahren eine zwiespältige Rolle im Umgang mit der lokalen Bevölkerung, wenn es um die Praxis in der Landwirtschaft, Arbeitsbedingungen, Unterkunftsbeschwerden usw. ging.[52] Die Anwendung von »offiziellen« Regeln und Anleitungen auf die Alltagsentscheidungen und -situationen erwies sich für einen Basisfunktionär häufig als schwierig oder gar unmöglich. Aus all diesen Gründen liegt es nahe, daß die Spaltungen in der DDR-Gesellschaft nicht so sehr zwischen Regime und Bevölkerung oder zwischen Staat und Gesellschaft verliefen, sondern eher zwischen Zentrum und Peripherie.
Dies heißt aber nicht, daß die Sozialgeschichte der DDR unbedingt als ein weitgehend »verinselter« oder auf lokaler Ebene »begrenzter« Teil des Realsozialismus zu verstehen ist. Trotz der vielen Vorteile dieses Ansatzes suggeriert der Begriff der »begrenzten Gesellschaft« und die Ansicht, Sozialgeschichte sei auf kleine Strukturen der unteren Ebene beschränkt, eine ziemlich enge Vorstellung der sozialen Dimension: sie existiere vermutlich unterhalb einer diktatorisch kontrollierten »politischen Dimension«. Auch dieser Begriff tendiert dazu, die von ihm relativierte Unterscheidung zwischen dem Politischen und Sozialen aufs Neue zu reproduzieren. Eine so strikte Unterscheidung zwischen dem »politischen« Bereich einerseits und den »kleinen Welten« einer begrenzten Gesellschaft andererseits widerspricht dem ursprünglichen Ziel des ansonsten vielversprechenden »interaktiven« Ansatzes: nämlich eine Kombination von Politik-, Sozialund Kulturgeschichte. Mehr noch: die weitreichenden politischen Auswirkungen dieser unzähligen »kleinen Welten« auf allen Ebenen des Regimes – nicht nur auf lokaler Ebene – bleiben dabei unbelichtet. Dadurch wird ein zweites, genauso anzustrebendes Forschungsziel nicht erreicht: nämlich die Verbindung von Makro-, Mikro- und Mesoebene. Insbesondere für die 1980er Jahre scheint es m. E. erforderlich, diese interaktive Vorstellung von staatlichen und sozialen Akteuren und Prozessen nicht auf die lokale Ebene zu beschränken, sondern zur allgemeinen begrifflichen Erfassung der DDR-Gesellschaft zu verwenden. Sonst ist das große Paradox der 1980er Jahre kaum zu erklären: das Nebeneinander von kontinuierlicher Anpassung und Stagnation einerseits und den neuen Auflösungs- und Dissensströmungen andererseits, die schließlich in die Massenemigration, die Demonstrationen und den Zusammenbruch des SED-Regimes mündeten. Wie konnte eine »entdifferenzierte« oder »begrenzte« Gesellschaft – die ja vergleichsweise wenige Zeichen einer aufkeimenden Zivilgesellschaft wie in Polen oder Ungarn aufwies – so schnell außer Parteikontrolle geraten und so stark gegen das Regime mobilisiert werden?
IV. Gesellschaftliche Aktivierung und das Ende des DDR-Staatssozialismus
Auf diese Fragen gibt es keine klaren Antworten, doch bietet Detlef Pollacks Begriff der »konstitutiven Widersprüchlichkeit« der DDR-Gesellschaft ein plausibles Argument und einen brauchbaren Ansatz.[53] Demnach herrschten in der DDR eine Vielzahl gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte: z. B. die Erfordernisse des formalen Wirtschaftssystems gegen die informellen Tauschbeziehungen; der politische Homogenisierungsdruck gegen die Differenzierungsbedürfnisse einer modernen Industriegesellschaft; die Rhetorik der Gleichheit gegen die produktive Ausnutzung von Eigeninteressen usw.[54] Diese Widersprüche waren nach Pollack unvermeidbar und wirkten destabilisierend: unvermeidbar, da die SED nicht bereit war, soziale Macht auf andere Institutionen oder Organisationen zu übertragen, die vielleicht imstande gewesen wären, diese Gegensätze zu vertreten und/oder zu lösen; und destabilisierend, da das staatssozialistische System die Offenlegung dieser grundsätzlichen und unvereinbaren Widersprüche in der Öffentlichkeit kaum überleben konnte.
Die DDR-Führung versuchte die unbeabsichtigten Widersprüche in das formale System zu integrieren: etwa durch Einführung von Leistungsentlohnung, Vergrößerung der Einkommensunterschiede, Anerkennung der Konsumwünsche der Bevölkerung, Erweiterung des wirtschaftlichen Austausches mit dem Westen, Tolerierung von informellen Tauschbeziehungen, Wiederbelebung von nationalen Symbolen und Traditionen als politisches Integrationsmittel usw. Auf diese Weise wurde laut Pollack »die mit der sozialistischen Gesellschaftskonstruktion verbundene umfassende Reduktion von sozialer Wirklichkeit … also durch eine merkwürdige Anerkennung der zunächst ignorierten gesellschaftlichen Komplexität kompensiert«.[55] Staatliches Handeln brachte »andere als die intendierten Wirkungen hervor, auf die es sich seinerseits einstellen mußte«.[56] Soziale Strukturen und Prozesse hatten also weitreichende – nicht nur »verinselte« und eng begrenzte – politische Auswirkungen. Mit anderen Worten: Sowenig es vollkommen »politikfreie« Bereiche der DDR-Gesellschaft geben konnte, sowenig gab es Politikbereiche, die von sozialen Entwicklungen und Prozessen völlig unbeeinflußt blieben. Wie Ralph Jessen früher formuliert hat, »(war) das Eigentümliche dieses politisch-sozialen Systems nicht, daß die Gesellschaft ›stillgelegt‹ worden wäre. Es scheint vielmehr so, als wenn der ausgreifende, entdifferenzierte, entgrenzte Staat, eben weil er seine Grenzen verloren hatte, in einer gewissen Weise immer mehr vergesellschaftet wurde«.[57]
Das Ziel dieser Einwirkungen seitens der SED-Führung war freilich keine Übertragung von Entscheidungskompetenz und kein Interessenausgleich, sondern die Sicherung der Parteiherrschaft vor diesen neuen Herausforderungen. Das grundlegende Problem – die Zentralisierung der Herrschaft – blieb also bestehen und blockierte die notwendige Reform des Systems. Solange diese gesellschaftlichen Spannungen durch die Gängelung der Öffentlichkeit verdeckt blieben – so Pollack –, erweckte die DDR den Anschein eines stabilen Staates. Doch als im Herbst 1989 eine kritische unabhängige Öffentlichkeit entstand, die durch die Auflösung der äußeren Systembarrieren stark gefördert und beschleunigt wurde, brach das Regime überraschend schnell zusammen. In diesem Sinne war das Endergebnis der diktatorischen Homogenisierungsversuche genau das Gegenteil von Homogenisierung: nämlich soziale Fragmentierung und Auflösung, die unmittelbar auf den prinzipiell unbegrenzten sozialen Herrschaftsanspruch der SED zurückzuführen war.[58] Der Homogenisierungsdruck des realsozialistischen Gesellschaftsentwurfes wirkte also letztendlich kontraproduktiv und förderte die Ausbreitung von Subkulturen und alternativen Wertesystemen neben dem »offiziellen« System.[59]
Allerdings waren diese zentrifugalen Prozesse nicht ausschließlich »systemimmanent«; sie wurden von der Existenz eines wohlhabenden und demokratischen Gegenstücks jenseits der innerdeutschen Grenze stark begünstigt. Der SEDFührung war durchaus bewußt, daß die DDR-Bevölkerung ihren Staat vielfach nach dem Maßstab der Bundesrepublik (oder zumindest des von den Westsendern ausgestrahlten Bildes) beurteilte. Während der Überholungseuphorie der späten 1950er Jahre wurde die Führung dadurch angespornt, unter Honecker versuchte sie mit den Abgrenzungsbemühungen vergeblich, dies zu verhindern. Die tägliche »virtuelle Auswanderung« vor dem Fernseher verstärkte die weitverbreiteten Vorstellungen von der attraktiven Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik und höhlte dabei auch die Rhetorik von der Überlegenheit des Sozialismus ständig aus. Die Träume vom »goldenen Westen« und die zunehmende Rolle der D-Mark als inoffizielle zweite Währung in der DDR verkörperten ein alternatives Wertesystem, das mit den offiziellen Werten des »Realsozialismus« konkurrierte.[60]Westliche oder west-inspirierte Kleidung, Musik und Freizeitaktivitäten waren unter Jugendlichen sehr populär und wurden nach Aufgabe der AntiDekadenzkampagnen der 1960er Jahre in der Praxis toleriert. Ständige Versuche der DDR-Medien, den positiven Vorstellungen vom Westen durch Hinweis auf die verwerflichen Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft (Arbeitslosigkeit, Kriminalität usw.) entgegenzuwirken, blieben weitgehend wirkungslos, erstens wegen der weitverbreiteten Skepsis gegenüber den offiziellen Medien und zweitens, weil solche sozialen Probleme für die überwiegende Mehrheit der DDRBürger, die nicht in den Westen reisen durfte, abstrakt blieben.
Innerhalb der eingemauerten »realsozialistischen« Gesellschaft fungierten bekanntlich Familien- und Bekanntschaftsbeziehungen, Nachbarschaften, Dörfer, die berühmte »Datschen-« und »Schrebergärtenkultur«, selbst Arbeitskollektive nicht nur als eine Art »heile Welt«[61] neben dem Frust und Anpassungsdruck des Alltags, sondern bildeten auch halbunabhängige soziale Knotenpunkte, die Teil des allgemeinen und daher von der politischen Steuerung stark geprägten Gesellschaftsgefüges waren, in denen sich jedoch ein mehr oder weniger »unpolitisches« persönliches Leben entfalten konnte. Außerdem gab es eine Reihe informeller sozialer Beziehungen und Prozesse, die als eine Art Ersatz für die Defizite der zentralen Planwirtschaft oder für die formal fehlende unabhängige Interessenvertretung unter der Einparteienherrschaft fungierten. Da die Gewerkschaften und andere Organisationen weitgehend von der Partei gleichgeschaltet wurden, konnten sich soziale Interessen im großen und ganzen nur durch diese informellen Bekanntschaftsstrukturen – sozusagen in kleinen »Teilöffentlichkeiten« – ausdrücken. Anstelle eines funktionierenden Marktes entwickelten sich persönliche Tauschbeziehungen, wobei Dienstleistungen und Güter oft ohne Geld gehandelt werden konnten. Insbesondere wurden Luxusartikel oder Mangelware – z. B. Gebrauchtwagen[62] – über diese rudimentären Marktstrukturen gehandelt. Anstelle echter Bürger- oder Konsumentenrechte dienten Leserbriefe an satirische Zeitschriften oder Eingaben an die Staatsbehörden als unmittelbare Kommunikationskanäle für verschiedene Beschwerden und Ansichten.[63]
Inwieweit sind solche informellen Strukturen und Prozesse als eine Aushöhlung der SED-Herrschaft bzw. als Vorläufer des Zusammenbruchs zu verstehen? Ihre politischen Auswirkungen waren in der Praxis zweideutig: sie wirkten insofern systemstabilisierend, als sie bestimmte wirtschaftliche und politische Mängel ausglichen, und sie wirkten gleichzeitig insofern destabilisierend, als sie wirtschaftliche und soziale Prozesse behördlicherseits immer weniger kontrollierbar machten. Ziemlich eindeutig hingegen ist ihre Bedeutung für die begriffliche Erfassung der DDR-Gesellschaft. Angesichts der Ausbreitung solcher informellen Strukturen und Prozesse in den 1980er Jahren und der Schnelligkeit der gesellschaftlichen (Wieder)Differenzierungsprozesse während der Revolutionsmonate im Herbst 1989 scheint der Begriff der »Entdifferenzierung« der Situation der vorangegangenen Jahre nicht ganz gerecht zu werden. »Besser sollte man«, so Walter Süß, »von einer durch den Machtanspruch der Partei überlagerten und blockierten Differenzierung sprechen. Durch den Zerfall des zentralen Parteiapparates, der den Machtanspruch verkörpert hatte, wurden diese Verkrustungen gesprengt.«[64]
Bürokratischer Zerfall, verborgene soziale Differenzierung, unvereinbare soziale Spannungen, weitverbreitete Stagnations- und Frustrationsgefühle und daraus folgende Wünsche nach Alternativen – all diese Faktoren trugen zur Auflösung der SED-Hegemonie und zur Mobilisierung der DDR-Gesellschaft »von unten« bei. In vielerlei Hinsichten produzierte das staatsozialistische Experiment in Deutschland seine eigenen Probleme und wurde letztendlich Opfer seines eigenen ideologischen Anspruches. Die sozialistische Umgestaltung in der SBZ/DDR – gestützt auf die kommunistische Zukunftsvision einer egalitären Gesellschaft und die technokratische Vorstellung eines nach abstrakten Prinzipien konstruierbaren Sozialgefüges – hat die Komplexität einer modernen Industriegesellschaft sträflich unterschätzt.[65] Die SED sah sich folglich mit einer Reihe nicht intendierter Auswirkungen konfrontiert: die »versteckten Verhandlungen« in den Betrieben, eine westlich orientierte Jugendkultur, unzuverlässige Basisfunktionäre, Klientelismus und Vetternwirtschaft, eine informelle »Schattenwirtschaft« – die Beispiele lassen sich beliebig nennen. Dies waren weder Restelemente einer sonst »totalitären« oder »politischen Gesellschaft« noch bloße Überbleibsel des Kapitalismus oder Konstruktionsfehler des kommunistischen Gesellschaftsentwurfes. Sie waren Hauptmerkmale der DDR-Gesellschaft[66], die nichts anderes sein konnte als das Produkt einer Interaktion zwischen sowjetischen Importen und deutschen Erbschaften, zwischen politischer Konstruktion und sozialer Autonomie, zwischen diktatorischen Schranken und »human agency«, zwischen Zentrum und Peripherie.
[1] Ich bin der Nuffield Foundation für ihre finanzielle Unterstützung zu großem Dank verpflichtet und bin auch Frank Brunssen für seine sprachlichen Verbesserungen und Arnd Bauerkämper für inhaltliche Anregungen dankbar. Die folgende Darstellung basiert zum Teil auf Überlegungen, die ich in meinem historiographischen Überblick (The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR. London 2002) veröffentlicht habe, mit Genehmigung von Arnold Publishers.
[2] Als aktueller Überblick siehe die Projektmeldungen im Newsletter der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Aktuelles aus der DDR-Forschung. Hg. von Mählert, Ulrich. In: Deutschland Archiv (DA), passim.
[3] Vgl. zur Kritik der Totalitarismustheorien für die DDR-Geschichte vor allem Jessen, Ralph: DDR-Geschichte und Totalitarismustheorie. In: Berliner Debatte Initial, Berlin, 5 (1995) 4, S. 17– 24; Sywottek, Arnold: »Stalinismus« und »Totalitarismus« in der DDR-Geschichte. In: Deutsche Studien, 30 (1993), 117/118, S. 25–38; Keßler, Mario/ Klein, Thomas: Repression and Tolerance as Methods of Rule in Communist Societies. In: Jarausch, K. (Hg.): Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR. New York 1999, 109–121. Als allgemeine Überblicke vgl. Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien: die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt 1997; Söllner, Alfons (Hg.): Totalitarismus: eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin 1997; Jesse, Eckard (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert: eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden 1996; idem, Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZG). 1998), 20, S. 3–18. Zur Kritik der Modernisierungstheoretischen Ansätze zur DDR-Geschichte vgl. Jäckel, Hartmut: Unser schiefes DDR-Bild. Anmerkungen zu einem noch nicht verjährten publizistischen Sündenfall. DA 23 (1990), 10, S. 1557–1565; v. Bredow, Wilfried: Perzeptions-Probleme. Das schiefe DDR-Bild und warum es bis zum Schluß so blieb. DA 24 (1991), 2, S. 147–154; Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen. Berlin, 1992; und sehr frühzeitig Naimark, N.: Is it True What They’re Saying about East Germany?. Orbis 23 (1979), S. 549–577.
[4] Schroeder, K. (Hg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates. Berlin 1994, Einleitung, S. 13. Als Anwendung dieses begrifflichen Ansatzes vgl. ders.: Der SED-Staat. München 1998, S. 512–546.
[5] Meuschel, Sigrid: Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR. Frankfurt a. M. 1992.
[6] Ebd., S. 10.
[7] Ebd. Vgl. auch ders.: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: GG, 19 (1993) 1, S. 5–14. Eine ähnliche Argumentation befindet sich in Lepsius, Rainer M.: Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR. In: Kaelble,
H. et al (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 17–30.
[8] Kocka, Jürgen: Eine durchherrschte Gesellschaft. In: Kaelble, H. et al (Hg.): Sozialgeschichte, S. 547–553. Dieser Begriff wurde zunächst formuliert in Lüdtke, Alf: »Helden der Arbeit« – Mühe beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In: Kaelble, H. et al (Hg.): Sozialgeschichte, S. 188; siehe auch zur weiteren Erklärung des Begriffs ders.: Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR. In: APuZG (1998) 36, S. 12.
[9] Kocka, J.: Eine durchherrschte Gesellschaft, S. 547.
[10] Ebd., S. 548–550.
[11] Jessen, R.: Die Gesellschaft im Sozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR. In: Geschichte und Gesellschaft (GG), 21 (1995) 1, S. 96–110, hier S. 98.
[12] Chr. Kleßmann, »Das Haus wurde gebaut aus den Steinen, die vorhanden waren«. Zur kulturgeschichtlichen Kontinuitätsdiskussion nach 1945, in: Tel Aviver Jahrbuch für Geschichte, 19 (1990), S. 159–177.
[13] Jessen, Die Gesellschaft im Sozialismus, S. 99, 100. Vgl. auch die Diskussion bei Lindenberger, Thomas: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln 1999, S. 13–44.
[14] Vgl. als Einstieg die Aufsätze im Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 39 (1999) zum Thema der Sozialgeschichte der DDR.
[15] Zur Landreform siehe jetzt vor allem Bauerkämper, Arnd: Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Traditionen in Brandenburg von 1945 bis zu den frühen sechziger Jahren. Köln 2002. Vgl. auch ders. (Hg.), »Junkerland in Bauernhand«? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone. Stuttgart 1996; ders.: Von der Bodenreform zur Kollektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und DDR 1945–1952. In: Kaelble, H. et al (Hg.): Sozialgeschichte, S. 119–143; ders.: Die Neubauern in der SBZ/DDR 1945–1952. Bodenreform und politisch induzierter Wandel der ländlichen Gesellschaft. In: Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der SBZ/DDR. Göttingen 1996, S. 108–136; van Melis, Damian (Hg.): Sozialismus auf dem platten Lande: Tradition und Transformation in Mecklenburg-Vorpommern von 1945 bis 1952. Schwerin 1999; Naimark, N.: The Russians in Germany: A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945– 1949. Cambridge MA 1995, S. 150–166; Ross, C.: Constructing Socialism at the Grass-Roots: The Transformation of East Germany, 1945–1965. Basingstoke 2000. Kap. 2; Osmond, J.: Kontinuität und Konflikt in der Landwirtschaft der SBZ/DDR. In: Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen, S. 137–169; Nehrig, C.: Zur sozialen Entwicklung der Bauern in der DDR 1945–1960. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 41 (1993), S. 66–76; Piskol, J.: Zur sozialökonomischen Entwicklung der Großbauern in der DDR 1945 bis 1960. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 39 (1991), S. 419–433.
[16] Zur Kollektivierung, vgl. Bauerkämper, Arnd: Ländliche Gesellschaft; Osmond, J.: Kontinuität und Konflikt; Ross, C., Constructing Socialism at the Grass-Roots, Kap. 5, 9, 13; Nehrig, C.: Zur sozialen Entwicklung der Bauern; Piskol, J.: Zur sozialökonomischen Entwicklung der Großbauern. In vergleichender Perspektive: Humm, Antonia Maria: Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf? Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland 1952–1969. Göttingen 2002.
[17] So wurden Vergleiche zwischen fehlenden Rechten unter der NS- und der SED-Herrschaft selbst von vielen Arbeitern gezogen. Vgl. Hübner, P.: »Wir wollen keine Diktatur mehr...« Aspekte des Diktaturenvergleichs am Beispiel einer Sozialgeschichte der Niederlausitzer Industriearbeiterschaft 1936 bis 1965. In: Kocka, J. (Hg.): Historische DDR-Forschung, S. 215–232; ders.: Die Zukunft war gestern: Soziale und mentale Trends in der DDR-Industriearbeiterschaft. In: Kaelble, H. et al (Hg.): Sozialgeschichte, S. 171–187.
[18] Hübner, Peter: Konsens, Konflikt, Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945–1970. Berlin 1995; ders.: Balance des Ungleichgewichtes. Zum Verhältnis von Arbeiterinteressen und SED-Herrschaft. In: GG, 19 (1993) 1, S. 15–28; ders.: Arbeitskonflikte in Industriebetrieben der DDR nach 1953. Annäherungen an eine Struktur- und Prozeßanalyse. In: Poppe, U. et al (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, S. 178–191; Kopstein, Jeffrey: The Politics of Economic Decline in East Germany, 1945–1989. Chapel Hill 1997; Port, A.: The »Grumble Gesellschaft«: Industrial Defiance and Worker Protest in Early East Germany. In: Hübner, Peter/Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter in der SBZ-DDR. Essen 1999, S. 787–810; Roesler, Jörg: Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR. Zentrum der Arbeitswelt? In: Kaelble, H et al (Hg.): Sozialgeschichte, S. 144–170; ders: Gewerkschaften und Brigadebewegung in der DDR, Ende der 40er bis Anfang der 60er Jahre. In: BzG, 38 (1996) 3, S. 3–26; ders.: Probleme des Brigadealltags: Arbeitsverhältnisse und Arbeitsklima in volkseigenen Betrieben. APuZG, 47/38 (1997), S. 3–17; ders.: Zur Rolle der Arbeitsbrigaden in der betrieblichen Hierarchie der VEB: eine politik- und sozialgeschichtliche Betrachtung. DA, 30 (1997) S. 737–750. Vgl. auch Hübner, P. »Sozialistischer Fordismus?« Oder: Unerwartete Ergebnisse eines Kopiervorganges. Eine Geschichte der Produktionsbrigaden in der DDR. In: Lüdtke, Alf et al (Hg.): Amerikanisierung, S. 96–115; ders.: Syndikalistische Versündigungen? Versuche unabhängiger Interessenvertretung für die Industriearbeiter der DDR um 1960. JHK, (1995), S. 100–117; Soldt, Rüdiger: Zum Beispiel Schwarze Pumpe: Arbeiterbrigaden in der DDR. GG 24 (1998), S. 88–109.
[19] Zur Industriearbeiterschaft im allgemeinen vgl. die Anthologie von Hübner, Peter/Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter in der SBZ-DDR. Zu den langfristigen politischen Auswirkungen dieser Produktivitätsprobleme vgl. vor allem Kopstein, J.: The Politics of Economic Decline.
[20] Zur Entnazifizierung vgl. van Melis, D.: Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945–1948. München 1999; Vogt, T.: Denazification in SovietOccupied Germany: Brandenburg, 1945–1948. Cambridge, MA 2000; Rößler, R.-K. (Hg.): Die Entnazifizierungspolitik der KPD, SED 1945–1948. Goldbach 1994; Kappelt, O.: Die Entnazifierung in der SBZ sowie die Rolle und der Einfluß ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR als ein soziologisches Phänomen. Hamburg 1997. Zur Massenemigration vgl. Major, P.: Going West: The Open Border and the Problem of Republikflucht. In: ders./Osmond, J. (Hg.): The Workers’ and Peasants’ State: Communism and Society in East Germany, 1945–1971. Manchester, 2002; Ross, C.: »Sonst sehe ich mich veranlaßt, auch nach dem Westen zu ziehen«: Zum Zusammenhang von Republikflucht, SED-Herrschaft und DDR-Bevölkerung vor dem Mauerbau. In: DA 34 (2001) 4, S. 613–627.
[21] Vgl. allgemein zur Schaffung einer »sozialistischen Elite« Hübner, P. (Hg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln 1999; Bauerkämper, A. (Hg.): Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR. Berlin 1997; Hornbostel, S. (Hg.): Sozialististische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR. Opladen 1999. Zum Nomenklaturkader vgl. Wagner, M.: Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR. Berlin 1998; Schneider, E.: Die politische Funktionselite der DDR. Eine empirische Studie zur SED-Nomenklatura. Opladen 1994; Kluttig, T.: Parteischulung und Kaderauslese in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1946–1961. Berlin 1997; Boyer, C.: »Die Kader entscheiden alles…« Kaderpolitik und Kaderentwicklung in der zentralen Staatsverwaltung der SBZ und frühen DDR (1945–1952). Dresden 199; auch die ältere Studie von Glaeßner, G.-J.: Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates. Opladen 1977. Zu den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten vgl. Schneider, M.: Bildung für neue Eliten. Die Gründung der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten in der SBZ/DDR. Dresden 1998.
[22] Allerdings wurden ungefähr die Hälfte aller im Jahre 1945 entlassenen Lehrer aufgrund des durch die Säuberungen verursachten akuten Lehrermangels wieder eingestellt. Vgl. Häder, S./Tenorth, H.-E. (Hg.): Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in der SBZ und DDR im historisch-gesellschaftlichen Kontext. Weinheim 1997. Zu den Neulehrern vgl. Hohlfeld, Brigitte: Die Neulehrer in der SBZ/DDR 1945–1953: Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat. Weinheim 1992; Petzold, J.: Die Entnazifizierung der sächsischen Lehrerschaft 1945. In: Kocka, J. (Hg.): Historische DDR-Forschung: Aufsätze und Studien. Berlin 1993, S. 87–103. Als neuer Überblick vgl. Rodden, John: Repainting the Little Red Schoolhouse: A History of Eastern German Education, 1945–1995. Oxford 2001.
[23] Ernst, Anna-Sabine: »Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus«: Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945–1961. Münster 1997; ders.: Von der bürgerlichen zur sozialistischen Profession? Ärzte in der DDR 1945–1961. In: Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen, S. 25–48; Kleßmann, Christoph: Relikte des Bildungsbürgertums in der DDR. In: Kaelble, H. et al (Hg.): Sozialgeschichte, S. 254–270, insbes. S. 258.
[24] Augustine, Dolores: Frustrierte Technokraten. Zur Sozialgeschichte des Ingenieurberufs in der Ulbricht-Ära. In: Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen, S. 49–75.
[25] Vgl. Connelly, John: Captive University: The Sovietization of East German, Czech, and Polish Higher Education, 1945–1956. Chapel Hill 2000.
[26] Grundsätzlich zu den DDR-Hochschulen in den 1950er und –60er Jahren: Jessen, Ralph: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära. Göttingen 1999.
[27] Vgl. Großbölting, Thomas: SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle. Halle 2001; Ernst, Anna-Sabine: The Politics of Culture and the Culture of Everyday Life in the DDR in the 1950s. In: Barclay, David/ Weitz, Eric (Hg.): Between Reform and Revolution: German Socialism and Communism from 1840 to 1990. New York 1998, 489–506; Kleßmann, C.: Relikte des Bildungsbürgertums in der DDR; ders.: Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR. In: GG, 19 (1993) 1, S. 29– 53; Steiner, Helmut: Berufsprestige im DDR-Alltagsbewußtsein der 60er Jahre. In: Elm, Ludwig/Keller, Dietmar/Mocek, Reinhard (Hg.): Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 8. Bonn/Berlin 1997, S. 100–123.
[28] So die damals kontroverse These von Ludz, P. C.: Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung. Opladen 1968. Vgl. dagegen Baylis, T.: The Technical Intelligentsia and the East German Elite: Legitimacy and Social Change in Mature Communism. Berkeley 1974; neulich Hübner, P.: Menschen – Macht – Maschinen. Technokratie in der DDR. In: Ders. (Hg.): Eliten im Sozialismus, S. 325–360.
[29] Zur Innovationsschwäche in der Wirtschaft vgl. die Beiträge in Bähr, J./Petzina, D. (Hg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945–1990. Berlin 1996; Wagener, H.-J.: Anlage oder Umwelt? Überlegungen zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft. In: Berliner Debatte Initial (1995) 1, S. 67–82; Bauerkämper, A./Ciesla, B./Roesler, J.: Wirklich wollen und nicht richtig können. Das Verhältnis von Innovation und Beharrung in der DDR-Wirtschaft. In: Kocka, J./Sabrow, M. (Hg.): Die DDR als Geschichte. Fragen – Hypothesen – Perspektiven. Berlin 1994, S. 116–121; Pirker, Theo et al (Hg.): Der Plan als Fiktion und Befehl. Wirtschaftsführung in der DDR. Opladen 1995, insbes. Krömke, Claus: Innovation – nur gegen den Plan, S. 33– 66; Hübner, P.: Menschen – Macht – Maschinen. Zu den Auswirkungen in der Wissenschaft vgl. Jessen, R.: Akademische Elite, insbes. S. 413–427.
[30]Mertens, Lothar: »Was die Partei wusste, aber nicht sagte…«. Empirische Befunde sozialerUngleichheit in der DDR-Gesellschaft. In: ders. (Hg.): Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur. Berlin 2002, S. 119–157, hier S. 145.
[31] Ebd.
[32]Jessen, Ralph: Akademische Elite, S. 372–382.
[33] Allgemein zur Sozialstruktur und Mobilität: Huinink, Johannes et al (Hg.): Kollektiv undEigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach. Berlin 1995; Mayer, Karl Ulrich/Diewald, Martin: Kollektiv und Eigensinn: Die Geschichte der DDR und die Lebensverläufe ihrer Bürger. In: ApuZG, (1996) 46, S. 8–17; Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR. Berlin 1995; Solga, Heike: Klassenlagen und soziale Ungleichheit in der DDR. In: ApuZG, (1996) 46, S. 18–27; kritisch zur marxistischen Klassenbegriff bei Solga: Jessen, R.: Klassengesellschaft DDR?. In: DA 29 (1996), 647-9. Die ersten konkreten Vermutungen zur Wichtigkeit der verschiedenen Generationserfahrungen entstanden aus dem bahnbrechenden Oral-History-Projekt von Niethammer, L./Wierling, D./von Plato A.: Die Volkseigene Erfahrung. Eine Ärchäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin 1991. Siehe auch Niethammer, L.: Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: Kaelble, H. et al (Hg.), Sozialgeschichte, S. 99–105.
[34] Solga, Heike: Auf dem Weg, S. 123.
[35]Jessen, R.: Mobility and Blockage during the 1970s. In: Jarausch, K. (Hg.): Dictatorship asExperience, S. 341–360, hier S. 346.
[36]Zitat von Gerhard, Ute: Die staatlich institutionalisierte »Lösung« der Frauenfrage. Zur Ge-schichte der Geschlechterverhältnisse in der DDR. In: Kaelble, H. et al (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, S. 383–403, hier S. 383.
[37] Darunter die umstrittene Abtreibungsregelung in der DDR: Harsch, Donna: Society, the State,and Abortion in East Germany, 1950–1972. In: AHR 102 (Feb. 1997), S. 53–84.
[38] Vgl. Trappe, Heike: Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik. Berlin 1995; Bühler, Grit: Mythos der Gleichberechtigung in der DDR. Frankfurt a. M. 1997; Helwig, Gisela: Frauen im SED-Staat. In: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. III:2, S. 1223–1274; Sorensen, A./ Trappe, H.: Frauen und Männer: Gleichberechtigung – Gleichstellung – Gleichheit?. In: Huinink, Johannes et al (Hg.): Kollektiv und Eigensinn. Lebensläufe in der DDR und danach. Berlin 1995, S. 189–222; auch Huinink, J./ Wagner, M.: Partnerschaft, Ehe und Familie in der DDR. In: ebd., S. 145–188; Harsch, D.: Squaring the Circle: The Dilemmas and Evolution of Women’s Policy. In: Major, P./Osmond, J. (Hg.): The Workers’ and Peasants’ State; Ansorg, L./ Hürtgen, R.: The Myth of Female Emancipation: Contradictions in Women’s Lives. In: Jarausch, K. (Hg.): Dictatorship as Experience, S. 163–176; Langenhahn, Dagmar/ Roß, Sabine: The Socialist Glass Ceiling: Limits to Female Careers. In: ebd., S. 177–191.
[39] Beyer, Marina: Vorwort zu Winkler, G. (Hg.): Frauenreport ’90. Berlin 1990, S. 8, zitiert nach Gerhard, U.: Die staatlich institutionalisierte »Lösung«, S. 396.
[40] Mertens, L: »Was die Partei wusste, aber nicht sagte…«, S. 134.
[41] Ebd., S. 147, 151.
[42] Kölner Stadtanzeiger, 13 May 1978, zit. von Zatlin, J.: Consuming Ideology. Socialist Consumerism and the Intershops. In: Hübner, P./Tenfelde, K. (Hg.): Arbeiter in der SBZ-DDR, S. 570.
[43] Mertens, L: »Was die Partei wusste, aber nicht sagte…«. Hinzu kamen auch die relativ differenzierten behördlichen Analysen im Bereich der Konsumplanung. Vgl. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln 1999; Landsmann, Mark: Dictatorship and Demand: East Germany Between Productivism and Consumerism, 1948–1961, Ph. D. Dissertation, Columbia University, 2000; Stitziel, Judd: Fashioning Socialism: Clothing, Politics, and Consumer Culture in East Germany, 1948–1971. Ph. D. Dissertation, Johns Hopkins University, 2001.
[44] Zur Inszenierung der Sozialstruktur vgl. Hübner, Peter: »Arbeiterklasse als Inszenierung?« Arbeiter und Gesellschaftspolitik in der SBZ/DDR. In: Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen der Diktatur, S. 199–223.
[45] Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen der Diktatur.
[46] Vgl. vor allem Lüdtke, Alf (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien. Göttingen 1991, S. 9–63; ders.: Die DDR als Geschichte; auch Lindenberger, T.: Die Diktatur der Grenzen.; ders., Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Bessel, R./Jessen, R. (Hg.): Die Grenzen der Diktatur, S. 298–325.
[47] Ausführlicher dazu Lindenberger, T.: Die Diktatur der Grenzen.
[48] Friedrich, Carl/Brzezinski, Zbigniew: Totalitarian Dictatorship and Autocracy. Cambridge MA 1956.
[49] Gaus, Günter: Wo Deutschland liegt. Munich 1983.
[50] Lindenberger, T.: Die Diktatur der Grenzen. S. 36.
[51] Barck, Simone/ Langermann, Martina/Lokatis, Siegfried: »Jedes Buch ein Abenteuer«. ZensurSystem und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin 1997; Klötzer, Sylvia/Lokatis, Siegfried: Criticism and Censorship: Negotiating Cabaret Performance and Book Production. In: Jarausch, K. (Hg.): Dictatorship as Experience, S. 241–263.
[52] Ausführlicher dazu: Ross, C.: Constructing Socialism at the Grass-Roots. Siehe auch Hübner, P.: Konsens, Konflikt, Kompromiß; Kopstein, J.: The Politics of Economic Decline; Lindenberger, T.: Creating State Socialist Governance. The Case of the Deutsche Volkspolizei. In: Jarausch, K. (Hg.): Dictatorship as Experience, S. 125–141; Hübner, P.: Industrielle Manager in der SBZ/DDR. Sozial- und Mentalitätsgeschichtliche Aspekte. In: GG, 24 (1998) 1, S. 55–80.
[53] Pollack, Detlef: Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDRGesellschaft homogen?. In: GG, 24 (1998) 1, S. 110–131.
[54] Ebd.. Auf Englisch: Pollack, D.: Modernization and Modernization Blockages in GDR Society. In: Jarausch, K. (Hg.): Dictatorship as Experience, S. 27–45.
[55] Ebd., S. 130f.
[56] Ebd., S. 129.
[57] Jessen, R.: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. S. 106.
[58] Pollack, D.: Die konstitutive Widersprüchlichkeit. Siehe auch den Meinungsaustausch zwischen Pollack und Sigrid Meuschel in GG 26 (2000): Machtmonopol und homogensierte Gesellschaft. Anmerkungen zu Detlef Pollack. S. 171–183; Die offene Gesellschaft und ihre Freunde. S. 184– 196.
[59] Einige Wissenschaftler haben diese Entwicklung schon vor 1989 erkannt: Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 1971–1990. Bremen 1990; Lemke, Christiane: Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR. Opladen 1991. Vgl. auch Thaa, Winfried et al: Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus. Tübingen 1992.
[60] Vgl. allgemein Wolle, S.: Der Traum vom Westen. Wahrnehmungen der bundesdeutschen Gesellschaft in der DDR. In: Jarausch, K./Sabrow, M. (Hg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, 195–211; Förster, P.: Die deutsche Frage im Bewußtsein der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands. In: Materialien der Enquete-Kommission Bd. V:2, S. 1212–1380. Zum Stellenwert der Westmedien in der DDR vgl. Schildt, A.: Zwei Staaten – eine Hörfunk und Fernsehnation. Überlegungen zur Bedeutung der elektronischen Massenmedien in der Geschichte der Kommunikation zwischen der Bundesrepublik und der DDR. In: Bauerkämper, A. et al (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945–1990. Bonn 1998, S. 58–71. Zur wirtschaftlichen und kulturellen Rolle der D-Mark vgl. Zatlin, J.: The Currency of Socialism: Money and Autocracy in East Germany, 1971–1990. Ph.D. Dissertation, University of California, Berkeley (2000).
[61] Wolle, S.: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. Berlin 1998.
[62] Siehe Zatlin, J.: The Vehicle of Desire: The Trabant, the Wartburg, and the End of the GDR. In: German History 15 (1997), S. 358–380.
[63] Zu den Eingaben während der 1980er Jahre vgl. Zatlin, J.: Ausgaben und Eingaben: Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 45 (1997), S. 902–917. Vgl. auch allgemein die etwas problematischen Überblicke: Mühlberg, Felix: Konformismus oder Eigensinn? Eingaben als Quelle zur Erforschung der Alltagsgeschichte der DDR. In: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, 19 (1996), S. 331–345; Merkel, I./ Mühlberg, F.: Eingaben und Öffentlichkeit. In: Merkel, I. (Hg.): »Wir sind doch nicht die MeckerEcke der Nation«. Briefe an das DDR-Fernsehen. Köln 1998, S. 9–32.
[64] Süß, Walter: Selbstblockierung der Macht. Wachstum und Lähmung der Staatssicherheit in den siebziger und achtziger Jahren. In: Jarausch, K./Sabrow, M. (Hg.): Weg in den Untergang, S. 239– 257 , hier S. 252; zur Kritik an die »Entdifferenzierungs«-these für die 1980er Jahre vgl. vor allem Pollack, D.: Die konstitutive Widersprüchlichkeit.
[65] Vgl. die Argumentation in Jarausch, K.: Die gescheiterte Gegengesellschaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR. In: AfS 39 (1999), S. 1–17.
[66] So auch Jessen, R.: Die Gesellschaft im Staatssozialismus, S. 107.