JHK 2004

Vergangenheitspolitische Rechtsprechung als Indikator politischen und gesellschaftlichen Wandels in der SBZ/DDR 1946 bis 1951

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 156-166 | Aufbau Verlag

Autor/in: Christoph Thonfeld

[1] Umbruchzeiten, Denunziation und Rechtsprechung[2]

Dieser Text orientiert sich methodisch an der historischen Diskursanalyse, wie sie jüngst von Landwehr für die Geschichtswissenschaft handhabbar gemacht worden ist.[3] In einer textzentrierten Herangehensweise wird untersucht, welche Aussagen wann an welchem Ort auftauchen und wie Handelnde dadurch in einer Interaktion Sinn konstituieren.[4] Die Quellen werden in ihrer Wechselwirkung mit sozialer Realität dahingehend befragt, wie sich Bedeutungskonstruktionen, Wahrnehmungskategorien und Identitätsstiftungen historisch verändern.[5] Dafür soll exemplarisch beleuchtet werden, wie die Urteile gegen NS-Denunzianten und die Einschätzungen der NS-Vergangenheit durch die Nachkriegsjustiz in der SBZ/DDR einem Funktionswandel weg von der Verarbeitung der Vergangenheit hin zur diktatorischen Gestaltung einer sozialistischen Zukunft unterlagen, während sich gleichzeitig die Rollendefinition der Justiz im Institutionengefüge veränderte. Dabei kam der Justiz eine wichtige Rolle für die »Diskursivierung der Devianz«, d. h. für die Bedeutungsschaffung und Festschreibung sanktionierbarer Abweichungsphänomene zu. Die Bedeutung performativen Sprachhandelns zur Ausgestaltung neuer gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und die darin für die Beteiligten entstehenden Manövrierchancen sollen ebenfalls erörtert werden.

Besonders in Umbruchzeiten, in denen rechtliche und soziale Normen auf dem Prüfstand stehen, können Denunziationen Auskunft darüber geben, wo innerhalb der Gesellschaft und in ihrem Verhältnis zum Staat die Grenzen der Akzeptabilität verlaufen. Die Justiz spielt eine wichtige Rolle in der Verwertung denunziatorisch übermittelten Wissens bzw. in der Einschätzung und Beurteilung der an denunziatorischer Kommunikation Beteiligten. Dabei ist von einer Wechselwirkung der sanktionierenden und Norm setzenden Instanzen und einer sich diese Normen aneignenden und sie in alltäglichen Handlungsmustern reproduzierenden und verändernden Gesellschaft sowie der in ihr Handelnden auszugehen. Durch die Rechtsprechung gegen NS-Denunzianten in der SBZ/DDR konnten antifaschistische Traditionen gebildet sowie ein kollektives Selbstverständnis gestiftet und nachfolgend symbolisch aktualisiert werden. Die Vergangenheitsaufarbeitung wurde vor diesem Hintergrund schrittweise zu einem Vehikel gesellschaftlicher Transformation umgewidmet. Auf einer Tagung der thüringischen Justiz[6] zum Thema Denunziation im Januar 1946 betonte der Landespräsident Rudolf Paul, »daß ein elementares Bedürfnis vorliegt, gegen das Denunziantenpack den Apparat unserer neuen Demokratie in Bewegung zu setzen.«[7] Oberstaatsanwalt Kleckow aus Rudolstadt warnte jedoch aus seiner Alltagserfahrung: »Mit der Möglichkeit, Denunzianten zu bestrafen, wird sich das Erpressertum in erschreckender Weise groß machen.«[8] Dem möglichen Zugriff auf das antifaschistische Legitimationspotential, das durch diese Prozesse abgerufen werden sollte, stand also schon frühzeitig Besorgnis angesichts der schwer kontrollierbaren sozialen Eigendynamik denunziatorischer Energien entgegen. Diese widersprüchlichen Positionen galt es in der rechtlichen und politischen Aushandlung zu integrieren.

 

Die Rechtsprechung in NS-Denunziationsfällen

 

Unterhalb der Vorgaben der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz und der Oberlandesgerichte[9] entwickelte sich eine uneinheitliche Rechtsprechungspraxis an den Landgerichten. Anfangs begründeten die Gerichte ihre Einschätzungen des Tatbestands der Denunziation mit der nachdrücklichen, mit zunehmender Dauer aber auch immer stärker funktional imaginierten öffentlichen Meinung: »Denunziationen sind in jedem Falle als verwerflich zu bewerten und daher hart zu bestrafen. Dies verlangt mit Recht die Volksmeinung.«[10] Der Bezug auf die Kategorie »Volk« ist in dieser Zeit sehr auffällig.[11] Bald setzte jedoch eine professionelle Absetzbewegung der Rechtsprechung gegenüber der Bevölkerung und den neuen Machthabern ein, in der sich die Kontinuität des Selbstverständnisses der justitiellen Entscheidungsträger zeigt. Je mehr die Justiz versuchte, ihr Handlungsprofil zu reetablieren, distanzierte sie sich von einer Öffentlichkeit, deren Artikulation schon frühzeitig dem Zugriff medialer Inszenierung unterlag. Die kommunistisch orientierte Presse postulierte seit 1947 nachhaltig die »Demokratisierung der Justiz«, deren ursprünglich emanzipatorischer Gehalt zunehmend als Einfallstor für politische Überformungen genutzt wurde und damit Machtansprüche diskursiv unterfütterte.

Obwohl Denunziationen sowohl als strafrechtliches als auch als politisches Phänomen geahndet werden sollten, wurde die gesellschaftliche Verankerung denunziatorischen Handelns nicht problematisiert. Parallel zu dem sich durchsetzenden personalisierenden Geschichtsverständnis, das die NS-Herrschaft der kriminellen Führung an- und die »verführte« Bevölkerung entlastete, wurden auch die Denunzierenden aus den komplexen Schuldzusammenhängen, innerhalb derer sie mit einer Reihe anderer Beteiligter gehandelt hatten, herausgelöst. An ihnen wurde ein Strafbedürfnis gestillt, durch das die übergroße Mehrheit entlastet und für das neue Gemeinwesen integrierbar wurde. Die Anklagestrategien der Justiz verlagerten sich korrespondierend zu diesem Deutungsmuster. Auf diesem Weg gerieten auch solche Stimmen innerhalb der »Räume des Sprechens« (Sarasin) ins Abseits, die die Rolle der Rechtsprechung in der NS-Zeit kritisch thematisierten. Traditionsgestützter Korpsgeist und positivistische Argumentationsstrategien erwiesen sich justizintern ähnlich wie in den Westzonen als immunisierend gegen Kritik von außen. Die zunehmend objektivierte spezifische Charakteristik denunziatorischen Handelns bot den Gerichten alsbald eine Alternative zur allzu skrupulösen Untersuchung von Tathintergründen. Sie konnten dann befinden, dass »es genügt, daß die nazistische Methode [der Denunziation, C. T.] angewendet wird«.[12] Denunziationen blieben dabei in ihrer Qualität als Herrschaftsinstrument erhalten, weil sie konsequent individualisiert und in spezifischen NSKontexten verortet wurden. Sie wurden als »allgemein zu den Terrormitteln des Naziregimes«[13] gehörig gedeutet, während dasselbe Verhalten nunmehr in den entstehenden Diskurs der »antifaschistischen Wachsamkeit« integriert werden sollte. Mit dieser Chiffre wurde ein Konnotationsfeld geschaffen, um die sozial kontrollierenden, ordnungsstiftenden Potentiale gesellschaftlichen Informationsverhaltens positiv aufzuladen. Die Oberlandesgerichte nahmen dieses Argumentationsmuster auf[14], in der einschlägigen Rechtsprechung setzte es sich aber erst nach Gründung der DDR durch.[15] Hier zeigte sich die Heterogenität im justitiellen »Raum des Sagbaren« (Foucault), in dem ein zumeist positivistisch vorgebildetes Personal nunmehr Abstand zu politisierten Rechtsformeln zu halten versuchte.

Im Lauf des als Wasserscheide anzusehenden Jahres 1948 rückten zwei Beurteilungskriterien ins Zentrum der strafrechtlichen Würdigung von NSDenunziationen, die »niedrige Gesinnung« und der »verbrecherische Tatwille«. Mit der ersten Rechtsfigur wurde die Interpretationshoheit über die individuellen Tatmotive flexibilisiert. So konnten die Gerichte unabhängiger von der Beweislage feststellen, dass ein Angeklagter »aus unlauteren Motiven denunzierte« und »eine niedrige Gesinnung an den Tag legte«,[16] um seine Schuld nachzuweisen. Der zweite Begriff machte die Absicht unabhängig von der Tat strafbar. Die Rechtsabteilung der KPD/SED und die oberen Justizbehörden betrieben diese Aufweichung des Tatbegriffs zunehmend konsequent: »Bei der Denunziation kommt es weniger auf den Erfolg an, als auf den verwerflichen, für menschliche Erwägungen unzugänglichen Willen des Denunzianten.«[17] Zusammen mit der von den Justizspitzen eingeforderten »Würdigung des verbrecherischen Gesamtverhaltens« entstand so ein drastisch erweiterter Sanktionsspielraum für die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeiten. Das korrespondierte mit der gleichzeitigen formalisierten Entgrenzung der Machtausübung in der SBZ. Der justitielle Raum des Sagbaren unterlag unter dem Einfluss des neuen »sozialistischen« Paradigmas einschneidenden Veränderungen. Diese lösten auch mehrere umfangreiche Personal- und Strukturwechsel[18] aus, da die meisten aktiven Justizbediensteten ihre Wahrnehmungs- und Deutungsstrategien mit den neuen kommunikativen Mustern nicht mehr in Einklang bringen konnten. Der zunehmend diskursivierten Warnung vor »böswilliger und gefährlicher Sabotage«[19] wurde die Rede vom »friedliebenden, demokratischen Aufbau« gegenübergestellt. Das spezifische Verständnis der moralischen Verankerung des Rechts in der SBZ/DDR konnte so ohne kritische Hinterfragung der Herrschaftspraxis als Wertehorizont aufgespannt werden. In einem Urteil von 1951 wurde einem Denunzianten attestiert, sein Verhalten sei geeignet, »durch […] Verletzung der Menschenwürde einen starken ethischen Widerwillen auszulösen. […] Wer mit geholfen hat, unserem Ansehen vor den anderen Völkern so zu schaden und uns solche Schande und Scham darüber [sic] zu bereiten, kann auch keine Milde verdienen.«[20] Besonders das »deutsche Ansehen«, hinter dem auch immer wieder der Aspekt der »Ehre« hervorschien, war bedeutsam, um in der NS-Aufarbeitung gegenüber der Bundesrepublik an Prestige zu gewinnen und der UdSSR die geforderte Wandlungsfähigkeit gegenüber der Vergangenheit und Verlässlichkeit in der Gegenwart zu demonstrieren.[21]

In der Figur des NS-Denunzianten wurden Handlungsanteile einer kommunikativen sozialen Dynamik in einem psychologisierenden Deutungsmuster der jüngsten Vergangenheit beschreibbar und konnten individuell fixiert und verurteilt werden. Das Justizhandeln etablierte diesen Begriff als verfemte Form staatlich-gesellschaftlichen Informationsverhaltens und als Projektionsfläche tabuisierter Sprachformeln. Moralisch negativ konnotierte Zuschreibungen wie »Verwerflichkeit« und »Hartnäckigkeit« wurden diskursiviert, d. h. sie wurden selbstverständlich abrufbare Bedeutungsträger, mit denen Verurteilungen rechtswirksam begründet werden konnten. Politische Denunziationsmotive, denen zunächst sogar eine gewisse Anerkennung entgegengebracht worden war,[22] wurden im Zuge der ideologischen Formierung des Antifaschismus als um so schlimmerer Beweggrund eingeschätzt.[23] Zusätzlich wurde es manchen NS-Denunzianten erschwerend zur Last gelegt, wenn sie vor 1933 kommunistisch eingestellt oder wenn ihre Opfer aktiv antifaschistisch tätig gewesen waren.[24] Denunziationen erschienen nur dann als tragbar, wenn sie bewusst zur politischen Bekämpfung von NS-Anhängern eingesetzt worden waren.[25] Damit wurde aber auch ein argumentativer Ankerpunkt für eine Verteidigungsstrategie von NS-Denunzianten geschaffen. Gleichzeitig wurden Urteilskriterien dahingehend flexibilisiert, dass mit dem Vorwurf der »Stärkung der NS-Herrschaft« auch die Strafbarkeit nicht eindeutig kausal mit einer rechtswidrigen Folge zu verbindenden Denunziationshandelns festgeschrieben und nicht zweifelsfrei identifizierbares Denunziationsverhalten mit dem Straftatbestand der »gehässigen Haltung«[26] verurteilt werden konnte.

Um diesen Bedeutungsrahmen von einem weiterhin benötigten Potential vertraulicher Informationen abzutrennen, bedurfte es juristischer Vermittlungstätigkeit. »Unter gar keinen Umständen darf daher das ehrliche Bestreben, zur Abstellung sachlicher Missstände beizutragen, mit der aus persönlichen Gründen erstatteten und dem Ziele der Vernichtung eines persönlichen oder politischen Gegners dienenden Anzeige, mit der schärfstens zu bekämpfenden böswilligen Denunziation verwechselt werden.«[27] Der Topos der »Abstellung von Mißständen« diente als Handlungsorientierung innerhalb des Wachsamkeitsdiskurses, der zunehmend ökonomisch ausgerichtet und auch medial verbreitet wurde. »Das Melden dieser Mißstände hat nichts mit Denunzieren zu tun, denn wir sind der Meinung, daß die von den schaffenden Menschen erzeugten Güter richtig verteilt werden müssen. Es kommt nicht darauf an, über diese oder jene Mängel zu schimpfen, sondern es liegt an jedem einzelnen, diese Mißstände zu beseitigen, indem er den Volkskontrollausschuß davon in Kenntnis setzt.«[28] Durch diese Ausschüsse und die staatlichen Kontrollkommissionen erreichten die Informationsgewinnung und die daraus abgeleiteten staatlichen Zugriffsmöglichkeiten und Sanktionsspielräume – vor allem wirtschaftlich – eine neue Dimension.[29] Der Zugriff auf Vermögenswerte wurde dabei auch als »ausgleichende Gerechtigkeit« gegenüber Kriegsopfern legitimiert.[30] Das »Melden von Missständen« eröffnete aber wiederum auch individuellen Handlungsspielraum in Denunziationsverfahren, wenn es Beschuldigten gelang, ihr Verhalten innerhalb des Wachsamkeitsdiskurses zu interpretieren.

Indem die Gerichte NS-Denunziationen durch eine Periodisierung der NSHerrschaft strafrechtlich klassifizierten, halfen sie auch, das offizielle Geschichtsbild zu konturieren. Die Justiz war auf diese Weise daran beteiligt, den Nationalsozialismus als gegenwärtige Vergangenheit und als universellen Widerpart zum offiziellen Verständnis von Antifaschismus, das aus dieser Kontrastfolie seine wesentliche Legitimation bezog, diskursiv hervorzubringen. Das Handeln im NSSystem wurde dabei umso krimineller, je näher es an die Gegenwart heranrückte. Es wurde Angeklagten zugute gehalten, dass es »Mitte Mai 1933 […] keineswegs allgemein bekannt [war], […] in welcher Weise […] die öffentliche Meinung überwacht und gegen Stimmen der Kritik vorgegangen wurde.«[31] Die massenhaften politischen Bekenntniswechsel zu Beginn der NS-Herrschaft wurden so nachträglich als entschuldbar präsentiert. Der Kriegsbeginn markierte jedoch einen deutlichen Wandel. So wurde Angeklagten angelastet, ihre Opfer »bei der damaligen politischen Hochspannung infolge des Kriegsausbruchs in schwere Gefahr«[32] gebracht zu haben. Eine weitere Verschärfung der Lage, die im Nachhinein den individuellen Schuldanteil der wegen Denunziation Verurteilten erhöhte, wurde durch die allgemein als Wendepunkt interpretierte Schlacht bei Stalingrad und die darauf folgende Ausrufung des »totalen Krieges« konstatiert. Einer Angeklagten wurde vorgehalten: »Sie hat diese Vorsichtsmaßregeln [die vertrauliche Behandlung staatsfeindlicher Äußerungen, C. T.], die im Jahre 1943 jeder, der nicht mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, beobachtete, in gröblichster Weise ausser Acht gelassen, und dadurch den Tod eines Menschen mit verschuldet.«[33] Die Kooperation mit dem Regime während des Krieges stand demnach als prekäres Verschulden der konzedierten Unübersichtlichkeit der Anfangsjahre gegenüber.

Diese Deutung eröffnete für die Nachkriegszeit eine Perspektive, um solche NSTäter zu amnestieren, die bereit waren, ihre Haltung zu revidieren und sich im Sinne der »tatkräftigen Mithilfe am Wiederaufbau« in das neue Gemeinwesen zu integrieren.

 

Der Rollenwandel der Justiz

 

In der Justizentwicklung der SBZ überlagerten sich anfangs machtpolitische Eingriffe und interne Neuorientierungsversuche. Der Gedanke der »Demokratisierung der Justiz« entwickelte sich zwar schnell zu einem nachhaltigen Formierungspostulat, aber wie andere sah auch DJV-Präsident Schiffer die Notwendigkeit, die Distanz zwischen Justiz und Bevölkerung abzubauen. Zugleich bekam die Justiz die strategische Funktion, den staatlichen Zugriff auf denunziatorisches Verhalten neu zu legitimieren und die so gewonnenen Informationen zu sanktionieren. Anfangs war die Rechtssetzung noch stark von einem abgrenzenden Bezug auf die NS-Vergangenheit geprägt, jeglicher Eindruck von »Lenkung« und »undemokratischen Maßnahmen« war zu vermeiden.[34] Mit der zunehmenden Diskursivierung denunziationsrelevanten Verhaltens in dem Tatbestand der »Gefährdung des Friedens des deutschen Volkes«[35] verlor jedoch die Orientierung an der Vergangenheit ihre Bedeutung als Widerlager. Die Radikalisierung rechtlicher Vorgaben, die später zur »Boykotthetze gegen die DDR«[36] zugespitzt wurden, fand jedoch bei den Gerichten zurückhaltende Aufnahme und initiierte auch keinen entsprechenden Wandel der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Bevölkerung. Eher wurden dadurch Irritationen zwischen Justiz und Staat begründet und zunehmendes Misstrauen der Gesellschaft gegenüber den Institutionen geschaffen.

Daneben stand die Justiz vor dem Problem, sich in der entstehenden Machtlandschaft der SBZ neu verorten zu müssen. Besonders an dem umstrittenen Begriff der (nunmehr sozialistisch interpretierten) »Demokratie« überschnitten sich die Versuche, Teile eines alten Institutionenverständnisses zu wahren, mit den Anstrengungen, ein Neues zu etablieren. In der Begründung eines Freispruchs, dass »die Beweisgrundlage für ein demokratisches Gericht nicht ausreichend sei«,[37] artikulierte sich möglicherweise der Versuch, ein überkommenes justitielles Selbstbild zu behaupten. Unter den drastisch veränderten diskursiven Rahmenbedingungen aufgerufen, wurden durch solche Argumentationen Begrifflichkeiten – nicht zuletzt auch wegen ihrer zunehmenden administrativen Formalisierung – performativ für eine inhaltliche Neubestimmung geöffnet.[38] Haltungen, die der Justiz Distanz gegenüber Ansprüchen anderer Institutionen und der Öffentlichkeit verschafften, wurden immer weniger durchsetzbar. Ein wichtiger Vertreter dieser Position, der Geraer Generalstaatsanwalt Asmus, wurde auf Betreiben der SMAD im Sommer 1948 pensioniert. Die politische Brisanz der Prozesse gegen NS-Denunzianten lässt sich auch daran ablesen, dass Asmus’ Verhalten in einem NS-Denunziationsverfahren, das er wegen unklarer Beweislage bereits vor der Eröffnung niederschlagen wollte, den Auslöser für seine Entlassung bildete.[39]

 

4. Der Umgang mit NS-Opfern

 

Die Opfer von NS-Denunziationen begründeten für den neuen Staat die Verpflichtung zu einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, aber sie dienten den Machthabern auch dazu, antifaschistisch interpretierte Machtansprüche zu legitimieren. Gleichzeitig wurden durch Denunziationen geschädigte Personen aber auch an den diese Ansprüche begleitenden politischen Deutungsmustern gemessen. Den »Opfern des Faschismus« – und nicht zuletzt den aus politischen Gründen Denunzierten unter ihnen – kam zusätzlich eine hochgradig aufgeladene Vorbildfunktion in der Gesellschaft zu. Durch die diskursive Erzeugung des Denunzierten als paradigmatisches NS-Opfer wurde – wiederum mit negativem Bezug auf eine aktualisierte Vergangenheit – ein Muster für das individuelle Selbstverständnis und die politische Positionierung in der SBZ/DDR entworfen. »Opfer des Faschismus« wurde zu einem prestigeträchtigen Ehrentitel, dessen Kontur und Begrenzung ebenso wie die zunehmende Hierarchisierung der Betroffenen von Gerichten mitgeprägt wurde.[40] Aus der Bevölkerung wurde auf dieses Identifikationsangebot zugegriffen, weil damit Leiden in soziales Kapital umsetzbar wurde. Sich innerhalb dieses spezifischen Opferdiskurses verorten zu können, war ein wichtiges Hilfsmittel, seine soziale Position in der Nachkriegszeit zu wahren bzw. wiederherstellen zu können.

Die Justiz beeinflusste stetig die Spielregeln, nach denen in der SBZ/DDR die Ein- und Ausschlussverfahren für die Teilhabe an dem begehrten Opferstatus gestaltet wurden. Denunziationsopfern, die vorbestraft oder Mitglieder in NSOrganisationen gewesen waren, wurde nur in Einzelfällen Wiedergutmachung zugestanden.[41] Allerdings wurde administrativ schon bald darauf gedrängt, das »Verhalten des Betroffenen nach 1945« als vorrangiges Qualifikationsmerkmal zu bewerten. Zusätzlich aktualisierte der beständige Einfluss des Sozialstatus bzw. der den Betroffenen zugeschriebenen sozialen Kategorisierungen[42] auf die Rechtsprechung häufig in der NS-Zeit erfahrene Erniedrigungen der Denunziationsopfer. Die sozialistischen Interpretationen von »Sauberkeit« und »Anstand« erwiesen sich als Orientierung einer moralisch-gesellschaftlichen Hierarchisierung erstaunlich anschlussfähig für das überkommene Verständnis dieser Begrifflichkeiten. Auch schienen in manchen Urteilen Kontinuitäten in den Rechtsauffassungen der Gerichte durch. Im Rahmen der Rechtsprechung gegen NS-Denunzierende in Fällen »Verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern« stellten die Richter unabhängig vom Verfahrensausgang auch in Rechnung, ob sich deren (meistens weibliche) Opfer tatsächlich eines untersagten Kontakts schuldig gemacht hatten oder nicht.[43] Dies offenbart eine durchlaufende, an der herkömmlichen Vorstellung von Staat und Volk ausgerichtete Loyalitätserwartung, mit der innerhalb grundlegend veränderter Rahmenbedingungen offenbar weiterhin rechtlich operiert werden konnte.

Die stark dichotomisch geprägten Diskursformationen in der SBZ/DDR führten zu starren Abgrenzungen zwischen Opfern und Tätern, obwohl sich beide Zuschreibungen als häufig wenig trennscharfe Anteile derselben individuellen Biographie darstellten. So wurde ein in der NS-Zeit für sechs Monate im KZ Buchenwald inhaftierter Stahlhelm-Angehöriger trotz seiner Haft als Täter eingestuft, weil er während des Krieges für die als Soldaten eingezogenen Arbeiter der Firma seines Arbeitgebers »Frontbriefe« verfasst hatte, die als kriegsverherrlichend eingestuft wurden. Sein dort nachweisbares Anknüpfen an den Diskurs des Militarismus verortete ihn im »Raum des Nicht-Mehr-Sagbaren« der NS-Zeit. Die Begründung des Urteils gegen ihn verdeutlicht, wie präsent die Suggestivwirkung der nationalsozialistischen Durchhalteparolen dennoch war, die – jetzt in abgrenzender Absicht – weiterhin wirkungsvoll aufgerufen werden konnte: »Die mächtige Sprache dieser Heimatbriefe ist geeignet, den Soldaten das Rückgrat zu stärken, sie zum Ausharren anzufeuern und ihnen den unverrückbaren Glauben an den Endsieg und an den Kampf um eine gerechte Sache zu stählen.«[44]

 

Fazit

 

Die SBZ-Verantwortlichen entschieden sich für die individualisierende Aburteilung von NS-Denunziationen bei gleichzeitiger vorbehaltloser Neuausrichtung des zugrunde liegenden Verhaltens. Die Gerichte übernahmen viele der aus Machtverschiebungen resultierenden neuen Deutungsmuster – wenn auch zeitversetzt und uneinheitlich – in ihr Sanktionshandeln. Dabei wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit rechtlich immer abstrahierender betrieben, was sie als flexibles Versatzstück für politische Transformationsabsichten verwendbar machte. Die Justiz geriet in dem Kräftefeld, das von zunehmend ritualisierten Antifaschismuspostulaten, dem Konflikt um die positivistischen Justiztraditionen und widerstreitenden nachnationalsozialistischen Positionsbestimmungen konturiert wurde, in einen Wandlungsprozess, in dem das eigene Profil zunehmend nur noch darin bestand, staatliche Machtansprüche in rechtlichen Formen diskursiv festzuschreiben.

Gesellschaftliche Mitteilungsbereitschaft wurde in neue Zusammenhänge gestellt, da sie eine veränderte Funktion im Machtgefüge der SBZ/DDR erfüllen sollte. Ebenso sollte deren Verankerung in einem Set sozialer Praktiken, die sich unter dem Eindruck der jüngsten Vergangenheit im allgemeinen Verständnis damit verbanden, aufgelöst werden, um die entsprechenden Verhaltensweisen erneut gesellschaftlich legitimieren und nutzbar machen zu können. Diese Entwicklungen schufen zunächst für staatliche Einrichtungen und betroffene Einzelpersonen die Voraussetzungen, eine Neuverteilung der Machteffekte, die durch NS-Denunziationen erzielt worden waren, zu fordern. Auf lange Sicht büßte die Neuausrichtung des Denunziationsdiskurses durch ihre durchsichtige Funktionalisierung jedoch die notwendige soziale Tiefenwirkung ein. Das Scheitern dieser Strategie an der gesellschaftlichen Kontinuität, mit der denunziatorisches Verhalten wahrgenommen und angeeignet wurde, und an der Eigenlogik justitieller Praktiken wies den Weg zum Aufbau professionalisierter Strukturen der Informationsgewinnung durch das Ministerium für Staatssicherheit.

 

 


[1]  Im Anschluss an Norbert Frei wird mit dem Begriff Vergangenheitspolitik ein Umgang mit Vergangenheit bezeichnet, bei der diese in die politischen Machtbeziehungen und Deutungsangebote der Gegenwart integriert und damit als Medium bestehender Konflikte aktualisiert wird.

[2]  Meine Ausführungen unterziehen die empirische Basis meiner Forschungen innerhalb des Projekts »Denunziation in Deutschland 1933–1955« einer weiterführenden Untersuchung aus diskursanalytischer Perspektive. Das Projekt wurde von 1998 bis 2001 an der Universität Bremen unter der Leitung von Prof. Inge Marszolek durchgeführt. Daraus entstand die Monographie Thonfeld, Christoph: Sozialkontrolle und Eigensinn. Denunziation 1933–1949 am Beispiel Thüringens, Köln/Weimar/Wien 2003.

[3]  Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001.

[4]  Ebenda, S. 98–100.

[5] Ebenda, S. 131.

[6]  Thüringen hatte in der SBZ eine zentrale Rolle für die Rechtsprechung in NSDenunziationsfällen. Vgl. Thonfeld: Sozialkontrolle (Anm. 2), S. 245–305.

[7]  Tagungsprotokoll, in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: ThHStA Weimar), OLG Erfurt 82, Bl. 245.

[8]  Ebenda, Bl. 246.

[9]  Vgl. Meyer-Seitz, Christian: Die Verfolgung von NS-Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 111–118.

[10]  Urteil des Landgerichts Rudolstadt gegen Margarethe Dachwitz vom 24. Januar 1947, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 573, Bl. 112.

[11]  Vgl. auch Pohl, Dieter: Justiz in Brandenburg 1945–1955. Gleichschaltung und Anpassung, München 2001, S. 309.

[12]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Sophie Jeske vom 20. April 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 580, Bl. 68R.

[13]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Erwin Gesserich vom 16. April 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 579, Bl. 180R.

[14]  Vgl. den Beschluss des OLG Dresden vom 12. März 1948, in: Neue Justiz 1948, S. 198.

[15]  Vgl. die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Erfurt im Verfahren gegen Marianne Gerhardt vom 9. April 1951, in: ThHStA Weimar, GStA Erfurt 338, o. Bl.

[16]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Erich Allert vom 16. Januar 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 577, Bl. 44.

[17]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Wilhelm Casarius vom 11. Februar 1948, in: ebenda, ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 577, Bl. 176R.

[18]  Vgl. Wentker, Hermann: Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953. Transformation und Rolle ihrer zentralen Institutionen, München 2001, S. 588.

[19]  Vgl. z. B. Neue Justiz 1948, S. 161.

[20]  Urteil des Landgerichts Rudolstadt gegen Wilhelm Eggers vom 12. April 1951, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 573, Bl. 100 f.

[21]  Vgl. auch das Urteil des Landgerichts Weimar gegen Valeska Quandt vom 20. April 1949, in:

ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 581, Bl. 177R.

[22]  Vgl. Gutachten von Prof. Lange vom 11. Dezember 1945, in: ThHStA Weimar, Oberstaatsanwaltschaft Weimar 33, Bl. 22–27.

[23]  Vgl. z. B. das Schreiben an den Präsidenten des OLG Gera (o. D.), in: ThHStA Weimar, OLG Erfurt 767, Bl. 19.

[24]  Urteil des Landgerichts Rudolstadt gegen Erwin Kettenich vom 11. März 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 575, Bl. 113.

[25]  Stellungnahme von Justizminister Schiffer zur Durchführung des Befehls 201 vom April 1948, in: Bundesarchiv Berlin, DP1, VA 6200, Bl. 61.

[26]  Vgl. Meyer-Seitz: Die Verfolgung (Anm. 9), S. 296.

[27]  Stellungnahme des sächsischen Generalstaatsanwalts Helm im Frühjahr 1948 in: Neue Justiz 1948, S. 161.

[28]  Thüringer Volk vom 15. Juli 1948.

[29]  Vgl. Weber, Petra: Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961, München 2000, S. 172.

[30]  Vgl. Urteil des Landgerichts Weimar gegen Andreas Lohmann vom 27. Februar 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 581, Bl. 75.

[31]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Heinz Stabach vom 6. April 1949, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 583, Bl. 8R.

[32]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Ewald Jamschat vom 23. Januar 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 580, Bl. 60R.

[33]  Urteil des Landgerichts Rudolstadt gegen Frieda Isbrecht vom 13. April 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 575, Bl. 17.

[34]  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg (Anm. 11), S. 324.

[35]  Vgl. Thonfeld: Sozialkontrolle (Anm. 2), S. 181–183.

[36]  So der wesentliche Straftatbestand des Artikels 6 der DDR-Verfassung.

[37]  Urteil des Landgerichts Weimar gegen Max Friedeck vom 29. Dezember 1948, in: ThHStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt 895, o. Bl.

[38]  Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 62 f.

[39]  Vgl. den gesamten Vorgang Bundesarchiv Berlin DP1 VA 1034.

[40]  Vgl. ThStA Rudolstadt, Rat des Bezirks Gera/Betreuungsstelle Verfolgte des Naziregimes 10/22, unpaginiert.

[41]  Vgl. das Tagungsprotokoll, in: ThHStA Weimar, OLG Erfurt 82, Bl. 240; sowie den Bericht vom 8. März 1946, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium des Innern 954,

Bl. 56.

[42]  Urteil des Landgerichts Rudolstadt gegen Elisabeth Bennau vom 23. Februar 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 573, Bl. 45.

[43]  Vgl. Urteil des Landgerichts Weimar gegen Auguste Quettler vom 3. März 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 581, Bl. 153.

[44]  Urteil des Landgerichts Rudolstadt gegen Walter Landau vom 17. März 1948, in: ThHStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium der Justiz 575, Bl. 137. 

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