JHK 2005

Rudi Dutschke, die »Neue Linke« und die Gewalt

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 324-338 | Aufbau Verlag

Autor/in: Gerd Koenen

Der Fischer-Debatte 2001 und der RAF-Debatte 2003 ist eine Dutschke-Debatte 2005 gefolgt.[1] Den Auslöser lieferte diesmal ein Bändchen des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit Aufsätzen von Wolfgang Kraushaar, Karin Wieland und Jan Philipp Reemtsma unter dem Titel Dutschke, Baader und die RAF,[2] das parallel zur Eröffnung der RAF-Ausstellung[3] in den Berliner KunstWerken erschien. Das zentrale Argument in Reemtsmas Leittext »Was heißt ›die Geschichte der RAF verstehen‹« lautet: »Insofern war die RAF ein Teil und ein akzeptierter Teil der deutschen Linken, und insofern war die Unterstützung, die sie erhielt […] ein Teil der Verwirklichung des Selbstbilds der Linken, sie verbürgte damit auch derenIdentität.«[4] Dieser Kontinuitätsthese entsprechend, unternahm es Wolfgang Kraushaar in seinem Aufsatz »Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf«, aus dem antiautoritären Helden von gestern einen Vordenker der RAF zu stilisieren.

Allerdings reibt man sich angesichts der Naivität der Fragestellung, unter der die Auseinandersetzung in der Berliner tageszeitung geführt wurde, doch etwas die Augen: »Muß, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen?« Wer hätte auch ahnen können, dass man den irrlichternden Weltrevolutionsideologen von 1968 posthum zum basisdemokratischen und ökopazifistischen Säulenheiligen stilisieren, gar noch zum »großen Deutschen« (Walter Jens) promovieren und mit einer eigenen Berliner Straße ehren möchte? Umgekehrt fragt man sich, was in dem umstrittenen Aufsatz von Wolfgang Kraushaar für irgendjemanden noch eine Überraschung geboten haben kann – abgesehen von den Wertungen des Autors.

Gewiss, Kraushaar liefert aus Dutschkes Nachlass im hauseigenen Archivkeller ein paar neue, interessante Mosaiksteinchen zum irisierenden Bild des Mannes und seiner Zeit, so zum Beispiel kryptische Notizen (wohl schon aus dem Jahr 1967) über »Untergrundeinheiten (f. d. T-Gruppen)«, »Sichere Wohnungen«, »›Spezial-Waffen‹«, »Gelder« und »›schnelle‹ Autos«.[5] Dass es schüchterne Ansätze solcher »Untergrundeinheiten« im Westberliner SDS gegeben hat, wusste man allerdings nicht erst, seit Gretchen Dutschke-Klotz darüber 1996 in der Biographie ihres Mannes mit frommer Unschuld berichtet hat.[6] Und dass es rund um den Vietnam-Kongress im Februar 1968 die bizarre Geschichte mit dem Dynamit gab, das der Mailänder Verleger, Castro-Freund und Kongress-Finanzier Giangiacomo Feltrinelli im Kofferraum seines Citroën mitgebracht hatte, war schon seit Ulrich Chaussys Dutschke-Biographie von 1983 wohlbekannt.[7] Kraushaar macht (den Erinnerungen Bahman Nirumands folgend[8]) daraus gleich zwei »Sprengstoff-Episoden«; es dürfte sich dem zeitlichen Ablauf nach jedoch um ein und dieselbe schwarze Farce mit Säugling und Kinderwagen, Prominentenwohnungen und Schließfächern gehandelt haben.[9] Die von dem Verfassungsschutzagenten Peter Urbach gefertigten Sprengsätze sollten für Sabotageakte gegen amerikanische Militärinstallationen (einen Sender in Saarbrücken oder einen Truppentransporter in Bremerhaven) dienen, wurden aber – wohl auch wegen Bedenken Dutschkes – nie eingesetzt.[10]

Für die prinzipielle revolutionäre Gewaltbereitschaft Dutschkes hätte man auch beliebige andere Beispiele herbeizitieren können. Er predigte es schließlich täglich und öffentlich: dass »die zweite Front für Vietnam« in den imperialistischen Metropolen selbst liegen müsse. So sollte eine von entschlossenen revolutionären Minderheiten geprobte »Machtergreifung« in Westberlin den US-Imperialismus in einer seiner vorgeschobenen Bastionen angreifen und zugleich das zündende Fanal für den »Kampf der rev. Jugend in Osteuropa und in der SU« abgeben, um den faulen Frieden der beiden koexistierenden Weltmächte ins Wanken zu bringen.[11] Ein geplantes »Che-Guevara-Institut« in Westberlin sollte den Nukleus einer neuen kämpfenden Internationale abgeben. Er selbst wollte Deutschland verlassen, um mit seinem Freund Gaston Salvatore in einer karikaturhaften Reprise der »Granma«-Expedition Fidel Castros und Che Guevaras einen Guerilla-Fokus in Chile aufzubauen.[12] 

Zwar setzte das Attentat im April 1968 diesen romantischen Visionen (die freilich eher an die Seeräuber-Jenny bei Brecht erinnern, als an Fidel und Che) ein vorläufiges Ende. Aber kaum zu Bewusstsein und Sprache gekommen, meldete sich der Angeschossene im Sommer von seinem italienischen Refugium aus wieder zu Wort. Die Osterunruhen und Springer-Blockaden stilisierte er nun zum »bisher einzigen Sprung nach vorn in unserer deutschen Nachkriegsgeschichte«. Die Arbeiter hätten vom SDS allerdings »viel schärfere Aktionen« erwartet. Viele hätten den Demonstranten gesagt: »Euren Mann laßt ihr erschießen [!], und ihr spielt weiter herum.« Daher müsse »die lächerliche Gewaltdiskussion« (nach dem Tod zweier Demonstranten in München durch Wurfgeschosse aus den eigenen Reihen) sofort beendet und offensiv gewendet werden. Denn: »Unsere Alternative zu der herrschenden Gewalt ist die sich steigernde Gegengewalt.«[13]

Das lag ganz auf der Linie der obsessiven Diskussionen, die – angesichts der Barrikaden des Pariser Mai und der Ghettoaufstände in Amerika – die ganze APO in diesem heißen Sommer 1968 in ihrem Bann hielten. Ein autonomes »Berliner Redaktionskollektiv«, dem außer Dutschke auch H. M. Enzensberger, Peter Schneider, Bahman Nirumand, Gaston Salvatore und andere angehörten, verkündete in einer diesem Thema gewidmeten Ausgabe der Bewegungs-

Illustrierten konkret: »Erst seit wir zaghaft beginnen, die Sprache des Systems zu sprechen, werden wir den Arbeitern verständlich und Springer eine Gefahr: diese Sprache ist die Gewalt.« Um martialisch zu schließen: »Den Sozialismus werden wir nur bekommen, wenn wir unsere Feinde wissen lassen, daß wir alle Mittel anwenden werden, die nötig sind, ihn zu bekommen.« Die einzige praktische Frage sei: »Können wir, die Studenten, überhaupt Gewalt anwenden, bringen wir das fertig?« Dazu müssten die Revolutionäre endlich begreifen, »daß der aktive Widerstand […] nicht nur eine Voraussetzung für die Befreiung des neuen Menschen ist, sondern schon ein Stück seiner Verwirklichung«.[14]

In einem konspirativ übermittelten Schreiben an die Delegiertenkonferenz des SDS im September schlug Dutschke schließlich vor, sich nicht weiter mit der Polizei auf der Straße herumzuschlagen, sondern organisiert in die Illegalität zu gehen und »clandestine Vierer- oder höchstens Sechsergruppen« aufzubauen. Diese müssten »pro Jahr vier Monate in den wichtigsten Institutionen (den Fabriken, den Büros, den Kaufhäusern, den Landbetrieben, den Einheiten der Polizei usw.) arbeiten«, also mit den Lohnabhängigen tätig sein, »von ihnen lernen, ihnen anderes beibringen«. Denn allein dort »entstehen die neuen Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche der Massen, der verschiedenen Fraktionen des Volkes und der Revolutionäre«. Er selbst werde »zur rechten Zeit« zurückkehren, wenn er wieder in der physischen Verfassung sei und die »Fokusse sich herausgebildet haben, zu denen ich gehöre«.[15]

Dutschkes Slogan vom »langen Marsch durch die Institutionen« war also kein reformistisches Konzept zur graduellen Veränderung von Staat und Gesellschaft, wie man es später gerne haben wollte, sondern ein von der lateinamerikanischen Guerilla entlehntes Modell einer konspirativen Vernetzung der legal und der illegal arbeitenden Revolutionäre »draußen« in den ländlichen und städtischen Stützpunkten und »drinnen« in den Apparaten der Macht, der Verwaltung, der Wirtschaft und der Wissenschaft.

Nur, was beweist das alles? Wolfgang Kraushaar zufolge zeigen diese Zitate, »daß Theorie und Praxis der Stadtguerilla in Deutschland zunächst einmal auf Dutschke und Kunzelmann und damit auf zwei Protagonisten der Subversiven Aktion und die vielleicht wichtigsten Akteure der 68er-Bewegung […] zurückzuführen sind«. Diese Tatsache sei »bisher sträflich vernachlässigt worden«.[16]

Wirklich? Es ist gerade drei Jahre her, dass Wolfgang Kraushaar mit demselben autoritativen Gestus dem Autor dieser Zeilen und seinem Buch Das rote Jahrzehnt vorgeworfen hat, keinen Sinn für »die gesamte undogmatisch-antiautoritärspontaneistische Linie« der 68er-Bewegung zu haben, wie sie insbesondere von Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann, dem Häuptling der Kommune 1 und Gründer der »Tupamaros Westberlin« als der ersten bewaffneten Guerillagruppe, vertreten worden sei. Und meine empirisch-biographische Feststellung, dass man schon erklären müsse, warum der frühe bewaffnete Untergrund einschließlich des Gründungskaders der RAF nahezu ausschließlich aus den Kernen der Antiautoritären und insbesondere der Kommunarden-Männer der K1 und K2 hervorgegangen sei, während deren übrige Mitglieder sich (mit der Ausnahme von Rainer Langhans) binnen kurzem in der neu gegründeten KPD-ML, der autoritärsten ML-Gruppe der Zeit, wieder fanden, erntete den strengen Verweis, dass gerade die Kommunarden »seinerzeit das wohl wichtigste Experiment eines radikal veränderten Soziallebens durchgeführt haben«.[17] 

Meinungen ändern sich, und das ist gut so. Jenseits dessen geht es aber um eine sachliche und methodologische Differenz, die sich mit der Selbstrevision von Wolfgang Kraushaar nicht erledigt, sondern sogar noch akzentuiert hat. Gegenüber einem so hochgradig subjektiven Phänomen wie der »68er-Bewegung« kommt es eben – mehr als bei anderen historischen Ereignissen – darauf an, die tragenden Gruppen und Protagonisten in ihrer Zeit, ihrem Milieu, ihren oft rasenden und paradoxen Entwicklungsprozessen und menschlichen Widersprüchen zu erfassen, und nicht allein nach ihren papiernen Selbstdeklarationen. Dutschke war auch darin ein Sprecher und repräsentativer Vertreter dieser ganzen »revolutionär« auftretenden politischen Generation, dass er schließlich einen ungleich zivileren Weg eingeschlagen hat, als es seiner Rhetorik entsprach – wie sich spätestens bei den ergebnislosen Werbungsversuchen Horst Mahlers in London im September 1969 zeigte.[18]. Das war aber bei ihm wie bei den meisten anderen weniger eine Frage von abstrakten Ideologien und Überzeugungen, als viel mehr von vitalen Lebensbedürfnissen und sich eröffnenden gesellschaftlichen Entwicklungsräumen.

Diese Feststellung heißt nicht, den hier in Frage stehenden Zusammenhang von Protestbewegung und RAF in eine Kette zufälliger Geschichten und individueller Entscheidungen aufzulösen. Sie bedeutet aber, dass man die Theoreme, Parolen und Aktionen der 68er-Bewegung und ihrer Protagonisten ebenso wie die der terroristischen Gruppen der 70er Jahre vom Typus der RAF nicht einfach mit ihrem politischen und ideologischen Nennwert eins zu eins gleichsetzen kann. Weniger noch als sonst kann eine »Historisierung« sich in diesem Fall damit begnügen, die Entwicklungen und Verbindungen philologisch-kritisch oder kriminologisch-faktisch zu rekonstruieren. Sondern man muss dieses ganze getriebene Agieren und Agitieren mitsamt seinen unbewussten Motiven, phantasmagorischen Überschüssen und blinden Prozessdynamiken entschlüsseln. 

Die »Neuen Linken« der späten sechziger und frühen siebziger Jahre waren eben zunächst und vor allem Kinder ihrer Zeit, d.h. ihrer eigenen Erfahrungs-, Erwartungs- und Phantasiewelten. Die Bezeichnung »Neue Linke« (die aus den USA kam und von Marcuse in Europa popularisiert wurde[19]) war in ihrer Vagheit der Sache insofern angemessen, als es sich durchweg um fluktuierende, sozial oder »klassenmäßig« kaum festgelegte und weltanschaulich irisierende Jugendbewegungen handelte, deren plötzliche und spektakuläre Auftritte sich phänomenologisch deutlich von den Gründungen sozialistischer, kommunistischer oder anderer linksradikaler Gruppierungen, Bünde und Parteien des 19. und 20. Jahrhunderts unterschieden.

Zwar griffen die »Neuen Linken« der sechziger und siebziger Jahre begierig auf die ideologischen Erbschaften des vergangenen Zeitalters zurück, auf den Marxismus, Leninismus, Stalinismus, Trotzkismus, Syndikalismus, Anarchismus oder Maoismus. Allerdings trugen diese Selbstdeklarationen, da sie kaum noch an lebendige Traditionen anknüpften, weitgehend zitathafte und theatralische Züge – und hatten insofern bereits eher »postmodernen« Charakter. Dabei gab es auch andere häretische Traditionen, kritische Gesellschaftstheorien und zeitgemäße Formen des Jugendprotestes genug. Als »zorniger junger Mann« à la James Dean, als »Beatnik« oder als schwarz gekleidete Existenzialistin à la Juliette Gréco ging man meist in die Bewegung hinein. Mit den »blauen Bänden« unter dem Arm, das »rote Buch« schwenkend kam man aus der Drehtür des Jahres 1968 wieder heraus.

Das freilich ist keine Erklärung, sondern eher das zu Erklärende. Woher dieser mehr oder weniger plötzliche Umschlag eines höchst verständlichen antiautoritären Rebellentums oder demokratischen Reformeifers in eine abstrakte Kampfentschlossenheit, die sich ihre Feinde projektiv selbst erschuf? Woher diese von lebendigen Erfahrungen und Interessen fast unberührte, abstrakte Theorie- und Organisationswut, diese jederzeit abrufbare Militanz und Empfänglichkeit für weltrevolutionäre Phraseologien? Fast nichts in der sozial-ökonomischen Situation der BRD wie der übrigen Länder des Westens drängte nach einem ernstlichen revolutionären Ausbruch. Und fast nichts in ihrer eigenen materiellen Lebenslage drängte die jugendlichen Revolteure, ihre Kritiken an Staat und Gesellschaft in einer solchen Fundamentalkritik des Kapitalismus und Rhetorik der Weltrevolution zusammenzufassen.

Tatsächlich schossen diese radikalen Bewegungen ja wie aus dem Nichts auf. Eben noch hatten Linke wie Konservative in die Klage über eine völlig unpolitische, nur auf Konsum und Karriere orientierte Jugend eingestimmt – da führte irgendein, gar nicht notwendig dramatische Anlass zum Ausbruch. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, wo eine ganze Serie von Studien und Umfragen den einmütigen Befund erhoben hatten, dass von dieser Jugend »keine gesellschaftsverändernden Impulse zu erwarten« seien (so Ludwig von Friedeburg 1965) und gerade die Studenten in ihrer großen Mehrheit »konformistisch, apolitisch, vergnügungs- und karriereorientiert« seien (wie eine Allensbach-Umfrage für den Spiegel im Winter 1966/67 feststellte).[20] Die Sorgfalt dieser Erhebungen und ihr gleich lautender Tenor lassen keinen Zweifel zu, dass die beschriebenen Bewusstseinslagen real waren. Ebenso real müssen aber auch die latenten Protestmotive gewesen sein, die in der Revolte zum Ausbruch kamen – bis zu dem fast absurden Resultat, dass 65 Prozent aller damals immatrikulierten Studenten im Nachhinein angaben, sie seien durch die Ereignisse des 2. Juni 1967 (nach den Schüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demonstration in Westberlin) »entscheidend« beeinflusst und politisiert worden.[21]

Ganz ähnlich war es in anderen Ländern. Noch am 15. März 1968 wunderte sich Le Monde, weshalb in Frankreich Ruhe herrsche, während in Amerika, Deutschland, Italien und anderswo die Jugend auf den Barrikaden sei, und spöttelte: »Man hat es schon erlebt, daß Länder sich zu Tode gelangweilt haben.«[22] Zwei Monate später war Frankreich wie kaum ein anderes modernes Land in Friedenszeiten durch Demonstrationen und einen Generalstreik fast völlig zum Stillstand gekommen. 

Man kann das Paradox noch zuspitzen: Sämtliche neueren kultur- und sozialhistorischen Untersuchungen konvergieren in dem Urteil, dass nach allen Parametern, die man anlegen kann (wie Vollbeschäftigung, Expansion des Bildungswesens, der sozialen Einrichtungen, der kulturellen Innovationen) vor allem die Jahre 1965 bis 1975 die »glücklichen zehn Jahre« (Heinz Bude) in der Geschichte der Bundesrepublik wie der meisten westeuropäischen Länder gewesen sind. Somit sind gerade die Rebellen, Militanten, Kader, Mitläufer oder wenigstens Sympathisanten einer phantasmagorischen Weltrevolution zugleich auch die eigentliche jeunesse dorée dieser Nachkriegsjahrzehnte und vielleicht des ganzen 20. Jahrhunderts gewesen. Es ist dieser Zusammenhang, der einer vertieften sozial- und kulturgeschichtlichen Aufklärung bedarf.

Der Blick auf die globale Gesamtsituation macht es kaum plausibler, warum ein erheblicher Teil dieser Generationsbewegung nicht bei seinen jugendgemäßen Protestformen und vagen linken Sympathien stehen blieb, sondern sich mit erheblichem lebensgeschichtlichen Ernst und Einsatz in eine Kampf-, Schulungs- und Organisations-Aktivität verstrickte, die einige Breite annahm und zumindest publizistisch und stimmungsmäßig ein ganzes »rotes Jahrzehnt« lang bis weit in die Mitte der Bildungsschichten hineinreichte.[23] 1968 war die »alte Linke« in allen Ländern des Westens, und erst recht in der Bundesrepublik, auf einem Tiefpunkt ihrer Glaubwürdigkeit und Organisationskraft angekommen. Das nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltig angewachsene »sozialistische Lager« um die Sowjetunion war durch eine lange Kette von Aufständen, Reformbewegungen, Spaltungen und Dissidenzen schwer erschüttert. Eine authentische soziale oder politische Attraktion ging kaum noch davon aus. Und was China, Vietnam, Kuba oder andere revolutionäre Regimes und Bewegungen der Dritten Welt anging, so mochte man mit ihnen auf die Ferne heftig sympathisieren. Aber tatsächlich besaßen sie keinerlei politische Repräsentanz im Lebensumfeld der entstehenden »Neuen Linken« des Westens. Nicht von ihnen ging also der Impuls aus, sondern umgekehrt – es waren die radikalen Jugendbewegungen, die sich ihrer bedienten und geradezu bemächtigten.

Natürlich gab es in der Bundesrepublik wie in anderen europäischen Ländern und erst recht in den USA (angesichts des eskalierenden Vietnamkriegs und der Bürgerrechtsbewegung) gute Gründe und nachvollziehbare Motive für eine politische Unruhe unter der Jugend und für eine entschiedene »außerparlamentarische« Opposition. Und für manches Phänomen konnte ein Rückgriff auf marxistische Kategorien scheinbar oder tatsächlich Plausibles beitragen. Überall hatte das »Wirtschaftswunder« der ersten, stürmischen Wiederaufbauphase nach dem Krieg in eine Reihe von Struktur- und Anpassungskrisen geführt und wirkte einen Moment lang wie fauler Schwindel. Die Umstellung auf einen gemeinsamen europäischen Markt und die wachsende Integration des Weltmarktes machte sich in neuerlichen Konjunkturschwankungen und Währungskrisen Luft und evozierte Befürchtungen einer erneuten »Weltwirtschaftskrise«. Für Zukunftsinvestitionen schienen plötzlich keine Mittel mehr vorhanden. Das Stichwort von der »Bildungskatastrophe« machte die Runde. Privater Reichtum bei öffentlicher Armut – war das (wie Kenneth Galbraith diagnostizierte) die neue Gestalt des alten kapitalistischen Grundwiderspruchs?

Auch sonst findet man, wenn man die Umstände der Zeit evoziert, mancherlei suggestive Schlüssigkeiten. Zumal in der Bundesrepublik konnte man den Weg von der »Großen Koalition« über die »Formierte Gesellschaft« in den »Notstands-Staat« vorgezeichnet sehen und in der »Freien Welt« ringsum (in Griechenland oder auch in Italien oder Frankreich) eine generelle Tendenz zum autoritären Staat beobachten. Wurde womöglich im Gewande des Antikommunismus wieder etwas ganz anderes vorbereitet – ein erneuter Rückgriff auf den »Faschismus«?

Der Mauerbau hatte auf paradoxe Weise die inneren Widersprüche in der BRD selbst entbunden. Die »Spiegel-Affäre« von 1962 war das Vorspiel zu 1968. Adenauer blickte in einen »Abgrund von Landesverrat«. Die linken Studenten dagegen sahen »Unter den Talaren den Muff von Tausend Jahren«. Und war erst einmal das Grundvertrauen in die – bald nur noch spöttisch zitierte – »freiheitlichdemokratische Grundordnung« der Bundesrepublik unterminiert, verlor auch die von Amerika geführte »freie Welt« über Nacht jede Glaubwürdigkeit. Der Mord an John F. Kennedy 1963 wirkte dann wie ein düsteres Präludium der »body counts« in Vietnam. 

Aber diese Ereignisse und Umstände zu zitieren, kann immer nur heißen, sich der eigentümlichen Resonanz zu erinnern, auf die sie in einem jugendlichen Publikum zunehmend trafen. Für sich genommen, waren die Umbrüche der sechziger und siebziger Jahre ja keineswegs dramatischer, blutiger oder einschneidender als die der vorangegangenen Nachkriegsjahrzehnte oder auch der achtziger und neunziger Jahre. Der wesentliche Unterschied lag also in der subjektiven Empfänglichkeit eines jugendlichen Publikums und in einer wachsenden Neigung zur fundamentalen Kritik. Ein negativer Hegelianismus wurde zum vorherrschenden Lebensgefühl. Das Wesen mußte erscheinen. Und dieses Wesen der »herrschenden Gesellschaft« war ein Unwesen.

Die Vorstellung einer internationalen Jugendbewegung gehörte dabei selbst zu den Suggestionen des historischen Augenblicks von 1968, als alle Weltereignisse plötzlich einen Kontext und eine geschichtliche Strömung zu ergeben schienen. Dabei kann von einer »internationalen Jugendbewegung« als einem tatsächlichen Gesamt-Phänomen nur schwerlich die Rede sein. Aber inmitten aller faktischen Unterschiede und ideologischen Differenzen gab es Identifizierungen und Affinitäten, die sich aus einer gewissen generationellen Gemeinsamkeit der Anlässe und der Motivationen speiste. Oder jedenfalls gab es die enthusiastische Vorstellung einer solchen Gemeinsamkeit – die insoweit auch eine Realität war.

Gerade hier, in der Charakteristik radikaler Jugendbewegungen, die im Wesentlichen Generationsbewegungen waren, ist auch der Schlüssel zu dem zu finden, was die »Neue Linke« ausmachte. Diese Bewegungen zeichneten sich allesamt durch einen Überschuss an ungerichteter aktivistischer Handlungsenergie aus und schufen sich ihre ideologischen Begründungen zu einem großen Teil erst im Nachhinein. Auch die (vor allem in der westdeutschen Studentenbewegung) in eine Aura mythologischer Ehrfurcht gehüllte »Theoriebildung« mit ihrer bizarren Buchgläubigkeit hatte insofern eher einen legitimatorischen als etwa »anleitenden« Charakter. In den kanonischen Texten, sei es der »Klassiker« oder lebender ideologischer Kronzeugen (von Mao über Ché bis Marcuse), suchte man die Legitimationsbasis für Forderungen oder Aktionen, deren Radikalität sich aus der eigenen Lebenswelt, aus konkreten Erfahrungen und materiellen Interessen nicht annähernd herleiten ließ. Kurzum, man begründete ideologisch und machte sich theoretisch »bewusst«, was man aus ganz eigenen, unbewussten Motiven heraus schon im Begriff stand zu tun.

Nicht ein an sich existierender Marxismus, Leninismus, Maoismus oder sonstiger Ismus hat die aktivistischen Kerne der 68er-Bewegungen verführt oder überwältigt – sondern sie selbst waren es, die sich mit solch schwerem »ideologischem Rüstzeug« gegen eine Welt von Feinden zu wappnen und wie mit einem Druidentrank zu stärken versuchten. Und nicht die überkommenen Reste der »alten Linken«, die jeweiligen linkssozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Gruppen und Parteien, haben die vagierenden Massen jugendlicher Rebellen in erster Linie radikalisiert oder »rekrutiert« (auch wenn es in manchen Fällen so aussah) – sondern sie selbst waren auf der frenetischen Suche nach historischen Anknüpfungen, nach überlebenden Kronzeugen und »real existierenden« Formen einer revolutionären Weltbewegung. Es war der Versuch, der unerträglichen Leichtigkeit der eigenen Existenz durch Verankerung in der »wirklichen« Geschichte Gewicht und Bedeutung zu verleihen.

Im deutschen Kontext bedeutete dies auch eine nachträgliche Orientierung an der, wie man glaubte, einzig konsequente Gegenoption des Jahres 1933 – und damit an einem »anderen Deutschland«, einem nicht kompromittierten, das einst sogar die stärkste, fortgeschrittenste Arbeiterbewegung des Westens gehabt hatte. Statt in Kategorien von Schuld und Sühne konnte man die deutsche Geschichte dann in Kategorien von Sieg und Niederlage erörtern – und von Verrat. »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« All die täglichen Frustrationen und Kampfansagen einer »Außerparlamentarischen Opposition« erhielten damit eine viel größere, historische Dimension.

Allzu leicht wird im Übrigen vergessen, dass auch in den Ländern Osteuropas die Unrast der Jugend sowohl 1956 wie 1968 in ihren ideologischen Ausdrucksformen ganz überwiegend noch links und marxistisch codiert war. Die schiere Parallelität derartiger Jugendrevolten in einer Vielzahl von Ländern, die sich in völlig unterschiedlicher Lage befanden, verweist auf einen allgemeineren Zusammenhang, der im Grunde auf der Hand liegt. Ganz offenkundig war das Hauptmotiv der 68er-Bewegungen in Deutschland wie in Frankreich, Italien, den USA, in Japan, aber eben auch in den Ländern des sowjetischen Blocks wie in China ein jeweiliger, offen oder verdeckt ausgetragener, Konflikt zwischen der Kriegs- und der Nachkriegs-Generation. Und nicht zufällig handelte es sich um die Länder, die zu den Hauptkombattanten des letzten Weltkrieges gehört hatten.

Generationskonflikte als Faktoren historischer Entwicklungen drehen sich nicht primär um Differenzen zwischen Eltern und Kindern, und müssen daher auch keineswegs den Charakter massenhafter innerfamiliärer Rebellionen tragen. Vielmehr geht es um Auseinandersetzungen und Friktionen, in denen sich jeweils die Ablösung einer dominierenden Schicht der Älteren und »Etablierten« durch die Kohorten jugendlicher Nachrücker vollzieht. Norbert Elias hat generationelle Konflikte dieser Art »zu den stärksten Antriebskräften der sozialen Dynamik« überhaupt gezählt.[24]

Man hat, um das besondere Verhältnis der (Nach-)Kriegskinder zu ihren Eltern zu beschreiben, auch das Modell vom »Ineinanderrücken der Generationen« verwendet.[25] Gemeint ist eine Situation, in der Kinder die Deutung und Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung der Eltern stellvertretend übernehmen, so dass die Geschichte der Eltern die ihrer Kinder zu erdrücken droht. Dabei war das Problem der »Schuld« und »Wiedergutmachung« kein exklusiv deutsches Thema. In anderen Ländern Europas, die während des Weltkriegs besiegt und okkupiert worden waren, konnten sich die Nachgeborenen auf ganz ähnliche Weise »schuldig« fühlen, sei es angesichts der Leiden und des Heroismus der Kriegsgeneration oder umgekehrt angesichts ihres Opportunismus und mangelnden Widerstands. Noch zugespitzter findet sich derselbe psychische Zusammenhang im Zwangsgedanken einer »Überlebensschuld« der davongekommenen Opfer des Holocaust, der sich vielfach auf ihre Kinder übertrug. Der bestimmende Anteil jüdischer Intellektueller an der Spitze der Jugendrevolten von Berkeley über Warschau bis Paris dürfte auch in dieser psychologischen Konstellation begründet gewesen sein.

Der kleinste gemeinsame Nenner aller jugendlichen Renitenzen war also das Gefühl einer Entwertung der eigenen Existenz gegenüber der der Älteren. Und damit lag noch vor allen gesellschaftlichen Antrieben und Anlässen, die zur Bildung der »68er« als einer politischen Generation geführt haben, das Gefühl einer tiefen narzisstischen Kränkung. In Deutschland mussten diese Kränkungen naturgemäß eine besonders schroffe Form annehmen. »Sie« (die Generation der Eltern) hatten »uns« das alles schließlich eingebrockt, wegen »ihnen« waren wir genötigt, uns bis in alle Ewigkeit zu rechtfertigen, waren wir blamiert bis auf die Knochen, standen wir da als Verlierer und Verbrecher der Weltgeschichte schlechthin. Authentische Scham und existenzielle Verzweiflung mischten sich mit jeder Sorte steiler Selbststilisierungen und schwüler Selbstfaszinationen. 

In einer Schlüsselszene von Bernward Vespers Generationsroman Die Reise rekapituliert der Held (der Autor) ein Gespräch mit seinem Trip-Genossen, einem jungen amerikanischen Juden: »Burton hätte jetzt lernen können, wie schwer es ist, in diesem Scheißland zu arbeiten […] Das ist alles noch da, liegt auf der Lauer […] Die Schweine sind wir, Burton. (Unter Hitler wart es Ihr, die Schweine. Euch gibt es nicht mehr.) Aber wir werden uns vorbereiten. Wir werden uns nicht abschlachten lassen, Sir!«[26] Eine derartige Selbststilisierung der protestierenden Studenten als der »neuen Juden« war damals gang und gäbe.

Gleichzeitig trat zum ersten Mal eine Tendenz unter den jüngeren, linken, antifaschistischen Deutschen zutage, sich Auschwitz’ als eines negativen Mythos’ zu bemächtigen – während das Ereignis selbst aus seinem bestimmten historischen Zusammenhang herausgelöst und zum universellen politischen Schlagwort gemacht wurde. »Faschismus« wurde zum Allerweltsbegriff, der den des »Nationalsozialismus« weitgehend substituierte und sich zugleich schon in den des Kapitalismus und Imperialismus auflöste. Das war ein recht patenter Modus, diese belastende Vergangenheit nach links hinaus zu »entsorgen«.

Ende 1968 erklärten ein Drittel der Angehörigen der »jüngeren Intelligenz« in der Bundesrepublik, dass sie mit dem Marxismus oder Kommunismus sympathisierten. Zwei Drittel sahen sich vom bestehenden Parteiensystem nicht mehr repräsentiert oder standen ihm mit offenem Misstrauen gegenüber.[27] Diese scharfe ideologische Linkswendung war allerdings nicht der Ausgangspunkt, sondern bereits ein Produkt der radikalen Studentenbewegung. Und sie war in ihren politischen Konsequenzen viel weniger eindeutig, als sie aussah. Denn die ubiquitären Reden von »Ausbeutung« oder »Klassengesellschaft« waren ganz offenkundig nur eine Form verstellter Sprache, ein quid pro quo ganz anderer Inhalte und Bedeutungen. Für das Gros der »Neuen Linken« verbanden sich damit keinerlei konkrete eigene Erfahrungen. Sondern es waren abstrakte Vorwürfe an »die Gesellschaft«. Dagegen war das »Proletariat« die Chiffre einer mythischen, in der Tiefe dieser Gesellschaft schlummernden Kraft, die imstande wäre, alles Bestehende über den Haufen zu werfen. 

Auch die als Gegen-Väter in Anspruch genommenen Vertreter neuerer, vom Marxismus ausgehender kritischer Gesellschaftstheorien empfanden die Art und Weise der »Aneignung« ihrer Thesen und Gedanken durch die revoltierenden Studenten sehr bald als glatte Expropriation – worum es sich in der Tat auch handelte. Von Adornos und Horkheimers neu aufgelegter Dialektik der Aufklärung blieb nichts als der sinnwidrig im Munde geführte Begriff. Man las sie einfach als Ideologen der reinen Negation, als Manipulationstheoretiker oder Künder eines unbürgerlichen Jenseits, bei völliger Ignorierung ihrer aktuellen politischen Urteile. Reimut Reiche schrieb: »Mir ist erst viel später klar geworden, daß wir in einem unbewußtenkollektiven kreativen Akt eine ›undeutsche‹ fremde Sprache erschaffen hatten, […] ein jüdisch-intellektuelles Rotwelsch, genauer: ein […] in die gesprochene Sprache transformiertes Amalgam von theoriesprachlichen Begriffen, die allesamt ›jüdischen‹ Wissenschaften entnommen waren: dem Marxismus, der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie.«[28]

Das war der Generalnenner dieser generationellen Bewegungen überhaupt: ein Versuch der Selbsterfindung aus dem Geist universaler, scheinbar wissenschaftlich beglaubigter Theorien über das verborgene Andere oder ein potentielles Jenseits der gegebenen kapitalistischen, also kommerziellen, individualistischen, rechtlich eingehegten, dem Realitätsprinzip unterworfenen, transzendenzlosen Welt. Im deutschen Kontext kamen noch besonders starke, unbewusste Motive dazu, die sich in dem gewaltsamen Versuch zusammenfanden, das Band zu durchschneiden, das die Nachgeborenen sozial und kulturell mit der kontaminierten Lebenswelt der Elterngeneration verband.

Dieser radikale Sezessionsversuch war auch der gar nicht so geheime Nenner der Kommune-Experimente und des enormen gesellschaftlichen Echos, das sie fanden. Ihr atemloser, selbstzerstörerischer Aktionismus lebte, fernab aller wirklich hedonistischen und spielerischen Motive, von der Droge ihrer medialen Wirkungen. Es war ein zwanghaftes Reiz-Reaktions-Spiel mit den Ängsten und Phobien der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere im Hochdruckkessel der Frontstadt Westberlin, bei dem die schäumenden Hetztiraden der Bild-Agitation und die zynisch kalkulierten, oft in einer Sprache projektiver Unmenschlichkeit vorgetragenen Provokationen und pyromanen Phantasien der Kommunarden sich genau entsprachen. Wenn Ulrich Enzensberger in seiner höchst instruktiven, weil distanzlosen Rekapitulation der Geschichte der Kommune 1 über die SpringerBlätter schrieb: »Sie wußten die Klaviatur der Instinkte – Todesangst, Sex, Neid, Grauen usw. – bravourös zu bedienen«, so beschreibt das präzise auch die Aktionsmuster der Kommunarden selbst.[29] Gerade in diesem Sinne, nämlich der projektiven Verkoppelung mit allem Ungeist der Mehrheitsgesellschaft, habe ich sie als »Idioten der Familie« (im Sinne des neurotischen deutschen Familienromans) bezeichnet.[30]

Nicht nur über ihre »burn, warehouse, burn«-Flugblätter im Mai 1967 führt ein ziemlich direkter Weg zur Frankfurter Kaufhausbrandstiftung im April 1968, und von dort weiter zu der von Gudrun Ensslin organisierten Baader-Befreiung im Mai 1970, die den Startschuss für die Gründung der RAF lieferte. Auch nahezu das gesamte Gründungspersonal der diversen konkurrierenden bewaffneten Gruppen, die sich seit dem Winter 1969/70 formierten, stammte aus der Berliner Kommunardenszene oder bewegte sich in ihrem engeren Umfeld: wie Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und Georg von Rauch, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, aber auch Baader und Ensslin, und selbst Ulrike Meinhof und Horst Mahler, um nur die prominentesten zu nennen. 

Freilich, wenn man näher hinschaut, sieht man nicht zielstrebig Agierende, sondern eher blind Getriebene. Fast immer gingen Akte einer lebensgeschichtlichen Entbindung voraus, mit denen die Brücken einer bürgerlichen Existenz verbrannt wurden. So stand am Beginn des deutschen Terrorismus auch der leere existenzielle Gestus des Gangs in den Untergrund. Erst dann folgten die Selbstdeklarationen als »Rote Armee Fraktion« oder »Bewegung 2. Juni« mitsamt allen aufwändigen Selbstexplikationen, die sich ausschließlich an das eigene, engere Bewegungsmilieu richteten. Michael Rutschky hat einen Essay über die siebziger Jahre »Erfahrungshunger« genannt und auch die terroristischen Aktionen – bis hin zu den Hungerstreiks der RAF-Häftlinge und ihrer Sympathisanten – mit einbezogen.[31] Mit mehr Berechtigung müsste man von Erfahrungsverweigerung sprechen, die sich in der Nahrungsverweigerung der »politischen Gefangenen« gegen eine angeblich an ihnen vollstreckte »Isolationsfolter« und »Vernichtungshaft« symbolischen Ausdruck verschaffte. Auf dieser symbolischen Ebene lag überhaupt das Hauptaktions- und Wirkungsfeld der RAF, und daraus speiste sich zugleich ihr leerer, selbstreferentieller Existenzialismus. Sie rührte an die Selbstunsicherheit der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und erzeugte gesamtgesellschaftliche Hysterien, die bis heute nachhallen. 

Was Dutschke betrifft, war er genau zu diesem leeren Existenzialismus und blinden Aktionismus nicht bereit und nicht fähig. Was in der Frühphase der »Subversiven Aktion« noch zusammenging und was sich auch später über lange Strecken noch ideologisch und verbal decken mochte, das trennte sich in Wirklichkeit schon Anfang 1967 mit Dutschkes Entscheidung, sein Gretchen zu heiraten, ein Kind zu zeugen und der Kommune 1 mit ihrem terroristisch-zölibatären Reglement (dem Verbot dauerhafter persönlicher Bindungen) nicht beizutreten. Wie der Teil der Kommunarden, der sich (wie Ulrich Enzensberger, Eike Hemmer oder später auch Kunzelmann) in die ML-Gruppen flüchtete, schützte Dutschke sich durch sein letztlich eher traditionelles Politikastertum und seinen manischen Theoriefanatismus vor der schiefen Ebene, die in den Terrorismus mit seinen drogenartigen Trip-Erfahrungen von Macht und Gewalt führte. Sein »Holger, der Kampf geht weiter« am offenen Grab von Holger Meins 1975 war ein spontaner, politisch idiotischer, aber menschlich anrührender Versuch, im Angesicht dieses sinnlosen Selbstopfers seine ehemaligen Bewegungsgenossen noch einmal »zurückzuholen«, die längst in einer eigenen, unerreichbaren, hermetischen Welt lebten.

Es sind jedenfalls diese lebendigen Motive, eher als die papiernen Deklarationen, die uns auch von heute aus ermöglichen, diese ganze »Bewegung« von 1968 mitsamt ihren terroristischen Irrläufern zu rekonstruieren und in ihren Paradoxien wie in ihren schrecklichen Konsequenzen und glücklichen Inkonsequenzen aufzuschlüsseln.



[1]  Siehe insbesondere die neunteilige Debattenreihe in der Berliner tageszeitung (taz). Meschkat, Klaus: Fantasievolle Überraschungen, in: taz vom 1. März 2005; Kraushaar, Wolfgang: Der Eskalationsstratege, in: taz vom 8. März 2005; Misik, Robert: Lob der Guerilla-Mentalität, in: taz: vom 15. März 2005; Widmann, Arno: Ein Trip namens Revolution, in: taz vom 22. März 2005; Schlak, Stephan: Der Nicht-Anschlussfähige, in: taz vom 30. März 2005; Bautz, Christoph: Überholter Zündstoff, in: taz vom 5. April 2005; Charim, Isolde: Kampf um die Sehnsüchte, in: taz vom 13. April 2005; Busche, Jürgen: Der schwankende Hintergrund, in: taz vom 26. April 2005; und Leggewie, Claus: Entmystifiziert euch!, in: taz vom 3. Mai 2005.

[2]  Kraushaar, Wolfgang/Wieland, Karin/Reemtsma, Jan Philipp: Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005, S. 13–50.

[3]  Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung. KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 30. Januar bis 16. Mai 2005. Siehe auch den Katalog Biesenbach, Klaus (Hrsg.): Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung, Göttingen/Berlin 2005.

[4]  Reemtsma, Jan Philipp: Was heißt »die Geschichte der RAF verstehen«?, in: Kraushaar/ Wieland/Reemtsma: Rudi Dutschke (Anm. 2), S. 134.

[5] Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, K 21/48, Rudi Dutschke Notizen, Mappe 5, undatiert, Bl. 1, zitiert in: ebenda, S. 41.

[6] Siehe Dutschke, Gretchen: Rudi Dutschke – Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Eine Biographie, München 1998, S. 489. »Aus dem SDS, dem Republikanischen Club, den Falken und linken Gewerkschaftsgruppen sollte eine achtzig Mann starke Gruppe rekrutiert werden, um als illegaler Teil der Organisation zu wirken.«

[7] Chaussy, Ulrich: Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie, Darmstadt/Neuwied 1983, S. 212–214.

[8] Nirumand, Bahman: Leben mit den Deutschen. Briefe an Leila, Reinbek 1989, S. 112–114. 

[9] Siehe auch Dutschke: Rudi Dutschke (Anm. 6), S. 180. »Zusammen mit Giangiacomo füllte er [Rudi] unsere Kindertragetasche mit dem Dynamit […]. Feltrinelli befahl: ›Tu das Baby drauf, dann wird es nicht verdächtig aussehen.‹ Das war mir nicht geheuer, aber ich legte Hosea auf das Dynamit und schob den Kinderwagen zum Auto. Wir fuhren in irgendeine Villengegend […] zu der konspirativen Wohnung, in der der Sprengstoff versteckt werden sollte.«

[10]  Chaussy: Die drei Leben (Anm. 7), S. 223.

[11]  Siehe Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967– 1977, Köln 2001, S. 40-43. Dutschkes unter Pseudonym im Oberbaumblatt Nr. 5 vom 12. Juni 1967 veröffentlichter Aufruf zur »räterevolutionären Machtergreifung in Westberlin« ist wieder abgedruckt in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995,  München/Frankfurt a. M. 1998, Bd. 2, S. 255–260.

[12]  Siehe Dutschke: Rudi Dutschke (Anm. 6), S. 221. »Rudi [sollte] fünfzig Leute für eine Freiwilligenbrigade aussuchen, die bereit waren, nach Chile zu gehen. Ein Schiff sollte beschafft werden, um Waffen zu schmuggeln, und dann sollte Rudi nach Chile kommen, eine Stelle an einer Universität annehmen und als Verbindungsmann arbeiten.«

[13]  Vorwort von Rudi Dutschke zu: Reisner, Stefan (Hrsg.): Briefe an Rudi D. Frankfurt a. M. 1968, S. III f.

[14]  [Redaktionskollektiv]: Gewalt, in: konkret vom Juni 1968, S. 24–35.

[15]  Der Brief wurde offenbar in zwei Versionen verfasst und übermittelt. Siehe Dutschke: Rudi Dutschke (Anm. 6), S. 209 f.

[16]  Kraushaar, Wolfgang: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: Kraushaar/Wieland/ Reemtsma: Rudi Dutschke (Anm. 2), S. 50.

[17]  Kraushaar, Wolfgang: Rezension zu: Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, in: H-Soz-u-Kult vom 27. Februar 2002.

        <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-028>.

[18]  Mahler war im Herbst 1969 bereits mit ersten Waffenbeschaffungen und Rekrutierungen beschäftigt. Über das ganze undeutliche Geschiebe und Gedränge im Vorfeld des Wegs in den Untergrund siehe Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003, S. 252–270. Über das Treffen mit Mahler siehe den ziemlich inkonsistenten Bericht von Gretchen Dutschke. Dutschke: Rudi Dutschke (Anm. 6), S. 239 f. In den von ihr herausgegebenen, lückenhaften Tagebüchern ihres Mannes fehlen alle von ihr verwendeten Zitate. Siehe Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963–1979, Köln 2003.

 Wolfgang Kraushaar berichtet darüber hinaus von einem Treffen Dutschkes mit der untergetauchten Ulrike Meinhof irgendwann 1970/71, die ihm vorschlagen habe, sich der RAF anzuschließen und so wie sie »seine beiden Kinder bei der Mutter (zu) hinterlassen«, was er empört abgelehnt habe. Siehe Kraushaar: Rudi Dutschke (Anm. 16), S. 47. Diese, laut Kraushaar von Gretchen Dutschke nur mündlich überlieferte Episode, erinnert allerdings ominös an eine andere, in Gretchens Dutschkes Biographie bereits erwähnte, wonach Ulrike Meinhof ihrem Rudi bereits im Mai 1969 bei einem Besuch in Berlin vorgeschlagen habe, seine Frau zu verlassen und seinen Sohn mitzunehmen, um mit ihr (Ulrike Meinhof) zusammenzuleben. Siehe Dutschke: Rudi Dutschke (Anm. 6), S. 240. Ob sich die Erinnerungen von Gretchen Dutschke und Wolfgang Kraushaar hier eventuell überlagern, muss dahingestellt bleiben.  

[19]   Marcuse, Herbert: Das Ende der Utopie, Berlin 1967, S. 47 f.

 

[20]  Siehe von Friedeburg. Ludwig (Hrsg.): Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln/Berlin 1965 sowie die Allensbach-Studie 1967, hier zitiert nach Stolle, Uta: Die Ursachen der Studentenbewegung im Urteil bürgerlicher Öffentlichkeit, in: Das Argument, H. 58, S. 37. Selbst eine 1968 erschienene Studie über den Jahrgang 1941 konstatierte noch dessen »unauffällige Integration in die Gesellschaft«. Siehe Elisabeth Pfeil: Die 23-jährigen. Eine Generationenuntersuchung am Geburtsjahrgang 1941, Tübingen 1968.

[21]  Zitiert nach Spiegel-Spezial: Die wilden 68er, Hamburg 1988, S. 67.

 

[22]   Zitiert nach ebenda, S. 25.

[23]  Siehe mein bereits zitiertes Buch Koenen: Das rote Jahrzehnt (Anm. 11).

[24]  Elias, Norbert: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 315 f.

[25]  Siehe Bude, Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938–1948, Frankfurt a. M. 1995, S. 32 f. Bude bezieht sich auf einen Aufsatz von Haydée Faimberg. Faimberg, Haydée: Die Ineinanderrückung (Telescoping) der Generationen. In: Jahrbuch für Psychoanalyse 20 (1987), S. 114–142.

[26]  Vesper, Bernward: Die Reise. Romanessay. Ausgabe letzter Hand, 20. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 197.

[27]  Emnid Bielefeld: Junge Intelligenzschicht 1968/69, Bielefeld Juni 1969. Hier zitiert nach Langguth, Gerd: Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983, S. 17 f.

[28]  Reiche, Reimut: Sexuelle Revolution – Erinnerung an einen Mythos, in: Baier, Lothar u. a. (Hrsg.): Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988, S. 48 f.

[29]  Enzensberger, Ulrich: Die Tage der Kommune 1. Berlin 1967–1969, Köln 2004, S. 137.

[30]  Siehe das Kapitel »Idioten der Familie – Die Tage der Kommune 1. Mythen einer sexuellen Revolution«, in: Koenen: Das rote Jahrzehnt (Anm. 11), S. 149–182.

[31]  Rutschky, Michael: Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Köln 1980.

Inhalt – JHK 2005

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