Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach [Geschichte des Stalinschen Gulag. Ende der 1920er bis zur ersten Hälfte der 1950er Jahre. Dokumentensammlung in sieben Bänden]. Redakcionnyj sovet izdanija [Redaktionsrat der Ausgabe] Ju. N. Afanas’ev, A. O. Čubar’jan, R. Conquest, E. Danielson, T. Emmons, P. Gregory, O. V. Chlevnjuk, V. S. Christoforov, V. A. Kozlov, V. P. Kozlov, S. V. Mironenko, A. I. Solženicyn,
A. K. Sorokin, A. N. Jakovlev, Moskau: ROSSPĖN 2004 u. 2005. ISBN 5-82430604-4
Khlevniuk, Oleg: The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror. Translated by Vadim A. Staklo. With editorial assistance and commentary by David J. Nordlander. Foreword by Robert Conquest, New Haven/London: Yale University Press 2004, 418 S., ISBN 0-300-09284-9
Stalinskie strojki Gulaga 1930–1953. Dokumenty [Die Stalinschen Großbauten des Gulag. Dokumente]. Hrsg. von Kokurin, A. I./Morukov, Ju. N., Moskau: MFD Materik 2005, 992 S., ISBN 5-85646-139-8
Die Publikation der sieben Bände umfassenden Ausgabe Istorija Stalinskogo Gulaga markiert eine Zäsur in der Gulag-Forschung. Sie entstand im Rahmen eines Gemeinschaftsprojektes des Föderalen Archivdienstes Russlands, des Russischen
Staatsarchivs und der Hoover Institution on War, Revolution and Peace. Zu den Herausgebern gehören u. a. Aleksandr I. Solženicyn, Aleksandr N. Jakovlev, Robert Conquest und andere Kenner der Materie. Sie haben zusammen mit den anderen Wissenschaftlern, die an der Einleitung und Zusammenstellung der Einzelbände beteiligt waren, die bisher umfangreichste Sammlung von Befehlen, Rundschreiben, Weisungen und Vorschriften der Hauptverwaltung Lager (Glavnoe Upravlenie Lagerej, Abk.: GULag) des NKVD-MVD der UdSSR vorgelegt.
Bislang konnte man nur auf einen 152 Dokumente umfassenden Band aus dem
Jahr 2000 zurückgreifen.[1]
Mit der neuen Edition von insgesamt 1 491 Dokumenten wird ein jahrzehntelang tabuisiertes Kapitel sowjetischer Geschichte umfänglich erschlossen. Damit wird ein tiefer greifender Zugang zu solchen Themen ermöglicht, die in den während der letzten zehn Jahre in Russland aufgelegten Studien und Dokumentationen aufbereitet und kommentiert worden waren. Sie haben bislang den Gulag als Staat im totalitären Staat[2], die Presse des Gulag[3], Kunst im Gulag[4], Gulag als Wirtschaftsfaktor[5], das Schicksal von Kindern im Gulag[6] und die Struktur und Mitarbeiter des NKVD[7] behandelt. Auch ein Handbuch des Systems der Besserungsarbeitslager[8] ist bereits erschienen. Weitere wichtige Arbeiten waren der von Jurij Brodskij 2002 vorzüglich edierte und kommentierte Bildband über die Gefängnisinseln Solovki[9], das Reprint der von Maxim Gor’kijverantworteten Prachtausgabe von 1934 über den Weißmeerkanal[10] und der Fotoband des polnischen Fotografen Tomasz Kizny[11].
Außerdem können durch die siebenbändige Ausgabe nunmehr einige Lücken in der 1998 von Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisation »Memorial« herausgegebenen Übersicht über die 476 Lagerverwaltungen, die unmittelbar der Moskauer Hauptverwaltung Lager des NKVD/MVD unterstanden, ausgefüllt werden.[12] Im Folgenden wird zunächst der Aufbau der siebenbändigen Edition dargestellt, um anschließend inhaltlich darauf einzugehen.
Struktur der Edition »Geschichte des Stalinschen Gulag«
Der von Sergej V. Mironenko und Nicolas Werth herausgegebene und von I. A. Zjuzina zusammengestellte Band 1 Massovye repressii v SSSR(Massenrepressionen in der UdSSR) enthält auf 728 Seiten sieben Kapitel mit 229 Dokumenten und einen Anhang. Aleksandr Solženicyn (S. 23–26) und Robert Conquest (S. 27 bis 29) haben Geleitworte zu diesem Band verfasst. Im Anschluss daran stellen die beiden Herausgeber in einer Einleitung die Kriterien vor, nach denen die Dokumente ausgewählt worden sind, skizzieren die Konzeption der einzelnen Bände und beschreiben die Archivsituation (S. 33–45). Die thematisch angelegten und untergliederten Kapitel behandeln die »Entkulakisierung« 1930 bis 1932 (Dok. 1 bis 11), die Hungerkatastrophe 1932–1934 (Dok. 12–25), die »Ordnung des Terrors« 1933–1936 (Dok. 26–56), seine Mechanismen im »Großen Terror« 1937/38 (Dok. 66–80) und die Zeit danach (Dok. 81–102), den Terror während der Mobilmachung und des Krieges 1939–1945 (Dok. 103–176), die Massenrepressionen 1946–1953 (Dok. 177–215) und die Revision der Repressionspolitik nach Stalins Tod von 1953–1955 (Dok. 216–222).
Bei ca. zwei Drittel der in diesen Band aufgenommenen Dokumente handelt es sich um den Schriftverkehr zwischen dem NKVD und Stalin bzw. Mitgliedern der Partei- und Staatsführung. Berücksichtigung fand ferner die Korrespondenz zwischen Staatsanwaltschaft, Oberstem Sowjet und NKVD. In den Anlagen des Bandes sind statistische Auskunftsberichte aus den Jahren 1953–1958 veröffentlicht. Sie geben Aufschluss über die Verhaftungen und Verurteilungen durch VČK-OGPU-NKVD-MVD (Dok. 223–229) von 1921 bis 1953.
Herausgeber und Verfasser der Einleitung zum Band 2 Karatel’naja sistema: struktura i kadry (Das System der Strafverfolgung: Struktur und Kader) ist Nikita V. Petrov. Die Dokumente stellte N. I. Vladimircev zusammen. Das Buch enthält auf 696 Seiten 3 untergliederte Kapitel mit 203 Dokumenten und einen Anhang, der zusätzlich 44 Dokumente einschließt. Darin werden die Entstehungsjahre des Gefängnis- und Lagersystems von 1918 bis 1928 widergespiegelt. Aleksandr Solženicyn weist in seiner Vorbemerkung zu dieser Edition ausdrücklich auf diesen Sachverhalt hin, denn in den anderen fünf Bänden sind die ersten Jahre der Sowjetmacht nicht dokumentiert.
Die thematisch angelegten und untergliederten Kapitel des Bandes haben den Übergang von der Vielfalt der Formen zu ihrer Einheit 1929–1940 (Dok. 1–90), den Sieg des Produktionszweigprinzips 1941–1953 (Dok. 91–177) und die Jahre ohne Stalin 1953–1954 (Dok. 178–203) zum Inhalt.
Herausgeber und Verfasser der Einleitung zum Band 3 Ėkonomika Gulaga (Die Ökonomie des Gulag) ist Oleg V. Chlevnjuk. Der Band umfasst 624 Seiten. Zwei thematisch angelegte und untergliederte Kapitel sowie 195 Dokumente behandeln die Organisationsprinzipien und die Kennziffern der Wirtschaft des Gulag (Dok. 1–131) sowie die wichtigsten Objekte und Wirtschaftszweige der OGPU-NKVD-MVD-MGB. Hierzu gehören der Weißmeerkanal (Dok. 132 bis 134), der Uchta-Pečora-Trust (Dok. 135–138), die Hauptverwaltung für die Fernostlager Dal’stroj (Dok. 139–149), die Bajkal-Amur-Magistrale BAM (Dok.150 u. 151), der Moskva-Volga-Kanal (Dok. 152–155), das Noril’sker NickelKombinat (Dok. 156–160), der Bau von Militärobjekten und Rüstungsbetrieben (Dok. 161–166), die Konstruktionsbüros der OGPU-NKVD-MVD-MGB (Dok. 167–179), die »Großbauten des Kommunismus« (Dok. 180–186), die Forstwirtschaft (Dok. 187–192), die Landwirtschaft und die Produktion von Massenbedarfsartikeln (Dok. 193–195).
Band 4 trägt den Titel Naselenie Gulaga: čislennost’ i uslovija soderžanija (Die Bevölkerung des Gulag: Anzahl und Haftbedingungen). Herausgeber und Verfasser der Einleitung sind Aleksandr B. Bezborodov und Vladimir M. Chrustalev. Der Band enthält auf 624 Seiten vier Kapitel mit 323 Dokumenten. Die thematisch angelegten und untergliederten Kapitel behandeln die Anzahl, Zusammensetzung und Struktur der Bevölkerung des Gulag (Dok. 1–54), das Haftregime und die Lebensbedingungen der Häftlinge (Dok. 55–161), die Verpflegung und Versorgung der Häftlinge (Dok. 162–238) sowie deren Krankheiten und Sterblichkeit (Dok. 239–323).
Der von Tatjana V. Carevskaja-Djakina herausgegebene und eingeleitete Band 5 Specpereselency v SSSR (Sonderumsiedler in der UdSSR) enthält auf 824 Seiten fünf Kapitel mit 213 Dokumenten. Die thematisch angelegten Kapitel behandeln die Herausbildung der Sonderansiedlungen von der »Beseitigung der Kulaken als Klasse« bis zur Organisation der Zwangsarbeit (Dok. 1–41), die Auffüllung der Arbeitssiedlungen durch die Deportierten in den Jahren des »Großen Terrors« 1937/38 und zu Beginn des »Großen Vaterländischen Krieges« (Dok. 42–85) 1941, die vielfältigen Mobilisierungsformen und die Ergebnisse der Funktion des Sondersiedlungssystems unter Bedingungen der Kriegsjahre Juni 1941 bis Ende 1943 (Dok. 86–112), die Veränderung der Rechtsgrundlagen und des Systems der Leitung der Sonderansiedlungen im Zusammenhang mit den ethnischen und politischen Deportationen Ende 1943–1947 (Dok. 113–170) sowie die administrative »Willkür« (bespredel) und die Krise des Sondersiedlungssystems als Bestandteil der Strafverfolgungs- und Repressionspolitik des totalitären Staates 1948–1953 (Dok. 171–213).
Band 6 Vosstanija, bunty i zabastovki zaključennych (Aufstände, Rebellionen und Streiks der Häftlinge) ist von Vladimir A. Kozlov herausgegeben und von Olga V. Lavinskaja zusammengestellt. Er enthält auf 736 Seiten 4 Kapitel mit 284 Dokumenten. Die thematisch angelegten Kapitel haben die Aktionen der rebellierenden Kriminellen und der zum Mittel des Hungerstreiks greifenden »Konterrevolutionäre« in den Jahren 1930–1940 (Dok. 1–14) zum Inhalt, stellen die »potentiellen« Aufständischen von Juni 1941 bis Mai 1945 (Dok. 15–35), die Reaktion der Hauptverwaltung Lager des NKVD von Juni 1945 bis Mai 1953 (Dok. 36–114) und den aufbegehrenden Gulag von Ende Mai 1953 bis 1954 (Dok. 115–284) vor. Nach Meinung des Rezensenten eignet sich die dem Band vorangestellte, von Kozlov verfasste Einleitung, sehr gut, um einen Zugang zum Gesamtkomplex Gulag zu finden. Schließlich steht das die eigentliche Dokumentenedition abschließende Thema auch für das Ende und die Ursachen des Untergangs des Gulag.
Der von Kozlov und S. V. Mironenko herausgegebene Band 7 trägt den Titel Sovetskaja repressivno-karatel’naja politika i penitenciarnaja sistema v materialach Gosudarstvennogo archiva Rossijskoj Federacii. Annotirovannyj ukazatel’del (Die sowjetische Repressiv- und Strafverfolgungspolitik und das Pönitenziarsystemin den Materialien des Staatsarchivs der Russischen Föderation. Annotiertes Findbuch) und stellt das annotierte Findbuch der im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) aufbewahrten Dokumente zum sowjetischen Strafverfolgungssystem dar. Es handelt sich de facto um das Inventarverzeichnis der dem Archiv der Hoover Institution übergebenen Kopien. Bisher lagen lediglich vier Findbücher zu den so genannten Sondermappen von Berija (1996), Chruščev (1995), Molotov (1994) und Stalin (1994) vor, die Auskunftsberichte des Sekretariats des NKVD-MVD-MGB aus den Jahren 1944–1959 enthielten.[13]
In den fünf Kapiteln des Bandes 7 werden folgende Bestände vorgestellt: 1. Ministerrat der UdSSR 1923–1991, einschließlich des Sekretariats von Andrej Ja. Vyšinskij 1939–1944; 2. Hauptverwaltung Haftorte des Kommissariats/Ministeriums des Inneren der UdSSR 1930–1960; 3. die Kommission für Amnestie beim Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR 1926–1938 einschließlich der Kommission für Beschwerden und Begnadigungen 1938–1954, des Obersten Gerichts der UdSSR 1922–1991, der Staatsanwaltschaft 1924–1991 und des Ministeriums für Justiz der UdSSR 1936–1991; 4. Das Moskauer politische Rote Kreuz 1918–1922, einschließlich der Gesellschaft zur Unterstützung der politischen Gefangenen 1922–1938; 5. Das Oberste Tribunal beim Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitee 1918–1991, die Hauptverwaltung Haftorte des NKVD der RSFSR 1922–1930 und das NKVD der RSFSR 1917 bis 1931.
Der Band verfügt über ein Register der in diesem Band erwähnten Haftorte und Besserungsarbeitslager, ein Personenregister und ein geographisches Register. Jeder Einzelband der in einer Auflage von je 1200 Exemplaren erschienenen Edition enthält eine ausführliche Einleitung zum Bandschwerpunkt und einen Apparat, der Anmerkungen, ein kommentiertes Namenregister, ein geographisches Register und ein Abkürzungsverzeichnis einschließt. Leider haben die Herausgeber darauf verzichtet, jedem Band eine Auswahlbibliographie zum Forschungsstand bzw. der bislang in Russland erschienenen kommentierten Dokumenteneditionen anzufügen. Einige Hinweise auf die wichtigste Literatur finden sich in den Anmerkungen zu den Einleitungen der jeweiligen Bände sowie in der Auswahlbibliographie im Band 7 (S. 672–682).
Für die Edition wurden thematisch relevante Bestände aus drei russischen Staatsarchiven, dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, dem Archiv von »Memorial« und dem Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) komplett gesichtet und ausgewertet. Auf den Stellenwert des Zentralen Archivs des FSB (hier recherchierte eine vom Direktor dieses Archivs eingesetzte Arbeitsgruppe) kommen die Herausgeber immer wieder zu sprechen. Denn ausschließlich in diesem Archiv befinden sich die Dokumente der OGPU, anhand derer die Anfangsphase des Gulag dargestellt werden kann. Wie wichtig die Informationen, die nur diese Dokumente enthalten, für die Geschichte des Gulagsind, wird insbesondere im Hinblick auf die in den Bänden 4 (Häftlingsgesellschaft) und 6 (Widerstand im Gulag) behandelten Themen deutlich.
Erst nach der Sichtung des vorhandenen Materials erfolgte die Auswahl der typischsten und wichtigsten Dokumente. Es war nicht immer möglich (insbesondere bei den Bänden 1 und 2) die Aufnahme bereits publizierter Dokumente zu vermeiden (wie im Falle des Bandes 4 praktiziert). Anliegen der Herausgeber war, jene Dokumente zu edieren, die die für den Bandschwerpunkt verantwortlichen Institutionen nicht nur im Detail, sondern in verallgemeinerter Form vorstellen (Bd. 1, S. 35 f.).
Leistungen und Grenzen der Gulag-Edition
Das Kernstück des sowjetische Terrorsystems waren die der Hauptverwaltung Lager unterstehenden Zwangsarbeitslager (»Besserungsarbeitslager«). Dieses System wird hier zum ersten Mal systematisch in einer Bandbreite dokumentiert und analysiert, die sämtliche in der Literatur bisher nur ansatzweise berührten Themenfelder und Facetten einschließt.
Aleksandr I. Solženicyn hebt den durch die Arbeit an den Bänden dieser Edition gewonnenen Erkenntnisfortschritt hervor. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass die Geschichte des Terrorsystems weiter zurückreicht und nicht erst mit den 30er Jahren einsetzt. Die nur im Anhang von Band 2 berücksichtigten Anfangsjahre bolschewistischer Herrschaft sollten demnach in Zukunft Bestandteil der Geschichtsbetrachtung sein (Bd. 1, S. 23). Eine Begründung für die Ausklammerung der Jahre 1918–1930, also der Zeitspanne, die z. B. in den von Aleksandr N. Jakovlev durch seine Tätigkeit als Vorsitzender der russischen Rehabilitationskommission in der Schriftenreihe Rossija. XX vek (Russland. Das 20. Jahrhundert) herausgegebenen Dokumenteneditionen zum Gulag immer Berücksichtigung fand, geben die Herausgeber der vorliegenden Edition nicht. Sie zeigt – das kann nicht oft genug hervorgehoben werden – das heute Machbare und die heutigen institutionell und politisch gesetzten Grenzen. Auf einige Probleme und diesbezügliche Erfahrungen, die der Rezensent während der Arbeit an der zusammen mit Dr. Meinhard Stark erarbeiteten und noch unveröffentlichten Studie »Das Karagandinsker Besserungsarbeitslager (KARLag) 1931 bis 1957. Studien zur Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher«[14] sammeln konnte, wird weiter unten hingewiesen. Im Kontext der inzwischen ebenfalls dokumentierten Geschichte der Rehabilitierungskommission[15] wird noch deutlicher, vor welchen Problemen die Herausgeber der Istorija Stalinskogo Gulaga standen. An dieser Stelle genügt der Hinweis auf den häufig diskutierten Namen der Kommission, der genau dieses Problem – nämlich die Grundlegung des Stalinschen Systems in den Jahren Leninscher Herrschaft – nicht widerspiegelt. Betrachtet man ihre Geschichte vom Ende her, wird deutlich, wie parteilich und voreingenommen die von Nikolaj M. Švernik (seit Januar 1956), Michail S. Solomencev (seit September 1987), und Aleksandr N. Jakovlev (seit Oktober 1988) geleiteten Kommissionen gearbeitet haben. Auch wenn die Diskussion theoretisch und politisch brisanter Themen nicht zu ihren Aufgaben gehörte, wurde eine Stalinismus-Debatte selbst dann vermieden, wenn sie im Zusammenhang mit der Ausarbeitung von Parteibeschlüssen und Gesetzesvorlagen dringend erforderlich war. Als Jakovlev seine Unterschrift unter den Abschlussbericht der Kommission vom März 1990 verweigerte, begründete er dies mit dem Hinweis auf die widersprüchliche und verworrene Darstellung der tatsächlichen Rolle des NKVD in der »Mordsache Kirov« 1934.
Jakovlev hatte unmittelbar vor dem XXVIII. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 unterstrichen, dass die Repressionen und der Terror weder als Zufall noch als Ergebnis der Handlungen eines einzelnen psychisch-kranken Führers interpretiert werden können. Weil Jakovlev damit den Ursprung des Terrors im Sowjetsystem selbst erblickte und er dies zudem öffentlich machen wollte, hatte er die Grenze des in der Kommunistischen Partei Tolerierten überschritten.
Repression als Klammer: Von den Ursprüngen bis zum Wirtschaftsgiganten
Der Gulag gilt seit Erscheinen von Aleksandr I. Solženicyns Archipelag Gulag 1973 als Synonym für den Stalinschen Terror. Der im Führungszirkel der Kommunistischen Partei geplante, mit Hilfe des Innenministeriums umgesetzte und durch in der Verfassung verankerte und nicht in der Verfassung vorgesehene, »außergerichtliche Institutionen« wie Dvojki oder Trojki[16] ausgeübte Terror, reicht jedoch weit über den Gulag hinaus. Signifikant sind der Hunger als Folgeerscheinung der Zwangskollektivierung und die Deportationen von Volksgruppen und Völkerschaften. Dies führen die Herausgeber der Edition auch als Begründung für die Aufnahme der bereits über eigene Dokumenteneditionen verfügenden Themen wie Zwangskollektivierung[17], Deportation[18], die nationalen Operationen des NKVD[19] und »Großer Terror«[20] an, denn die Hauptverwaltung Lager war weder verantwortlich noch zuständig für die Planung und Durchführung dieser Verbrechen am eigenen Volk.
In der Entstehungsphase des Gulag gab es viel mehr Sonderumsiedler als Gulag-
Häftlinge, bemerkt Nikita I. Petrov in der Einleitung zu Band 2, was im Februar 1933 eine Reorganisation des Lagersystems erforderlich machte (S. 29). Innerhalb der Hauptverwaltung Lager wurde eine Verwaltung für Sonderumsiedlungen (USP) geschaffen. Die Sonderumsiedlungen waren und blieben als Arbeitskräftereservoir eine ständige Begleiterscheinung des Gulag (Bd. 1, S. 40). Auch stand das Besserungsarbeitslager erst am Ende des Leidensweges der meisten Repressierten, die nicht zum Tode durch Erschießen verurteilt worden waren.
Das russische Wort repressii (Repressionen) – die eigentliche thematische Klammer der Bände dieser Edition – steht für Bestrafung von Bürgern aus politischen Gründen. Sie reichte von der Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis bis zum Todesurteil. Sämtliche im Band dokumentierten Kampagnen wurden von der Parteiführung geplant, bis hin zur Festlegung des Plansolls für Verhaftungen und Verurteilungen. Den ausführenden Organen an der Basis oblag die Auswahl der Opfer. Diese Art von Terror bezeichnet Robert Conquest als die bewusste Vernichtung und Zerstörung von Menschen und Verhältnissen, die sich nicht den neuen Machtverhältnissen unterordneten. Die Wurzeln dieser Politik finden sich laut Conquest in der marxistischen Theorie (Bd. 1, S. 27).
Nicolas Werth hebt in der Einleitung zum Band 1 (S. 57–89), einem Literaturbericht über das bisher im russischen und angloamerikanischen Sprachraum auf dem Gebiet der Erforschung des Terrors in Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion Geleistete, die Möglichkeit hervor, nicht mehr nur einzelne Aspekte, Seiten und Facetten des Terrors, sondern den Terror als Ganzes zu untersuchen (Bd. 1, S. 61). Er plädiert unter Hinweis auf die in den Band aufgenommenen Dokumente sowohl für die Abkehr von ausschließlich revisionistischen als auch totalitarismustheoretischen Sichtweisen. Werth folgt der von den Herausgebern gewählten Chronologie und bezeichnet das Jahr des »Großen Umbruchs« 1929 als ein für die Herausbildung des Stalinschen Systems entscheidendes Jahr. Die in den Band 1 aufgenommenen Dokumente belegen Stalins persönliche Verantwortung für den Terror (S. 68) sowie die Konflikte zwischen sowjetischen Instanzen, die mit der Umsetzung des Terrors beauftragt waren. Vor allem an der Basis regte sich der Widerstand gegen die von Oben vorgegebenen Weisungen (S. 70).
Entscheidend für Beginn, Verlauf und Ende der unterschiedlichen, im Band dokumentierten Kampagnen waren die im Führungszirkel beschlossenen Festlegungen, was Werth im Vorwort zu Band 1 am Beispiel der nationalen Operationen des NKVD erläutert. Auf die von Aleksandr I. Solženicyn in der Vorbemerkung zur Edition zu Recht aufgeworfene Fragestellung nach den Anfängen des Terrors ist der Memorial-Vorsitzende Arsenij B. Roginskij an anderer Stelle eingegangen, als er darauf hinwies, dass Angaben über Terrorurteile durch verfassungsmäßig verankerte Gerichte für die ersten drei Jahre der Sowjetmacht bisher nicht in den Archiven aufgefunden worden sind.[21] Die Herausgeber der Edition weisen ausdrücklich auf den Zusammenhang von Stalinscher Herrschaft und Entstehung des Terrorsystems Anfang der 30er Jahre hin. (Bd. 1, S. 33). Erst nach Stalins Tod konnte mit der Demontage des sich längst als unproduktiv erwiesenen und von Häftlingserhebungen gelähmten Zwangsarbeitssystems begonnen werden.
Gleichzeitig betonen die Herausgeber – unter Hinweis auf die Gründungsurkunde des Gulag – den Politbürobeschluss vom 27. Juni 1929 (Bd. 1, S. 37), die Abkehr, den Bruch mit dem Leninschen Prinzip, spezielle Lager für politische Gegner einzurichten, d. h. die politischen Häftlinge getrennt von Kriminellen unterzubringen. Die mit dem Gulag durchgesetzte Praxis, die Gefangenen zur Erschließung entlegener Regionen des Landes einzusetzen, geht auf eine Weisung von Feliks Ė. Dzeržinskij aus dem Jahre 1924 zurück (Bd. 1, S. 37), die aber erst mit Beginn des ersten Fünf-Jahr-Planes 1929 umgesetzt wurde. Petrov verweist in der Einleitung zu Band 2 auf den unbarmherzigen Terror gegen die politischen Gegner als Wesenselement der politischen Herrschaft der Bolschewiki (Bd. 2, S. 22). Was der Rat der Volkskommissare beschloss, setzte die Außerordentliche Kommission (ČK) 1917 bis 1922, aus der die politische Polizei NKVD hervorging, initiativreich um. Neben den der ČK unterstehenden Lagern für politische Gegner verfügte das Volkskommissariat für Justiz zudem über Haftorte für Kriminelle. In diesen wurde von Anfang an die Umerziehung durch Besserungsarbeit praktiziert. Die Diskussion über die Nutzung der Häftlingsarbeit in der Führung von Partei und Staat zog sich fast zwei Jahre hin, bis im Mai 1929 die Entscheidung im Politbüro fiel (Bd. 2, S. 28).
Als Wirtschaftsfaktor konnte der Gulag, der zunächst nach administrativregionalen Aspekten reorganisiert wurde, jedoch erst nach den Massenrepressionen mit dem Amtsantritt von Lavrentij Berija als NKVD-Chef Ende 1938 in Funktion treten. Die ersten, von Gulag-Häftlingen errichteten Großbauten schienen dessen Effizienz zunächst zu bestätigen. Doch dieser Wunschtraum stellte sich sehr schnell als Trugbild heraus. Das Scheitern des Gulag als Wirtschaftsfaktor bildet somit die eigentliche Kernaussage des dritten Bandes und gehört zu den in den Einleitungen der anderen Bände aufgegriffenen Motiven.
Der sich während der Arbeit an der Edition herauskristallisierende Fragestellung – nach der Zwangsarbeit als Wesenselement des Stalinismus – gingen Wissenschaftler aus Russland und den USA im Rahmen eines parallel durchgeführten Forschungsprojektes nach. Dieser Charakter der Besserungsarbeitslager schließt die generalisierende Bestimmung der Gulag-Lager als Todeslager aus (Bd. 4, S. 49).
Der Gulag als Wirtschaftsfaktor und sein Scheitern aufgrund fehlender Effizienz ist auch ein Leitmotiv der Einleitungen zu den Bänden 2, 4 und 6 der Edition über die Geschichte des stalinschen Gulag. NKVD-Chef Lavrentij Berija (1938–1953) kam bei der Entwicklung des Gulag als Wirtschaftseinheit eine entscheidende Bedeutung zu. Die Zahl der Häftlinge orientierte sich an den vorgegebenen Aufgaben für spezielle Wirtschaftszweige, die die Hauptverwaltung Lager zunehmend monopolisierte.
Wie auch die Auswertung der im KARLag-Archiv aufbewahrten Dokumente bestätigt, resultierten daraus für die Administration der Lager oft unlösbare Konflikte. So war etwa die Frage nach der Priorität der Durchsetzung des sich ständig verschärfenden Haftregimes oder die Erfüllung der immer anspruchsvolleren Wirtschaftsaufgaben brisant. Unter Berija entwickelte sich die Hauptverwaltung Lager des NKVD zur größten Wirtschaftseinheit der UdSSR (Bd. 2, S. 38). Seit 1936 hatte die Hauptverwaltung Lager, wie alle anderen Volkskommissariate auch, der Regierung einen Jahresplan der Industrieproduktion vorzulegen. Bis dahin war das NKVD von dieser Verpflichtung entbunden, da es nicht zu den Wirtschaftseinheiten zählte (Bd. 3, S. 21). Die Häftlinge kamen vor allem in Regionen zum Einsatz, in denen es noch keine Infrastruktur gab.
Oleg Chlevnjuk stützte sich bei seinen Recherchen in erster Linie auf die im GARF aufbewahrten Dokumente. 186 von 195 stammen aus dessen Beständen. Die neun übrigen spiegeln die Wirtschaftstätigkeit der OGPU wider und stammen aus dem Zentralarchiv des FSB (Bd. 3, S. 26). In der Anfangsphase des Gulag waren sich die Verantwortlichen nicht darüber im Klaren, wie sich das Lagersystem als Wirtschaftsfaktor entwickeln sollte. Diese von Chlevnjuk getroffene und mit Dokumenten belegte Feststellung korrespondiert mit ersten Auswertungen der in den Zwangsarbeitslagern für die Häftlinge hergestellten Zeitungen. (Band 7 enthält eine Aufzählung der im GARF vorhandenen Lagerzeitungen.) Die im Lager Inhaftierten sollten zu »sozialistischen Menschen umgeschmiedet« werden.
Oleg Chlevnjuk entschied sich nicht für die chronologische, sondern für die thematische Anordnung der Dokumente. Die Struktur der Wirtschaft des Gulag bildete sich bereits Anfang der 30er Jahre, während des ersten Fünfjahrplanes heraus. Der »Große Terror« unterbrach die relativ erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung. Unter den in dieser Zeitspanne nach offiziellen Angaben ca. 700 000 Erschossenen waren sehr viele dringend benötigte Facharbeiter. Die politischen Stimuli des Terrors hatten gegenüber den ökonomischen Vorrang. Um die ökonomische Effizienz der Lager dennoch aufrecht zu erhalten, führte Berija gleich nach seinem Amtsantritt Ende 1938 eine Reform der Lagerwirtschaft ein. Auf seinen Befehl hin wurde das Haftregime verschärft und die Möglichkeit, durch beständige Übererfüllung der Norm Haftarbeitstage herauszuarbeiten und damit vorzeitig entlassen zu werden, abgeschafft. Neben der Überfüllung der Lager, Hunger und Krankheiten führten diese Maßnahmen in den Kriegsjahren zu einer außerordentlich hohen Häftlingssterblichkeit in den Lagern. Nach Angaben der Hauptverwaltung Lager (GULag) starben fast 1,5 Millionen Häftlinge (Bd. 3, S. 31). Am Beispiel großer Lagerkomplexe könnte die Forschung diese offensichtlich vom NKVD manipulierte Zahl korrigieren.
Das Karagandinsker Besserungsarbeitslager KARLag gehört neben dem Sibirskij lager’ (SIBLag) zu den am längsten existierenden Besserungsarbeitslagern in der UdSSR. Beide Lager wurden 1929 gegründet und erst um 1960 aufgelöst. Zudem existierten weitere elf Lagerkomplexe, darunter sechs so genannte Waldlager, die der Bereitstellung von Nutzholz dienten, außerdem das Lager Vorkuta und das Baulagerbei Krasnojarsk. Sie bestanden von 1937 bzw. 1938 bis 1960.
Neben diesen über drei Jahrzehnte existierenden Besserungslagern waren in der Zeit von 1931 bis 1960 solche Lager quantitativ vorherrschend, deren Laufzeit nur ein und fünf Jahre betrug. Davon gab es ca. 250. An zweiter Stelle folgten 100 zwischen fünf und zehn Jahren existierende, an dritter Stelle 70 Lager, die maximal zwei Jahre lang bestanden. Die Bestandsdauer der Lager korrespondierte somit nicht allein mit den wirtschaftlichen Zielsetzungen oder politischen Entscheidungen, sondern auch mit der Höhe des Strafmaßes.
Die elf Langzeit-Lagerkomplexe produzierten Nutzholz. Ihre vordringlichste Aufgabe war es jedoch die erforderlichen Arbeitskräfte für die einzelnen volkswirtschaftlichen Projekte und Baustellen kurzfristig zur Verfügung zu stellen, was u. a. auch die Fluktuation der Häftlinge erklärt. Die Häftlingsbelegung spiegelt am Beispiel des KARLag somit nicht nur die Entwicklung des Lagerkomplexes als solchen wider, sondern steht zudem mit der Veränderung des sowjetischen Lagersystems als Ganzes in engem Zusammenhang. Von 1930 bis 1935 existierten in der UdSSR 15 Lager. Allein im KARLag waren 10 000 bis 25 000 Häftlinge inhaftiert. Von 1936 bis 1940, als 67 Lager existierten, befanden sich 27 000 bis 40 000 Häftlinge im KARLag. Von 1946 bis 1950, als die Zahl der Lager auf 110 anstieg, waren es bereits 53 000 bis 65 000. Von 1954 bis 1960, als die Zahl der Lager auf 20 zurückging, war auch die Zahl der Häftlinge im KARLag rückläufig.
Sie betrug zwischen 42 000 und 17 000 in der Auflösungsphase.
Chlevnjuk betont immer wieder die Priorität politischer Vorgaben und konstatiert die schließlich auch von der Administration zugegebene Uneffektivität »nackten« Zwanges (Bd. 3, S. 35). Er gibt einen Überblick über quantitative und qualitative Kennziffern und fasst zusammen, dass weitere Studien, einschließlich internationaler vergleichender Analysen über die praktizierte Zwangsarbeit zur Erkenntnis des Phänomens der forcierten Industrialisierung beitragen könnten. Das ständig vorhandene Arbeitskräftereservoir veranlasste die sowjetische Führung zur Planung immer aberwitzigerer Großbauten. Noch gibt es keine Untersuchung über die in Angriff genommenen, schließlich jedoch eingestellten Projekte. Die Ökonomen sind gefordert, Kriterien wie »Effektivität«, »Billigkeit« und »Selbstkosten« von Häftlingsarbeit zu bestimmen (Bd. 3, S. 51).
Als nach dem Krieg der Bedarf an flexibel einsetzbaren Arbeitskräften sprunghaft anstieg, entstand ein neuer Lagertyp, das Sonderlager. Letztere existierten bis 1954 und stellten ein wichtiges Instrument der Strafverfolgungspolitik dar. Häftlinge dieser Sonderlager, von denen es 1952 zwölf gab – meist in entlegenen Gebieten –, wurden ausschließlich zu schwerer körperlicher Arbeit eingesetzt. Sie hatten keinen Anspruch auf jene in der Haftordnung verankerten »Vergünstigungen«, die Häftlingen gewöhnlicher Besserungsarbeitslager zustanden. Die Zahl der gewöhnlichen Besserungsarbeitslager stieg von 90 am Ende 1949 auf 166 zu Beginn 1953 an.
Die Häftlingszahlen
Auch diese Edition kann die Frage nicht beantworten, wie viele Häftlinge der Gulag zählte. Die im Band 4 enthaltenen statistischen Angaben dürfen im Hinblick auf ihre Exaktheit nicht überbewertet werden, heben die Herausgeber hervor (Bd. 1, S. 39). Die Herausgeber des Bandes 4 kommentieren unterschiedliche Statistiken und diskutieren erste, von Memorial-Mitarbeitern formulierte Hypothesen. Eine weiterführende Forschung auf diesem Gebiet, die auf Grund des komplizierten Archivzugangs in der Russischen Föderation und in den Nachfolgestaaten der UdSSR sehr schwer zu organisieren ist, setzt u. a. voraus, dass die Materialien der für Statistik und Registratur (URO) zuständigen Abteilungen der Lageradministrationen und der 3. Abteilungen des Lager-NKVD deklassifiziert sind. Ferner müssen die Bestimmungen über die sehr eingeschränkte Nutzung der in den Lagerarchiven noch erhaltenen Häftlings- und Mitarbeiterakten revidiert werden. Außer diesen Akten existiert z. B. im KARLag-Archiv eine Kartothek, in der jeder Häftling erfasst wurde, der dieses Lager durchlaufen hat. Die auf der Häftlingskarteikarte enthaltenen Angaben zur Person gestatten repräsentative Aussagen über die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft, das Strafmaß, die Zwangsarbeit sowie Tod und Überleben im Lager. Die Karteikarte enthält über 20 biographische Angaben, darunter: Name, Geburtsort und -jahr, soziale Herkunft, Nationalität, Staatsbürgerschaft, Bildung, Parteizugehörigkeit, Wohnort, Beruf, Fachqualifikation, besondere Anweisungen, durch wen, wann und nach welchem Artikel des Strafgesetzbuches verurteilt, Beginn und Ablauf der Strafe, wann und woher angekommen, Aufenthalt in welchen Lagern sowie Abgang aus dem Lager (entlassen, gestorben oder geflohen). Bei einem Wechsel des Lagers wurde diese Karteikarte dupliziert und gemeinsam mit der persönlichen Häftlingsakte dem neuen Haftort überstellt.
Selbst die Hauptverwaltung Lager des NKVD verfügte – was nunmehr dokumentarisch belegt ist – zu keinem Zeitpunkt über exakte Informationen über die Anzahl der Häftlinge und ihren genauen Aufenthaltsort (Bd. 1, S. 42). Was die Herausgeber des Bandes 4 für die Hauptverwaltung Lager beschreiben, gilt umso mehr für die einzelnen Lagerkomplexe, wie z. B. das KARLag. So sind die vorhandenen Statistiken für den Häftlingsbestand eines Jahres höchst widersprüchlich und außerdem von Jahr zu Jahr, aufgrund der sich ändernden Vorgaben der der Hauptverwaltung Lager, kaum kompatibel (Bd. 4, S. 32). Die Trends sind jedoch deutlich erkennbar. Von 1934 bis 1944 betrug die Zahl der im Gulag festgehaltenen Häftlinge 12 bis 14 Millionen (Bd. 4, S. 38). Diese Zahlen spiegeln die Aufgabenstellung des Gulag als Wirtschaftsfaktor wider. Unter diesem Blickwinkel werden u. a. die Mortalität und das Haftregime untersucht (Bd. 1, S. 39).
Die fehlende Opferperspektive der Quellen
Nikita Petrov geht im Vorwort zum Band 2 sehr ausführlich und auf umfassenderer Quellengrundlage der bereits in der Einleitung zum Buch Ktorukovodil NKVD 1934–1941[22] aufgeworfenen Frage nach, wer die Kader waren, denen es oblag, das Zwangsarbeitssystem am Leben zu halten. »Es macht keinen Unterschied, ob man im Gulag oder im GULag ist«, hatte der Stellvertretende Leiter der Hauptverwaltung Lager, Israil I. Pliner in einer Parteiversammlung im Jahre 1937 geäußert (Bd. 2, S. 45), d. h. ob man Mitarbeiter der Hauptverwaltung Lager (GULag) ist oder Häftling in einem Arbeitslager – umgangssprachlich Gulag – macht nach diesem Zitat keinen Unterschied. Denn sowohl im zentralen Apparat der Hauptverwaltung Lager als auch in den Besserungsarbeitslagern, den beiden Gulags, war der Anteil der politisch vorbestraften Mitarbeiter und ehemaliger Häftlinge hoch (Bd. 2, S. 44). Diese Tatsache war immer wieder Gegenstand der Parteiversammlungen auf allen Ebenen, nicht zuletzt deshalb, weil sie dem Haftregime widersprach. Es herrschte permanenter Personalmangel, und der Bildungsgrad der hier Beschäftigten ließ zu wünschen übrig. Unter diesen Bedingungen war an eine adäquate Durchsetzung des Haftregimes nicht zu denken. Was hier am Beispiel der Hauptverwaltung beschrieben wird, gilt in noch größerem Umfang für die einzelnen Besserungsarbeitslager.
Bezieht man in der Untersuchung der Auflösungsphase der Lager die Parteiebene in die Analyse mit ein, rücken neben wirtschaftlichen Ursachen subjektive Faktoren ins Blickfeld, die die Abkehr vom Lagersystem und seine Umwandlung in Besserungsarbeitskolonien erklären. Ein weiterer Aspekt, auf den ebenfalls Aleksandr I. Solženicyn im Zusammenhang mit Band 4 über die Häftlingsgesellschaft aufmerksam macht, ist die in den Dokumenten fehlende Opferperspektive. Die in diese Ausgabe aufgenommenen, von der Administration verfassten Dokumente spiegeln sie nicht bzw. nicht adäquat wider. Ein Vergleich der »zwei Gesichter« des Gulag bietet sich als Forschungsthema geradezu an (Bd. 1, S. 42). Inzwischen sind Skizzen zur Geschichte einzelner Besserungsarbeitslager, verfasst von Mitarbeitern der Administration[23] oder ehemaligen Häftlingen[24], veröffentlicht. Doch Studien, in denen diese zusammengeführt werden, gibt es nicht. Daraus resultiert das Nebeneinander unterschiedlicher Überlieferungen. Vor welchen Problemen die Forschung – z. B. im Hinblick auf die Untersuchung des Widerstandes im Lager steht – wird in der Einleitung zum Band 6 ausführlich diskutiert.
Zur Sprache des Gulag[25] und seinem Liedgut[26] liegen mehrere Publikationen vor. Um das Rotwelsch der Kriminellen zu verstehen, versorgte das Volkskommissariat des Inneren 1927 die Mitarbeiter mit einem entsprechenden Wörterbuch.[27] Wie verschieden die zivile und die Lagerwelt waren, belegt die von Semen S. Vilenskij herausgegebene Anthologie Poėzija uznikov Gulaga, die Gedichte von 314 Autoren enthält.[28]
Material, auf dem diesbezügliche Forschungsprojekte aufbauen können, enthält auch Band 6 der Edition. Allmählich bildete sich unter den Häftlingen eine Überlebensstrategie und damit eine Subkultur heraus, die nicht nur dem Haftregime entgegengesetzt war, sondern zunehmend auch den zivilen Sektor beeinflusste. Die Häftlingsgesellschaft, deren Untersuchung Band 4 gewidmet ist, schloss unterschiedliche Gruppen ein, die auf unterschiedliche Weise der Administration entgegenwirkten. Sie setzten sich aus politischen oder kriminellen Häftlingen zusammen bzw. organisierten sich nach nationaler Herkunft oder ethnischen Kriterien. Allen diesen Gruppen, auf die die Administration unterschiedlich reagierte – mit einigen ging sie eine komplizierte Symbiose ein (Bd. 4, S. 40) –, waren besondere Formen von Widerstand und Protest eigen (Bd. 1, S. 41). Genau genommen kann nur im Ergebnis der Prüfung der Häftlingsakten und der Urteile festgestellt werden, ob es sich bei Kriminellen tatsächlich um Häftlinge handelt, die wegen krimineller Delikte verurteilt worden waren. Die vorbereitete Studie über die Geschichte des KARLag stellt auch hierzu neue Forschungsergebnisse vor und zur Diskussion.
Das Thema Leben und Sterben im Gulag wird in Band 4 ausführlich kommentiert. Ein damit zusammenhängendes Problem wird in der außerordentlich informativen Einleitung zum Band jedoch nicht angesprochen. Es handelt sich um die Lagerfriedhöfe, über die weder die Zeitzeugen noch die Archive genaue Auskunft geben. Vage Hinweise auf die Lage der Grabstätte finden sich u. a. auf einigen, für im KARLagverstorbene Häftlinge ausgestellten Totenscheinen, die in den Häftlingsakten abgelegt sind. Die wenigen, heute z. B. in der Republik Kasachstan bekannten Grabfelder befinden sich in der Nähe der ehemaligen Lagerpunkte Dolinka, Malinovka und Spassk und werden deshalb als Orte des Gedenkens an alle Opfer des Terrors genutzt.
Die Herausgeber geben der Hoffnung Ausdruck, dass ihrer Edition weitere Recherchen in den Regionen der Russischen Föderation und in den ehemaligen Unionsrepubliken der UdSSR folgen werden. Einen Überblick über die bisher zur Geschichte einzelner Lagerkomplexe erschienene Literatur enthalten die Fußnote 5 der Einleitung zu Band 2 und die Fußnote 2 der Einleitung zu Band 3 sowie die Auswahlbibliographie in Band 7. Wenn auch eine genaue Situationsbeschreibung der Zugangsmöglichkeiten zu den vorhandenen, z. B. im Handbuch über das System der Besserungsarbeitslager erwähnten 318 staatlichen und Behördenarchiven, in denen Häftlingsakten bzw. eine Häftlingskartothek aufbewahrt werden, fehlt, ist ein erstes Zeichen gegeben, ein erster Schritt getan. Unbeantwortet bleibt die Frage nach dem Fotoarchiv der Hauptverwaltung Lager der OGPU, des NKVD bzw. des MVD.
Proteste und Widerstand im Gulag
Für weiterführende Recherchen über Formen des Widerstandes von Gulag-Häftlingen in russischen Regionen enthält Band 6 ausgesprochen viele Anregungen. Die instruktive und die Debatte über den Gegenstand außerordentlich befördernde Einleitung fasst mehr als nur den bisherigen Kenntnisstand über Aufstände, Aufbegehren und Streiks in den Lagern zusammen (S. 28–38), vermittelt einen Überblick über die Quellenlage (S. 38–43) und skizziert die sich im Laufe der Jahre verändernden typischen Formen des Widerstandes. Aufgrund der sporadischen und dürren Editionen von Dokumenten zur Geschichte des Gulag und der Archivsituation konnte sich in Russland keine über die Faktologie und das Interpretieren veröffentlichter Dokumente hinausgehende seriöse Forschung entwickeln (S. 33). Die historiographische Fachterminologie, mit der die Thematik adäquat erfasst und auf den Begriff gebracht werden kann, ist ein nicht minder kompliziertes Thema, was Kozlov u. a. am Beispiel der Dissertation von Galina Ivanova über den Gulag[29] deutlich macht. Zum Häftlingswiderstand gehört auch der Widerstand von Häftlingen gegen den Widerstand ihrer Leidensgefährten, weil nur auf diesem Wege ihre Forderung nach Einhaltung des Haftregimes durch die Administration durchsetzbar war. Der Kampf um erträgliche Haftbedingungen war eine der Überlebensstrategien (S. 35).
Von Ende der 20er Jahre bis 1941 gelang es der Administration, jeglichen Protest zu unterbinden (S. 43–49), in den Kriegsjahren 1941–1945 teilte sich die Häftlingsgesellschaft in »Aufrührer« und »Patrioten« (S. 49–60). Nach dem Krieg änderte sich die Belegung der Lager gravierend. Kozlovspricht von »parasitärer Überbevölkerung« und geht auf den Kampf zwischen den einzelnen Gruppierungen von 1945–1947 ein (S. 60–65). Die Zeitspanne Ende der 40er bis Anfang der 50er Jahre ist durch den »Krieg ehemaliger Krimineller« (suč’ja vojna) und die brutale Abrechnung mit dem jeweiligen Gegner (rubilovka) gekennzeichnet (S. 65–77). Die Aktionen, an denen sämtliche Häftlingskategorien beteiligt waren, untergruben die Rolle des Gulag als Wirtschaftsfaktor. Es ist, genau genommen, egal, unterstreicht Kozlov, welche Formen die Proteste annahmen, ob es sich um bewusste oder spontane Aktionen handelte. Das Entscheidende ist, dass es sie gab und sie von der Administration und der Parteiführung als Alarmsignal verstanden wurden (S. 26). In diese Zeit fällt die Herausbildung des Untergrundes in den Lagern und der Beginn der Aufstandsbewegung (S. 77–85). Das viele Aktionen aus den Sonderlagern überliefert sind, hängt mit der dort eingesperrten Häftlingskategorie zusammen. Mit der Organisation und Führung vertraute Politarbeiter der Roten Armee, Kollaborateure oder »Nationalisten« waren wie »neuer Wein in alten Schläuchen«. Dieser Wein reifte schnell und war, vor allem trifft das auf die Kollaborateure und Nationalisten zu, gegen die bei »Politischen« noch greifende Argumentation der Administration tabu.
Die Massenproteste und Massenerhebungen im Gulag nach Stalins Tod beschleunigten den Zerfall des Lagersystems (S. 85–100). So plädiert Kozlov, anknüpfend an seine Studie über die Massenunruhen in der UdSSR unter Chruščev und Brežnev[30], für eine stärkere Berücksichtigung des Zusammenhangs von Widerstand in der UdSSR und im damaligen sozialistischen Lager (S. 31). Dieser »internationale Aspekt« sollte auch auf den Vergleich des sowjetischen Zwangsarbeitssystems mit dem in anderen Ländern praktizierten ausgedehnt werden.
Weitere ergänzende Gulag-Darstellungen
Neben der siebenbändigen Monumentaledtion ist noch auf zwei weitere neue Darstellungen des Gulag hinzuweisen. Zunächst kann der des Russischen nicht kundige Leser auf Oleg Chlevnjuks Band The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror mit einer Einleitung von Robert Conquest zurückgreifen. Er stellt einen Versuch der Synthese dar und enthält 106 Dokumente, die auch in der Istorija Stalinskogo Gulaga enthalten sind. Chlevnjuk stellt die Entstehungsgeschichte und Planung des Gulag seit 1929, seine Entwicklung vor und während der Jahre des »Großen Terrors« sowie während der so genannten BerijaReformen nach 1938 dar. Der Autor untersucht das Verhältnis von Mobilisierung und Repression, stellt die Opfer des Zwangsarbeitssystems vor und kommentiert den »Preis des Terrors«.
Eine wesentliche inhaltliche Ergänzung bietet der Band von Aleksandr I. Kokurin und Ju. N. Morukov. Sie stellen der Gulag-Geschichtsschreibung mit Stalinskie strojki Gulaga weitere wichtige Quellen zur Verfügung. In drei ausführlich eingeleiteten und kommentierten Kapiteln publizieren sie deklassifizierte Dokumente aus dem GARF und dem RGAE (Russisches Staatsarchiv für Ökonomie) vor, die die Planung und Ausführung folgender »Großbauten des Kommunismus« zum Inhalt haben: 1. die Kanäle: Belomorsko-Baltijskij-Kanal (Dok. 1–16), Moskva-Volga-Kanal (Dok. 17–41), Volga-Don-Kanal (Dok. 42–66); 2. die Eisenbahnlinien BAM (Dok. 67–90), Severo-Pečorskaja železnodorožnajamagistral’ (Dok. 91–99), die Verbindung Naruški-Ulan-Bator (Dok. 100–103), die Verbindung Čum-Salechard-Igarka (Dok. 104–110); der Tunnel Tonnel’ pod Tatarskim prolivom (Dok. 111–115); 3. die Goldgewinnung auf der Kolyma (Dok. 116–127).
Die Darstellung muss lückenhaft bleiben, unterstreichen Kokurin und Morukov, da noch nicht alle Dokumente deklassifiziert sind. Gerade in Anbetracht dieser Tatsache ist hervorzuheben, dass es nur einige wenige Doppelungen (insbesondere bzgl. des Volga-Don-Kanalbaus) im Vergleich zum von Oleg V. Chlevnjuk herausgegebenen Band 3 gibt. Die von Kokurin und Morukov aufgenommenen Dokumente – neben Befehlen des NKVD vor allem Beschlüsse des Rates für Arbeit und Verteidigung bzw. des Rates der Volkskommissare – sind so ausgewählt, dass sich beide Bände ergänzen. Der Anhang enthält außer einer Aufstellung der Administration der für die Durchführung der Baumaßnahmen zuständigen Verwaltungen Glavgidrostroj (Hauptverwaltung Wassserkraftwerksbau), GULŽDS (Hauptverwaltung der Lager für Eisenbahngleisbau) und Dal’stroj, biographische Skizzen ihrer Leiter und Stellvertreter sowie eine Übersicht über die Häftlingsbelegung und -bewegung innerhalb von 30 Besserungsarbeitslagern dieser Struktureinheiten. Für die Jahre der Existenz der Lager sind nun die statistischen Angaben über den Häftlingsbestand, die auf Transport geschickten Häftlinge, die entlassenen Häftlinge, die Sterberate und die Fluchten verfügbar.
Neben diesen statistischen Angaben liegen für zwei der die Arbeitskräfte bereitstellenden Besserungsarbeitslager – das Belomorsko-Baltijskij ITL[31] und das DMITLag (Dmitrovskij lager’)[32] – Erschießungslisten vor, die Rückschlüsse auf die Häftlingsgesellschaft ermöglichen.
Partei und NKVD im Gulag
Abschließend soll auf ein während der Arbeit im KARLag-Archiv deutlich hervorgetretenes und in der vorliegenden Edition kaum (oder wie im Band 6 eher verklausuliert) aufgegriffenes Forschungsfeld hingewiesen werden. Es ist heute im Hinblick auf das knappe Dutzend der fast 30 Jahre lang in der UdSSR bestehenden Lagerkomplexe, zu denen u. a. das KARLag und das SIBLag gehörten, möglich, nicht nur die Umsetzung der jeweiligen politischen Vorgabe durch die »Organe«, sondern stets auch den diese Umsetzung begleitenden Prozess der parteiinternen Debatte aufzuzeigen. Die Lageradministration verfügte über einen großen Spielraum, hebt Kozlov in der Einleitung zum Band 6 hervor. Er belegt diese Aussage mit Dokumenten, die in der 3. Abteilung des NKVD entstanden. Auffällig ist, dass in diesem und den anderen Bänden der Edition Dokumente der Politabteilung eine eher untergeordnete Rolle spielen.
Wenn schon von Konflikten und Spielräumen die Rede ist, dann müssen auch alle diese Konflikte austragenden Seiten und die Austragungsorte benannt werden. Zu letzteren gehören u. a. die in den »Langzeitbesserungsarbeitslagern« zwischen Berijas Amtsübernahme und der Auflösung der Lager regelmäßig durchgeführten Parteikonferenzen der KPdSU(B). Ihre Auswertung ist ein erster Schritt zur noch ausstehenden Untersuchung der Anleitung und Führung des NKVD durch die KPdSU(B).
Ausgesprochen informativ sind die Berichte der Mandatsprüfungskommissionen, die im Rahmen der 19 Parteikonferenzen der Parteiorganisation der KPdSU (B) im KARLag von 1939 bis 1960 erarbeitet wurden. Sie geben Aufschluss über Alter, Nationalität, soziale Herkunft, Bildungsgrad, Dienststellung, Lagerabteilungen, Funktionen und Dienstalter der Parteimitglieder. Die Anzahl der Grundorganisationen stieg von 17 mit 500 Mitgliedern im Jahre 1939 auf 25 Grundorganisationen mit 1231 Mitgliedern im Jahre 1953.
In der Struktur der Hauptverwaltung existierte ein speziell hierfür geschaffener Mechanismus – die Politische Abteilung. Ihr Leiter unterstand, ebenso wie der Leiter der 3. Abteilung der Lageradministration, nicht dem Kommandanten des Besserungsarbeitslagers, sondern direkt der Hauptverwaltung Lager in Moskau. Außerdem übte der Leiter der Politabteilung die Funktion des Sekretärs der Grundorganisation der KPdSU(B) des Lagers aus und war somit der »politische Vorgesetzte« des Kommandanten. Dem Kommandanten oblag die Entscheidung über die Auflösung des permanenten Konfliktes zwischen seinen zwei Stellvertretern. Die übermächtige 3. Abteilung – so das Beispiel KARLag – plante und organisierte u. a. den Sturz des Lagerkommandanten. Unter Berija verlor sie gegenüber der Politabteilung an Einfluss. In Anbetracht der Tatsache, dass die Akten der Politabteilung nicht in den Behördenarchiven verblieben, sondern zur Aufbewahrung an die ehemaligen Parteiarchive übergeben wurden, gestaltet sich der Archivzugang einfacher, und vergleichende Analysen einzelner Lagerkomplexe bieten sich direkt an.
Bezieht man nicht nur die Hauptverwaltung Lager, sondern auch die einzelnen Lager in die Analyse ein, ist es oft sehr kompliziert, Gründung und Auflösung dieser Einrichtungen genau zu bestimmen. So fand z. B. die letzte Parteiaktivtagung der Parteiorganisation des KARLag 1960 statt. Zu diesem Zeitpunkt existierte dieser Lagerkomplex aber längst nicht mehr. Einen genauen Auflösungstermin des Gulag zu nennen, sehen sich die Herausgeber von Band 4 außerstande. Da das Mittel der politischen Repressionen auch unter Chruščev beibehalten und gegen neue Zielgruppen in Anwendung gebracht wurde, sprechen die Herausgeber des Bandes 4 davon, dass der »stalinsche Gulag« in seiner reinen Form und in seiner Dimension in der zweiten Hälfte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts »aufhörte zu existieren« (S. 41).
[1] Gulag. Glavnoe upravlenie lagerej 1918–1960. Dokumenty [Gulag. Die Hauptverwaltung Lager 1918–1960. Dokumente]. Hrsg. von Kokurin, A. I./Petrov, N. V. Redaktion: A. N. Jakovlev. Moskau 2000. Siehe auch die Rezension zu diesem Buch von Wladislaw Hedeler in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 52 (2004) H. 3, S. 455–456.
[2] Iwanowa, Galina: »Verdächtige Personen sind in ein Konzentrationslager einzusperren …« In: Berliner Debatte Initial 9 (1998), H. 5, S. 77–84; Dies.: GULag und StalinscheRepressio- nen nach dem Zweiten Weltkrieg (Teil 2), in: Berliner Debatte Initial 10 (1999), H. 1, S. 102– 112.
[3] Gorčeva, A.: Pressa Gulaga 1918–1955 [Die Presse des Gulag 1918–1955], Moskau 1996.
[4] Art and Life in the Gulag. »Memorial« Society Museum Catalogue, Moskau 1998.
[5] Chlusov, M. (Hrsg.): Ėkonomika Gulaga i ee rol’ v razvitii strany 1930-e gody. Sbornik dokumentov [Die Wirtschaft des Gulag und ihre Rolle für die Entwicklung des Landes. 1930er Jahre. Dokumentensammlung], Moskau 1998.
[6] Vilenskii, S. u. a. (Hrsg.): Deti Gulaga. Dokumenty 1918–1956 [Die Kinder des Gulag. Dokumente 1918–1956], Moskau 2002.
[7] Petrov, N./Skorkin, K.: Spravočnik. Kto rukovodil NKVD 1934–1941 [Handbuch. Wer leitete das NKVD 1934–1941], Moskau 1999.
[8] Smirnov, M. (Hrsg.): Sistema Ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR 1923-1960. Spravoč- nik, [Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR 1923–1960. Handbuch], Moskau 1998.
[9] Brodskij, Jurij: Solovki. Dvadcat’ let Osobogo Naznačenija. [Solovki. Zwanzig Jahre zur Besonderen Verwendung], Moskau 2002.
[10] Gor’kij, M./Averbach, L. L./Firin, S. G. (Hrsg.): Belomorsko-Baltijskij Kanal imeni Stalina. Istoria stroitel’stva. [Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal. Die Geschichte seiner Errichtung], Moskau 1934.
[11] Kizny, Tomasz: Gulag, Hamburg 2004.
[12] Smirnov, M. B. (Hrsg.): Sistema Ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR 1923-1960. Spravočnik [Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR 1923–1960], Moskau 1998.
[13] Die genannten Findmittel erschienen in der vom GARF herausgegebenen Reihe Archiv novejšej istorii Rossii. Herausgeber waren ebenfalls V. A. Kozlov und S. V. Mironenko.
[14] Die Studie wurde von der Deutschen Forschungsgesellschaft gefördert.
[15] Reabilitacija – kak ėto bylo. Dokumenty Prezidiuma CK KPSS i drugie materialy [Rehabilitierung – wie es war. Dokumente des Präsidiums des ZK der KPdSU und andere Materialien]. 3 Bde, Moskau 2000–2004. Die Bände behandeln den Zeitraum 1953 bis 1991.
[16] Sondertribunale mit zwei oder drei Mitgliedern.
[17] Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach. [Die Tragödie des sowjetischen Dorfes. Kollektivierung und Entkulakisierung. Dokumente und Materialien in 5 Bänden], Moskau 1999–2005. Der zweite Halbband von Band 5 ist noch nicht erschienen. Siehe auch Sovetskaja derevnjaglazami VČK-OGPU-NKVD. Dokumenty i materialy v 4 tomach [Das sowjetische Dorf mit den Augen der VČK-OGPUNKVD. Dokumente und Materialien in 4 Bänden], Moskau 1998–2004.
[18] Zu den neuesten Publikationen zum Thema gehört Gil’di, L. A.: Sud’ba »social’no-opasnogo« naroda. Zasekrečennyj genocid finnov v Rossii i ego posledstvija 1930–2002 gg. [Das Schicksal eines »sozial-gefährlichen« Volkes. Der geheim gehaltene Völkermord an den Finnen in Russland und seine Folgen 1930–2002], St. Peterburg 2003.
[19] Siehe dazu McLoughlin, Barry: »Vernichtung des Fremden«. Der »Große Terror« in der UdSSR 1937/38. Neue russische Publikationen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001, S. 50–88.
[20] Chaustov, V./Naumov, V./Plotnikov, N. (Hrsg.): Lubjanka. Stalin i VČK-OGPU-NKVD janvar’ 1922 – dekabr’ 1936. Dokumenty [Lubjanka. Stalin und die VČK-OGPU-NKVD Januar 1922 bis Dezember 1936. Dokumente], Moskau 2003; Dies. (Hrsg.): Lubjanka. Stalin i Glavnoe Upravlenie Gosbezopasnosti NKVD 1937–1938. Dokumenty [Lubjanka. Stalin und die Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKVD 1937–1938. Dokumente], Moskau 2004.
[21] Roginskij, Arsenij: Posleslovie [Nachwort], in: Rasstrel’nye spiski. Moskva 1935–1953. Donskoe kladbišče (Donskoj krematorij) [Erschießungslisten. Moskau 1935–1953. DonskojFriedhof (Donskoj-Krematorium)], Moskau 2005, S. 566.
[22] Petrov/Skorkin: Spravočnik (Anm. 7).
[23] Berdinskich, Viktor: Vjatlag, Kirov 1998.
[24] Klimovič, Rygor: Konec Gorlaga [Das Ende von Gorlag], Mensk 1999; Markova, E. V. u. a.: Gulagovskie tajny osvoenija severa [Gulag-Geheimnisse bei der Erschließung des Nordens], Moskau 2002. Das Buch handelt von Vorkuta.
[25] Snegov, Sergej: Jazyk, kotoryj nenavidit [Die Sprache, die hasst], Moskau 1991; Abramkin, V. F./Česnokova, V. F.: Tjuremnyj mir glazami politzaključennych 1940–1980-e gody [Die Gefängniswelt mit den Augen politischer Gefangener 1940–1980], Moskau 1998.
[26] Jakobson, Michael u. Lidija: Pesennyj fol’klor Gulaga kak istoričeskij istočnik (1917–1939) [Das Liedgut des Gulag als historische Quelle (1917–1939)], Moskau 1998; Dies.: Pesennyj fol’klor Gulaga kak istoričeskij istočnik (1940–1991) [Das Liedgut des Gulag als historische Quelle (1940–1991)], Moskau 2001.
[27] Potapov, S. M.: Slovar’ žargona prestupnikov (blatnaja muzyka) [Wörterbuch des Verbrecherjargons (Rotwelsch)] Moskau 1927 [Reprint 1990].
[28] Vilenskij, S. S.: Poėzija uznikov Gulaga. Antologija [Die Poesie der Gulag-Häftlinge. Eine Anthologie], Moskau 2005.
[29] Ivanova, Galina: Gulag v sisteme totalitarnogo gosudarstva [Der Gulag im System des totalitären Staates], Moskau 1997.
[30] Kozlov, V. A.: Massovye besporjadki v SSSR pri Chruščeve i Brežneve (1953–načalo 1980-ch gg). [Massenunruhen in der UdSSR unter Chruščev und Brežnev (1953 bis Anfang der 1980er Jahre)], Novosibirsk 1999.
[31] Ostannja adresa. Do 60-riccja solovec’koi tragedii. [Die letzte Adresse. Zum 60. Jahrestag der Solovecker Tragödie]. 3 Bde., Kiew 1997–1999.
[32] Die Bände 2–6 der Ausgabe von Butovskij poligon 1937–1938 enthalten im Anhang den
Martirolog des Dmitlag NKVD SSSR. Butovskij poligon 1937–1938. 7 Bde., Moskau 1997– 2003. Beiträge zur Geschichte des Dmitlag enthalten die hier vorgestellten Bände 2, 4 und 7 sowie der Band Butovskij poligon. V rodnom kraju. Dokumenty, svidetel’stva, sud’by … [Der Schießplatz Butovo. Im Heimatbezirk. Dokumente, Zeugnisse, Schicksale …], Moskau 2004. Siehe darin insbesondere der Beitrag von Fedorov, N.: Strana »Dmitlag« [Das Land »Dmitlag«], in: ebenda, S. 219–260.