JHK 2006

Der Stellenwert des »Großen Terrors« innerhalb der stalinistischen Repressionen: Versuch einer Bilanz

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 245-257 | Aufbau Verlag

Autor/in: Nicolas Werth

Siebzig Jahre nach dem ersten großen Moskauer Schauprozess und fünfzig Jahre nach der Geheimrede von Nikita Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPdSU ist es heute – fünfzehn Jahre nach der Öffnung der sowjetischen Archive – endlich möglich, das Ausmaß und die Bedeutung des »Großen Terrors« innerhalb der stalinistischen Repressionen zu bestimmen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938 und Chruščevs Abrechnung mit Stalin 1956 haben das Wesen und das wirkliche Ausmaß der »repressiven Massenoperationen« in den Jahren 1937/38 verschleiert. Die tatsächlichen Dimensionen der Massenrepressionen wurden erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu Beginn der 90er Jahre enthüllt.[1] 


Gerade Chruščevs Geheimrede hat lange Zeit nur eine sehr selektive Sicht auf die stalinistischen Verbrechen vermittelt. So machte sie glauben, die Repressionen hätten sich hauptsächlich gegen die kommunistischen Kader in Partei, Wirtschaft und Armee gerichtet – eine Auffassung, die noch immer von einigen Historikern geteilt wird, für die der »Große Terror« im Wesentlichen eine »große Säuberungsaktion« innerhalb der Partei war, nur noch blutiger als die anderen.[2] In Wirklichkeit war der »Große Terror« aber vor allem eine immense Operation des Social Engineering, die darauf abzielte, alle als »fremd« oder »schädlich« stigmatisierten »Elemente« aus der neuen, sich im Aufbau befindlichen sozialistischen Gesellschaft ein für alle Mal zu entfernen.


Die kürzliche Veröffentlichung von Dokumenten, die sich auf die Vorbereitung des XX. Parteitages und auf die Diskussionen über die Entstehung der Geheimrede auf höchster politischer Ebene, im Präsidium des Zentralkomitees der KPdSU, beziehen,[3] zeigt ganz klar, was die »Erben Stalins« bereit waren, über  die Massenrepressionen zu sagen und worüber sie Schweigen bewahren wollten. Es genügt, diesbezüglich den Anfang Februar 1956 ausschließlich für die Präsidiumsmitglieder des Zentralkomitees vorbereiteten Bericht der PospelovKommission[4] mit dem Text der Geheimrede Chruščevs vor den sowjetischen Delegierten am 24. Februar 1956 zu vergleichen.[5] 


Gestützt auf eine Anzahl statistischer Dokumente der Ersten Spezialabteilung des Innenministeriums hatte die Pospelov-Kommission in ihrem Bericht für die Jahre 1937/38 angegeben, der NKVD hätte 1 548 366 Personen verhaftet und 681 692 erschossen. Die große Mehrheit der Opfer, »einfache Sowjetbürger«, wie die Kommission betonte, war im Rahmen der »repressiven Massenoperationen« von trojki[6] oder dvojki[7] verurteilt worden. Die Verurteilungen wurden meist auf der Grundlage von Verhaftungs- und Exekutionsquoten vorgenommen, die Stalin und sein Volkskommissar des Inneren, Nikolaj Ežov, für jede Region festgelegt hatten. Wie die Pospelov-Kommission erklärte, gab es neben diesen Massenoperationen auch gezielte Repressionen, die gegen Funktionsträger der Partei gerichtet waren und die in der Verantwortung des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR lagen. Die Pospelov-Kommission brachte genaue Details über die Anzahl der in den Jahren 1937/38 im Rahmen dieser Maßnahmen verurteilten Personen vor: Von 44 465 verurteilten Personen erhielten 85 Prozent die Todesstrafe. Die Kommission präzisierte, dass alle diese Urteile von Stalin, der seine Unterschrift unter 383 Listen von Verurteilten gesetzt hatte, persönlich sanktioniert worden waren. Mit dieser Frage berührte die Kommission einen besonders delikaten Aspekt. In Wirklichkeit war Stalin nämlich nicht der Einzige gewesen, der seine Unterschrift unter diese langen Listen der zum Tode Verurteilten gesetzt hatte. So erscheint die Unterschrift von Vjatčeslav Molotov auf 373 Listen und die von Kliment Vorošilov auf 195. Lazar Kaganovič hatte 191 Listen unterschrieben und Anastas Mikojan 62. Die Pospelov-Kommission hütete sich jedoch, diese Namen zu nennen.


Die andere große Schwärzung betraf Nikita Chruščev selbst. Tatsächlich ging der Bericht der Kommission in der Frage der »vom NKVD jeder Region zugeteilten« Verhaftungs- und Exekutionsquoten mit Stillschweigen über einen entscheidenden Teil des repressiven Prozesses hinweg. Die Quoten wurden nämlich erst dann von Nikolaj Ežov mit Billigung Stalins zugeteilt, wenn die Ersten Sekretäre der Kommunistischen Partei der Regionen und der Unionsrepubliken ihre eigene »bezifferte Schätzung« der Anzahl von »sozial schädlichen Elementen«, die nach der ersten oder zweiten Strafkategorie (Todesstrafe oder zehn Jahre Lagerhaft) zu behandeln seien, abgegeben hatten. Wie alle Ersten Sekretäre der Parteikomitees, hatte auch Nikita Chruščev, der diese Funktion von 1935 bis 1938 in Moskau und im Moskauer Gebiet und ab 1938 in der Ukraine ausgeübt hatte, am 10. Juli 1937, kurz vor dem Beginn der Operation Nr. 00447, seine Schätzung an Stalin übermittelt.[8] Und wie alle anderen regionalen Parteifunktionäre hatte auch Chruščev in den folgenden Monaten »Zusatzquoten« angefordert. Es ist deshalb leicht verständlich, warum alle Passagen und statistischen Angaben bezüglich der Massenrepression im Bericht der Kommission – der mit Pospelov immerhin ein stalinistischer Apparatschik vorsaß –, von Nikita Chruščev in seiner berühmten Geheimrede mit totalem Stillschweigen übergangen wurden. Es bedurfte einer Zeitspanne von mehr als 35 Jahren, bis alle diese Fakten und Zahlen endlich an die Öffentlichkeit gelangen konnten.


Seit Beginn der 90er Jahre ist die Dimension der stalinistischen Repressionen Objekt einer sehr großen Anzahl von Studien, sowohl in Russland als auch im Westen. Der Gulag und das System der »Sondersiedlungen«, das die Gesamtheit der Deportierten hervorgebracht hatte, der »Große Terror« der Jahre 1937/38, aber auch die von den regulären Gerichten durchgesetzten »Repressionen im Alltag« – all diese Themen sind dank neuer Dokumentationen aus den Archiven tief greifend beleuchtet worden.[9] Somit ist das Ausmaß der während der stalinistischen Periode ausgeübten Repressionen heute bestimmbar geworden. Die Zeiträume, der Umfang und die Härte der Repressionen sind anhand der Dokumente nachvollziehbar. Ihre unterschiedlichen Modalitäten, wie etwa die außergerichtliche und die gerichtliche Rechtssprechung, die Verurteilung zu Lagerhaft, die Zwangsverweisung in Sondersiedlungen oder ins Exil, die unterschiedlichen Feindbilder und die daraus resultierenden Opferkategorien aber auch die wirksamen politischen Mechanismen lassen sich in den jeweiligen innen- und außenpolitischen Kontexten der UdSSR erklären.


In dieser Geschichte nimmt der »Große Terror« der Jahre 1937/38 eine Sonderstellung ein. Tatsächlich wurden in den Jahren des »Großen Terrors« mit mindestens 700 000 Exekutionen[10] mehr als drei Viertel aller Todesurteile ausgesprochen, die zwischen dem Ende des Bürgerkriegs 1921 und dem Tode Stalins 1953 von einer Ausnahme-Gerichtsbarkeit unter der Entscheidungshoheit der politischen Polizei oder der Militärgerichte verkündet wurden.[11] Es handelt sich um ein Moment »kumulativer Radikalisierung« ohne gleichen in der gesamten sowjetischen Periode, das aus der Konvergenz zweier repressiver Linien resultierte, und zwar in einem Moment großer internationaler Spannungen, die einen immanenten europäischen Konflikt ankündigten. Die eine Linie, die politische, war gegen die Eliten gerichtet, die andere Linie, die soziale, gegen »sozial schädliche« und »ethnisch suspekte Elemente«, die von Stalin als Teil einer mythischen, der UdSSR feindlich gesinnten »fünften Kolonne« von Terroristen wahrgenommen wurde.[12]

Die großen terroristischen Geheimoperationen, Ursache von mehr als 90 Prozent der Verhaftungen, Verurteilungen und Exekutionen in den Jahren 1937/38, müssen klar von den Säuberungsaktionen gegen die Eliten und die politischen, wirtschaftlichen, militärischen und intellektuellen Kader unterschieden werden. Letztere waren durch andere außergerichtliche Maßnahmen, die andere Ziele verfolgten und einer anderen politischen Funktionalität entsprachen, parallel bedroht. Bei diesen Säuberungen ging es darum, die alte Elite der Revolution durch eine jüngere, »im stalinistischen Geiste der 30er Jahre« geformte, politisch und ideologisch anpassungsfähigere und loyalere Elite zu ersetzen. Diese Säuberungen sollten alle politischen, administrativen, beruflichen und persönlichen Generatoren von Solidarität zerstören und eine neue Schicht junger Führungskräfte fördern, die ihre tugendhafte Karriere dem Führer verdankten und ihm total ergeben waren. So spektakulär und politisch bezeichnend die Verhaftung und Exekution einer Vielzahl von kommunistischen Kadern war, die alsbald von der Generation der »Emporkömmlinge« des ersten Fünfjahrplans ersetzt wurden, repräsentierte sie doch nur einen kleinen Teil der 1937/38 vollzogenen Verhaftungen und Exekutionen.[13] In der Repression der Eliten präsentierte sich der Terror der Öffentlichkeit. Seine eklatanteste Manifestation fand er in den großen Schauprozessen: sowohl in den berühmten Moskauer Prozessen von 1936, 1937 und 1938, als auch in jenen Hunderten von öffentlichen Prozessen, die vor allem eine politisch-pädagogische Funktion erfüllten und von lokalen kommunistischen Führungskräften an vielen politisch oder wirtschaftlich wichtigen Orten in der  Provinz inszeniert wurden.[14] Als »hervorragende Mechanismen sozialer Prophylaxe«[15] demaskierten diese »Parodien der Justiz« multiple Komplotte, die von zahllosen Zusammenkünften begleitet und in Presse und Radio breit »popularisiert« wurden. Sie lieferten der Wut des Volkes die Sündenböcke, die für die Schwierigkeiten beim »Aufbau des Sozialismus« und der andauernden Dysfunktion in einer chaotischen Industrialisierung verantwortlich gemacht werden sollten.


Während Rituale der Vernichtung der »Volksfeinde« die Öffentlichkeit überschwemmten, setzten die operativen Gruppen des NKVD die »geheimen repressiven Massenoperationen« ins Werk. Wie die streng vertraulichen Beschlüsse des Politbüros und die »operativen Befehle« des NKVD mutmaßen lassen (von denen nur eine sehr begrenzte Zahl hoher Partei- und NKVD-Kader Kenntnis besaßen), hatte der »Große Terror« unter dem Schleier der Geheimhaltung die endgültige Vernichtung aller jener Elemente zum Ziel, die in der neuen sowjetischen Gesellschaft als »fremd« oder »schädlich« angesehen wurden. Dieses geheim gehaltene Massenverbrechen war mit seinen Opfergruppen, den »Exekutionsquoten«, den bezifferten und kodierten Zielen von »in erster und zweiter Kategorie« (Todesstrafe oder zehnjährige Lagerhaft) zu behandelnden Personen sowie mit seinen »ratifizierten« oder »nicht ratifizierten Zusatzquoten« eine umfangreiche Operation des Social Engineering und der »Säuberung«.[16]

Mehrere neuere Studien haben den zentralisierten und geplanten Charakter der auf höchster Ebene von Stalin und Ežov beschlossenen »repressiven Massenoperationen« aufgezeigt. Diese Operationen waren gegen eine heterogene Gesamtheit von »Feinden« gerichtet, die in zwei große Kategorien oder, im Verwaltungsjargon der Funktionäre der politischen Polizei gesprochen, in zwei »Linien« gruppiert wurden: die »Kulakenlinie« und die »nationale Linie«. Die »Kulakenlinie«, definiert durch den operativen Befehl des NKVD Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, umfasste ein breites Spektrum von Personen, die als »sozial schädlich« bzw. »der Vergangenheit angehörig« kategorisiert wurden. Insbesondere befanden sich die »nach verbüßter Strafe heimgekehrten oder der Deportation entkommenen Ex-Kulaken« im Visier der Staatsmacht, aber auch die »rückfälligen Kriminellen«, die »ehemaligen Mitglieder nichtbolschewistischer Parteien«, die »zaristischen Ex-Funktionäre oder Gendarmen«, die »antisowjetischen Elemente, die in weißen, in klerikalen oder in Kosakenformationen gedient haben«, die »Mitglieder von Sekten oder des Klerus, die sich antisowjetischen Tätigkeiten widme[te]n« usw. Jede Region lieferte Quoten von zu erschießenden und für zehn Jahre in Lager zu inhaftierenden Personen. Im Zuge der in der UdSSR breit angelegten Wettbewerbsbewegung, von der man sich einen wirtschaftlichen Aufschwung erhoffte, die aber auch als politisches Repressionsmittel diente, sowie unter dem massiven Druck, die vorgegebenen Normen nicht zu erfüllen und damit selbst als Saboteur oder Konterrevolutionär bezichtigt zu werden, entwickelte sich eine paranoide Dynamik. Sie führte dazu, dass die Regionalverantwortlichen der Partei und des NKVD immer neue »Zusatzquoten« forderten. Während sich die »Initialziele« für die zu zehn Jahren Lagerhaft zu Verurteilenden im Laufe der fünfzehn Monate dauernden Operation verdoppelten, verfünffachte sich die Quote für die Todesurteile. Insgesamt wurden 767 000 Menschen im Rahmen der »Kulaken-Operation« verhaftet, von denen 387 000 hingerichtet wurden.[17] 


Die »nationale Linie« konstituierte sich aus etwa zehn »national« genannten Geheimoperationen: die »polnische Operation«, die »deutsche Operation«, die »Charbin-Operation«, die »finnische Operation«, die »rumänische Operation«, die »lettische Operation«, die »griechische Operation« und die »estnische Operation«. Die »nationale Linie« zielte hauptsächlich auf die politischen Emigranten, die in die UdSSR vor der Verfolgung durch die Faschisten geflüchtet waren, auf Sowjetbürger nichtrussischen Ursprungs, aber auch auf alle diejenigen Staatsbürger, die aufgrund ihres Berufs, ihrer Familie oder ihrer Wohnstatt, insbesondere der Grenzregionen, in irgendeiner Beziehung zu anderen Ländern standen. Die Anfeindungen und Unterstellungen gegenüber den nationalen Gruppen variierten im Kontext der bewegten außenpolitischen Beziehungen der UdSSR. Insgesamt wurden 335 000 Personen im Rahmen dieser »nationalen Operationen« verhaftet und 247 000 von ihnen erschossen.[18]

Diese »Massenoperationen« markieren ganz deutlich den radikalen und mörderischen Endpunkt einer ganzen Serie jahrelanger Kampagnen und polizeilicher Praktiken gegen eine Anzahl von Personengruppen, die vom Regime als »sozial schädlich« oder »ethnisch suspekt« (im Sinne von illoyal gegenüber der Sowjetmacht) eingeordnet wurden. Auf dem Gebiet des Social Engineering hatten die Repressionsquoten der ersten und zweiten Kategorie des Befehls Nr. 00447 einen bemerkenswerten Vorläufer, nämlich die Quoten für die »Entkulakisierung« der Jahre 1930 bis 1932. In der Kampagne zur »Liquidierung der Kulaken als Klasse«, die seit 1929 propagiert wurde, arbeitete die OGPU, der Vorläufer des NKVD, nach geheimen Direktiven. Demnach waren die »Kulaken erster Kategorie« als »verstockte, in konterrevolutionären Aktivitäten engagierte Elemente« und die »Kulaken zweiter Kategorie« als »ausbeuterische Bauern, jedoch weniger engagiert in konterrevolutionären Aktivitäten« definiert. Während die ersten ins Arbeitslager geschickt wurden, sollten die zweiten samt ihren Familien mit dem Status »Sondersiedler« in unwirtliche Regionen des Landes deportiert werden.[19] Nach den massiven Verhaftungen und Deportationen der »Kulaken« in den Jahren 1930 bis 1933, von denen etwa 2,5 Millionen Personen betroffen waren, wurden zwischen 1933 und 1936 fast eine Million »kulakischer, krimineller, sozial fremder und anderer antisozialer Elemente« im Rahmen der Einführung des Inlandspasses und der Wohnregistrierung[20] für die arbeitende städtische Bevölkerung aus den Großstädten vertrieben. Einige Hunderttausend dieser Vertriebenen sind überdies deportiert und ebenso wie die »Entkulakisierten« in »Sondersiedlungen« überstellt worden.[21] 


In den Jahren 1935/36 wurden zudem die Grenzgebiete Ziel der polizeilichen »Säuberungs«-Operationen. So wurden zehntausende Sowjetbürger finnischen Ursprungs aus der Grenzregion Leningrad sowie Sowjetbürger polnischen oder deutschen Ursprungs aus den an Polen angrenzenden Gebieten der Ukraine nach Kasachstan deportiert.[22]

Anfang 1937 erfuhr die Wahrnehmung der »sozial schädlichen« oder »ethnisch suspekten Elemente« seitens der Sicherheitsorgane eine signifikante Veränderung. Die stigmatisierten Personen wurden nunmehr immer klarer als »aufständisches Reservoir« identifiziert, als potentielle Rekruten einer »fünften Kolonne von Diversanten und Saboteuren«, die in Verbindung mit japanischen, deutschen oder polnischen Geheimdiensten arbeiteten. Noch radikalere Maßnahmen wurden ergriffen: Zusätzlich zur weitgehend uneffizienten Deportation (mehr als 700 000 »Ex-Kulaken« und »kriminelle städtische Elemente« waren seit 1932 aus den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorten entflohen) sollte, wie Ežov im Vorwort zum Befehl Nr. 00447 erklärt hatte, »die definitive Eliminierung aller sozial schädlichen Elemente, die die Fundamente des sowjetischen Staates untergraben«, erfolgen.


Eingeschrieben in die Kontinuität einer 1930 mit der »Entkulakisierung« eingeleiteten Politik des Social Engineering bleibt der »Große Terror« in seiner außergewöhnlich mörderischen Gewalt ein singuläres Ereignis. Er endete, wie er begonnen hatte: mit einem geheimen Beschluss des Politbüros am 17. November 1938. Dies zeigt deutlich, wie der Terror stets vom Zentrum her gesteuert worden ist, auch wenn die Entwicklung der Repressionen und die Wahl der Opfer auf regionalem Niveau weitgehend den lokalen Verantwortlichen oblag.


Nach der paroxystischen Phase des »Großen Terrors« setzte für viele ein erstes Aufatmen ein. Die Massenrepressionen wurden jedoch fortgesetzt. Sie standen nun unter dem direkten Einfluss des Kriegsverlaufs und nahmen andere Formen an. In Anbetracht des begrenzten Rahmens dieses Artikels seien nur zwei größere Entwicklungen genannt:


In den 40er Jahren betrafen die Repressionen ganz besonders die nichtrussischen Nationen, die auf der Grundlage des Ribbentrop-Molotov-Paktes vom August 1939 im Verlauf der ersten Kriegsmonate der Sowjetunion einverleibt worden waren. Das betraf die baltischen Staaten, den seit 1920 wieder zu Polen gehörenden westlichen Teil Weißrusslands, die Westukraine, Moldawien sowie das finnische Karelien. Man fürchtete hier eine mögliche Kollaboration mit den deutschen Besatzern gegen die UdSSR. Diese Befürchtung war auch Ursache für die Zwangsumsiedlung solcher ethnischen Minderheiten, die schon zum russischen Zarenreich gehörten und nun aus der »großen Völkerfamilie« ausgeschlossen waren: die Deutschen, die Tschetschenen, die Inguschen, die Balkaren, die Kalmyken, die Karatchaier, die Krimtataren u. a. Die Hauptmaßnahme des stalinistischen Regimes war hier die Massendeportation.[23] Insgesamt wurden in dem Jahrzehnt der territorialen Expansion und der Sowjetisierung der eroberten bzw. zurückeroberten Gebiete von 1939 bis 1949, ungefähr 3 200 000 Menschen deportiert. Zu Beginn der 50er Jahre waren mehr als 90 Prozent der »Sondersiedler« Vertreter nationaler Minderheiten und nichtrussischer Nationen.[24] Im Kontext des Stalinismus der Kriegs- und Nachkriegsjahre, der von einer Exaltation des russischen Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und einem immer stärkeren Antisemitismus geprägt war, wurde der Hauptfeind nun vor allem durch seine Nationalität definiert und nicht mehr, wie noch in der Zeit der »Entkulakisierung«, durch seine Klassenzugehörigkeit. 


Die andere bemerkenswerte Veränderung im Vergleich zu den 30er Jahren und ganz besonders im Vergleich zu den Jahren des »Großen Terrors« war ein starker Rückgang der durch die politische Polizei und Militärtribunale ausgeübten außergerichtlichen Repressionen und, im Gegenzug, eine starke Zunahme der durch reguläre Gerichte ausgeübten Unterdrückungsmaßnahmen. Nach der Welle mörderischer Willkür der Jahre 1937/38 nahm die Zahl der Personen, die vom NKVD verurteilt wurden, während der Kriegsjahre deutlich ab. Insgesamt wurden in dieser Zeit etwa 200 000 Personen durch die Militärtribunale zum Tode verurteilt.[25] Erst in den Nachkriegsjahren stiegen die Zahlen der Verurteilungen auf etwa 50 000 bis 80 000 pro Jahr, darunter auch die Todesurteile auf einige Zehntausend, wieder heftig an.[26] Die bemerkenswerteste Entwicklung war dabei das rapide Anwachsen der Anzahl derjenigen Personen, die durch die reguläre Justiz infolge der Kriminalisierung von Delikten und kleinsten Formen sozialen Ungehorsams verurteilt wurden. 


Man kann in dieser Entwicklung zwei Einschnitte feststellen: das Jahr 1940 und das Jahr 1947. Infolge der Verkündung der Gesetze vom 26. Juni 1940 wurde nämlich die Zahl der Verurteilungen zu einer Lagerhaftstrafe, ausgesprochen von regulären Gerichten, verdreifacht. Diese Gesetze, die im Rahmen der Umstellung der sowjetischen Wirtschaft auf Kriegsproduktion erlassen wurden, bestraften erstmals Verstöße gegen die »Arbeitsdisziplin«, die Produktion von »Ausschuss«, kleine Diebstähle in der Fabrik und »Hooliganismus« (dessen vage Definition jeglichen Missbrauch erlaubte) mit geschlossenem Strafvollzug, d. h. Gefängnis. Den zweiten Einschnitt markiert der 4. Juni 1947 mit der Verkündung der Gesetze über den Diebstahl, die einen spektakulären Anstieg der von regulären Gerichte verhängten Langzeitstrafen von fünf auf zehn Jahre Lagerhaft nach sich zogen.[27] In Anwendung dieser Gesetze wurden von 1947 bis 1953 1 300 000 Personen zu schweren Lagerstrafen verurteilt. Es waren mehrheitlich Kolchos- oder Fabrikarbeiter, die zum Überleben einige Ähren auf dem Gemeinschaftsfeld oder kleinere Objekte in der Fabrik hatten mitgehen lassen. Ihre Bestrafung stand in keinerlei Verhältnis zu dem begangenen Delikt. Die Härte, mit der ein Vergehen am sakrosankten »Staatseigentum« geahndet wurde, erreichte groteske Auswüchse: Jeder noch so geringe Diebstahl, oft zum ersten Mal und in einer verzweifelten Situation begangen, wurde härter bestraft als vorsätzliche Tötung.[28] Die Gesetze vom 4. Juni 1947 waren die härtesten zur Ahndung von Diebstahl in Europa seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu Stalins Tod machten die Personen, die im Zusammenhang mit diesen Gesetzen verurteilt wurden, mit 1 242 000 fast die Hälfte der 2 526 000 Inhaftierten des Gulags aus. 


Gleich nach Stalins Tod verkündete Geheimpolizei-Chef Lavrentij Berija eine Amnestie. Er befand dabei, dass der Gulag von einer »Mehrheit von Individuen überfüllt war, die für Verbrechen und Delikte verurteilt wurden, welche keinerlei soziale Bedrohung darstellen«[29]. Infolge dieser am 27. März 1953 angenommenen Amnestie wurden innerhalb weniger Monate 1 200 000 Inhaftierte, die in der Mehrheit für Diebstahl, Hooliganismus und andere Delikte des allgemeinen Rechts verurteilt worden waren, befreit. Die Maßnahme spiegelt jedoch keine »liberale Wendung« des furchtbaren Chefs der politischen Polizei wieder. Vielmehr wollte Berija ganz einfach den Gulag entlasten, nicht abbauen, sondern für die Zukunft wirtschaftlicher und »produktiver« machen.[30] Nach der Verhaftung Berijas am 26. Juni 1953 setzte die neue Elite, in der Nikita Chruščev, Gregorij Malenkov und Vjačeslav Molotow den ersten Rang einnahmen, im Mai 1954 ein zentrales Komitee unter Vorsitz des Oberstaatsanwaltes Roman Rudenko mit dem Auftrag ein, »die Akten der wegen konterrevolutionärer Verbrechen Verurteilten und ihre Strafe in Lagern oder in der Verbannung verbüßenden Individuen« zu überprüfen. Unterstützt von fünfzehn Republikskommissionen (eine für jede Unionsrepublik), überprüfte die Kommission innerhalb eines Jahres etwa 237 000 Akten. Das entspricht 45 Prozent der gesamten Akten der 530 000 Inhaftierten und Sondersiedler, die aufgrund des noch immer gültigen Artikels 58 des Strafgesetzbuches wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« verurteilt worden waren. Weniger als 4 Prozent der Urteile wurden aufgehoben, und 43 Prozent der Verurteilten wurde eine Reduktion des Strafmaßes zuteil, die es ihnen endlich ermöglichte, das Lager zu verlassen. Schließlich wurden 53 Prozent der Urteile bestätigt.[31] So war es möglich, eine große Zahl von Inhaftierten zu befreien, ohne deswegen Grundsatzentscheidungen zu treffen oder die willkürlichen Prozeduren in Frage zu stellen, die von der außerordentlichen Rechtssprechung angewandt worden waren. Sie kennzeichnen aber auch die Grenzen der Arbeit von Kommissionen, in denen Vertreter des MVD hohe Positionen einnahmen und deren Richter und Staatsanwälte durch die Vergangenheit kompromittiert waren.


In der zweiten Jahreshälfte 1955 beschleunigte sich der Rhythmus der Befreiung von »Politischen« dank einer Reihe von Amnestien.[32] Ende 1955 lag zum ersten Mal seit 20 Jahren die Zahl der im Gulag Inhaftierten unter einer Million. Am Vorabend des XX. Parteitages der KPdSU zählten im Februar 1956 die Inhaftierten nur noch 925 000 gegenüber 2 625 000 drei Jahre zuvor, darunter etwa 110 000 »Politische«.[33] Parallel dazu wurde das System der Sondersiedlungen in seiner Schärfe zurückgenommen.[34] Anders als allgemein angenommen, konstituierte der XX. Parteitag keine fundamentale Zäsur im Prozess der Befreiung der Inhaftierten aus dem Gulag. Die große Mehrheit der »Politischen« wurde bereits vor Februar 1956 entlassen. Nach dem XX. Parteitag wurden neue Kommissionen beauftragt, die Akten der für »politische und wirtschaftliche Verbrechen und Missbrauch in Amtsausübung und noch in Lagerhaft befindlichen« Verurteilten zu überprüfen. 1956 verließen noch einmal etwa 100 000 »Politische« den Gulag, in dem sich Anfang 1957 nur noch etwa 15 000 aufgrund des Artikels 58 des Strafgesetzbuches Verurteilte befanden.


Zwanzig Jahre nach dem »Großen Terror« konnten die letzten Überlebenden den Gulag verlassen. In den Jahren 1937/38 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, war ihre Strafe systematisch durch eine »Verlängerung« ausgedehnt worden. Eine neue, lange und schwierige Schlacht begann für sie: die um ihre Rehabilitation. Was die im Rahmen des »Großen Terrors« Hingerichteten betrifft, so mussten ihre Angehörigen bis zum Beginn der 90er Jahre warten, um endlich die Wahrheit zu erfahren. Ein Geheimpapier des KGB-Vorsitzenden Ivan Serov vom 24. August 1955, das an alle regionalen Direktionen der Staatssicherheit adressiert war, hatte ausdrücklich vorgeschrieben: »Auf die Nachfrage von Bürgern bezüglich ihrer durch außerordentliche Gerichte zur Todesstrafe verurteilten Angehörigen antwortet die Distriktsabeilung des KGB mündlich, dass X oder Y zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde und im Arbeitslager verstorben ist.«[35] Diese Instruktion wurde im Wesentlichen bis Mitte der 80er Jahre befolgt.


Sowohl auf historischer wie auf individueller Ebene musste die Auflösung der UdSSR abgewartet werden,[36] damit schließlich Licht auf eines der größten Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts fallen konnte.

 

Übersetzung aus dem Französischen von Wiebke Ankersen (Berlin).


[1]  Die erste Publikation des Operativen Befehls Nr. 00447 des NKVD vom 30. Juli 1937, der der Ausgangspunkt der mörderischen »Massenoperationen« des »Großen Terrors« war und 767 000 Verhaftungen (davon später 387 000 Todesurteile) zur Folge hatte, erschien in der Zeitung Trud vom 4. Juni 1992. Weitere wichtige Dokumente über diese »Massenoperationen« erschienen kurze Zeit darauf in der Wochenzeitung Moskovskie Novosti vom 21. Juni 1992. 

[2]  Siehe Halfin, Igal: Terror in My Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge, Mass. u. a. 2003, S. 3.

[3]   Artizov, A. u. a. (Hrsg.): Reabilitacija: Kak ėto bylo. Dokumenty Presidiuma CK KPSS i drugie materially [Die Rehabilitierung. Wie es war. Dokumente des Präsidiums des ZK der KPdSU und andere Materialien], Bd. 1: Mart 1953–fevral’ 1956 [März 1953 bis Februar 1956], Moskau 2000.

 

[4]  Anm. der Redaktion: Unter der Leitung des ZK-Sekretärs Petr Pospelov wurde am 31. Dezember 1955 die »Kommission zur Feststellung der Gründe für die Massenrepressalien gegen die auf dem XVII. Parteitag (1934) gewählten Mitglieder und Kandidaten des ZK der KPdSU« eingesetzt. Der dem Präsidium des Obersten Sowjets im Februar 1956 vorgelegte Bericht gab nicht nur Informationen über den Verbleib von einzelnen Funktionären, sondern auch einen Überblick über die »Massenoperationen« und die »nationalen Operationen« des NKVD, über die Nichtachtung der Gesetzgebung durch Staatsanwaltschaft und Gerichte wie auch über die außergerichtliche Strafahndung. Darüber hinaus erwähnte der Bericht die »Stalinschen Erschießungslisten« und wies erstmals eine Statistik über die in den Jahren 1935 bis 1940 vorgenommenen Verhaftungen und Erschießungen aus. 

[5]  Siehe Werth, Nicolas: Histoire d’un pré-rapport secret. Audaces et silences de la Commission Pospelov, janvier-février 1956, in: Communisme (2001), H. 67/68, S. 9–40.

[6]  Trojki wurden außergerichtliche Organe genannt, die sich aus drei Mitgliedern zusammensetzten: dem regionalen Chef des NKVD, dem Ersten Parteisekretär der Region und dem Staatsanwalt der Region. Hinter verschlossenen Türen, in Abwesenheit des Angeklagten und ohne dessen Recht auf Verteidigung oder der Möglichkeit einer Berufung beschlossen die Trojki rechtskräftige Urteile – Todesstrafe oder zehn Jahre Lagerhaft –, die unmittelbar vollstreckt wurden. Im Laufe einer Sitzung wurden oft Hunderte von Prozessakten »verhandelt«. 

[7]  Dvojki waren außergerichtliche Organe, die von zwei Mitgliedern gebildet wurden: einem hohen regionalen Repräsentanten des NKVD und dem Staatsanwalt der Region oder seinem Stellvertreter. Diese Dvojki wurden von der Spezialkommission des NKVD überwacht und vom NKVD-Chef Nikolaj Ežov und der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR unter ihrem Hauptankläger Andrej Vyšinskij angeleitet.

[8]  »An den Genossen Stalin. Ich teile Ihnen mit, dass sich die Zahl der in Moskau und der Region wohnhaften kriminellen Elemente und Kulaken auf 41 305 beläuft, d. h. 33 436 kriminelle Elemente und 7 869 Kulaken. Das vorhandene Material [sic!] erlaubt eine Zuordnung von 6 500 kriminellen Elementen und 1 500 Kulaken zur ersten Kategorie, also eine Summe von 8 000, 26 936 kriminelle Elemente und 5 272 Kulaken zur zweiten Kategorie. Ich schlage vor, dass die Trojka sich aus dem Genossen Redens, Regionalverantwortlicher des NKVD, dem Genossen Maslov, stellvertretender Staatsanwalt der Region Moskau und dem Genossen Chruščev, Parteisekretär der Region Moskau, zusammensetzt«. Archiv Prezidenta Rossijskoj Federacii (Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, APRF) f. 3, op. 58, d. 212, Bl. 28. 

[9]  Unter den wichtigsten Studien in diesem Bereich seien erwähnt: die monumentale Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch–pervaja polovina 1950-ch godov. Sobraniedokumentov v semi tomach [Geschichte des Stalinschen Gulag. Ende der 1920er bis zur ersten Hälfte der 1950er Jahre. Dokumentensammlung in sieben Bänden], Moskau 2004 u. 2005. (Siehe dazu die Rezension von Wladislaw Hedeler in diesem Band des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung.) Zu den »Sondersiedlungen« siehe Zemskov, V.: Specposelency, 1930– 1960 [Die Sondersiedler, 1930–1960], Moskau 2003. Zum »Großen Terror« siehe Junge, Mark/Binner, Rolf: Kak terror stal bol’šim [Wie der Terror groß wurde], Moskau 2003.

[10]  Den 681 692 Exekutionen, die in den zentralen statistischen Dokumenten des NKVD für die Jahre 1937/38 vorkommen, müssen einige zehntausend »nicht registrierte« Exekutionen und Foltertode hinzugerechnet werden. Zu den Unterschieden zwischen »registrierten« und »nicht registrierten« Exekutionen siehe z. B. die erhellende Studie von Hlevnjuk, Oleg: Les mécanismes de la Grande Terreur des années 1937–1938 au Turkmenistan, in: Cahiers du Monde russe 39 (1998), H. 1/2, S. 197–208.

[11] Nach dem streng vertraulichen Bericht, der Ende 1953 von Oberst Pavlov, dem Chef der ersten Spezialabteilung des Innenministeriums, aufgestellt und am 5. Januar 1954 durch den Innenminister Sergej Kruglov an Georgij Malenkov und Nikita Chruščev geschickt wurde, waren zwischen 1921 und 1953 4 060 000 Personen durch die der politischen Polizei unterstehenden außergerichtlichen Organe verurteilt worden, davon 800 000 zum Tode. Gossudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russischen Föderation, im Folgenden: GARF), f. 9401, op. 1, d. 4157, Bl. 201–205. Zu dieser Zahl müssen die 2 842 000 Personen hinzu gerechnet werden, die durch Militärtribunale verurteilt wurden, darunter 183 000 zum Tode. GARF, f. 7523, op. 89, d. 4408, Bl. 8 f., 26 f. u. 42 f.

[12]  Zum »Großen Terror« als Konvergenz zweier repressiver Linien siehe Werth, Nicolas: »Repenser la Grande Terreur«, in: Le Débat 2002, H. 122, S. 118–140.

[13]  Es sei an zwei Fakten erinnert: ca. 44 000 Verantwortliche und kommunistische Kader mittleren Ranges wurden durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts verurteilt, einer Instanz, die die meisten der Fälle dieses Anklagetyps durchliefen. Davon wurden 85 Prozent zum Tode verurteilt. Unter den etwa 1,5 Millionen durch den NKVD in den Jahren 1937/38 verhafteten Personen waren etwa 117 000 Parteimitglieder. Siehe Jansen, Marc/Petrov, Nikita: Stalin’s Loyal Execution. People’s Commissar Nikolai Ezhov, 1895–1940, Stanford 2002, S. 105. 

[14]  Zu diesen Prozessen siehe Fitzpatrick, Sheila: How the Mice Buried the Cat. Scenes from the Great Purges of 1937 in the Russian provinces, in: The Russian Review, 52 (1993), H. 3, S. 299–320; Ellman, Michael: The Soviet 1937–1938 Provincial Show Trials Revisited, in: Europe-Asia Studies 55 (2003), H. 8, S. 1296–1310.

[15] Kriegel, Annie: Les grands procès politiques dans les systèmes communistes, Paris 1972, S. 45.

[16]  Im kodierten Sprachgebrauch der streng geheimen Beschlüsse des Politbüros und der »operativen Befehle« des NKVD bedeutete – wie bereits ausgeführt – die erste Kategorie »Todesstrafe«, die zweite Kategorie die »Verurteilung zu zehn Jahren Lagerhaft«. Die »ratifizierten Zusatzquoten« waren die zusätzlichen Quoten, die vom Politbüro genehmigt waren; die »nicht ratifizierten Zusatzquoten« bezeichneten die Zahl der Urteile, die über diese Quoten hinausging.

[17]  Siehe Junge/Binner: Kak terror (Anm. 9), S. 136.

[18]  Jansen/Petrov: Stalin’s Loyal Execution (Anm. 1), S. 99–104.

[19]  Befehl Nr. 44–21 der OGPU vom 2. Februar 1930, GARF, f. 9414, op. 1, d. 1944, Bl. 17–25. 

[20]  Anm. der Redaktion: Die Einführung des Inlandpasses und der Wohnregistrierung (propiska) 1932 in so genannten »geschlossenen« Städten der UdSSR, zu denen in erster Linie Moskau und Leningrad gehörten, sollte einer Migrationsregulierung im Interesse des Aufbaus der Wirtschaft und der Besiedlung des weitestgehend noch unerschlossenen Ostens der Sowjetunion dienen. Gleichzeitig sollten damit die Bevölkerungsexpansion durch Zuwanderung vom Land und alle damit verbundenen sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Probleme in Moskau u. a. unter Kontrolle gebracht werden. Allein der Pass und die Wohnregistrierung berechtigten zum Aufenthalt in den entsprechenden Städten und schränkten damit den Bewegungs- und Siedlungsspielraum für die Mehrheit der sowjetischen Bevölkerung, insbesondere der Kolchosbewohner, die kein Anrecht auf Ausstellung eines Passes hatten und somit den Kolchos nicht verlassen durften, entschieden ein. Siehe hierzu Voronkov, Viktor, Die »Limitschiki«: Zuwanderer in sowjetischen Städten, in: Häußermann, Hartmut/Oswald, Ingrid (Hrsg.): Zuwanderung und Stadtentwicklung, in: Leviathan 17 (1997), S. 328–344; Sazlavzkij, Viktor: In geschlossener Gesellschaft. Gleichgewicht und Widerspruch im sowjetischen Alltag, Berlin 1982; Werth, Nicolas: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Courtois, Stéphane (Hrsg.) u. a.: Das Schwarzbuch des

Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, S. 51–295, hier

S. 183.

[21]  Hagenloh, Paul: Socially Harmful Elements and the Great Terror, in: Fitzpatrick, Sheila (Hrsg.): Stalinism. New Directions, London 2000, S. 286–307.

[22]  Siehe Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Cornell 2001, S. 330–333.

[23]  Neben den Massendeportationen wurden andere repressive Maßnahmen durchgeführt, wie die Massenexekution von 25 000 Offizieren und Mitgliedern der polnischen Eliten 1940 in Katyń und die Deportation mehrerer Hunderttausend ukrainischer und baltischer »Nationalisten« in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre in den Gulag. 

[24]  Von den 2 753 000 zu Beginn des Jahres 1953 erfassten »Sondersiedler« fielen nur etwa 25 000 unter die Kategorie der »Ex-Kulaken«. Ein großer Teil der 2,5 Millionen zu Beginn der 1930er Jahre deportierten »Kulaken« war bereits gestorben. Die Zahl der Deportierten, die während des Krieges von ihrem Pariastatus befreit wurden, indem sie in die Sowjetarmee eintraten (insbesondere die Kinder der deportierten »Kulaken«) werden auf etwa 800 000 geschätzt. Siehe Zemskov: Specposelency (Anm. 9), S. 74 f. u. 210–212.

 

25        file:///P:/Bundesstiftung_Aufarbeitung/entwicklung/HTML-Dateien%20f%C3%BCrs%20JHK%202005-2015/2006/19%20JHK%202006_Werth%20245-257+.pdf.htm#_ftnref25Für eine detaillierte Analyse der Verurteilungen (außerordentliche Rechtsprechung der politi-schen Polizei, Militärtribunale, ordentliche Gerichte) siehe Werth: Histoire d’unpré-rapport secret (Anm. 5).

 

26        file:///P:/Bundesstiftung_Aufarbeitung/entwicklung/HTML-Dateien%20f%C3%BCrs%20JHK%202005-2015/2006/19%20JHK%202006_Werth%20245-257+.pdf.htm#_ftnref26Siehe den bereits erwähnten Bericht von Oberst Pavlov. GARF, f. 9401, op. 1, d. 4157, Bl. 201–205. Dieser Bericht präsentierte insbesondere die zentralisierten Statistiken über die

Zahl und Art der Verurteilungen (Verurteilung zum Tode, Arbeitslager, Exil), die 1921 bis 1953 durch die unterschiedlichen außergerichtlichen und der politischen Polizei unterstehenden Instanzen ausgesprochen wurden.

 

[27]  Die Zahl der Lagerstrafen über fünf Jahre, die von ordentlichen Gerichten verhängt wurden, versechsfachte sich 1947 im Vergleich zum Vorjahr. Für Strafen über 10 Jahre verhundertfachte sie sich. GARF, f. 7523, op. 89, d. 4408, Bl. 20 f.

[28]  Die durchschnittliche für einen Diebstahl verhängte Strafe betrug acht Jahre Lagerhaft. Auf vorsätzliche Tötung standen sieben Jahre. Vergewaltigung wurde im Durchschnitt mit vier Jahren bestraft. Diese Auswüchse der Gesetzgebung haben in mehreren Berichten des Justizministeriums, des Obersten Gerichts und des Präsidiums des Obersten Sowjets für die Mitglieder des Präsidiums des Zentralkomitees der KPdSU ihren Niederschlag gefunden. Siehe GARF, f. 7523, op. 89, d. 4408, Bl. 135 f. 

[29]  Notiz von Lavrentij Berija an das Präsidium des Zentralkomitees am 26. März 1953, in: Lavrentij Berija: 1953. Dokumenty, Moskau 1999, S. 19–21. 

[30]  Über die »liberale Wendung« Berijas von März bis Juni 1953 siehe: Knight, Amy: Beria, Paris 1994. 

[31]  Schriftlicher Bericht von [Generalstaatsanwalt] R. A. Rudenko an das ZK der KPdSU über die Resultate der Arbeit der Zentralen Kommission zur Revision der Akten der wegen »konterrevolutionäre Verbrechen« verurteilten Personen vom 29. April, in: Artizov: Reabilitacija (Anm. 3), S. 213.

[32]  Die wichtigste unter den Amnestien war die vom 17. September 1955 zugunsten der »Sowjetbürger, die während des Großen Vaterländischen Krieges mit den Besatzern kooperiert hatten«.

[33]  GARF, f. 9414, op. 1, d. 1356, Bl. 139 f.

[34]  Zu diesem Prozess siehe Zemskov: Specposelency (Anm. 9), S. 225–280. 

[35] Anweisung des KGB-Vorsitzenden beim Ministerrat der UdSSR bezüglich der Prüfung von Bürgeranfragen zum Schicksal von Repressierten, die zur Höchststrafe verurteilt wurden vom 24. August 1955 in: Artizov: Reabilitacija (Anm. 3), S. 254 f. 

[36]  Natürlich waren im Westen bereits vorher einige erste Arbeiten über den »Großen Terror« erschienen, die wichtigste war Conquest, Robert: The Great Terror, Toronto 1968. Auf der Grundlage einer sehr parzellierten Dokumentation widmete sich diese im Übrigen bemerkenswerte Arbeit vor allem den »Säuberungsaktionen« der Führung und der kommunistischen Kader, sagte jedoch sehr wenig über die »Massenoperationen« aus. 

Inhalt – JHK 2006

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