JHK 2006

»1956« Nationale Geschichtskultur, Erinnerungspolitik und private Erinnerung während Ungarns »Systemwechsel« 1989

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 93-115 | Aufbau Verlag

Autor/in: Árpád von Klimó

Der 23. Oktober, der Tag, an dem 1956 die ungarische Revolution begann, ist seit 1989 ungarischer Nationalfeiertag.[1] Zugleich wurde am 23. Oktober 1989 die neue, demokratische Republik Ungarn ausgerufen. Damit endete die volksdemokratische Epoche Ungarns (1949 bis 1989). Die Erhebung dieses Herbsttages zum Nationalfeiertag und die Entscheidung, den Wechsel der Staatsform an diesem Tag zu vollziehen, drückt das positive Bekenntnis der politischen Klasse in Ungarn wie auch weiter Kreise der Bevölkerung zum Aufstand von 1956 aus, der seither offiziell »Revolution und Freiheitskampf« genannt wird.[2] Im vereinten Deutschland dagegen wurde der in Westdeutschland nach 1953 als Feiertag eingeführte 17. Juni abgeschafft und damit die Erinnerung an den Aufstand in der DDR offiziell abgewertet, wogegen sich zunächst nur vereinzelt Protest erhob.[3] Sehr viel deutlicher als in diesen Entscheidungen für bzw. gegen den jeweils daran erinnernden Gedenktag lässt sich der Unterschied im Umgang mit der Erinnerung an die beiden antistalinistischen Aufstände in Ungarn und Deutschland kaum aufzeigen. Die tieferen Ursachen für diese Differenz liegen zum Einen darin begründet, dass die neuere ungarische nationale Geschichts- und Erinnerungskultur seit Mitte des 19. Jahrhunderts, ähnlich etwa wie die Frankreichs oder der meisten südamerikanischen Staaten, auf der Narration eines national-revolutionären Befreiungsaktes aufbaut. In Ungarn gilt der 15. März 1848 als der Tag, an dem dieser Befreiungsversuch begann, der sich am 23. Oktober 1956 gewissermaßen wiederholte. Dazu kam, dass es die Kommunisten selbst waren, die diese national-revolutionäre Meistererzählung in den pompösen Hundertjahrfeiern von 1948/49 – nur sieben Jahre vor der »Wiederholung« – noch einmal in ihrem Sinn und für ihre Zwecke erneuerten und propagierten. Daher verstanden die bewusst handelnden und gebildeteren Teilnehmer der Revolution von 1956 und ein maßgeblicher Teil der Öffentlichkeit ihr Engagement nicht nur als Aufstand gegen eine verhasste, aus der Sowjetunion importierte Tyrannei, sondern auch als nationale Revolution im Einklang mit der ungarischen Tradition.[4] Sie nannten ihre Institutionen auch ganz selbstverständlich »Revolutionskomitees« und ähnlich. Wichtig ist außerdem die Tatsache, dass beide zunächst siegreichen Revolutionen und die durch sie an die Macht gekommenen Regierungen in beiden Fällen durch Interventionsarmeen aus dem Ausland (Zarenreich bzw. Sowjetunion) gestürzt wurden.[5] Im Falle der deutschen Märzrevolution 1848/49 schlug bekanntlich die preußische Armee unter dem zuerst als »Kartätschenprinz« geschmähten und später als nationaler Gründungskaiser verehrten Wilhelm I. den Aufstand nieder.

In Ungarn wurden nicht zufällig zentrale Gedenkorte des Kultes um die Helden und Märtyrer von 1848/49, wie die Denkmale für Petőfi, Batthyány oder den polnischen General Józef Bem, Oberbefehlshaber der ungarisch-revolutionären Truppen, Treff- und Anlaufpunkte der Demonstranten des 23. Oktober 1956. Dagegen kamen die deutschen Arbeiter, die sich bereits am 16. Juni 1953 auf der Stalinallee versammelten, nicht auf die Idee, ihren Protest durch einen Zug etwa zu den Gräbern der Berliner Märzgefallenen von 1848 im sehr nahe gelegenen Friedrichshain, in eine nationalhistorische Tradition zu stellen. Diese besaß in Deutschland kein vergleichbares Gewicht.[6] 

All das bedeutet nicht, dass solche geschichtskulturellen, sich in Symbolen und rituellen Praktiken erneuernden Strukturen die jeweilige aktuelle öffentliche Erinnerung determinieren oder festlegen. Sie stellen nur eine, allerdings plausible Möglichkeit dar, neue Ereignisse zu deuten, die aufgrund bestimmter kollektiver Erfahrungen als nationalhistorisch relevante Wendepunkte wahrgenommen werden. Zugleich besteht ihre Wirksamkeit paradoxerweise genau darin, dass sie hochgradig umstritten und umkämpft sind, da sie über Legitimität politischer Handlungen wie auch über die Konstruktion nationaler Identitäten mitentscheiden und kein politischer Akteur einfach über sie hinwegsehen kann.

Im folgenden Beitrag sollen die Deutungskämpfe um »1956« in der Phase des Übergangs von der sozialistischen Parteidiktatur zum pluralistischen System im Jahr 1989 analysiert werden. Kollektive Erinnerung und der politische Umgang mit ihnen stehen zunächst im Zusammenhang mit jeweils aktuellen politischen und sozialen Konstellationen, daher wird zunächst nach politischen Funktionen der Erinnerung an 1956 in der Phase des ungarischen »Systemwechsels« von 1989/90 gefragt. Hier werden auch die außen- und innenpolitischen Hintergründe der Erinnerungspolitik knapp nachgezeichnet: 

Anhand einiger zentraler erinnerungspolitischer Ereignisse des Jahres 1989 wird im vorliegenden Artikels untersucht, wie sich zwischen Januar und November die politische Stimmung und die Einschätzung der Legitimität der kommunistischen Diktatur radikal veränderten, und wie sehr diese dramatische Veränderung des politischen Klimas mit den wichtigsten erinnerungspolitischen Ereignissen um 1956 zusammenhing. 

Im daran anschließenden Abschnitt wird danach gefragt, ob und wie sich öffentliche und private Erinnerung zueinander verhalten. 

Am Schluss des Beitrags werden die Beobachtungen noch einmal knapp zusammengefasst. 

Die politische Bedeutung der Erinnerung an den Herbst 1956 während des ungarischen »Systemwechsels« 1988/89

Wie Heino Nyyssönen schrieb, »erlebte ›1956‹ im Jahr 1989 eine Wiederauferstehung und wurde ein Teil des Systemwechsels«[7]. Oft schien dieses historische Ereignis wichtiger als andere, aktuelle Fragen, etwa die Ausgestaltung des politischen und ökonomischen Systems oder die Sozialpolitik. Um zu verstehen, warum die Erinnerung an das Jahr 1956 so eine entscheidende politische Bedeutung in dieser Zeit hatte, muss zunächst kurz erläutert werden, was unter dem in Ungarn inzwischen üblichen Begriff »Systemwechsel« (rendszerváltás) zu verstehen ist, der sich von der »Wende« in der DDR deutlich unterscheidet.  Kommunistische Reformer leiteten schon frühzeitig, noch bevor Opposition und Bevölkerung wirksam auftreten konnten, erste Schritte in Richtung Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat ein.[8] Bei diesen Reformern handelte es sich um eine eher technokratisch orientierte Elite, die daran arbeitete, die ungarische Wirtschaft allmählich in den Weltmarkt zu integrieren. 1982 war Ungarn dem Internationalen Währungsfonds beigetreten, es gab Joint Ventures mit US-amerikanischen Konzernen (Levi’s Jeans, Marlboro), zugleich wurden die Beziehungen zu westlichen Staaten immer intensiver. Vor diesem Hintergrund könnte der »Systemwechsel« nur als ein, wenn auch überraschend eingetretener, Abschluss einer längeren Entwicklung verstanden werden. Allerdings hätte diese auch anders verlaufen können, wenn sich der Niedergang der Sowjetunion nicht seit dem Einmarsch in Afghanistan beschleunigt hätte. Vor dem Hintergrund der Perestrojka in der Sowjetunion hatte sich schließlich auch in Ungarn der Spielraum vor allem für wirtschaftliche, aber auch für politische Reformen erweitert, der zuvor, seit ihren Anfängen in den 60er Jahren, immer wieder von konservativen Kräften innerhalb von Partei und Staatsapparat eingeschränkt worden war. Andererseits haben die Reformkommunisten stets nur solche Veränderungen angestrebt, die der Festigung des bestehenden Systems dienen sollten, auch wenn sie dies nach 1989 anders darstellten. 

Für Oppositionelle sollte das Wort »Systemwechsel« dagegen den Unterschied zur bloßen Reformpolitik bezeichnen, indem er die Nicht-Reformierbarkeit der sozialistischen Parteidiktatur postulierte. In diesem Sinn verwendete ihn etwa Bálint Magyar, Mitbegründer des liberalen Bundes der Freien Demokraten (SZDSZ) auf einer Pädagogenversammlung im Frühling 1988.[9] 

Man könnte den Begriff aber auch ganz anders verstehen: Demnach wurde zwar das sozialistische System sowjetischen Typs auf friedlichem Wege »gewechselt«, aber ein großer Teil der Eliten der Diktatur konnte seine gehobene Position in Polizei, Verwaltung, Wirtschaft, Medien oder Wissenschaft in das neue System hinüberretten.[10] Beides bedingte einander: Der friedliche, geordnete, auf rechtsstaatlichem und demokratischem Weg herbeigeführte Systemwechsel (Verfassungsrevision, Wahlen im Jahr 1990) ermöglichte die personelle Kontinuität in zahlreichen Schlüsselpositionen, während die Verschonung der Machtpositionen der Eliten die Friedlichkeit des Übergangs erleichterte. Voraussetzung für beides war zudem, dass es lange vor 1989 Veränderungen im politischen Denken, in der Ideologie, in der Mentalität eines großen Teils der Führungsschichten, aber auch in breiteren Kreisen der Bevölkerung gegeben hatte, so dass spätestens seit Mitte der 80er Jahre der Übergang zu einem demokratischen und kapitalistischen System für viele Menschen denkbar geworden war.[11] Die nie offen diskutierte, in vielen Fällen traumatische Erinnerung an die Kämpfe und die brutale Repression von 1956 innerhalb des Partei- und Staatsapparates wie auch in der kleinen Opposition und in der breiteren Bevölkerung trug außerdem zu dem Bemühen bei, die Konflikte nun friedlich zu lösen. Und dies, obwohl gerade die Oppositionsbewegung auch von Jüngeren getragen wurde, die gerade nicht auf eigene Erfahrungen mit einer brutalen Staatsmacht zurückblicken konnten, sondern in einer Diktatur aufgewachsen waren, die gewisse »sozialistisch-gesetzliche« Grenzen zu respektieren versuchte und nur gelegentlich polizeiliche Mittel einsetzte. Allerdings führte dieser Konsens nach János M. Rainer auch dazu, bestimmte heikle Fragen in Bezug auf den Herbst 1956 wiederum auszuklammern, um den gewaltfreien Übergang nicht zu gefährden.[12]

In diesem Zusammenhang konnte die Erinnerung an »1956« dem reformorientierten Teil der herrschenden Eliten nutzen, die mit »1956« einerseits Stalinismuskritik üben, andererseits gegenüber der Opposition auf mögliche Gefahren eines gewaltsamen »Systemwechsels« hinweisen konnten. Sie konnte aber auch der kleinen, eher schwachen und fragmentierten Opposition nützen, die ein breites politisches Spektrum von linken marxistischen Systemkritikern und Trotzkisten über die Liberalen bis hin zu radikalen Nationalisten repräsentierte. Für diese Gruppen erfüllte die Beschwörung von »1956«, die spätestens seit dem 25. Jahrestag 1981 intensiviert wurde, eine doppelte Funktion in der Auseinandersetzung mit dem Regime: Zum einen konnte sie durch die Erinnerung an die Opfer von »1956« moralische Empörung gegen János Kádár, den nationalen »Verräter« und »Henker« von Ministerpräsident Imre Nagy und Hunderten anderen, erzeugen und mobilisieren. Zum anderen konnte der Herbst 1956 als gemeinsame Plattform für politisch, sozial, ideologisch und kulturell sehr unterschiedlich ausgerichtete und in der Bevölkerung teilweise wenig verankerte Oppositionsgruppen dienen, solange die damit verbundene Erzählung noch diffus blieb.

Sowohl die genannten außen- wie auch die innenpolitischen Entwicklungen, die zum »Systemwechsel« 1989 führten, waren eng mit der Erinnerung an »1956« verwoben. Denn schon 1956 waren die Beziehungen zur Hegemonialmacht Sowjetunion und zum Westen ebenso wie die politische, ökonomische und soziale Ordnung des Landes erstmals radikal in Frage gestellt worden. Die Demonstranten und die von ihnen stark beeinflusste Regierung unter Imre Nagy hatten die scheinbar zementierten Verhältnisse innerhalb weniger Tage »zum Tanzen« gebracht. Aufgrund des brutalen Einsatzes einiger Beamter der Staatssicherheit verwandelten sich die Massenkundgebungen in Budapest und in den Provinzstädten schließlich in einen bewaffneten Aufstand, der auch die kleinsten Dörfer erreichte. Erstmals hatte sich der Widerwillen eines großen Teils der Bevölkerung gegen das während der sowjetischen Besatzungsherrschaft mit Zwang und Gewalt errichtete stalinistische System der kommunistischen Parteidiktatur in einen machtvollen Widerstand verwandelt. Sowohl 1956 als auch 1989 sah sich die Bevölkerung der bisher ungewöhnlichen Situation ausgesetzt, über die außen- und innenpolitischen Grundausrichtungen des Landes mitentscheiden zu können. Allerdings sollte sie keine Zeit bekommen, dies auch zu tun. Wenn heute der Systemwechsel von 1989 oft als Ergebnis oder Folge der Ereignisse des Jahres 1956 dargestellt wird, ist das mehr als eine grobe Vereinfachung, denn niemand kann sagen, wie sich die ungarische Politik ohne sowjetische Intervention weiterentwickelt hätte. Ein schneller Übergang zum Kapitalismus und eine rasche, manchmal brutale Öffnung zum Weltmarkt, wie sie 1989 in die Wege geleitet wurde, gehörten jedenfalls nicht zu den Zielen von »1956«.

Eine Vertiefung und Konkretisierung der Erinnerung an die Revolution, das Fragen nach den genauen Umständen und den konkreten Handlungen der Beteiligten berührte schon bald die Legitimität des Kádárschen Systems. Diese modernisierte und flexibler gestaltete Form der sozialistischen Parteidiktatur beruhte auf einer Interpretation, die das Jahr 1956 als »Konterrevolution« auffasste. Nach dieser Interpretation führte »1956« zurück auf den »historischen Irrweg« der Horthy-Ära (1920 bis 1944), die mit Faschismus und Krieg gleichgesetzt wurde. Deshalb hatte die »Konterrevolution« niederschlagen werden müssen. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, erlaubte allerdings auch diese Deutung gewisse Spielräume, nicht nur, wenn Kádár in einer jovialen Geste von einer »nationalen Tragödie« sprach, wodurch er die Schärfe des Vorwurfs der »Konterrevolution« etwas abmilderte.[13] Damit hatte er eine offene, scheinbar vorpolitische, besonders für den privaten Gebrauch bestimmte Metapher eingeführt, die irgendwie für alle Gesellschaftsgruppen zutraf, für die Gefängniswärter ebenso wie für die Gefängnisinsassen. Doch war die nicht völlig unflexible und von Widersprüchen nicht freie Kádársche Geschichtspolitik in Bezug auf den Herbst 1956 auch durch Grenzziehungen und Verbote gekennzeichnet sowie durch die negative Bestimmung dessen, wie die Geschichte zu erzählen sei. Einige Detailfragen wurden tabuisiert, wie etwa die Frage nach den Opfern und den genauen Umständen der Repression 1957 bis 1958, anderes blieb verboten: Die Parzelle 301 auf dem Budapester Zentralfriedhof, wo die Leichen des hingerichteten Imre Nagy und seiner Mitangeklagten verscharrt worden waren, wurde zum »verbotenen Ort« erklärt, der nicht betreten werden durfte. Das Regime wollte die einstigen Gegner zum Verschwinden bringen, sie entehren und symbolisch aus der nationalen Gemeinschaft ausschließen. Ebenso waren bestimmte Bezeichnungen für »1956«, wie etwa »Revolution«, öffentlich nicht aussprechbar und wurden bestraft.

Gerade diese Tabuisierung und die Unterdrückung bestimmter Formen und Orte des Gedenkens schufen aber paradoxerweise genau die Leerstelle, die »1956« zu einem nationalen Mythos werden ließ, den wiederum die Opposition in einem geeigneten Moment zu nutzen verstand. Denn im Grunde waren die Ereignisse des Spätherbstes 1956 äußerst komplex und sehr vieldeutig. Erst die versuchte Unterdrückung ihrer Rekonstruktion und eine vielschichtige, je nach eigenem oder gruppenspezifischem Erleben differenzierte Erinnerung ermöglichte die Konstitution einer einfachen Sichtweise auf das Geschehen, reduzierte radikal die Zahl der möglichen Lesarten der Revolution.[14] Selbst die Opfer der Repressionen der Jahre 1957/58, ihre Hinterbliebenen und Angehörigen gingen sehr unterschiedlich mit ihren ebenso unterschiedlich erfahrenen und verarbeiteten Erlebnissen und Erinnerungen um.[15] Die öffentlichen Diskriminierungen und Schikanen, denen die Familienangehörigen teilweise noch lange ausgesetzt waren, machten ihnen das Vergessen unmöglich. Unter den veränderten Bedingungen seit Mitte der 80er Jahre konnten sie erstmals ihre persönlichen Erinnerungen öffentlich machen. Einige Angehörige engagierten sich auch in den der Opposition nahe stehenden Opfervereinen. 

Die administrativ verordnete Sichtweise und die Unterdrückung abweichender Erinnerungen an die Hinrichtungen konterkarierte wiederum auch die differenzierende Perspektive, die Kádár selbst anstrebte, wonach es 1956 zwar eine Konterrevolution gegeben habe, die Schuld für deren Ausbruch aber auch in den »Fehlern« der stalinistischen Zeit unter Rákosi zwischen 1949 und 1953 zu suchen sei. Diese begrenzte Öffnung ermöglichte es zumindest, während der Kádár-Ära (1956 bis 1988) in Maßen kritische Bücher und Filme über die frühen 50er Jahre in Ungarn zu veröffentlichen.[16]

Neben der Unterdrückung der Erinnerung und der vom Regime erzwungenen Entscheidung für oder gegen die offizielle Deutung des Herbstes 1956 als »Konterrevolution« spielte aber auch die transnational wirksame dualistische Logik des Kalten Kriegs und seiner medialen Gestaltung eine wichtige Rolle: Schon ein großer Teil – aber beileibe nicht alle – der Beteiligten und der Zeitgenossen in Ungarn und außerhalb nahmen die Ereignisse um den 23. Oktober 1956 als Kampf zwischen West und Ost, zwischen Gut und Böse, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen christlichem Abendland und antichristlichem Bolschewismus usw. wahr, gemäß einer strikt zweigeteilten und antagonistischen Realitätsauffassung und der mit ihr zusammenhängenden Bilderwelt. Man denke nur an die schwarz-weißen Filmberichte, unterlegt mit dramatischer Filmmusik und besprochen von Kommentatoren mit schnarrenden Stimmen, die zu einer ganz bestimmten Aufmachung gehörten. So wurden einfache Bilder und Symbole – ein zerstörter Sowjetstern, ein rollender Panzer, eine lächelnde junge Frau vor dem ungarischen Parlament und ähnliches – zu Ikonen dieses weltumspannenden Ringens. Ob die Zerstörung des Sowjetsterns oder das Lächeln nicht etwas anderes bedeuten konnten, etwa den Ruf nach einer reformierten, sozialistischen und gerade nicht kapitalistischen Zukunft oder ob sie einfach Ausdruck einer momentanen Frustration ohne jegliche politische Absicht waren? (Schließlich wurden auch zahlreiche Kinder und Jugendliche in die chaotischen Verhältnisse in jenen Herbsttagen hineingerissen.) Solche Fragen mussten in der hegemonialen Kultur des Kalten Krieges in Ost und West oft untergehen und konnten erst nach langer Zeit wieder gestellt werden. Die dualistische Sichtweise trug auch zu dem Eindruck bei, in der ganzen Welt habe es einhellige Sympathie mit den ungarischen Aufständischen gegeben, von ein paar ideologisch beschränkten, kommunistischen Sympathisanten oder Salonbolschewisten in Frankreich oder Italien einmal abgesehen. Dabei wurde vergessen, dass es nur elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerade in den Nachbarstaaten Ungarns, namentlich in der Tschechoslowakei und nicht allein unter überzeugten Kommunisten, nur wenig Gründe dafür gab, einer ungarischen Nationalbewegung, die möglicherweise die Friedensordnung von 1945 zu verändern trachtete, zuzujubeln.[17]

Es bleibt festzuhalten, dass die Erinnerung an die ungarischen Erhebungen im Jahr 1956 aufgrund ganz bestimmter politischer und medialer Voraussetzungen und Entwicklungen – in einer Zeit beschleunigter Veränderungen des politischen Systems – seit Mitte der 80er Jahre zu einer politisch relevanten Frage wurde, von der scheinbar die Existenz und die Ausgestaltung der kommunistischen Parteidiktatur abhing. Wie wurde aber diese vereinfachte Sicht auf »1956« jeweils gefüllt bzw. herausgefordert? Welche Narrative und Interpretationen standen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen während der Phase des »Systemwechsels«? In welchem Zusammenhang standen die erinnerungspolitischen Kämpfe mit der politisch-institutionellen Entwicklung?

Die Durchsetzung der positiven Bewertung des Herbstes 1956 im Jahr 1989

Zwischen Januar und November 1989 verschoben sich nicht nur die politischen Gleichgewichte Ungarns, womit zumindest formal der Übergang von der Diktatur zur Demokratie vollzogen wurde (der inhaltliche, alltagspraktische zog und zieht sich über Jahrzehnte hin). Es veränderte sich auch die öffentliche Erinnerung an die Ereignisse von »1956« radikal, was Ausdruck eines Ringens verschiedener Akteure (Funktionäre, »Reformer«, »Orthodoxe«, Oppositionelle, Medien, Öffentlichkeit usw.) war, aber auch einem gesellschaftlichen Auffassungs- und Verständniswandel entsprang. Wer dieses Geschehen nach der einfachen Formel: »Die Lügen des Regimes wurden durch die Wahrheit der Opposition und der Opfer ersetzt« behandelt, der vergröbert die Komplexität des Vorgangs. Denn die Haltungen der ungarischen Gesellschaft zu »1956« waren nicht »falsch« oder »richtig«, sondern flexibel und wandelbar.[18] Dass es nicht sinnvoll ist, dies beim Kampf gegen eine Diktatur zuzugeben, ist wiederum auch verständlich. Die Oppositionspolitikerin Ottília Solt musste daher 1989 sagen: »All die gesellschaftlichen Krankheiten und Anomalien, die für unsere Gegenwart charakteristisch sind und natürlich auch für die Vergangenheit waren, beziehen ihre Genesis irgendwie aus jener Grundlüge, dass die Gesellschaft kollektiv bereit war, die Erinnerungen an ›1956‹ zu ersticken, die Erinnerungen an die Revolution und die Erinnerungen an die konterrevolutionäre Machtübernahme [durch Kádár].«[19] Die Geschichtsschreibung sollte sich aber allmählich von der Identifizierung mit den Protagonisten und Zielen von 1989 lösen, denn ohne die notwendige Distanz degeneriert sie zur bloßen Geschichtspolitik.

Das Problem der öffentlichen Erinnerung an »1956« eroberte jedenfalls mit einem als »Paukenschlag« wahrgenommenen Radiointerview die politische Agenda und die Aufmerksamkeit der Medien. Den Skandal löste am 29. Januar 1989 der Sonderminister für politische Erneuerung Imre Pozsgay vom Reformflügel der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) aus, als er, unter Verweis auf das Gutachten einer von ihm gegründeten Historikerkommission, »1956« einen »Volks-Aufstand gegen ein oligarchisches Machtsystem, das die Nation erniedrigte«, nannte.[20] Diese Historische Kommission war im Zusammenhang mit einer Neufassung des Parteiprogramms entstanden, mit der Pozsgay vom ZK beauftragt worden war. Sie widmete sich als eine von insgesamt vier Arbeitsgruppen den »historischen Ursachen der Herausbildung der gegenwärtigen Situation«, d. h. der Parteigeschichte seit 1945, während sich die anderen drei Gremien mit politischen, ökonomischen und sozialen Fragen befassten. Die von Iván Berend geleitete Kommission meinte, die Revision des Geschichtsbildes der MSZMP dadurch voranbringen zu können, indem sie »1956« mit der im westlichen Ausland damals häufig verwendeten Bezeichnung »Volksaufstand« titulierte und damit das überholte, von eher konservativen Parteifunktionären verwendete »Konterrevolution« ersetzte.[21] Das Wort »Revolution« war weiterhin ausgeschlossen, weil es mit einer Infragestellung der »Revolution« von 1945 selbst den Reformern innerhalb der noch führenden Staatspartei die Legitimation entzogen hätte, die sich ja auch darauf beriefen, dass das »reformbedürftige« System besser sei als alle früheren. Bereits zuvor war in offiziellen Verlautbarungen gelegentlich auch das Wort »Aufstand« (felkelés) gebraucht worden, das eine beinahe schon neutrale Konnotation hat. Die Qualifizierung der Ereignisse als »Volks«-Aufstand – also mit einem Kompositum, in welchem ironischerweise gerade ein im Stalinismus besonders häufig gebrauchtes Bestimmungswort (»Volksrepublik«, »Volksarmee«, »Volksgericht«, »Volksfeind« usw.) vorangestellt wurde – verweist allerdings darauf, das diejenigen, die dieses Kompositum prägten, zur kommunistischen Funktionärsklasse gehörten. In einem späteren Interview meinte Pozsgay, die Parteispitze hätte die Ergebnisse der Historikerkommission sicher lange zurückgehalten, deshalb habe er sie einfach publik gemacht.[22] Zugleich stellte sich Pozsgay aber als Gegner der bisherigen Politik der Partei dar: »Man kann nur dann den Stalinismus loswerden, wenn die gesamte Vergangenheit des sozialistischen Ungarn wenigstens korrekt beurteilt wird, und dies wird viel Mühe und Zeit kosten. «[23] Damit wollte der selbsternannte Radikalreformer einerseits die Geschwindigkeit der von ihm losgetretenen Lawine verlangsamen, andererseits seine Drohung gegen zahlreiche Parteifunktionäre aufrechterhalten, die ihre politische Stellung mit der früher üblichen »konterrevolutionären« Qualifizierung der Ereignisse »1956« verbanden.[24] Dieser Teil der Partei, namentlich Károly Grósz (der mit anderen zusammen Kádár gestürzt hatte, Ministerpräsident 1987/88), aber auch das große, nicht notwendig parteigebundene Publikum waren über den »Öffentlichkeitsputsch« Pozsgays empört. Dennoch vermehrten sich die Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehsendungen, in denen der Herbst 1956 als »Volksaufstand« bezeichnet wurde, nun schlagartig.[25] Die Empörung erklärt sich aber nicht nur daraus, dass viele Funktionäre um ihre privilegierte Stellung fürchteten, sondern auch daraus, dass sehr viele Beobachter oder nicht mit der Partei verbundene Menschen sich Sorgen machten um den Frieden im Land oder gar um das Anfang 1989 noch scheinbar vollkommen solide Mächtegleichgewicht in ganz Europa. Ministerpräsident Grósz, der eine langsame »Reform von oben« plante und gegen den sich Pozsgays Attacke richtete, hielt am Begriff »Konterrevolution« fest. Ein Aufstand des »Volkes«, eine Handlung des auch in den Diktaturen sowjetischen Musters vorgestellten Souveräns gegen eine kleine, illegitim herrschende Minderheit – eine solche Deutung schwächte die herrschende Partei radikal, wie sich spätestens im Wahlausgang 1990 bewahrheiten sollte. Da die Staatspartei aber von Seiten der sich langsam unabhängiger entwickelnden Öffentlichkeit und der an Kontur und Gewicht gewinnenden Opposition sowie von einigen radikalen Parteireformern um Pozsgay zunehmend unter Druck geriet, konnte sie nicht wie vorher unter Kádár diese Stimmen einfach zum Schweigen bringen, sondern musste Verhandlungen eingehen. Noch im Oktober 1988 hatte die Regierung öffentliche Gedenkveranstaltungen, die von kleinen Oppositionsgrüppchen zusammengerufen wurden, von der Polizei auflösen lassen. Am Ende einer kontroversen Sitzung des ZK stand am 10. Februar 1989 ein scheinbar salomonischer Kompromiss, wonach 1956 ein Volksaufstand stattgefunden hatte, der später in eine »Konterrevolution« umgeschlagen sei. Außerdem wurde betont, dass bei dem »Aufstand, einem Volksaufstand, […] die Kräfte des demokratischen Sozialismus eine Rolle spielten«[26].

Diese Sowohl-als-auch-Lösung, die der bis dahin gültigen offiziellen Erzählweise noch verhaftet blieb, wurde eher nebenbei kommuniziert, während sich das ZK gleichzeitig lautstark für eine pluralistische Demokratie und einen offenen Wettbewerb mit anderen Parteien aussprach. Als nicht intendierte Folgen der Reformpolitik und besonders des sich verändernden internationalen Klimas und der erweiterten Möglichkeiten für unabhängige Medien und Berichterstattung begannen nun Entwicklungen wirksam zu werden, die dazu führten, dass Parteibeschlüsse keine so entscheidende Bedeutung mehr für die gesamte ungarische Gesellschaft hatten wie zuvor. Die Öffentlichkeit wurde zunehmend vielstimmig, und die Stimme der Partei musste um ihre früher so selbstverständliche (vielleicht aber auch nur überschätzte) Hörbarkeit besorgt sein.[27] Dies wurde offensichtlich, als nur einen Monat später, am 15. März 1989, erstmals seit 1947 der nationale Gedenktag wieder ohne zentrale staatliche Planung und Beaufsichtigung begangen werden konnte und Hunderttausende an oppositionellen Feiern teilnahmen. Noch 1988 hatte es einen Polizeieinsatz gegen Tausende von Demonstranten gegeben (seit 1973 hatten zumeist Studentinnen und Studenten den Arbeitstag zu Protestaktionen benutzt). 

Sowohl für die Ordnungskräfte als auch für die Demonstranten war das Gedenken an 1848 ganz unmittelbar mit dem Gedenken an »1956« verbunden, schon deshalb, weil zu den zentralen Forderungen der Demonstration vom 23. Oktober die Wiedereinführung des 1951 aufgehobenen Nationalfeiertags 15. März gehörte.[28] Am 15. März 1957, als sich unter der Parole »Im März fangen wir wieder an!« Tausende an den spontanen Märzfeierlichkeiten beteiligten, die direkt an den Oktoberaufstand anknüpfen sollten, verhaftete die Polizei etwa 5 800 Personen. Sie konnte aber nicht verhindern, dass sich, wie fünf Monate zuvor, Hunderte an der Petőfi-Statue in Budapest versammelten. Wenn die Partei nun, 1989, ihren Anspruch aufgab, »auf der Straße« das Gedenken an 1848 zu kontrollieren, dann musste sie zwangsläufig auch zulassen, dass immer mehr der in den Jahren zuvor entstandenen und weiter entstehenden Oppositionsgruppen sich auch das Gedenken an »1956« zu eigen machen würden. Damit war der Weg frei, den Oktober 1956 wieder zur »nationalen Revolution« zu erheben und den Ereignissen eine neue, der kommunistischen Meistererzählung der Kádárzeit widersprechende Bewertung zu geben.

Noch aber hinkte die Demokratiebewegung der Entwicklung hinterher, deren Tempo weiterhin die machtbewussten Reformer in den Reihen der herrschenden Partei bestimmten. Die Teilnahme von zehntausenden Bürgern bei ihren eigenen Gedenkveranstaltungen am 15. März 1989 ermutigte die drei größeren Oppositionsparteien Ungarisches Demokratisches Forum (MDF), Bund Freier Demokraten (SZDSZ) und Bund Junger Demokraten (Fidesz), sich zu einem »Runden Tisch der Opposition« zusammenzuschließen. Noch im Januar hatte die Regierung mit allen größeren Oppositionsgruppen separat verhandelt und diese dadurch schwächen können.[29] Wie stark sie wirklich waren, wie der Übergang zum Mehrparteiensystem vonstatten gehen würde, welche Rolle die Kommunisten dabei spielen würden – all das blieben offene Fragen.

Die Stunde der Opposition schlug Mitte Juni 1989, als sie gemeinsam mit einigen Reformfunktionären die Wiederbestattung von Imre Nagy durchsetzen konnten, die zum größten Medienereignis des ungarischen »Systemwechsels«, für manche sogar das offizielle »Begräbnis« des Kommunismus wurde. Auch in diesem Fall waren politisch-institutionelle Entwicklung und erinnerungspolitische Veränderung eng miteinander verzahnt. Drei Tage vor der Trauerfeier, als die Särge von Imre Nagy und fünf anderen 1958 Hingerichteten auf dem Budapester Heldenplatz von Hunderttausenden geehrt wurden, fanden Opposition und Regierung zu einem ersten Gespräch am »Runden Tisch« zusammen. Zu der Wiederbestattung der hingerichteten Revolutionäre von 1956 war es aber nur deshalb gekommen, weil Angehörige der Opfer, ehemalige Häftlinge und Mitstreiter im Frühjahr 1988 ein »Ungarisches Komitee für historische Gerechtigkeit« gegründet und im In- und Ausland würdige Begräbnisse der Hingerichteten gefordert hatten.[30] Auf einer Pressekonferenz in New York im Mai 1988 hatte Károly Grósz, der eine offizielle Rehabilitation noch ablehnte, zumindest die private Bestattung von Imre Nagy und anderen Verurteilten zugesagt. Eine öffentliche Veranstaltung wollte er verbieten.[31]

Die mit der Angelegenheit betrauten Staatssicherheitsoffiziere hatten zunächst Mühe, auf der Parzelle 301 die Stellen zu finden, wo die Leichen der Verurteilten lagen – selbst der Staatsapparat tappte im Dunkeln. Nach einigen Nachforschungen enthüllte ein Totengräber die Geheimnisse des anonymen Begräbnisortes. Das Komitee schaltete sich Anfang 1989 in die Verhandlungen zwischen den Justizbehörden und den Hinterbliebenen ein, damit die Öffentlichkeit darüber unterrichtet werden konnte. So konnten die Behörden unter Druck gesetzt werden. Nachdem fünf Särge gefunden und die Leichname von Imre Nagy und vier seiner Mitstreiter identifiziert worden waren, konnten die Vorbereitungen für die feierliche Ehrung und Wiederbestattung beginnen, die am 16. Juni 1989, dem 31. Jahrestag der Hinrichtungen, stattfinden sollte. Zu dieser Trauerfeier, die vom Gedenkkomitee organisiert, von der Regierung finanziert und unterstützt wurde, strömten mehrere hunderttausend Menschen auf den Heldenplatz in Budapest, Millionen verfolgten sie am Fernsehen. 

Diese Veranstaltung wurde einhellig als Durchbruch im Ringen um die Bezeichnung der Ereignisse von »1956« als »Revolution«, als Absage an den Kommunismus und massenhaftes Bekenntnis zum Oppositionsbündnis gewertet. Nach einer im Juni 1989 veröffentlichten Umfrage – die zu beantwortende Frage lautete: »Was geschah ihrer Ansicht nach im Herbst 1956 in Ungarn?« – stimmten 50 Prozent der Befragten der Option »Revolution und Volksaufstand« zu, immerhin noch ein Viertel (26 Prozent) der seit Februar offiziellen Linie der Staatspartei (»Volksaufstand, dann Konterrevolution«), noch 13 Prozent der zuvor amtlichen »Konterrevolution«, während 11 Prozent »weiß nicht« antworteten.[32] Ende Februar/Anfang März 1989 hatten sich in einer anderen Umfrage nur zwischen 20 und 22 Prozent der Befragten für »Revolution«, aber zwischen 38 und 44 Prozent für das neutrale Wort »Aufstand«, 15 bis 20 Prozent für die frühere Qualifizierung als »Konterrevolution« ausgesprochen.[33] 

Auch bei der Gedenk- und Trauerfeier wurden Unterschiede in der Einschätzung von »1956« innerhalb der Opposition und des Gedenkkomitees manifest, trotz des insgesamt geschlossenen, gegen die Diktatur und ihre Vertreter gerichteten Auftritts. Einige Beobachter empfanden etwa die kurze Ansprache des Führungsmitglieds der Jungdemokraten (Fidesz), Viktor Orbán (später von 1998 bis 2002 Ministerpräsident), als zu »radikal«. Das kam daher, weil Orbán, der »im Namen der jungen Menschen, die sich zur Idee der europäischen bürgerlichen Demokratie bekennen«, das Wort ergriff, sich nicht an die Erwartungen hielt, die mit einer offiziellen Gedenkfeier verbunden waren. Seine Sprache und sein Habitus drückten vielmehr eine große Distanz zu den älteren Generationen aus, egal ob Parteifunktionäre oder ältere Oppositionspolitiker.[34] Er sprach fast pietätlos von dem »Kommunisten Imre Nagy«, dem er aber für seine Haltung seit November 1956 großen Respekt zolle. Die älteren Redner verwendeten eine eher zurückhaltende, vorsichtige Sprache, die man leicht als dem diktatorischen System und seinen Repräsentanten gegenüber versöhnlicher gestimmt verstehen konnte und die sich aus traumatischen Erfahrungen und aus Angst vor möglichen gewaltsamen Entwicklungen erklären lässt. Orbán sprach dagegen direkt, schonungslos und unbekümmert: »Wir können nicht verstehen, dass die, die bereit waren, die Revolution und ihren Premierminister zu verraten, sich plötzlich in große Anhänger von Imre Nagy verwandelt haben. Noch können wir verstehen, dass die großen Parteiführer, die uns Schulbücher aufzwangen, welche die Revolution verfälschten, jetzt zu den Särgen eilen, um diese zu berühren, als ob es irgendwelche Glücksbringer wären.«[35]

Orbán meinte damit etwa Miklós Németh (Ministerpräsident 1988 bis 1990), der neben dem Sarg von Nagy stand. Damit erschwerte er die Versuche der Wiederaneignung von Imre Nagy durch die Staatspartei, deren Reformer Orbán in die Nähe von János Kádár und die Unterdrücker der Revolution von 1956 rückte. Das durchkreuzte die Absichten der Regierung, die zuvor zur Teilnahme an den Trauerfeiern und zu einem »verantwortungsvollen Verhalten« aufgerufen hatte, womit allzu scharfe Anklagen gegen die Täter ausgeschlossen werden sollten.[36] 

Viktor Orbán rief in seiner kurzen Ansprache außerdem zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn auf, eine Forderung, der sich nur ein anderer Oppositionspolitiker anschloss, während sie den anderen Rednern wohl zu heikel erschien. So sagte auch Sándor Rácz, 1956 Präsident des Budapester Arbeiterrats, dann sieben Jahre inhaftiert: »Diese Särge und unser bitteres Leben sind Ergebnis der Anwesenheit russischer Truppen auf unserem Territorium. Helfen wir der Sowjetunion dabei, ihre Truppen so bald wie möglich aus Ungarn abzuziehen! Die Kommunistische Partei klammert sich noch immer ängstlich an die Macht. Was sie in den letzten 44 Jahren nicht erreichte, wird sie auch jetzt nicht erreichen.«[37] Imre Mécs vom Bund der Freidemokraten (SZDSZ) rief die Menge auf, die Errungenschaften der Revolution von 1956, vor allem die Freiheit, zu bewahren. Darauf hin stimmten Tausende im Chor ein: »Sklaven wollen wir nie wieder sein« – eine Strophe des »Nationalliedes«, mit dem Sándor Petőfi am 15. März 1848 eine Volksversammlung begeistert hatte und das jedes Schulkind auswendig konnte.[38] 

Aus dem »Verräter« Imre Nagy war nun offiziell ein »nationaler Märtyrer« geworden. Das, was die Kommunisten über 30 Jahre hinweg »Konterrevolution« oder »nationale Tragödie« genannt hatten, hieß nun »Revolution und Freiheitskampf«. Mit Imre Nagy und seinen Mitkämpfern wurde zugleich die Parteidiktatur beerdigt, während der politische Pluralismus nach 1945 und 1956 seine Wiederauferstehung feiern konnte. Fast romanhaft erscheint die Tatsache, dass Parteichef János Kádár, der den Befehl zur Hinrichtung Nagys gegeben hatte, an dem Tag starb (7. Juli 1989), an dem Imre Nagy und die anderen hingerichteten Revolutionsführer vom Obersten Gericht der Volksrepublik offiziell rehabilitiert wurden. Parteichef Grósz war ebenfalls kurz nach der Trauerfeier entmachtet worden. Die Gedenkfeier vom 16. Juni 1989 hatte die Parteidiktatur auch in der »reformierten« Form in den Augen vieler diskreditiert und der – noch relativ geeinten – Opposition einen mächtigen Popularitätsschub gegeben. Nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie im Jahr darauf entbrannte der Streit über die Erinnerung an »1956« nun zwischen den miteinander konkurrierenden Parteien. Als Eindruck von der Trauerfeier vom 16. Juni 1989 blieb bei vielen die Vorstellung einer gegen den »Kommunismus« und die sowjetische Besatzung fest zusammenstehenden, geeinten Nation erhalten, was sich bei genauerem Hinsehen aber nicht nachvollziehen lässt.

Öffentliche und private Erinnerungen an »1956« 

Das, was sich Ende Oktober/Anfang November 1956 in ganz Ungarn ereignet hatte, war keinem vorher ausgedachten Plan gefolgt. Die Geschehnisse in Szeged, Debrecen, Salgotarján und in zahlreichen anderen Städten und Dörfern, und die Art und Weise, wie sie erlebt wurden, fügten sich erst durch ihre sprachliche und bildliche Vermittlung zu zahllosen Erzählungen, die sich untereinander widersprechen. Je nach dem, welche Akteure und Ereignisse darin vorkommen, verändert sich auch die Geschichte von »1956«. Die Tätigkeit der Arbeiter und der revolutionären Räte in Fabriken und Kommunen hat ein britischer trotzkistischer Historiker detailreich untersucht. Einige liberale Budapester Historiker interessierten sich mehr für die Beratungen und Beschlüsse von rebellierenden Studenten und Intellektuellen. Die spontanen Straßenkämpfer, teilweise erst 12- oder 14-jährige »Pester Jungs«, die eher Unterschichten oder »Randgruppen« entstammten, lagen rechtsgerichteten Politikern am Herzen. Diese witterten bei dieser Gruppe »magyarische Freiheitsinstinkte«. Das gleiche gilt auch hinsichtlich der politischen und militärischen Eliten und ihren mehr oder weniger geheimen Beratungen und Beschlüssen: Die ungarische Revolution nimmt jedes Mal eine andere Gestalt und Bedeutung an. Doch auch die Aktionen von einzelnen Gruppen, wie etwa der Straßenkämpfer, die »nichts mehr zu verlieren hatten«, wie Bernd Rainer Barth und János M. Rainer schrieben, konnten völlig unterschiedlich bewertet werden: »Ihre Anführer wurden von der rachsüchtigen Macht propagandistisch verteufelt [als ›Faschisten‹], während die Erinnerungsschriften der Akteure ganz im Gegenteil ein hagiographisches Bild der eigenen Rolle zeichnen.«[39]

Weil der Herbst 1956 für die Beteiligten und ihre Angehörigen mit sehr verschiedenen Erlebnissen verbunden war, lohnt es sich, die oben geschilderte, sich 1989 radikal verändernde offizielle Erinnerungs- und Geschichtskultur einmal mit dem zu vergleichen und zu konfrontieren, was Oral-History-Forschungen in jüngster Zeit über private Erinnerungen an die Ereignisse »1956« zutage gefördert haben. 

Die Angehörigen von Hingerichteten und Inhaftierten haben sehr emotional, aber auch sehr unterschiedlich auf die öffentliche Trauerfeier vom 16. Juni 1989 reagiert. Die Mehrheit der von Zsuzsanna Kőrösi und Adrienne Molnár seit Mitte der 80er Jahren interviewten Betroffenen und Zeitzeugen ging nicht zum zentralen Festakt, wie sie sich überhaupt meistens nicht an der politischen »Aufarbeitung« an prominenter Stelle beteiligten.[40] Die meisten von ihnen nahmen aufgrund einer tief sitzenden Angst, ihres jahrzehntelangen Zurückgezogenseins oder aus Geldmangel nicht teil, während einige wenige auf der Ehrentribüne stehen durften. Fast alle verfolgten aber die Zeremonie am Fernsehen. Für sie war das Verlesen der Namen der Opfer, ihrer Väter, Brüder, Onkel, Großväter ein erschütterndes Ereignis. Einige erlitten einen so heftigen Schock, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. Die meisten empfanden Genugtuung darüber, dass endlich die Unschuld, ja sogar Heldenhaftigkeit ihrer Väter oder Ehemänner offiziell verkündet wurde, nachdem sie jahrzehntelang darunter zu leiden hatten, dass diese als »Verbrecher« galten. Obwohl es auch zahllose versteckte Hilfeleistungen oder Solidaritätsgesten gab, lebten doch die meisten Familien der Opfer isoliert und sozial geächtet. So sagte etwa Mária Magyar: »Endlich kam auch zumindest im Dorf heraus, wie es damals war, und dass sie wirklich nicht als Verbrecher, sondern als Unschuldige hingerichtet wurden.«[41] Ihr Vater hatte zwischen 1954 und 1956 Militärdienst geleistet, seine Einheit war in ein Gefecht mit einer sowjetischen Einheit verwickelt. Der Vorgesetzte der Einheit hatte zwei Staatssicherheitsbeamte erschossen. Obwohl János Magyar selbst nichts mit beiden Geschehnissen zu tun hatte, wurde er 1958 wegen »Bildung einer staatsfeindlichen Gruppe und Mord« zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Die Aussagen in den Interviews mit 43 Betroffenen – zahlreiche Angehörige wollten aus unterschiedlichen Gründen keine Interviews geben – verdeutlichen, wie sehr ein großer Teil der ungarischen Gesellschaft unfreiwillig oder bewusst zur Isolierung und Ächtung der Opfer vom Herbst 1956 mit beigetragen hat.[42] Andererseits wurden langfristig alle »Kinder der Sechsundfünfziger« in die Gesellschaft integriert, ihre Lebensläufe zeigen keine signifikanten Abweichungen vom allgemeinen Trend der gesellschaftlichen Entwicklung in den 60er und 70er Jahren. Aber sie mussten sich dies härter erarbeiten als andere, da sie immer wieder schulisch, beruflich oder administrativ (z. B. durch die Nicht-Gewährung eines Reisepasses) benachteiligt worden sind. Vor allem aber litten sie an dem verordneten Schweigen über die Umstände des Todes bzw. der Inhaftierung ihrer Väter und an dem Verbot, deren Gräber zu besuchen. 

Das heroische Bild einer »einigen Nation«, das seit 1989 vom Herbst 1956 gezeichnet wird und das mit dem 16. Juni 1989 seinen Durchbruch erlangte, widerspricht diesem Befund. Es beruht auch auf der etwas fragwürdigen Praxis, alle Gegner der Revolution und Anhänger des kommunistischen Systems einfach aus der ungarischen Nation auszuschließen.[43] In der Rede von Viktor Orbán drückt sich dies eher unbewusst aus, wenn er sich im Namen der jüngeren Generation über die opportunistischen Funktionäre wundert, die sich auf einmal darum reißen, Kränze auf die Särge von Menschen zu legen, deren Verurteilung und Missachtung sie zumindest stillschweigend mitgetragen hatten. Solche Beobachtungen lassen zumindest den Schluss zu, dass die Überwindung des von der kommunistischen Diktatur durchgesetzten und von einem Teil der Gesellschaft zumindest mitgetragenen negativen, sehr vereinfachten Bildes der Revolution von 1956 zunächst nur zur Etablierung eines positiven, aber nicht minder einfachen Bildes auf offizieller und politischer Ebene führte.[44] Zudem betrachtete der moralisierende und sich an einzelnen Details des Geschehens festhaltende politische Diskurs »1956« als isoliertes Ereignis, also nicht als kontingentes, vieldeutiges historisches Geschehen.[45]

Eine starke Diskrepanz zwischen offizieller Erinnerungspolitik und privaten Erinnerungen ergab auch eine Umfrage im Jahr 1996 unter 237 Budapester Schulkindern.[46] Während die Kinder über den Ablauf der Ereignisse sehr gut informiert waren, drückten sie andererseits eine starke innere Distanz gegenüber dem Herbst 1956 aus. Die Ereignisse seien eine abgeschlossene Geschichte, die nichts mit der Gegenwart oder der Zukunft zu tun hätten – so der verbreitete Tenor der schriftlichen Aussagen. Die Soziologin Julia Szalai erklärt die Distanz der Teenager damit, dass diese die große, offizielle Geschichtserzählung von der nationalen Revolution nicht in Einklang bringen könnten mit den in den eigenen Familien tradierten, oft sehr dramatischen Erinnerungen: »These histories have continued to remain the narratives of private insults, private troubles and private conflicts.«[47] Auch hierin zeigen sich die Nachwirkungen der verordneten Geschichtserzählung der Kádár-Ära, neben dem Problem der Lehrerinnen und Lehrer, die seit 1989 die Ereignisse auf eine fundamental andere Weise erklären und deuten mussten als davor.

Einer der Gründer des Historischen Gedenkkomitees, Miklós Vásárhelyi, der gemeinsam mit Imre Nagy im Gefängnis gesessen hatte und zu den Organisatoren der Trauerfeier gehörte, stellte 1996 fest, dass nach dem Nachlassen des Drucks der Diktatur »eine Bestrebung da [war], dass alle politischen Parteien versuchten, ›1956‹ für ihre Politik zu vereinnahmen. […] Die parteiübergreifende Würdigung des Jahres 1956 und Imre Nagys war mit der Wiederbestattung zu Ende gegangen.«[48] Bereits dem Gesetz, das im Mai 1990 die »historische Bedeutung der Oktoberrevolution von 1956 und den Freiheitskampf« sowie deren Vergleichbarkeit mit 1848/49 ausdrückte, war eine erste Auseinandersetzung innerhalb der ersten nachkommunistischen Mitte-Rechts-Regierung vorausgegangen.[49] Die privaten Erinnerungen einzelner Revolutionsteilnehmer oder Angehöriger von Opfern – die verschiedenen Opferverbände, aber auch Repräsentanten innerhalb einzelner Opfervereine waren inzwischen heillos untereinander zerstritten und beschimpften sich gegenseitig – standen von Anfang an in einem engen Zusammenhang mit den öffentlichen Erinnerungsdiskursen. Sie gaben Impulse, werteten bestimmte Versionen durch die scheinbare »Authentizität« ihrer Worte öffentlich auf, zugleich standen sie sehr bald unter starkem Druck, sich der einen oder anderen, zumeist politisch motivierten Deutung der Ereignisse anzuschließen.

Zusammenfassung

In welchem Verhältnis standen im Jahr 1989 nationale Geschichtskultur, Erinnerungspolitik und private Erinnerung an »1956« zueinander? Die Parallelisierung der Ereignisse vom Oktober 1956 mit der Revolution von 1848/49, wie sie schon von zahlreichen Beteiligten empfunden wurde und die Tatsache, dass auch die kommunistische Parteidiktatur an der 48er-Revolution als Teil einer marxistischleninistisch geformten nationalen Geschichtserzählung nicht vorbei kam, machte die Deutung von »1956« als »Revolution und nationale Freiheitskampf« plausibel. Im Jahr des ungarischen Systemwechsels meinten einige Reformer innerhalb der Staatspartei, diese zuvor von den noch schwachen Oppositionsgruppen und im Exil gepflegte historische Charakterisierung gegen ihre innerparteilichen Gegner einsetzen zu können. So kam es zu einem unausgeprochenen, vorübergehenden Einverständnis, die Erinnerung an den Herbst 1956 in die öffentliche Debatte zu bringen. Voraussetzung dafür war die Erinnerungsarbeit einiger Revolutionsteilnehmer und einiger Angehöriger von Opfern des Rachefeldzugs Kádárs in den Jahren 1957/58. Die Oppositionsparteien konnten sich, auch im Zeichen der Ereignisse 1956, vorübergehend auf eine gemeinsame antikommunistische Plattform einigen und die Erinnerung als moralische und politische Waffe gegen den Machtanspruch der kommunistischen Partei und ihres Systems nutzen. Daher konzentrierte sich die Debatte zunächst auf die Verbrechen und die Opfer der Diktatur, während sie von ihrem alltäglichen Funktionieren etwa absah. Es gelang die Diskreditierung und Delegitimierung der Institutionen, Ideen und Eliten mehrheitsfähig zu machen, was sich auch am Ausgang der Wahlen von 1990 zeigte. Der Konsens zwischen Reformern und Oppositionspolitikern, eine Art Geschichtsbild des »Runden Tisches«, konnte aber nur kurzfristig aufrechterhalten werden. Das Auseinanderfallen von offizieller, geglätteter Erinnerungspolitik im Bezug auf die nationale Geschichtskultur und privaten, widersprüchlichen und gegensätzlichen Erinnerungen wurde spätestens dann offenbar, als die Öffentlichkeit sich mehr und mehr pluralisierte. Erst dadurch ergibt sich aber die Chance für die komplexe, vielstimmige und widersprüchliche Wahrheit der Geschichte, in der es nicht nur Sieger und Verlierer, Täter und Opfer gibt.


[1]  Zu den Umständen der Erhebung zum Nationalfeiertag und als glänzende Einführung in die Thematik siehe Nyyssönen, Heino: Der Volksaufstand 1956 in der ungarischen Erinnerungspolitik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), H. 10, S. 914–932; Ders.: The Presence of the Past in Politics. »1956« after 1956 in Hungary, Jyväskylä 1999. Zur Debatte nach 1989, die hier nicht behandelt wird siehe Köszeg, Ferenc: 1956 – eine Revolution, geprägt nach unserem eigenen Bild, in: Bock, Petra/Wolfrum, Edgar (Hrsg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerungen, Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 143–155; Machos, Csilla: Wem gehört »1956«? in: Ebenda, S. 114–142. Zur Komplexität der Erinnerungsfrage siehe Rainer, János M.: Múltunk kritikus kérdései – 1956 [Kritsche Fragen unserer Vergangenheit – 1956], in: Ders.: Ötvenhat után [Nach Sechsundfünfzig], Budapest 2003, S. 224–232.

[2]  Die Erhebung zum Nationalfeiertag erfolgte formal erst 1990, als zugleich der 15. März (Beginn der Revolution 1848) und der 20. August (St. Stephanstag) zu Feiertagen erklärt wurden. Der 4. April (»Tag der Befreiung Ungarns durch die Rote Armee«) und der 7. November (»Große Russische Oktoberrevolution«) wurden als arbeitsfreie Tage abgeschafft. Die Debatte darüber, ob es sich »bloß« um einen »Aufstand« oder um eine »Revolution« gehandelt hat, ist keineswegs nur akademisch, sondern berührt das nationale Selbstverständnis aller Ungarn. Darauf wird weiter unten noch eingegangen. Viele Beiträge gehen allerdings von einem naiven Verständnis historischer Realität aus, wonach »Revolutionen« oder »Aufstände« nicht von der jeweiligen Definition und Bewertung der Ereignisse abhängen, sondern »objektiv« feststellbare Sachverhalte sind, die nur einer »historisch fundierten Aufarbeitung« bedürfen. Siehe die sehr anregenden Beiträge von Károly Gaál, György Litván oder Friedrich Gottas, in: Mack, Karlheinz (Hrsg.): Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789–1989. Schwerpunkt Ungarn, Wien/München 1995. Siehe auch Cox, Terry (Hrsg.): Hungary 1956 – Forty Years On, London 1997.

[3] In der letzten Zeit mehren sich die Stimmen, die sich für die Neubewertung des 17. Juni als »Revolution« aussprechen, womit die Erinnerung an diesen Tag neu bewertet und aufgewertet werden soll. Hier spielt offenbar das ungarische Beispiel eine wichtige, wenn auch öffentlich nicht ausgesprochene Vorbildrolle. Das lässt sich etwa an der plötzlichen Mode der »Loch-Fahnen« bemerken, die in Deutschland kaum bekannt waren, während sie in Ungarn zum Standardrepertoire des öffentlichen Gedenkens an 1956 gehören. Siehe zur neuesten Forschung zum 17. Juni Engelmann, Roger/Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hrsg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005. Zur Geschichte des westdeutschen Feiertags 17. Juni siehe Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999.

[4] Molnár, der sich selbst mit der Revolution identifizierte, schrieb: »In 1956, Hungary took up once again the interrupted course of its history.« Molnár, Miklós: Budapest 1956: A History of the Hungarian Revolution, London 1971, S. 266. In einer funktionalistischen Deutung war die Wiederbelebung des Kultes um 1848 nur eine »Möglichkeit […], die Proteste wirkungsvoll zu artikulieren«. (Dahinter verbirgt sich eine Art Manipulationsthese.) Kenéz, Csaba János: Polen und Ungarn 1956. Gegenseitige Rückwirkungen, in: Lemberg, Hans (Hrsg.): Zwischen »Tauwetter« und neuem Frost. Ostmitteleuropa 1956–1970, Marburg 1993, S. 13–19, hier S. 15. Eine erinnerungsgeschichtliche Perspektive vertraten Gyarmati, György: Máricus Hatalma – A Hatalom Márciusa. Fejezetek Március 15. ünneplésének történe téből [Die Macht des März – der März der Macht. Kapitel aus der Geschichte des Festes am 15. März], Budapest 1998; Gerő, András: Az Államosított forradalom. 1848 centenáriuma. Új Mandátum Könykiadó [Die verstaatlichte Revolution. Jahrhundertfeier von 1848], Budapest 1998; Klimó, Árpád von: 1848/49 in der politischen Kultur Ungarns, in: Fröhlich, Helgard/Grandner, Margarete/ Weinzierl, Michael (Hrsg.): 1848 im europäischen Kontext, Wien 1999, S. 204–222.

[5] Anders als in Frankreich und den amerikanischen Staaten gibt es daneben in Ungarn aber auch eine ebenso starke, eher obrigkeitsstaatlich-konservative Tradition um den Staatsgründerkönig Stephan I., verbunden mit dem Feiertag am 20. August, die in den Auseinandersetzungen um 1956 allerdings kaum von Bedeutung war. Siehe Klimó, Árpád von: Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext, München 2003.

[6] Siehe hierzu Hettling, Manfred: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt a. M. 1998; Mommsen, Wolfgang J.: Die Paulskirche, in Schulze, Hagen/François, Etienne (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, Bd. 2, S. 60.

[7] Nyyssönen: Presence (Anm. 1), S. 9.

[8] Zusammenfassend zur Reformpolitik Klimó, Árpád von: Ungarn seit 1945, (= Europäische Zeitgeschichte, Bd. 2) Göttingen 2006 (im Druck). Einschlägig ist Tőkés, Rudolf L.: Hungary’s Negotiated Revolution. Economic Reform, Social Change and Political Succession, 1957–1990, Cambridge, Mass. 1996.

[9] Magyar, Bálint: A rendszerváltás programja és valósága [Programm und Wirklichkeit des Systemwechsels], in: Rubicon 15 (2004), 143/144 (= Sonderheft: Út a rendszerváltás felé [Der Weg zum Systemwechsel]), S. 80–85, hier S. 83.

[10] Allerdings hatte es Anfang der 80er Jahre einen Generationsumbruch in der Nomenklatura gegeben – die Kontinuitätsthese bezieht sich auf diese Generation kommunistischer Funktionäre. Vida, István: Az állami-politikai vezető réteg összetétele az 1980-as évek elején [Die Zusammensetzung der staatlich-politischen Führungsschicht Anfang der 1980er Jahre], in: Fokasz, Nikosz/Örkény, Antal (Hrsg.): Magyarország társadalomtörténete 1945–89 [Sozialgeschichte Ungarns 1945–1989], Budapest 1998, S. 202–215.

[11] Zu den Veränderungen in der Mentalität: Kovács, József Ö.: Arbeiterexistenz in Ungarn nach 1956. Einige Schnittpunkte der Mikro- und Makrogeschichte, in: Hübner, Peter/Kleßmann, Christoph/Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln/Wien/Weimar 2005, S. 310–346; Szelényi, Iván: Socialist Entrepreneurs. Embourgeoisment in Rural Hungary, Madison 1988; O’Neill, Patrick H.: Revolution From Within. Institutional Analysis, Authoritarianism, and the Case of Hungary, in: World Politics 48 (Juli 1996), S. 579–603. 12 Rainer: Múltunk (Anm. 1), S. 225.

[12] Rainer: Múltunk (Anm. 1), S. 225.

[13] Siehe Fischer, Holger: Ungarn 1956 in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland, in: Mack: Revolutionen in Ostmitteleuropa (Anm. 2), S. 151–158, hier S. 152; Seewann, Georg/Sitzler, Kathrin: Ungarn 1956: Volksaufstand – Konterrevolution – nationale Tragödie, Offizielle Retrospektive nach 25 Jahren, in: Südosteuropa 31 (1982), S. 1–18, hier S. 16 f.

[14] Auf die Tendenz zur Vereinfachung wiesen bereits hin: Heller, Agnes/Fehér, Ferenc: Ungarn ’56. Geschichte einer antistalinistischen Revolution, Hamburg 1982, S. 87 f

[15] Eindrucksvoll ist die Sammlung von Interviews mit Kindern von Hingerichteten und Verurteilten: Kőrösi, Zsuzsanna/Molnár, Adrienne: Mit einem Geheimnis leben. Die Schicksale der Kinder der Verurteilten von 1956, Herne 2005. Erstmals erschienen als Kőrösi, Zsuzsanna/Molnár, Adrienne: Titokkal a lelkemben éltem. Az ötvenhatos elitéltek gyermekeinek sorsa, 1956-os Intézet [Mit einem Geheimnis leben. Die Schicksale der Kinder der Verurteilten von 1956], Budapest 2000.

[16] Zu den Filmen siehe Eröss, Gábor: Staline et les années 50 vus d’Europe centrale: corps et décors, témoignages et nostalgies, in: Feigelson, Kristian (Hrsg.): Caméra politique. Cinéma et stalinisme (= Théorème, Bd. 8), Paris 2005, S. 252–259. Besonders aber Portuges, Catherine: Filmer la Hongrie stalinienne: le tournage d`Imre Nagy en 2003, in: Ebenda, S. 260–267.

[17] Zur Antipathie gegenüber dem ungarischen Aufstand v. a. in der Slowakei Blaive, Muriel: Une déstalinisation manquée. Tchécoslovaquie 1956, Paris 2005.

[18] Zurecht hat Foa Dienstag betont: »that the comforting image of the ›truth‹ of the dissidents overcoming the lies of the authorities is too simple. What took place was not a simple confrontation between truth and falsity, but a negotiation over history where one narrative overpowered another, not just through its truth, but also through popularity – and even so, its victory was not initially complete but included compromises on historical ›facts‹ that reflected the new balance of power.« Foa Dienstag, Joshua: »The Pozsgay Affair«: Historical Memory and Political Legitimacy, in: History & Memory 8 (1996), H. 1, S. 51–66, hier S. 53. Allerdings vertritt auch Foa Dienstag einen etwas vereinfachten Wahrheitsbegriff und eine intentionalistische Sicht, wenn er von einer »manipulation of the historical narrative« spricht.

[19] Zitiert nach Szabó, Máté: Rituale der Vergangenheitsbewältigung. Das Beispiel der Wiederbestattung von Imre Nagy, in: Pribersky, Andreas/Unfried, Berthold (Hrsg.): Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 137–157, hier S. 143.

[20] Ausführlich dazu Foa Dienstag: »The Pozsgay Affair« (Anm. 18), S. 53–55.

[21] So etwa Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984, S. 200 u. 208.

[22] Siehe Dálnoki, Ádám (Hrsg.): 10 év beszédei. Válogatás az elmúlt 10 év legfontosabb, legizgalmsabb politikai beszédeiből [Reden aus 10 Jahren. Auswahl der wichtigsten und aufregendsten politischen Reden der letzten 10 Jahre], Budapest 1997, S. 26. Bei dieser Broschüre handelt es sich um ein Begleitheft zu einer Videodokumentation, die politische Reden aus den Jahren 1988 bis 1996 dokumentiert.

[23] New Hungarian Quarterly 30 (1989), H. 113, S. 116 f.

[24] Aus der Binnenperspektive der realsozialistischen Eliten stammt die Unterscheidung zwischen »Reformsozialisten« und »Pragmatikern«, die der Historiker und Kultusminister Ferenc Glatz für die letzte kommunistische Regierung übernimmt und sich selbst in einer Reihe von (meist) parteilosen »Pragmatikern« aufzählt. Siehe Glatz, Ferenc: Reform und Systemwechsel 1989 bis 1993, in: Mack: Revolutionen in Ostmitteleuropa (Anm. 2), S. 159–173, hier S. 162.

[25] Zitiert nach Ripp, Zoltán: Az MSzMP útja a többpártrendszerhez [Der Weg der MSzMP zum Mehrparteiensystem], in: Rubicon 15 (2004), 143/144 (= Sonderheft: Út a rendszerváltás felé [Der Weg zum Systemwechsel]), S. 46–56, hier S. 56.

[26] Zitiert nach Nyyssönen: Volksaufstand (Anm. 1), S. 925.

[27] Zur Rolle der Medien: Szabó: Rituale (Anm. 19), S. 147 f.

[28] Gyarmati: Március hatalma (Anm. 4), S. 139–154, hier (zur Demonstration von 1973) S. 170.

[29] Magyar: A rendszerváltás programja (Anm. 9), S. 81.

[30] Hegedűs, András B.: Frühlingsmorgen auf Parzelle 301, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 (1990), H. 1, S. 117–120.

[31] Magyar Hírlap vom 28. Oktober 1988, zitiert nach Nyyssönen: Volksaufstand (Anm. 1), S. 924.

[32] Zahlen nach Dálnoki: 10 éve beszéde (Anm. 22), S. 26.

[33] Zahlen nach Nyyssönen: Presence (Anm. 1), S. 170.

[34] Interview mit János M. Rainer, zitiert in: Benziger, Karl P.: The Funeral of Imre Nagy, in: History & Memory 12 (2000), H. 2, S. 142–164, hier S. 153.

[35] Zitiert nach Video, Dálnoki: 10 éve beszéde (Anm. 22), S. 8 u. Benziger: The Funeral (Anm. 34), S. 153.

[36] Zitiert nach Nyyssönen: Volksaufstand (Anm. 1), S. 927.

[37] Zitiert nach Benzinger: The Funeral (Anm. 34), S. 153.

[38] Siehe Petőfi, Sándor: Nemzeti dal. Nationallied vorgetragen am 15. März 1848. Mit einem Essay von Zsuzsanna Gahse, Hamburg 1993.

[39] Rainer, János M./Barth, Bernd-Rainer: Ungarische Revolution: Aufstand – Zerfall der Partei – Invasion, in: Wilke, Manfred/Hegedüs, András B. (Hrsg.): Satelliten nach Stalins Tod. Der »Neue Kurs«. 17. Juni 1953 in der DDR. Ungarische Revolution 1956, Berlin 2000, S. 219–258.

[40] Siehe Kőrösi/Molnár: Mit einem Geheimnis leben (Anm. 15), S. 181–188.

[41] Zitat und Angaben nach ebenda, S. 183 u. 239.  

[42] Beispiele besonders ebenda, S. 96–109.

[43] Dieses nicht immer offen ausgesprochene Verdikt zeigt sich auch darin, dass die Revolutionäre oder Sympathisanten als »Ungarn« bezeichnet werden. Auffällig in einigen Interviews der Kinder der Sechsundfünfziger, wenn es etwa heißt: »Dieser Rechtsanwalt war wirklich ein Ungar [Hervorhebung des Autors], und er übernahm alle, die er bei den Prozessen im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1956 vertreten konnte.« Ebenda, S. 53.

[44] So auch Szabó: Rituale (Anm. 19), S. 155.

[45] Rainer: Múltunk (Anm. 1), S. 226.

[46] Szalai, Julia with László Gábor: My Fifty-Six, Your Fifty-Six, Their Fifty-Six: Teenagers and the Revolution, in: Cox, Terry (Hrsg.): Hungary 1956 – Forty Years On, London 1997, S. 26–51.

[47] Szalai: My Fifty-Six (Anm. 46), S. 38; von einer »Doppelstruktur« spricht auch Szabó: Rituale (Anm. 19), S. 140.

[48] Zitiert nach Szabó, Rituale (Anm. 19), S. 152.

[49] Nyyssönen: Presence (Anm. 1), S. 181–184.

Inhalt – JHK 2006

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.